Diplomarbeit, 2014
127 Seiten, Note: gut
Kurzfassung
Einleitung
1 Sprachdiagnostik
1.1 Definitionen und Begriffe
1.2 Notwendigkeit von Spracherfassungsverfahren
1.3 Funktionen der Spracherfassungsverfahren
1.4 Diagnostische Methoden
1.5 Untersuchungsbereiche
1.6 Qualitätsmerkmale
1.7 Probleme der Sprachstandsmessung
1.8 Zusammenfassung
2 Zweitspracherwerb und Mehrsprachigkeit
2.1 Sprachentwicklung, Sprachlernen, Spracherwerb oder Sprachaneignung
2.2 Grundlegendes zum Spracherwerb
2.3 Mehrsprachigkeit
2.4 Besonderheiten des Zweitspracherwerbs
2.5 Einflussfaktoren auf den Spracherwerb
2.6 Spracherwerbsstörung oder mangelnde Sprachbeherrschung
2.7 Faktoren in der Entwicklung kindlicher Mehrsprachigkeit
3 Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit bei Sprachstandsmessungen
3.1 Ansprüche an Diagnoseverfahren für mehrsprachige Kinder
3.2 Verfahren, die Mehrsprachigkeit berücksichtigen
4 Sprachförderung
4.1 verschiedene Arten der Sprachförderung
4.2 Sprachfördertools
4.3 Sprachfördermaßnahmen
4.4 Einzelne Sprachförderprogramme für mehrsprachige Kinder
4.5 Erfolgsfaktoren für die Sprachförderung
4.6 Zusammenfassung
5 Die Orientierungs- und Bildungspläne im Elementarbereich
5.1 Der Bildungsbereich Sprache
5.2 Diagnostik in den Bildungsplänen
5.3 Sprachförderung in den Bildungsplänen
5.4 Mehrsprachigkeit in den Bildungsplänen
6 Eingesetzte Testverfahren und Förderprogramme in den Bundesländern
6.1 Baden-Württemberg
6.2 Bayern
6.3 Berlin
6.4 Nordrhein-Westfalen
6.5 Zusammenfassung
6.6 weitere Maßnahmen
7 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Liste der erwähnten Diagnoseverfahren und Fördermaßnahmen (in
alphabetischer Reihenfolge)
Diagnoseverfahren
Föderprogramme, -konzepte und -materialien
Im Zuge der Ergebnisse von internationalen Leistungsvergleichstudien wie IGLU (In- ternationale Grundschul-Leseuntersuchung) oder PISA (Program for International Stu- dent Assessment) (vgl. Deutsches Pisakonsortium, 2003), geriet auch der Bildungsauf- trag von Kindertageseinrichtungen in den Fokus der Öffentlichkeit. In Deutschland be- gann eine breite Debatte darüber, dass Kindergärten und andere Tageseinrichtungen ihren Schwerpunkt von der reinen Betreuung und „Aufbewahrung“ der Kinder, hin zur Bildungsstätte für die frühkindliche Entwicklung verlagern müssen, was durch die Kul- tusministerkonferenz (KMK) und die Jugendministerkonferenz (JMK) (2004) im ‚Ge- meinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen‘ konkretisiert wurde. Besonderes Augenmerk wurde u.a. auf die Sprachentwicklung gelegt und darauf, mögliche Sprachentwicklungsstörungen und damit eventuell dro- henden, schulischen Misserfolg frühzeitig zu erkennen und die Sprachentwicklung an- gemessen zu fördern (KMK u. JMK (2004, S.4)). Das bedeutet für die Bildungspolitik die große Aufgabe, die frühpädagogische Sprachdiagnostik aufzubauen und Sprach- förderangebote auszubauen.
Ein wichtiger Aspekt bei diesem Thema ist die Tatsache, dass der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, bzw. derer, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen, in den Kindertageseinrichtungen weiter zunimmt, wie die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2012, S.76) feststellte.
Was bedeutet diese Tatsache für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung, die in den Bildungseinrichtungen stattfindet?
