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Examensarbeit, 2013
48 Seiten, Note: 2,0
1. Einleitung
2. Kinder- und Jugendliteratur
3. Fantastische Kinder- und Jugendliteratur aus Großbritannien
3.1 Englischsprachige Kinder- und Jugendliteratur
3.2 Fantastische Kinder- und Jugendliteratur
4. Die fantastische Gegenwelt in Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Romanen
4.1 Magische Wesen, fantastische Orte - Die Darstellung der Gegenwelt
4.1.1 Erfolg wie von Zauberhand
4.1.2 Die Harry-Potter-Romane als fantastische Kinder- und 21 Jugendliteratur
4.1.3 Der Weg in die magische Welt
4.1.4 Die magische Gegenwelt
4.1.5 Magische Gegenstände
4.1.6 Geheimnisvolle Kreaturen
4.1.7 Fantastische Orte
4.1.8 Zauberer und Hexen - die Menschen in der magischen Welt
4.2 Das Verhältnis der Welten zueinander
4.3 Die Funktion der Gegenwelt
5. Der Bezug zu Werken aus anderer Genres
5.1 Intertextualität
5.2 Einflüsse fantastischer Genres
5.3 Einflüsse realistischer Genres
6. Schlussfolgerung
7. Literaturverzeichnis
“There is more treasure in books than in all the pirates' loot on Treasure Island … and best of all, you can enjoy these riches every day of your life.”1 Dieses Zitat von Walt Disney drückt besonders gut die Rolle des Buches als Primärmedium aus. Bücher enthalten nicht nur unendlich viel Wissen, Kreativität, Spannung und Spaß, sondern sie sind auch anderen modernen Medien darin überlegen, dass sie weder ein Wiedergabegerät, noch Elektrizität benötigen. Walt Disney meint hier vor allem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, wie Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel (engl. Treasure Island), James M. Barries Peter Pan, Lewis Carrolls Alice im Wunderland (engl. Alice’s Adventures in Wonderland) oder A.A. Milnes Pu der Bär (engl. Winnie-the-Pooh). Diese Bücher waren sehr erfolgreich und beliebt und wurden immer wieder gelesen und den ganz Kleinen vorgelesen. So begeisterten sie über Jahrzehnte und Jahrhunderte Generationen von Lesern.
Doch begann in den 1990er Jahren eine Entwicklung weg vom Lesen und Vorlesen, hin zur virtuellen Unterhaltung. Fernsehen und Computerspiele wurden immer beliebter. Plötzlich gab es andere, schnellere Wege der Unterhaltung. Das Buch war besonders unter Jugendlichen aus der Mode gekommen, was sich schließlich auch in den Ergebnissen der PISA-Studie widerspiegelte. Bei dieser Untersuchung wurden Schüler aus 74 Ländern in Mathematik, Naturwissenschaften und Leseverständnis getestet. Viele Schüler hatten Probleme das Gelesene wiederzugeben, zusammenzufassen und sich kritisch dazu zu äußern.2 Die Ergebnisse der Studie waren schockierend schlecht und gaben vor allem im Bildungssystem Anlass zur Ursachensuche. Gründe für die abnehmende Lesekompetenz der Schüler fand man darin, dass sie schlicht zu wenig Übung im Umgang mit Texten hatten. Außerdem erklärte man sich die schlechten Leistungen mit der lese- und bildungsfernen Umgebung in der viele Kinder aufwachsen. Viele Kinder und Jugendliche haben einfach nie gelernt das Gelesene zu diskutieren und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Er wurde zur Aufgabe des Muttersprachenlehrers die Schüler zum Lesen zu motivieren - eine oft aussichtslose Aufgabe.
