Masterarbeit, 2013
81 Seiten
Zusammenfassung
Abstract
1 Einleitung
1.1. Ältere lesbische Frauen – ein Forschungsgegenstand der Gerontologie?
1.2. Stand der Forschung
2 Begriffsklärungen und theoretische Einordnung des Themas
2.1. Lesbisch
2.2. Alter
2.3. Soziales Netzwerk und soziale Unterstützung
2.3.1. Wahlfamilien als essentieller Bestandteil sozialer Netzwerke lesbischer Frauen
2.3.2. Organisierte Netzwerke als Ausgangspunkt der Entstehung lesbischer Wahlfamilien
2.3.3. Kontinuität und Wandel der Wahlfamilien lesbischer Frauen im Alter
2.4. Fragestellungen und Hypothesen
3 Untersuchungsmethode
3.1. Studiendesign
3.2. Beschreibung der Stichprobe
3.3. Untersuchungsinstrumente
3.3.1. Zugehörigkeit zu einem organisierten Netzwerk
3.3.2. Bedarf an sozialer und instrumenteller Unterstützung
3.3.3. Soziale Unterstützung
3.3.4. Zufriedenheit
3.3.5. Kovariate
3.4. Datenaufbereitung und Auswertungsverfahren
4 Ergebnisse
4.1. Bedarf an sozialer Unterstützung der Mitfrauen organisierter Netzwerke
4.2. Soziale Unterstützung der Mitfrauen organisierter Netzwerke
4.3. Wirksamkeit organisierter Netzwerke älterer lesbischer in Bezug auf soziale Unterstützung ihrer Mitfrauen
4.4. Zusammenfassung
5 Diskussion
6 Ausblick
7 Literaturverzeichnis
8 Anhang
8.1. Abbildungen und Tabellen
8.2. Printversion des Online-Fragebogens
Bisher existiert wenig Forschung zu sozialen Netzwerken älterer lesbischer Frauen. Wie bisherige Befunde zeigen, erhalten sie soziale Unterstützung vor allem von Freundinnen, jedoch auch von spezifischen organisierten Netzwerken älterer lesbischer Frauen. Auf der Basis einer Internet-Befragung von 244 deutschen lesbischen Frauen, die älter als 50 Jahre sind, wird die soziale Unterstützung organisierter Netzwerke mit der von Freundinnen und Familie verglichen. Wie die Ergebnisse zeigen, erfahren ältere lesbische Frauen von allen Teilnetzwerken gleichermaßen emotionale Unterstützung und soziale Integration, praktische Unterstützung jedoch mehr von ihren Freundinnen als von ihrem Netzwerk und von ihrer Familie. Die soziale Unterstützung von ihrem Netzwerk hat jedoch kaum Einfluss auf die Zufriedenheit der Mitfrauen mit diesem, wohingegen die emotionale und praktische Unterstützung von Freundinnen sowie die emotionale Unterstützung der Familie signifikant zur Zufriedenheit mit diesen Teilnetzwerken beitragen. Somit konnte die Wirksamkeit organisierter Netzwerke älterer lesbsicher Frauen in Bezug auf die soziale Unterstützung ihrer Mitfrauen noch nicht nachgewiesen werden.
Um Forschungen auf diesem Gebiet weiter voranzubringen, bedarf es wirkungsvoller Mixed-Methods-Designs.
Little research has been conducted until now on older lesbians' social networks. Studies show that, for social support, older lesbians mainly rely on friends, but also count on organized networks. In order to further this question, data was gathered through an Internet survey completed by 244 German lesbians over 50 years. Based on this empirical data, the present study compares the contribution of older lesbians' organized networks regarding different forms of social support with that provided by friends and family. The findings show that older lesbians experience emotional support and social integration from all three subnetworks to the same degree, whereas they receive practical support more often from their friends than from their family and the networks to which they belong. The social support that they obtain from these networks has, however, little impact on their satisfaction with them, whereas both the emotional and practical support received from their friends and the emotional support they get from their family contribute to their satisfaction with these subnetworks. Consequently, this study could not yet confirm the effectiveness of older lesbians' organized networks concerning social support —or, rather, it did not allow identifying the factors underlying such effectiveness.
To advance research on this functioning of older lesbians' organized networks, a powerful study design combining qualitative and quantitative methods might be required.
Für ein gelingendes Altern sind soziale Netzwerke und soziale Unterstützung von entscheidender Bedeutung. Hervorzuheben ist deren Einfluss und Wechselwirkung auf bzw. mit Gesundheit und Wohlbefinden ( Fydrich, Sommer & Brähler, 2007 ; Rohr & Lang, 2009 ).
Der durch die Globalisierung ausgelöste soziale Wandel hat zur Pluralisierung der Lebensformen und zur Individualisierung in der Gestaltung der Lebensläufe geführt, welche die Beschaffenheit sozialer Netzwerke tiefgreifend verändert haben. Höhere Mobilität und Flexibilität in den Arbeitswelten verringern zunehmend die Möglichkeiten familialer Unterstützungsleistungen ( Helfferich, 2008 ; Kohli, 2005 ). Um soziale Unterstützung im Alter zu sichern, sind daher Veränderungen in der Netzwerkgestaltung, die auf die Stärkung von nichtfamilialen, innergenerationalen Beziehungen (z.B. enge Freunde) abzielen, notwendig ( Stosberg, 2002 ).