Die folgende Arbeit soll einen Einblick geben in die derzeitige Situation der sprachlichen Diagnostik, Förderung und Bildung im frühkindlichen Bereich und darin, wie das Thema in den verschiedenen Bundesländern gehandhabt wird. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, in welchem Umfang dabei berücksichtigt wird, dass längst nicht mehr vom einsprachig, Deutsch sprechenden Kindergartenkind ausgegangen werden kann, sondern der Anteil der Kinder, die mehrsprachig aufwachsen oder mit einer anderen Muttersprache als Deutsch, immer mehr steigt.
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den fachlichen Hintergründen zu Spracherfas- sungsverfahren im Allgemeinen und den verschiedenen Facetten der Sprachdiagnos- tik.
Kapitel zwei beleuchtet den besonderen Aspekt der Mehrsprachigkeit und die damit verbunden Schwierigkeiten beim Spracherwerb und der Sprachstandsmessung.
Das dritte Kapitel befasst sich damit, wie diagnostische Verfahren der Mehrsprachigkeit von Kindern gerecht werden können und welche Diagnoseinstrumente es derzeit in diesem Bereich gibt.
Anschließend wird im vierten Abschnitt ein Überblick über verschiedene Methoden bei der Sprachförderung gegeben und Überlegungen angestellt, wie Sprachförderung Kindern mit Migrationshintergrund bzw. mehrsprachig aufwachsenden Kindern gerecht werden kann es wird kurz skizziert, welche Ansprüche dadurch an das pädagogische Personal in den Kindertageseinrichtungen gestellt werden.
Kapitel fünf befasst sich damit, wie die Diagnostik und Förderung der sprachlichen Kompetenzen in den noch relativ neuen Bildungsplänen der Kindertageseinrichtungen in den verschiedenen Bundesländern berücksichtigt und umgesetzt werden. Außerdem wurden einige entsprechende Textstellen gesammelt, die Bezug nehmen auf die aktu- elle Situation von vielen Kindern in den elementaren Bildungseinrichtungen, die mehr- sprachig aufwachsen.
In Kapitel sechs werden exemplarisch an vier Bundesländern die unterschiedlichen Vorgehensweisen und Verfahren erläutert, die dort zur Diagnose und Sprachförderung im Elementarbereich eingesetzt werden.
Der letzte Abschnitt bietet eine kurze Zusammenfassung und schließt mit einigen Über- legungen dazu, welche weiteren Entwicklungen sich positiv auf die Situation von Kin- dern mit Migrationshintergrund in Bezug auf ihre sprachliche Bildung auswirken könn- ten.
„ Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt “ (Wittgenstein, 1921, 5.6)
Mit diesem Zitat von Ludwig Wittgenstein aus seinem Werk „Tractatus logico philosophicus“ wird deutlich, welche Bedeutung er der Sprache in der Gesellschaft beigemessen hat. Auch wenn man bedenkt, dass die Sprache an sich zwar den größ- ten Anteil an unserer Kommunikation einnimmt, aber wir auch sehr viel nonverbal in- teragieren, entspricht seine Aussage der Tatsache, dass in unserer heutigen Gesell- schaft Sprache eine sehr wichtige Schlüsselrolle innehat. Die bemerkenswerteste Stel- le ist meines Erachtens aber die Kombination der Worte „meiner Sprache“. Hier wird deutlich, dass nicht die Sprache als solche unsere Grenzen festsetzt, sondern das Vermögen jedes einzelnen, seine persönliche Sprache (einsprachig, mehrsprachig oder nonverbal) einzusetzen, um seine Welt zu verstehen und sich ihr verständlich zu machen.
Verständigung ist eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Schul- und Ausbildungslaufbahn und somit auch die Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe. (vgl. Kniffka, Siebert- Ott, 2012, S. 9).