Schließlich erschien 1997, in Deutschland 1998, der erste Band der Harry-Potter-Reihe und wurde zum Überraschungserfolg. Die Geschichten des jungen Zauberers motivierten nicht nur die Schüler wieder zum Lesen. Leser aller Altersgruppen und kultureller Herkunft begeisterten sich für Joanne K. Rowlings magische Romane. Sie erschienen in Übersetzung in 67 Sprachen in 200 Ländern. Bisher wurden mehr als 500 Millionen Exemplare verkauft. Es entstanden Foren und Fanclubs, in denen die Leser sich über die Bücher austauschten. Man erinnere sich nur an die Potterfans, die schon am Vorabend der Veröffentlichung eines neuen Bandes vor Buchhandlungen zelteten, um einer der ersten zu sein, der erfährt, wie die spannende Geschichte des jungen Zauberers weiter geht. Mittlerweile ist die 7bändige Harry-Potter-Reihe vollständig erschienen, doch die Begeisterung ist ungebrochen. Keine Frage, Joanne K. Rowling schaffte es mit ihren Romanen die vorher so lesefaulen Kinder und Jugendlichen wieder von der Faszination des Buches, die oben von Walt Disney so gelobt wurde, zu überzeugen. Ihre Harry-Potter- Romane machten sie zu einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen aller Zeiten. Setzt man die Verkaufszahlen ins Verhältnis zu dem Verkaufszeitraum, ist sie sogar die erfolgreichste der Literaturgeschichte. „Selbst der Best- und Longseller schlechthin, die Bibel, die mit 2,5 Milliarden Exemplaren seit 1815 als meistverkauftes Buch der Welt gilt, verkauft sich nicht einmal halb so gut wie die ersten vier Bände der Harry-Potter-Septologie: umgerechnet auf 45 Monate, rund 50 Millionen Mal.“3
Doch wie konnte Joanne K. Rowling das gelingen? Was macht die Harry-Potter-Bücher so besonders?
Neben anderen Merkmalen zeichnen sich die Harry-Potter-Romane besonders durch die fantasievolle Darstellung einer magischen Parallel-Welt aus. Diese steht in den Romanen Joanne K. Rowlings in engem Kontakt aber auch in Opposition zu einer realistisch dargestellten Welt.
Es soll untersucht werden, in wie fern die fantastische Gegenwelt in den Harry-Potter- Romanen an die Darstellung magischer Welten in anderen früheren Werken anschließt, Elemente übernimmt, sich aber auch von diesen unterscheidet.
Um dies zu analysieren soll zuerst geklärt werden, welche Gruppe von Werken man als Kinder- und Jugendliteratur bezeichnet und welche Merkmale diese typischerweise aufweisen. Dann sollen die Besonderheiten der englischsprachigen und der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur deutlich gemacht werden. Anschließend soll die magische Gegenwelt in den Harry-Potter-Romanen thematisiert werden. Dabei soll die Darstellung der Gegenwelt, deren Bezug zur Realität, sowie die Funktion der Gegenwelt als wichtiges narratives Element thematisiert werden. Anschließend sollen die Erkenntnisse über die magische Welt Harry Potters mit Merkmalen anderer fantastischer, wie realistischer Werke verschiedener Genres verglichen werden. In einer abschließenden Schlussfolgerung werden die Ergebnisse schließlich zusammengefasst.
Wohl jeder von uns erinnert sich noch genau daran, welches Buch er in seiner Kindheit mit Begeisterung wieder und wieder gelesen hat. Zunächst waren dies sicher Bilderbücher mit großen Bildern und wenigen einfachen Sätzen. Nach und nach stiegen dann der Anspruch und der Umfang der Lektüre. Auch die Interessen veränderten sich. Kindliches Leseinteresse kann sehr vielfältig sein. So lassen sich kaum Generalisationen treffen, wie die typische Kinder- und Jugendliteratur aussieht. Sicherlich gibt es auch einige Klassiker, die ebenso bekannt, wie beliebt sind. Hierzu zählen Lewis Carrolls Alice im Wunderland (engl. Alice’s Adventures in Wonderland), James M. Barries Peter Pan, Alan A. Milnes Pu der Bär (engl. Winnie-the-Pooh), Pamela L. Travers’ Mary Poppins und viele mehr. Doch was macht diese Werke zu Kinder- und Jugendliteratur?
Beim Versuch einer Definition stößt man auf mehrere Möglichkeiten der Begriffsbestimmung, die gleichwertig nebeneinander stehen. Zur Kinder- und Jugendliteratur findet man im Metzler Literatur Lexikon folgende drei Möglichkeiten der Definition. Zum einen ist Kinder- und Jugendliteratur, sogenannte Freizeitliteratur oder Kinder- und Jugendlektüre. Das ist fiktionale und nicht-fiktionale Literatur, „die von Kindern und Jugendlichen außerhalb des Unterrichts und auch nicht in Begleitung zu diesem freiwillig“4 konsumiert wird. Hier wird die Literaturverwendung zur Abgrenzung eines Korpus, also einer Gruppe von Texten mit bestimmten gemeinsamen Merkmalen, genutzt. So kann Literatur, die ursprünglich nicht als solche produziert wurde, zur Kinder- und Jugendliteratur werden, indem sie von einem Kind oder Jugendliche zur Freizeitlektüre gewählt wird.