Für die Existenz eines tragfähigen sozialen Netzwerkes im Alter gewinnt somit z.B. die Fähigkeit, über die Lebensspanne Freundschaften, ggf. neben einer Paarbeziehung, zu knüpfen und zu pflegen, zukünftig immer mehr an Bedeutung ( Maier, 2008 ). Dabei sind gesellschaftlich bislang randständig wahrgenommene soziale Gruppen, wie z.B. lesbische Frauen, gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung im Vorteil. Ist das Leben letzterer meist noch im Rahmen einer traditionellen Ehe ganz auf die Familie ausgerichtet, so sind traditionsferne und oft kinderlose Menschen in „nichtkonventionellen Lebensformen“ ( Schneider, Rosenkranz & Limmer, 1998 ) bereits in früheren Lebensphasen gezwungen, tragfähige nichtfamiliale Netzwerke zu schaffen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Erforschung der Netzwerke älterer lesbischer Frauen nicht nur für die Gerontologie, sondern auch für die gesellschaftliche soziale Praxis an Bedeutung.
Für viele ältere lesbische Frauen stellen Freundinnen die wichtigste Ressource sozialer Unterstützung dar. Sie gehören zur Wahlfamilie, die essentieller Bestandteil ihrer sozialen Netzwerke ist ( Braukmann & Schmauch, 2007 ). Neben Freundinnen spielen organisierte, ausschließlich aus älteren lesbischen Frauen bestehende Netzwerke ebenfalls eine wichtige Rolle innerhalb der Wahlfamilie. Durch sie erfahren viele ältere lesbische Frauen soziale Integration als ältere und lesbische Frau und können damit wesentlich zu ihrer Lebenszufriedenheit beitragen ( Neuberg, 2003 ). Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zu untersuchen, ob die organisierten Netzwerke in Bezug auf die soziale Unterstützung ihrer Mitfrauen[1] wirksam sind, d.h. festzustellen, ob die soziale Unterstützung durch das Netzwerk Einfluss auf ihre Zufriedenheit mit diesem hat.
Zu Beginn der vorliegenden Arbeit wird die Bedeutung organisierter Netzwerke älterer lesbischer Frauen sowohl als Forschungsgegenstand für die Gerontologie als auch für die gesellschaftliche Praxis erläutert. Daran schließt sich ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand an.
In Kapitel 2 werden, die für diese Studie wesentlichen Konstrukte „lesbisch“, „Alter“, „soziales Netzwerk“ sowie „soziale Unterstützung“ in Bezug auf das Thema der vorliegenden Arbeit zu erläutert. Das Ziel der Begriffsklärung besteht nicht in möglichst umfassenden Definitionen dieser überaus komplexen Begriffe, sondern in der Bezugnahme auf die für das Thema relevanten aktuellen wissenschaftlichen Diskurse. Davon ausgehend erfolgt die theoretischen Einordnung des Themas anhand der bisherigen Forschungsbefunde in das Modell des sozialen Konvois ( Antonucci & Akiyama, 1987 ; Antonucci & Kahn, 1980 ). Dabei geht es darum, aufzuzeigen, dass die Wahlfamilien lesbischer Frauen ein wesentlicher Bestandteil ihrer sozialen Netzwerke sind, in denen organisierte Netzwerke einen hohen Stellenwert aufgrund der sozialen Unterstützung, die sie leisten, besitzen. Wahlfamilien begleiten lesbische Frauen über die gesamte Lebensspanne und werden aktiv durch die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk älterer lesbischer Frauen den veränderten sozialen Bedürfnissen im Alter angepasst. Das ist der Ausgangspunkt für die sich anschließende Formulierung der Fragestellungen sowie die Ableitung der Forschungshypothesen.
Die Untersuchungsmethode wird in Kapitel 3 vorgestellt. Zu Beginn werden Studien-Design und Stichprobe beschrieben. Die Darstellung der verschiedenen Untersuchungsinstrumente schließt sich daran an. Das Kapitel endet damit, aufzuzeigen, wie die gewonnenen Daten aufbereitet und ausgewertet wurden.
Die für die Fragestellungen und Hypothesen relevanten Untersuchungsergebnisse werden in Kapitel 4 dargestellt, diskutiert und im abschließenden Ausblick in die aktuelle Forschung eingeordnet sowie ihre gesellschaftliche Relevanz erörtert.
Zur Vereinfachung und besseren Lesbarkeit wird in der gesamten Arbeit das generische Femininum verwendet, wenn sich allgemeine Begriffe auf die Bezeichnung von Personen gleich welchen Geschlechts beziehen.
In der deutschsprachigen Gerontologie sind ältere lesbische Frauen bis zum jetzigen Zeitpunkt fast kein Forschungsgegenstand. Zum einen wird der Forschungszugang durch die gesellschaftliche Unsichtbarkeit und die damit verbundene schwierige Erreichbarkeit älterer lesbischer Frauen erschwert. Zugleich spiegelt sich darin auch die generelle Ausrichtung des Forschungsinteresses, welches auf westlichen, weißen, heterosexuellen, der Mittelschicht entstammenden älteren Menschen liegt. So wird gerontologische Lehre und Forschung hierzulande fast ausschließlich heteronormativ präsentiert. Wissenschaftliche Diskurse der Genderstudies bzw. der Intersektionalitäts- und Diversity -Forschung wurden nur sehr zögerlich aufgegriffen und deren Forschungsergebnisse kaum rezipiert. Fragen des Alters und des Alterns werden auf diese Weise bisher fast ausschließlich im Spiegel konventioneller Zweigeschlechtlichkeit, eines „Entweder-Mann-oder-Frau-und-nichts-Drittes“ ( Lautmann ) erforscht.