Im deutschen Bildungssystem ist die Hauptvoraussetzung für eine gelungene Teilhabe am Unterricht in allen Fächern, die Beherrschung der deutschen Sprache und in be- sonderem Maße, einer nicht alltäglichen Fachsprachlichkeit, die in keiner Weise mit allgemeinen kommunikativen Fähigkeiten verglichen werden kann, wie sie die Kinder aus ihrem täglichen Umfeld kennen und benutzen. Für immer mehr Kinder stellen der Unterricht und die darin verwendete Sprache eine enorme Hürde dar. Hierzu gehören ein großer Teil der Kinder mit Migrationshintergrund bzw. der Kinder, die Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache lernen, aber auch muttersprachlich deutsche Kinder verfü- gen nicht immer über eine ausreichende Sprachkompetenz, um im deutschen Schul- system erfolgreich zu sein, wie u.a. bei Kniffka, Siebert-Ott (2012, S.16 ff) zu lesen ist. Trotz viel postulierter Wertschätzung der kulturellen Vielfalt und Anerkennung von Mehrsprachigkeit, sind viele Kinder in unserem monolingualen Bildungssystem be- nachteiligt und haben deutlich geringere Bildungschancen (vgl. Schulz / Tracy / Wen- zel, 2008, S.9), weil sie eine andere Muttersprache haben. Diesen, sozusagen künst- lich erzeugten Nachteil gilt es nun wieder auszugleichen, die fehlende Sprachkompe- tenz (in diesem Fall eigentlich „Deutschkompetenz“) soll entsprechend gefördert wer- den um die Kinder für die Schule „fit zu machen“.
Der Trend geht hierbei immer mehr zu präventiver Sprachförderung und verlagert sich hauptsächlich in den vorschulischen Bereich der frühkindlichen Bildung, um schon vor dem Schulstart Förderbedarf erkennen und entsprechende Maßnahmen einleiten zu können. Diesen wichtigen Aspekt soll die vorliegende Arbeit verdeutlichen.
Die Begriffe Sprachstandserhebung, Sprach(stands)erfassung oder Sprachstandsanalyse werden hier, so wie überwiegend in der Fachliteratur (vgl. u.a. Lengyel 2012, S. 8), synonym verwendet. Sprachdiagnostik umfasst den kompletten Bereich, der „ den gesamten Prozess und alle T ä tigkeiten fokussiert, mit dem Daten zum Sprachstand von Kindern sowie weiterf ü hrende Informationen gesammelt, erho- ben analysiert, bewertet, in Beziehung gesetzt und interpretiert werden. “ (Lengyel, 2012, S. 8)
Die Sprache an sich ist Werkzeug, um alle anderen Bildungsherausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Alltags zu erschließen. Deshalb können vielfach nur Kinder, deren sprachliche Entwicklung ungestört verläuft, ihr Bildungspotential unein- geschränkt entfalten. Allerdings verläuft die sprachliche Entwicklung bei allen Kindern sehr individuell und auch nicht bei jedem Kind problemlos. Ehlich, Bredel und Reich (2008, S.10) schreiben in ihrem ‚Referenzrahmen zur altersspezifischen Sprachaneig- nung‘ von einer vorsichtigen Schätzung, bei der etwa jedes fünfte oder vierte Kind ei- nes Jahrgangs einen spezifischen Sprachförderbedarf aufweist. Das bedeutet, dass sie sich bestimmte sprachliche Strukturen erst lange nach dem Zeitraum aneignen, in dem Kinder normalerweise die entsprechende Kompetenz erwerben. Wenn diese Probleme bei der Sprachentwicklung nicht erkannt werden, bzw. die Kinder nicht unterstützt wer- den, können sich Folgewirkungen zeigen, wie beispielsweise Kommunikationsschwie- rigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten oder Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, die weite- re drastische Entwicklungsverzögerungen und/oder Probleme in der Schule zur Folge haben können. Je früher solche Entwicklungsprobleme erkannt werden, desto größer sind die Chancen, sie durch ganzheitliche und spielerische Förderung aufzufangen.