Diese Definition ist sehr weit gefasst und daher eher unkonkret. Es ist unmöglich jedes Werk, das je von einem Kinder oder Jugendlichen gelesen wurde, zu markieren. Dennoch gab es immer wieder Versuche eine solche empirische Erhebung durchzuführen, wenn auch mit wenig Erfolg.5 Außerdem ist problematisch, dass Kinderbücher auch von Erwachsenen gelesen werden. Damit wären sie nach dieser Definition nicht mehr als Kinder- und Jugendliteratur zu klassifizieren. Ein weiteres Problem dieser Definition ist, das tatsächliche Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen zu beurteilen. Als Erwachsener kann man nie sicher sein, ob ein Kind ein bestimmtes Buch wirklich aus Interesse und freiwillig liest, denn oft werden die Bücher von Erwachsenen ausgesucht und gekauft. Sie treffen somit eine Vorauswahl für ihre Kinder. Oft legen sie den jungen Lesern auch spezielle Werke nahe und beeinflussen so deren Auswahl. Außerdem beinhaltet diese Definition die Anmerkung, dass die Kinder- und Jugendlektüre jene Bücher ausschließt, die im Unterricht gelesen oder behandelt werden. Diese Schullektüre kann im Einzelfall jedoch auch außerhalb des Unterrichts und freiwillig von Kindern und Jugendlichen konsumiert werden. Vor allem zumal sich Lehrer heutzutage bei der Auswahl von Themen und Materialien mehr und mehr an den Interessen der Schüler orientieren. Von „Schullektüre“ wird erwartet, dass sie Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung und exemplarische Bedeutung für die Schüler hat und dass sie für die Schüler möglichst zugänglich ist, d.h. ihrem Alter, Wissensstand und Interessen entspricht.6 Texte, die diesen Kriterien entsprechen, werden als geeignet für den Unterricht eingestuft, was direkt zu einer weiterer, enger gefassten, Definition von Kinder- und Jugendliteratur überleitet, der intentionalen Kinder- und Jugendliteratur.
Intentionale Kinder- und Jugendliteratur ist „die Gesamtheit der fiktionalen und nicht- fiktionalen Texte, die von Erwachsenen als geeignete Kinder- und Jugendlektüre angesehen und zur Lektüre empfohlen, teils auch für Kinder und Jugendliche eigens publiziert werden.“7 Hier werden aus dem gesamten Literaturangebot Werke ausgewählt, die aufgrund ihrer Merkmale für besonders geeignet für Kinder und Jugendliche gehalten werden. Dazu gehörten lange Zeit vor allem Werke der National- und Weltliteratur.8 Diese Texte sind ursprünglich nicht für Kinder geschrieben worden, wurden jedoch als besonders tauglich eingestuft. Diese Auswahl wird von Erwachsenen getroffen, deren Kompetenzen oder Position in dieser Definition nicht weiter spezifiziert sind. Diese Lücke wird durch eine weitere Definition des Textkorpus Kinder- und Jugendliteratur gefüllt, die sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur. Das sind Texte, „die von gesellschaftlich dazu autorisierten Instanzen zur geeigneten Kinder- und Jugendlektüre erklärt worden und entsprechend gekennzeichnet sind“9. Dies geschieht durch spezielle Lektürekanons, wie zum Beispiel Leselisten oder Leseempfehlungen, wie sie zum Beispiel von Pädagogen als Leitfaden für die Lektüreauswahl von Schülern und Eltern angefertigt werden.
In dieser Arbeit soll jedoch von Kinder- und Jugendliteratur im Sinne von spezifischer Kinder- und Jugendliteratur die Rede sein. Diese ist „für Kinder und Jugendliche eigens hervorgebrachte Literatur, die Gesamtheit der fiktionalen und nicht-fiktionalen Texte, die für Kinder und Jugendliche eigens verfasst, die seitens ihrer Urheber von vornherein als potentielle Kinder- und Jugendlektüre konzipiert worden sind.“10 Bei dieser Definition geht es um ein bestimmtes Korpus von Texten, nämlich solche, die bei ihrer Publikation zur Lektüre durch Kinder und Jugendliche angeboten und verkauft wurden.11 Dieses Korpus ist dadurch leicht von der Allgemeinliteratur abzugrenzen. Bücher, die zunächst für Erwachsene gedacht waren, wie Defoes Robinson Crusoe, gehören also nicht dazu.