Internationale Forschung zu Fragen des Alterns lesbischer Frauen ist im Gegensatz zur deutschen institutionalisiert (z.B. in Australien, Großbritannien, in den Niederlanden, den USA). Von einigen Abschlussarbeiten (z.B. Radvan, 2000 ; Hokema & Wille, 2009) abgesehen, entstehen relevante deutsche Studien im Rahmen von staatlicher Förderung im Umfeld lesbisch-schwuler Beratungszentren (z.B. Brauckmann, 2004; Braukmann & Schmauch, 2007 ). Das ist nicht erstaunlich, da Lesben in der BRD allgemein kaum Gegenstand universitärer Forschung und Lehre sind. Im Unterschied dazu sind in den USA bereits seit Jahren Sexual Diversity Studies bzw. Lesbian, Gay, Bisexual, Transgendered and Queer (LGBTQ) Studies an allen größeren Universitäten etabliert. Forschungsergebnisse werden nicht nur in spezifischen Fachzeitschriften wie „Journal of Lesbian and Gay Social Services “, „Journal of Gay & Lesbian Mental Health “ oder „Journal of Women & Aging “ (alle bei Taylor & Francis) sondern auch in für Gerontologinnen allgemein bedeutsamen (wie z.B. in „Journal of Gerontology: Psychological Sciences“ oder „Journal of Applied Gerontology“) publiziert.
Bis heute existiert nur sehr wenig Forschung zu älteren lesbischen Frauen. Diese stammen fast ausschließlich aus dem englischen Sprachraum, vor allem aus Australien, Großbritannien und den USA ( Grossman, D'Augelli & Dragowski, 2005 ; Knochel, Quam & Croghan, 2011 ). Nennenswerte Forschungsergebnisse liegen außerdem aus den Niederlanden, z.B. Fokkema und Kuyper ( 2009 ) sowie aus Belgien ( Dewaele, Cox, Van den Berghe & Vincke, 2011 ) vor.
Während die englischsprachige Forschung bereits Ende der 1970er einsetzt ( Averett & Jenkins, 2012 ), wenden sich deutsche Forscherinnen diesem Thema erst Anfang der 2000er Jahre zu. Die Mehrzahl der wissenschaftlichen Arbeiten widmet sich auf der Grundlage qualitativer Untersuchungen der Analyse der Lebenslage älterer lesbischer Frauen allgemein sowie der Untersuchung ihrer spezifischen Bedürfnisse und Bedarfe (z.B. Brauckmann, 2004a; Braukmann & Schmauch, 2007; Hughes, 2009, 2010), aus denen dann gesellschaftliche Forderungen abgeleitet werden.
Neben einigen Literaturübersichten (z.B. Addis, Davies, Greene, MacBride-Stewart & Shepherd, 2009 ; Averett & Jenkins, 2012 ) existiert eine Reihe von Arbeiten, die sich explizit der Untersuchung von sozialen Netzwerken und sozialer Unterstützung bei älteren lesbischen Frauen (z.B. Breitenbach, 2006 ; Grossman et al., 2000 ; Hughes & Kentlyn, 2011 ; Masini & Barrett, 2008 ; Plötz, 2006) widmet. In den Darstellungen der Ergebnisse stehen jedoch die Freundinnennetzwerken im Vordergrund, während die Bedeutung der organisierten Netzwerke eher „zwischen dem Zeilen“ herauszulesen ist. Zudem wurden in den meisten dieser Studien ältere lesbische Frauen zusammen mit älteren schwulen Männer bzw. älteren bisexuellen Personen beiderlei Geschlechts untersucht, ohne die Ergebnisse für die jeweiligen Gruppen zu differenzieren, (z.B. Grossmann et al., 2000; Fokkema & Kuyper, 2009; Hughes, 2009; zum größten Teil auch Dewale et al., 2011). Die sozialen Beziehungen und die Lebenslagen älterer lesbischer Frauen unterscheiden sich jedoch grundlegend von denen älterer schwuler Männer bzw. bisexueller Personen und benötigen daher einen differenzierten Forschungszugang:
Women’s development, needs, and issues are different from men’s and thus the consideration of women in theory, research, and practice should be separate or with great consideration of those differences. The continuation of patriarchy and the subordination of women call for research that respects the differences. ( Averett & Jenkins, 2012, S. 539 )
Eine weiteres Problem der Forschung besteht in der fehlenden Konsistenz der Definition der Begriffe „alt“ und „lesbisch“ ( Averett & Jenkins, 2012 ). So werden die Begriffe „ageing lesbians “ ( Phillips & Marks, 2008 ), „older lesbians “ ( Hash, 2006 ), „lesbians of old age “ ( Averett & Jenkins, 2012 ), „old lesbian people “ ( Knochel et al., 2011 ) bzw. „ältere lesbische Frauen“ ( Wortmann, 2005 ), „lesbische Frauen im Alter“ ( Braukmann & Schmauch, 2007 ), „ältere lesbisch lebende Frauen“ ( Plötz, 2006 ), „lesbische Seniorinnen“ ( Brauckmann, 2004 ) benutzt, was mitunter nicht nur verwirrend ist, sondern auch die Vergleichbarkeit der Ergebnisse erschwert.