Derzeit werden in Deutschland in den verschiedenen Bundesländern viele verschiede- ne Verfahren eingesetzt, wie in den folgenden Kapiteln vertieft dargestellt wird, um den Sprachstand von Kindern im Elementarbereich zu bestimmen. Auch in den einzelnen Ländern gibt es meist keine einheitliche Vorgehensweise. Die verschiedenen Verfah- ren unterscheiden sich auch erheblich in Bezug auf den wissenschaftlichen Hinter- grund, den Entwicklungszeitraum, die messmethodischen Merkmale für Diagnosever- fahren (Validität, Objektivität, Reliabilität und Normierung), die zugrundeliegenden frühpädagogischen Standards, die Durchführung (z.B. Dauer, Ort, Personal oder Zeit- punkt), den zu testenden Bereich bzw. Umfang der sprachlichen Kompetenzen oder die Zielgruppe, die getestet werden soll. Diese verschiedenen Kriterien sind hauptsäch- lich davon abhängig, wodurch die eigentlichen Untersuchungen motiviert sind. Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Klassifizierung der Verfahren. Die folgende Einteilung nach unterschiedlichen Funktionen, ist angelehnt an die Einordnung von Lilian Fried aus ihrer „Expertise zu Sprachstandserhebungen für Kindergartenkinder und Schulan- fänger“ (2004). Wie im oberen Abschnitt zu erkennen war, ist die Hauptfunktion von Spracherfassungsverfahren das Aufspüren von Problemen bei der normalen Sprach- entwicklung. Dennoch gibt es verschiedene Gründe, weshalb solche Verfahren einge- setzt werden. Fried (2004, S.17-26) unterscheidet zwischen einer politischen und einer pädagogischen Funktion.
Politische Funktion
In der Politik werden Hilfsmittel und Werkzeuge benötigt, die (hauptsächlich statistische) Informationen liefern, um die einzelnen Arbeitsbereiche wirkungsvoll zu kontrollieren. In Bezug auf die Sprachstandserfassung bedeutet das, dass hier hauptsächlich Verfahren eingesetzt werden, bei denen eine große Anzahl von Kindern ein sogenanntes Screening durchläuft und entsprechende Risikogruppen herausgefiltert werden. Frühzeitige Erkennung und vorbeugende Maßnahmen sollen spätere Probleme und gesellschaftliche Kosten verhindern oder verringern.
Gesundheitspolitisch versucht man die Kinder zu erfassen, die Risikofaktoren für eine Sprachentwicklungsstörung aufweisen. Damit diese frühzeitig sprachtherapeutisch behandelt werden könnten
Die Ergebnisse von PISA (vgl. Baumert 2003) zeigten, dass in unserem monolinguis- tisch geprägten Bildungssystem bestimmte soziale Gruppen, u. a. auch Kinder mit Migrationshintergrund, besonders benachteiligt sind. Deshalb werden Sprachscree- nings aus bildungspolitischen Gründen eingesetzt, um potentiell benachteiligte Kin- der frühzeitig zu identifizieren und (zeitweise) zu fördern, um Bildungsgerechtigkeit zu gewährleisten. Der aktuelle Bildungsstand soll objektiv messbar gemacht werden. Die Zuteilung von Kindern zu verschiedenen Förderprogrammen wäre damit nicht mehr abhängig von der (subjektiven) Einschätzung der ErzieherInnen, sondern von der Erfül- lung bestimmter Merkmale bezüglich der Sprachentwicklung, fordert u.a. Fried (2004, S.11)
Pädagogische Funktion
Aus pädagogischer Sicht sollen Spracherfassungsverfahren nach Fried (2004, S.48ff) hauptsächlich Informationen liefern, wie es um die Sprachentwicklung einzelner Kinder steht. Sie sollen eine möglichst präzise Darstellung der gesamten Sprachkompetenz oder auch nur einzelner Teilbereiche eines Individuums geben, um diese Kinder dann gegebenenfalls angemessen fördern zu können (treatmentvorbereitende Statusdiagnostik) oder die individuellen Fördereffekte während oder nach einer Sprachfördermaßnahme einschätzbar zu machen (treatmentbegleitende und -abschließende Prozessdiagnostik).
Selektive Funktion
Verfahren, die Penner (2005, S.76, 78) in dieser Kategorie zusammengefasst hat, überschneiden sich größtenteils mit denen, die eine politische Funktion haben. Hier geht es um Entscheidungsfindung, um eine klassische Ja-oder-Nein-Einteilung. Über den Vergleich mit normierten Daten wird durch selektive Verfahren eine be- stimmte Zielgruppe herausgefiltert, die nicht den Normwerten entspricht. Solche Verfahren werden hauptsächlich bei Übergangssituationen, wie beim Schuleintritt, angewendet, oder wenn entschieden werden soll, ob ein Kind an einer Fördermaß- nahme teilnimmt oder nicht.