Kinder- und Jugendbücher werden heute meist in speziellen Ausgaben veröffentlicht, die sich schon durch ihr Erscheinungsbild (oft bunt mit großen Bildern oder Zeichnungen) als solche abgrenzen. Außerdem werden sie im Buchhandel in der Regel in einem separaten Regal präsentiert und verkauft. Damit werden sie klar als Kinder- und Jugendliteratur gekennzeichnet.
Die Kinder- und Jugendliteratur unterscheidet sich durch einige wesentliche Merkmale von der Allgemeinliteratur. Bei ihr spielen vor allem sozial-moralische und didaktische Aspekte eine große Rolle.12 Während die Allgemeinliteratur vor allem künstlerischen Ansprüchen genügen muss, werden an die Kinder- und Jugendliteratur pädagogische Erwartungen geknüpft. Sie wird als „Erziehungsliteratur“ verstanden und ist somit literarisch wenig avanciert.13 Was ungerechtfertigt ist, denn die Werke stehen denen der „Literatur für Erwachsene“ in nichts nach. Oft zeichnen sie sich durch schnellen Handlungsfortschritt aus, sind sehr fantasievoll, komisch und spannend.
„Children’s literature will often have less complexity of plot, less profundity of psychological analysis, and more simple pleasures and pains than are found in adult writing; and it will, usually, have the security of the happy ending; yet in its creations of new worlds, its explorations of alien points of view, its subtle investigations of language and metaphysics, and its continual spiritual penetration, it gives us a creative country as ‘mature’ as the adult’s.“14
Wie Colin Manlove schon erwähnt, werden Werke, die speziell für Kinder und Jugendliche verfasst werden, an diese angepasst. Typische Kinder- und Jugendliteratur erfüllt dabei zwei wichtige Merkmale. Sie genügt pädagogischen Erwartungen und sie ist auf die sprachliche, kognitive und literarische Kompetenz der jeweils anvisierten Altersgruppe abgestimmt.15
Den pädagogischen Erwartungen wird entsprochen, indem die moralischen Vorstellungen und Werte der Zielkultur im Werk vertreten werden. So dient das Werk der Sozialisation des Lesers. Das heißt, dass die Inhalte der Literatur dazu dienen, den Leser zu erziehen und ihn zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu machen.
Die Adaption oder Angepasstheit an die Kompetenzen des Lesers geschieht sprachlich, indem der Autor den Stand der sprachlichen Entwicklung seiner anvisieren Leser abschätzt und sich diesem anpasst. Eine solche Adaption geschieht, wenn eine Zielgruppe von unter 11jährigen anvisiert wird. Dabei werden Fremdwörter und Fachbegriffe, abstrakte Nomina und Komposita vermieden. Der Satzbau wird übersichtlich gehalten. Außerdem werden Perspektivwechsel und Zeitsprünge vermeiden.16 Generell werden kurze Sätze mit vielen Verben verwendet, dadurch wird die Handlung kurzweilig gehalten.
Schwieriger ist die kognitive und literarische Adaption. Der Autor muss sein Werk also auch inhaltlich anpassen, um es für den jugendlichen Leser verständlich und interessant zu gestalten. Dazu werden üblicherweise Stoffe und Themen gewählt, die aus Sicht des Autors der kindlichen Welt entsprechen. Typische Stoffe sind Abenteuer, Tiergeschichten, die erste Liebe oder Freundschaften. Jedoch sind, wie bereits bemerkt, die Interessen von Kindern und Jugendlichen vielfältig. Deshalb werden diese klassischen Themenbereiche immer weiterentwickelt, um neue Geschichten zu schreiben. Moderne Kinderliteratur kennt thematisch kaum Grenzen. Auch schwierige Themen werden zunehmend angesprochen.