Abschließend kann zusammengefasst werden, dass die wenigen bisherigen Forschungsarbeiten zu sozialen Netzwerken älterer lesbischer Frauen vorwiegend auf qualitativen Untersuchungen mit kleinen Stichproben basieren. Das Hauptanliegen dieser Arbeiten besteht in der Sichtbarmachung und allgemeinen Analyse der Netzwerke hinsichtlich Größe und Zusammensetzung. Dabei wird der Einfluss persönlicher und umweltlicher Faktoren auf die Qualität der Netzwerke herausgearbeitet. In Bezug auf organisierte Netzwerke zeigen die Befunde, dass diese neben Lebenspartnerinnen und Freundinnen, von großer Wichtigkeit sind. Ihre Bedeutung liegt vor allem in der sozialen Integration älterer lesbischer Frauen, welche in engem Zusammenhang mit ihrer Lebenszufriedenheit steht.
Für die theoretische Einordnung des Themas wurden auch die deutschen Forschungsarbeiten in die vorliegende Untersuchung einbezogen, weil sie aufschlussreiche Erkenntnisse zum Forschungsgegenstand liefern, die so in den in Fachzeitschriften publizierten Arbeiten kaum zu finden sind. Dagegen werden alle Arbeiten, die in ihren Ergebnisse nicht explizit in Bezug auf ältere lesbische Frauen differenzieren, sondern diese unter LGB(T) subsummieren nicht berücksichtigt.
Wenn du Benennungen und Formen verwendest, dann sei dir bewusst, dass sie vorläufig sind ( Laotse, 2003, S. 43 ) .
Alle im Titel der vorliegenden Arbeit verwendeten Begriffe (soziale Netzwerke, soziale Unterstützung, lesbisch, älter) sind sich beständig wandelnde Konstrukte, über die je nach wissenschaftlicher Perspektive eine Vielzahl von Definitionen existiert. Deshalb geht es in diesem Kapitel, darum, die in Bezug auf das Thema dieser Arbeit relevanten Aspekte eines jeden Begriffes herauszuarbeiten, theoretisch einzuordnen sowie darum, auf den jeweils gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs Bezug zu nehmen. Aus den Fragestellungen, die sich aus den Erkenntnissen zum Thema organisierter Netzwerke und sozialer Unterstützung älterer lesbischer Frauen ergeben, werden die Forschungshypothesen für diese Arbeit formuliert.
„Die Frage, wer den Namen ‚Lesbe‘ zu Recht trägt, ist mithin auch die Frage danach, was eine Lesbe ist und welche politischen, persönlichen und ideologischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind“ ( Raymond, 1989, zitiert nach Hark, 1996 , S. 96 ). Judith Butler bezeichnet es als „eine Inszenierung, sich (gewöhnlich als Reaktion auf eine Anfrage) zu einer Identität zu bekennen …, [die] eine Inszenierung – ist sie erst produziert – manchmal die Funktion eines politisch wirksamen Trugbilds erfüllt“ ( 1996, S. 15 ).
Die Konzepte von Lesbischsein erstrecken sich zwischen der Annahme der prinzipiellen Möglichkeit, dass jede Frau lesbisch sein könnte ( Rich, 1983 ) und einem Konzept lesbischer Lebensformen, „das diese als prinzipiell undefinierbar und als andauerndes relationales Geschehen versteht“ ( Engel, 1996, S.80 ).
Das Verständnis des Konstrukts des Lesbischen ist eng mit der Frage weiblichen sexuellen Begehrens verknüpft.
Den Zeitpunkt der „Erfindung der Homosexualität“ als Identitätskategorie datiert Foucault auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ( Jagose, 2001 ). Der/die Homosexuelle wurde erstmals wissenschaftlich als ein identifizierbarer Personentypus erfasst. Er/sie wird nun nicht mehr als jemand verstanden werden, „der/die lediglich bestimmte sexuelle Handlungen ausübt, sondern er/sie wird nun grundlegend über die Begriffe eben dieser Handlung definiert.… Erst ab 1870 wurden gleichgeschlechtliche Handlungen zum Zeichen einer besonderen Sorte von Mensch“ ( ebenda, S. 23-24 ).
Der Begriff „homosexuell“ geht auf den österreichisch-ungarischen Schriftsteller Karl Maria Kertbeny (Pseudonym für Karl Mair Benkert) zurück. In seinen anonym veröffentlichten Schriften stellte er Homosexualität als angeboren, unveränderlich dar und definierte „homosexual“ als „einen directen Horror vor dem Gegengeschlechtlichen, … [dass] es dem mit dieser Leidenschaft Behafteten unmöglich macht, sich dem Eindrucke zu entziehen, welche einzelne Individuen des gleichen Geschlechts auf sie ausüben“ ( anonym, 1869, zitiert nach Herzer & Féray, 1993, S. 45-46 ). Wurden gleichgeschlechtliche Beziehungen bis dahin als Sünde und Verbrechen dargestellt ( Kraß, 2009 ), so begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deren Pathologisierung aus der biologisch-medizinischen bzw. psychiatrischen Perspektive der deutschen Homosexuellenforschung ( Schuyf, 1993 ).
Hacker ( 1993) verweist darauf, dass Homosexuellenforschung ihren Ursprung in der Selbstdefinition homosexueller Wissenschaftler hatte, deren Modelle dann von sich als heterosexuell definierenden Wissenschaftlern rezipiert und als Fremdstereotype dargestellt wurden. Homosexuellenforschung war „männerlastig“ ( Lautmann, 1993, S. 392 ), da Frauen zu Beginn des 20.Jahrhunderts in Bundesrepublik Deutschland nicht zum Universitätsstudium zugelassen waren und bis 1908 offiziell nicht an politischen Versammlungen teilnehmen durften ( Sillge, 1993 ). „Einerseits bekräftigte die Sexualwissenschaft die Existenz der Frauenliebe, andererseits schaute sie nicht genau hin und verzeichnete bloß die Analogien zur Männerliebe“ ( Herzer & Féray, 1993, S. 393 ).