Eine mediale Adaption, als eine Anpassung der äußeren Erscheinung des Textes, geschieht, indem zunächst eine Gattung gewählt wird. Häufigste Form ist dabei der Erzähltext. Bei ihm werden die Schriftgröße, das Buchformat, die Umschlagsgestaltung und die Illustrationen an die anvisierte Zielgruppe angepasst.17 Bei sogenannten Erstlesebüchern gibt es eine ganze Reihe medialer Anpassungen, zum Beispiel steht in jeder Zeile nur das, was inhaltlich zusammen gehört und der anführende Teil der wörtlichen Rede steht am Anfang des Satzes, damit der junge Leser sofort erkennt, wer spricht.18
Es ist jedoch umstritten, in welchem Maße die Adaption vorgenommen werden sollte. So hält Maria Lypp die Vereinfachung der Werke für eine Grundvoraussetzung und behauptet, „[…] dass Kinderliteratur, um von ihren Adressaten angenommen zu werden, im Verhältnis zur übrigen Literatur eine Grenze der Einfachheit wahren muss, d.h. dass sie in Sprache, Darstellungsweise und Sujet einen bestimmten Grad der Komplexität nicht überschreiten darf. Damit wird ein literarischer Teilbereich, Kinderliteratur, insgesamt als einfach eingestuft, und zwar aufgrund einer relativ niedrigen Grades der Anforderung an das Dekodierungsvermögen seiner Leser.“19
Während andere Experten der Meinung sind, dass keine inhaltliche Vereinfachung vorgenommen werden sollte, da die Geschichten sonst nicht authentisch und glaubhaft wirken.
In diesem Kapitel wurde die Kinder- und Jugendliteratur von der Allgemeinliteratur abgegrenzt, sowie ihre zwei wichtigsten Merkmal thematisiert. Vor diesem Hintergrund soll nun zur englischsprachigen Literatur, insbesondere zur Epik, übergegangen werden.
Wie Thomas Kullmann so treffend bemerkt, nimmt die englischsprachige Kinder- und Jugendliteratur im internationalen Rahmen eine besondere Stellung ein.
„Im Vergleich mit den Literaturen anderen Sprachen und Völker hat die englischsprachige Kinder- und Jugendliteratur in doppelter Hinsicht eine herausgehobene Stellung: Zum einen spielen Kinder- und Jugendbücher in der englischsprachigen Welt, vor allem in Großbritannien und Irland, eine besonders große Rolle im allgemeinkulturellen Kontext. […] Zum anderen ist der Erfolg englischsprachiger Kinder- und Jugendbücher auch im internationalen Rahmen einzigartig.“20
Auf den Britischen Inseln stoßen Kinder- und Jugendbücher nicht nur bei jungen Lesern auf Interesse. Oft werden sie gleichermaßen von Erwachsenen und Kindern gelesen.21 So werden sie Teil der Allgemeinbildung. Bekannte Werke werden oft zitiert und sind Ursprung vieler Redewendungen. Außerdem werden englischsprachige Kinderbücher häufiger in andere Sprachen übersetzt als andere.22
Englischsprachige Literatur war die erste, abgesehen von Hans Christian Andersens Werken und Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter, die internationale Erfolge feierten.23 Weder auf dem europäischen Festland, noch in Amerika wurden bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vergleichbare Werke produziert.24 Zu dieser Zeit gab es in Großbritannien schon fantastische Werke für Kinder von Thackeray, Edward Lear, Lewis Carroll, George MacDonald und anderen.25
In England erlebte die fantastische Kinderliteratur ab etwa 1850 bis zum ersten Weltkrieg eine Blütezeit. Zwei Faktoren waren dafür ganz entscheidend: die Rolle der Kindheit und die Bedeutung der Fantasie. Im 18. und früher 19. Jahrhundert wurde das Kind als widerspenstige Kreatur, die von Natur aus bösartig ist und daher erzogen werden muss, gesehen. Auch die Fantasie der Kinder galt als unverantwortlich und potenziell gefährlich. Dies änderte sich jedoch um 1800.
„But Blake’s pictures of oppressed childhood innocence in his Songs of Innocence (1789), and Wordsworth’s famous Ode in the Intimations of Immortality (1807), together with both poets’ celebrations of the unconfined energies of the imagination, were symptoms of a changing view. By these lights, the ‘child state’ was seen not as something to be educated away, but as a happy condition of natural innocence which the world too often crushed.”26
Kinder wurden nun als Individuen gesehen. Seit den 1830er Jahren formte sich auf den Britischen Inseln eine Bewegung in der Kinder- und Jugendliteratur, die sich gegen das Ideal der pädagogischen und moralischen Adaption von Kinderbüchern wandte.27 Beispiel hierfür sind Edward Lears Gedichtsammlung Book of Nonsense und Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland. Kinderliteratur sollte sich deren Bedürfnissen anpassen, anstatt ihnen das zu vermitteln, was die Erwachsenen für richtig hielten. Während um 1800 noch moralische Geschichten dominierten, standen um 1900 das Kind und seine Fantasie im Vordergrund.28
Ein weiterer Faktor wirkte sich förderlich auf die Entwicklung der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur in Großbritannien aus, die industrielle Revolution. Mit der Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt begann ein neues Zeitalter in England. Mehr und mehr Fabriken öffneten und die Menschen zogen vom Land in die rasant wachsenden Städte. Dort waren die Lebensumstände schlecht. So dass sich viele Menschen, die „gute alte Zeit“ des landwirtschaftlich geprägten Großbritannien zurückwünschten. Sie identifizierten sich mit dem Kind, das seine Unschuld verlor, um erwachsen zu werden.29 Kinderliteratur befriedigte die Bedürfnisse der Bevölkerung nach einer friedlichen freien Welt, in der das Gute immer siegt.30 Kinderbücher spielten meist auf dem Land, in einer idyllischen Gegend. Bis heute gibt es nur wenige Kinderbücher, die in urbaner Umgebung spielen.
Ein weiteres Merkmal, dass die englischsprachige Literatur auszeichnet, ist ihre formale und thematische Vielfalt. In der viktorianischen Zeit, in der das Bürgertum zu führenden Schichte wurde, entstanden Texte unterschiedlichster Art, die eigene Traditionen begründeten.31 So entstand die Familienerzählung, der historische Roman für Kinder, die Märchenfantasie, die Schulerzählung, die Erzählung einer Reise in eine fantastische Welt und die secondary-world-Fantasie. Diese wandten sich speziell an Kinder und Jugendliche, da beim Bürgertum die Familie und vor allem die Kinder im Vordergrund standen.
[...]
1 Books and Reading. A Book of Quotation. Hrsg. von Bill Bradfield. New York: Dover Publications 2002.S.19.
2 Bergenthal, Ursula: Des Zauberlehrlings Künste. „Harry Potter“ als Beispiel für literarische Massenkommunikation in der modernen Mediengesellschaft. Göttingen: Wallstein Verlag 2008.S.13
3 Büvenich, Paul: Der Zauber des Harry Potter. Analyse eines literarischen Welterfolgs. Frankfurt a M.: Lang 2001.S.25.
4 Metzler-Literatur-Lexikon. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag 2007.S.379-381.
5 Ewer, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. München: Fink 2000.S.16.
6 Klafki, Wolfgang. Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung. In: Roth, H. & Blumenthal, A. (Hrsg.): Auswahl Reihe A, Heft 1 - Grundlegende Aufsätze aus der Zeitschrift "Die Deutsche Schule": Didaktische Analyse. Hannover: Schroedel 1962,S. 5 -34.
7 Metzler-Literatur-Lexikon. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag 2007.S.379-381.
8 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999.S.8.
9 Metzler-Literatur-Lexikon. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag 2007.S.379-381.
10 Ebd.
11 Kullmann, Thomas: Englische Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2008.S.14
12 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999.S.13.
13 Ebd.
14 Manlove, Colin: From Alice to Harry Potter. Children’s Fantasy in England. Christchurch: Cybereditions 2003.S.9.
15 Ebd.
16 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999.S.15.
17 Ebd.
18 Ebd.
19 Lypp, Maria. Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur: Frankfurt a M.: Dipa-Verlag 1984.S.9.
20 Kullmann, Thomas: Englische Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2008.S.9-10.
21 Ebd. S.10.
22 Ebd.
23 Manlove, Colin: From Alice to Harry Potter. Children’s Fantasy in England. Christchurch: Cybereditions 2003.S.12.
24 Ebd.
25 Ebd.
26 Manlove, Colin: From Alice to Harry Potter. Children’s Fantasy in England. Christchurch: Cybereditions 2003.S.13
27 Kullmann, Thomas: Englische Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2008.S.10-11.
28 Manlove, Colin: From Alice to Harry Potter. Children’s Fantasy in England. Christchurch: Cybereditions 2003.S.13.
29 Ebd. S.14
30 Ebd.
31 Kullmann, Thomas: Englische Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2008.S.11.