Selbstdefinitionen von lesbischen Frauen entwickelten sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, u.a. durch die politischen Aktivitäten der z.T. offen lesbischen Mitglieder des „Wissenschaftlich-humanitären Komitees“, z.B. Johanna Elberskirchen oder Anna Rühling ( Sillge, 1993 ). Einige von ihnen waren auch in der ersten Frauenbewegung aktiv. Ihnen gelingt es vor dem Hintergrund einer drohenden Kriminalisierung lesbischer Frauen jedoch nicht, in der Sexualdebatte innerhalb der Frauenbewegung lesbisches Begehren als Form des Widerstandes, als Emanzipationsbestreben gegen männlichen Herrschaftsansprüche zu würdigen und zu enttabuisieren ( Treusch-Dieter, 1993 ).
Bis heute ist der Begriff „homosexuell“ eng verknüpft mit der Verfolgung und Ermordung lesbischer Frauen und schwuler Männer während der Zeit des Nationalsozialismus. Obwohl weibliche Homosexualität nicht Bestandteil des § 175 des Reichsstrafgesetzbuches[2] war, wurden lesbische Frauen als asozial und gemeinschaftsunfähig eingestuft. Offiziell wurden sie jedoch wegen anderer „Vergehen“, wie z.B. „politischer Unzuverlässigkeit“ oder „Wehrkraftzersetzung“ angezeigt und deportiert ( Schoppmann, 1993 ).
Erst 1969 mit dem Aufstand von Stonewall[3] und der damit beginnenden lesbisch-schwulen Befreiungsbewegung (Gay Liberation Front), wandelte sich die pathologisierende und sexualisierte Fremdperspektive von „homosexuell“ in die Eigenperspektive einer Identität, die mit den Begriffen schwul, homophil oder dem im Amerikanischen üblichen „gay “ benannt wurde[4]. Auch lesbische Frauen, die sich in dieser Emanzipationsbewegung gemeinsam mit schwulen Männern engagierten, bezeichneten sich selbst so ( Hänsch, 2002 ). Doch schon Anfang der 1970er wandten sich radikale lesbische Gruppierungen gegen den Sexismus vieler schwuler Mitstreiter sowie die unzulängliche Repräsentation lesbischer Identität in der Gay-Liberation Front und schlossen sich der sich formierenden zweiten Frauenbewegung an. Das fand seinen Ausdruck in verschiedenen kollektiven lesbischen Identitätskonzepten, z.B. „Frauenidentifizierte Frauen“ (Radicalesbians, 2011 ), „Lesben-Nation“ ( Johnston, 1973 ). Im poltischen Kampf gegen das patricharchale Herrschaftssystem und für das Sichtbarmachen einer eigenständigen weiblichen Homosexualität avancierten weiße westliche lesbische Frauen zur Avantgarde der feministischen Bewegung. Lesbischsein galt als die subversivste Form des Widerstandes ( Hänsch, 2003 ). „Im Kontext der Neuen Frauenbewegung erlebte das Schimpfwort ‚Lesbe‘ eine Neubewertung als Kampfbegriff gegen normierte Weiblichkeitsbilder, die etablierte Geschlechterrollenverteilung und Zwangsheterosexualität“ ( Hark, 1996, S. 100 ). Mit dem Slogan „Feminismus ist die Theorie, Lesbischsein die (seine) Praxis“[5] ( Hark, 1993, S. 13 ) sollte eine gemeinsame homogene „Bewegungs-Identität“ geschaffen werden. Lesbischsein wandelte sich von einer sexuellen Identität zu einer politischen, welche jede Frau frei wählen konnte. Hark behauptet allerdings, dass im Feminismus nicht die Lesben akzeptiert wurden, sondern deren Verkörperung als „politisch, sexuell und kulturell korrektes Wesen, die Trägerin des lesbisch-feministischen Bewusstseins. Die Positionierung „der“ Lesben als Avantgarde wurde im Verlauf der Geschichte des Neuen Feminismus zwar immer akzeptabler, hatte aber wenig damit zu tun, dass lesbische Frauen sichtbarer wurden“ ( Hark, 1996, S. 107 ).
Am normativen Anspruch des lesbischen Feminismus der 1970er Jahre scheiterten jedoch viele Protagonistinnen in ihrem Alltagsleben ( Lenz, 2008 ). Gegenüber der feministisch eingeschränkten Perspektive begann sich in den 1980ern Widerstand zu regen. Tendenzen von „Entpolitisierung“ zeigten sich auch durch die zunehmende Orientierung lesbischer Frauen an damaligen „Mainstream“-Werten, die individuelle Selbstverwirklichung und persönlichen Erfolg verhießen. Das drückte sich in einem modischen, liberalistisch-individuellem Lebensstil westlicher lesbischer Frauen aus. Diese sowie die sich seit den 1970ern entwickelte lesbische (Sub)Kultur führten zu einem scheinbar apolitischen und vom Feminismus losgelösten lesbischen Identitätsverständnis ( Jäger, 1998 ). Bisher nicht wahrgenommene oder nicht beachtete Gruppen (z.B. lesbians of color, Lesben mit Behinderungen) begannen in intensiven Debatten Rassismus, Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit und Gewalt innerhalb der Bewegung zu thematisieren. Die Anerkennung von Mehrfachidentitäten spiegelte sich in der Aneignung neuer entsprechender Selbstbenennungen als sogenannte „Bindestrich-Lesben“[6] ( Hark, 1989, S. 59 ) wider.
Die 1980er Jahre sind in Bezug auf das Verständnis lesbischer Identität geprägt von Diskursen um die politischen und gesellschaftlichen Dimensionen von Sexualität und Geschlecht. In den als „sex wars “ bezeichneten Debatten wehrten sich diejenigen Frauen, die ihre lesbische Identität auf ihrer Sexualität aufbauten, gegen die Versuche des lesbischen Feminismus, Geschlecht als Deutungskriterium lesbischer Identität zu etablieren ( Hark, 1996 ). Beispielsweise wurden bisher tabuisierte äußerliche Codes und sexuelle Praktiken (z.B. pornographische, sadomasochistische) öffentlich in der Subkultur präsentiert. Mit dem spielerischen Umgang von Geschlechtsidentitäten und der Inszenierung von sexuellen Praktiken wurde die als „eindeutig, naturhaft und unveränderbar“ postulierte „Zweigeschlechtigkeit unserer Kultur“ ( Hagemann-White, 2007, S. 27 ) in Frage gestellt. Diese Positionen dienten dem sich mit der Queer-Theorie entwickelnden (de)konstruktivistischen Konzept von Geschlecht und Identität als theoretische Grundlagen ( Kraß, 2009 ).
Lesbischer Feminismus ging davon aus, dass soziales Geschlecht (gender) konstruiert, biologisches (sex) natürlich, vorgegeben sei. Zu Beginn der 1990er postulierte Queer-Theorie, dass sowohl gender als auch sex gesellschaftlich erzeugt werden ( Lautmann ). Indem sie sich mit der Entkoppelung der Sexualität vom biologischen Geschlecht gegen den Binarismus von Hetero- und Homosexualität wendet, geht Queer-Theorie einen Schritt weiter als der lesbische Feminismus mit seiner Kritik an der Heteronormativität ( Kraß, 2009 ).
Wenn Frau- (und Mann-) Sein lediglich auf historischen Konventionen biologisch-medizinischer Klassifikationen beruht, die alle Zwischenstufen bisher außer Acht ließen, so unterliegt auch Sexualität einem Pluralismus. Die Identitätskategorie, welche diesen umfassen soll, wird als „queer “ bezeichnet. Damit soll klar gemacht werden, dass sexuelle (auch lesbische) Identität sehr vielgestaltig in Bezug auf Geschlecht und Sexualität sowie durch soziale Gegebenheiten in ständiger Veränderung begriffen ist. So bleibt jede Aneignung sowie Zuschreibung sexueller Identität vorläufig.
Wenn ich sage, ich bin lesbisch, so produziert dieses „Coming-out“ nur eine neue, andere Form des „Close‘ “, des Schweigens. Das “Du“, dem ich mich offenbare, hat nun Zugang zu einem anderen Gebiet der Undurchsichtigkeit .… vorher wußtest du nicht, ob ich lesbisch „bin“, jetzt weißt du nicht, was es heißt, dass ich es bin. ( Butler, 1996, S. 18 )
Sexualität wird, wie Klasse oder Rasse, nicht bloß als „Persönlichkeitsmerkmal“ bzw. „privater Lebensentwurf“, sondern als Kategorie der Macht verstanden. Sie weist den Individuen ihre gesellschaftliche Position zu und
platziert sie in einer bestimmten und bestimmenden Relation zu institutionellen und ökonomischen Ressourcen, zu sozialen Möglichkeiten, rechtlichem Schutz und sozialen Privilegien sowie in Relation zu einer Bandbreite von Formen sozialer Kontrolle, die von Ein- bzw. Ausschluss aus Bürgerrechten bis zu verbaler Verhöhnung und physischer Gewalt ( Hark, 2010, S. 112 ).
Einen guten Überblick über psychologische und sozialwissenschaftliche Theorien zu individuellen lesbischen Identitätskonstruktionen gibt Zuehlke ( 2004 ). Darin zeichnet sie die Entwicklung von Stufen- bzw. Statusmodellen in den 1970er und 1980er nach. Entsprechend diesen bildete der (Be)Coming Out -Prozess, den die betreffende Frau durchlief, die Grundlage zur Entwicklung einer lesbischen Identität. Die ersten Modelle, z.B. von V. C. Cass wurden wegen der linearen Abfolge von normativen Entwicklungsstufen kritisiert. Spätere Modelle dieser Phase, z.B. von J. Gramick, gehen von einem nichtlinearen umweltlichen Lebenslaufmodell aus. Entsprechende empirische Befunde verwiesen auf körperlichen/sexuellen Kontakt sowie die Gründung einer Beziehung als bestimmende Ereignisse für die Entwicklung einer lesbischen Identität. Ob dies gelingt, hängt „demnach in entscheidendem Maße von den sozialen Interaktionen bzw. den individuellen und sozialen Rahmenbedingungen, welche diese sozialen Interaktionen ermöglichen bzw. verunmöglichen, ab“ ( Zuehlke, 2004, S. 27 ).
In Bezug auf ein dekonstruktivistisches Verständnis lesbischer Identität schlägt Zuehlke vor, Butlers „Vorläufigkeitsbekenntnis“ als eine „Strategie der reflexiven Distanz“ zu interpretieren. „Im Wissen um die soziale und herrschaftliche Konstruktion von zur Identität angebotenen ‚Master-Modellen‘, werden diese nur temporär und aus einer reflexiven Distanz heraus benutzt“ ( Zuehlke, 2004, S. 32 ). Die Frage, inwieweit diese Strategie jedoch gegenüber anderen Identitätskonstruktionen alltagstauglich ist, lässt sie offen. Sie kritisiert Queer-Theorie-Positionen, z.B. wegen fehlender Abgrenzungen individueller von kollektiven Identitätskonstruktionen. Zudem plädiert sie dafür, Benennungen für Identitätskategorien zu finden, welche Differenzen sichtbar machen ohne Identität festzuschreiben. Aus ihrer Sicht wird mit der Verweigerung der Benennung der Differenzen (und Benutzung des alles einschließen-sollenden Begriffs „queer “) die gesellschaftliche Realität der Anerkennung sexueller Identitäten verkannt.
Solch eine Begrifflichkeit, die Pluralisierung, Vorläufigkeit und Beweglichkeit impliziert, versucht Engel ( 1996) mit dem zu Beginn des Kapitels bereits erwähnten Konzept lesbischer Lebensformen „als prinzipiell undefinierbar und andauerndes relationales Geschehen“ ( Engel, ebenda, S. 80 ). Lesbisch wird nicht als eine individuell innenwohnende persönliche Eigenschaft, sondern im Kontext von Netzwerken und sozialen bzw. politischen Bewegungen betrachtet. Lesbischsein ist nicht per se permanent vorhanden, sondern muss als Effekt eines dynamischen relationalen Geschehens immer wieder aufs Neue reflektiert, anerkannt und benannt werden. Dadurch entsteht Raum für die Bedeutung der Identitätskategorie „lesbisch“ in einer konkreten Situation und verhindert deren Instrumentalisierung durch Gruppen, welche die Deutungsmacht, z.B. für sexuelle Praktiken, beanspruchen. Selbstverständlich bewegt sich jedes relationale Geschehen innerhalb normativer, komplexer Herrschaftsstrukturen und wird von ihnen beeinflusst.
In den letzten Jahren ist „Intersektionalität“ verstärkt in den Blickpunkt der Genderforscherinnen geraten. Diese hat ihre Wurzeln im angloamerikanischen Black Feminism und der Critical Race Theory. Sinnvollerweise versteht Intersektionalität Gender als interdependente Kategorie und analysiert die Wechselwirkungen von Gender mit anderen sozialen Kategorien, wie z.B. ethnische oder Klassen-Zugehörigkeit, vor dem Hintergrund von sozialen Ungleichheiten bzw. Machtverhältnissen ( Walgenbach, 2012 ). Eine wie auch immer geartete lesbischen Identität basiert demnach auf einem Zusammenspiel von ständiger Konstruktion und Dekonstruktion zahlreicher verschiedener sozialer Identitäten.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Lesbischsein von zwei wesentlichen modernen Positionen aus theoretisch betrachtet wurde. Essentialistische Positionen sehen in Lesbischsein eine natürliche, angeborene und stabile Identität, mit einer eigenen zusammenhängenden Geschichte bzw. Tradition. Diese Sichtweise entwickelte sich aus der zweiten Frauenbewegung heraus und wurde in der größtenteils nichtinstitutionellen deutschsprachigen Lesbenforschung vertreten.
Dem gegenüber vertreten konstruktivistische Positionen die Ansicht, dass lesbische Identität dynamisch und relational ist. Als Ergebnis sozialer Konditionierung sowie kulturell verfügbarer Modelle steht sie in ständiger Wechselwirkung mit weiteren Identitäten einer Person (z.B. Ethnie, Klasse, Nation). Da sich die kulturelle Bedeutung von Lesbischsein in historischen Zusammenhängen verändert, wird eine eigene zusammenhängende Geschichte in Frage gestellt ( Jagose, 2001 ).
Aus der Sicht der Forscherin kann es keine allgemeingültige Definition von Lesbischsein geben. Vielmehr ist dies ein Aspekt individueller und kollektiver sozialer Identität, die sich in der stetigen Wechselwirkung mit anderen sozialen Aspekten erst in einem wiederkehrenden Moment der Reflexion, der Bewusstwerdung derselben konstituiert. „Es gibt nicht eine Form lesbischer Identität, sondern viele ‚Lesbianismen‘.“ ( Hark, 1996, S. 133 )
In dieser Untersuchung wird der Begriff „ältere lesbische Frauen“ verwendet. Wenn aus Gründen der Bezugnahme zur Forschungsliteratur bzw. Darstellung historischer bzw. gegenwärtiger lesbischer Lebensweise andere Begriffe (z.B. ältere Lesben, lesbische Seniorinnen) angemessener erscheinen, werden diese benutzt.
Als komplexer Begriff beinhaltet Alter eine große Vielzahl an kulturellen und gesellschaftlichen Deutungsmöglichkeiten. Heute existiert eine unüberblickbare Vielzahl an Definitionen, welche die unterschiedlichen Dimensionen von Alter betrachten, sich dabei Symbolen und idealtypischen Repräsentationen bedienend, die so in der Wirklichkeit nicht vorzufinden sind. Alter enthält „neben der biologischen und psychischen Dimension grundsätzlich eine soziale und soziohistorische Ausprägung“ ( Backes & Clemens, 2000, S. 11 ). In seiner sozialen Dimension stellt Alter wie Geschlecht eine gesellschaftlich strukturierende und individuelle differenzierende Kategorie dar ( Backes, Clemens & Schroeter, 2001 ).
Durch die gesellschaftliche Definition des Beginns des Alters mit der „Statuspassage Renteneintritt“ ( Backes & Clemens, 2013, S. 11 ) entstanden scheinbar solide Altersgrenzen und „die Älteren und Alten wurden als eine sozialstrukturell bestimmbare gesellschaftliche Gruppe“ ( Backes & Clemens, 2000, S. 7 ) mit eigenen Normen, Werten und Rollenmodellen differenziert.
Mit dem Übergang zur postmodernen, neoliberalen Gesellschaft vollzog sich jedoch ein grundlegender Wandel hin zur weiteren Ausdifferenzierung und Entstrukturalisierung der bis dahin weitgehend sozialpolitisch regulierten Altersphase in eine Vielzahl von Erscheinungs- und Verlaufsformen. Insofern stellt die Lebensphase Alter heute keinen eindeutig umrissenen und von anderen Lebensphasen klar abgegrenzten Bereich mehr dar ( Backes et al., 2001 ). Dieser Pluralisierung des Alters wird mit neuen, den gesellschaftlichen Erfordernissen entsprechenden normativen Rahmungen begegnet ( Backes & Clemens, 2013 ).
Die Re-Regulierung der Altersnormen manifestiert sich in neuen Leitbildern erfolgreichen Alter(n)s, denen das Primat des Nicht-Alterns zugrunde liegt. Mithilfe von Leitideen wie „Selbst- und Mitverantwortung“ ( Kruse, 2005 ) wird eine von den Individuen zu erbringende Leistung – gesund und selbstständig zu altern – als neue gesellschaftliche normative Erwartung formuliert. Damit werden die sogenannten „jungen Alten“ des „dritten Lebensalters“ ( Laslett, 1995 ; Rosenmayr, 1996 ) als selbstgestaltende Subjekte adressiert, während den sogenannten „alten Alten“ verstärkt ein Objektstatus als zu Pflegende, zu Betreuende bzw. zu Versorgende zugewiesen wird. Damit wird die Defizitperspektive weiter ins hohe Alter hinein verlagert ( Dyk, 2009 ). Die Aufwertung des „dritten Alters“ muss als Konzeption der „jungen aktiven Alten“ als Entlastungsressource verstanden werden, um dadurch den Sozialstaat den Erfordernissen der Globalisierung anzupassen. Dieser Prozess geht mit dem Abbau sozialpolitischer Sicherungssysteme und der Einforderung individueller normierender Selbstsorgeaktivitäten einher ( Graefe, Dyk & Lessenich, 2011 ).
Lesbische Frauen waren von jeher bei der sozialen Alterssicherung benachteiligt, was für viele von ihnen materiell prekäre Lebenssituationen im Alter bedeutet (Wortmann, 2005). Zudem stehen für ihre soziale Unterstützung im Alter im Vergleich mit heterosexuellen Frauen Herkunftsfamilie und Kinder in viel geringerem Umfang zur Verfügung (Plötz, 2006). Hinzu kommen fehlende Strukturen für ihre sozialen Bedürfnisse, sowohl in der lesbischen Gemeinschaft als auch in der Gesellschaft allgemein. So existiert zwar seit den 1970er eine vielfältige und facettenreiche lesbische (Sub)Kultur, doch fühlen sich lesbische Frauen in der mittleren Lebensphase dort zunehmend weniger zuhause. Die Angebote der „Lesbenszene“ sind eher auf die Bedürfnisse jüngerer lesbischer Frauen zugeschnitten, sowohl in kultureller als auch sozialer Hinsicht (z.B. psychosoziale Angebote zur Coming Out -Bewältigung für jüngere lesbischen Frauen). Da ältere lesbische Frauen aufgrund der Diskriminierung lesbischer Lebensweise – weniger als ein Drittel der lesbischen Frauen über 50 lebt ihr Lesbischsein in ihrem sozialen Umfeld völlig offen (Braukmann & Schmauch, 2007) – gesellschaftlich kaum sichtbar in Erscheinung treten (Amberg, 2011), existieren kaum ihren Bedürfnissen angemessenen Angebote in der Altenhilfe und –pflege. Auch spiegeln die gesellschaftlichen heteronormativen Altersbilder fast nichts von der Lebenswelt älterer lesbischer Frauen.
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[1] Die meisten Frauen, die organisieren Netzwerken angehören, lehnen den Begriff „Mitglied“ ab und nennen sich stattdessen „Mitfrauen“. Deshalb wird dieser auch in der vorliegenden Arbeit verwendet.
[2] Der § 175 des Reichstrafgesetzbuches bzw. des Strafgesetzbuches stellte in Bundesrepublik Deutschland von 1871 bis 1994 gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen erwachsenen Männern bzw. erwachsenen Männern und männlichen Jugendlichen unter Strafe (vgl. Kraß, 2003).
[3] Auslöser war der erstmalige Widerstand gegen die gewalttätige Polizei-Razzia im „Stonewall Inn“ in New York in der Nacht vom 27. zum 28. Juni 1969
[4] Die bisherige konservative „Homophilenbewegung“ vertrat eine Sichtweise, in der Homosexuelle heterosexuell mit Ausnahme ihrer sexuellen Objektwahl waren und richtete daran ihre Politik der Anpassung an heterosexuelle Normen aus ( Jagose, 2001 ).
[5] Hark beschreibt in diesem Artikel die „Karriere“ des Slogans, welcher im amerikanischen Original von 1970 lautete „feminism is a theory, lesbianism is a practice “ ( Hark, 1993, S. 12 ).
[6] Hark nennt beispielsweise „Anti-Imp-Lesbe“, „Krüppel-Lesbe“, „farbige Lesbe“, „SM-Lesbe“, „lesbische Mutter“
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