Förderdiagnostische Funktion
Mit Bezugnahme auf Penner (2005, S.76-85) kann auch noch eine förderdiagnosti- sche Funktion genannt werden. Verfahren mit einer förderdiagnostischen Funktion gehen einer möglichst gezielten, individuellen Förderung voraus. Tests, die diese Funktion umsetzen sollen, müssen spracherwerbstheoretisch begründet sein und förderrelevante Ergebnisse liefern. Es liegt eine entsprechende Spracherwerbsthe- orie zugrunde und es werden Aufgaben gewählt, die Störungen in bzw. zwischen den einzelnen Spracherwerbsphasen sichtbar machen sollen. So dass mit den ein- zelnen Ergebnisse ein individueller Förderplan erstellt werden kann.
Die oben beschriebenen unterschiedlichen Motivationen beeinflussen auch indirekt die restlichen Eigenschaften der diagnostischen Verfahren. Im Folgenden wird eine Klassi- fikation von Sprachstandserhebungen nach ihrer diagnostischen Methode erläutert. Diese Auflistung orientiert sich an der Einteilung von Kany u. Schöler (2010, S.103- 118)
Schätzverfahren oder Befragung
Bei dieser indirekten Art der Erhebung geben die Eltern, das Kindergartenpersonal oder andere dem Kind nahestehende Personen in standardisierten Befragungen Auskunft über den Sprachstand des betroffenen Kindes. Das ist besonders sinnvoll bei sehr jungen Kindern, für die sich andere Diagnostiken noch nicht eignen. Diese Verfahren sind sehr zeit- und ressourcensparend. Allerdings sind solche Einschät- zungen auch immer subjektiv und die Ergebnisse nur bedingt verlässlich.
Beispiele für solche Verfahren sind u.a. ELFRA (Elternfragebögen) oder FRAKIS (Fragen zur Frühkindlichen Sprachentwicklung)
Beobachtung
Bei der Beobachtung wird das pädagogische Personal anhand eines Beobach- tungsbogens angeleitet, die Kinder hinsichtlich bestimmter Verhaltensweisen in all- täglichen oder gestellten Sprachhandlungssituationen differenziert und systema- tisch zu beobachten und diese Beobachtungen zu dokumentieren. Auch hier besteht die Gefahr der Subjektivität, das heißt, verschiedene Beobachter könnten zu ungleichen Ergebnissen kommen. Außerdem spielt die Beschreibungs- kompetenz des Beobachters eine entscheidende Rolle. Unter Umständen sind Be- obachtungen sehr zeitintensiv. Dennoch ist diese Methode bei kleinen Kindern an- gemessen, da mit ihnen keine ausführlichen Tests durchgeführt werden können. Bei einer Beobachtung stehen die Probanden nicht unter dem Leistungsdruck einer offensichtlichen Testsituation. Ein weiterer Vorteil ist, dass nicht einzelne sprachli- che Qualifikationen isoliert beobachtet werden müssen, sondern sich ein umfang- reicheres Bild des Sprachstands ergibt. Beispiele für Beobachtungsverfahren sind COPROF (Computergestütze Profilanalyse), SELDAK ( oder SISMIK (
Elizitationsverfahren
Als Elizitationsverfahren bezeichnen Kany und Schöler (2007, S.109) „Verfahren, mit denen [...] Verhaltensweisen oder Leistungen“ ganz gezielt provoziert werden, weil diese vielleicht nicht im Alltag beobachtet werden können. Dadurch ergibt sich der Vorteil, dass ein bestimmtes Verhalten hervorgerufen wird und einzelne Sprachbereiche und Qualifikationen isoliert untersucht werden können. Elizitationsverfahren werden zusätzlich in die folgenden drei Bereiche gliedert: standardisierte Tests, Screenings und informelle Verfahren.
- Standardisierte Tests
Hierbei handelt es sich um wissenschaftliche Verfahren, die nicht zu beobach- tende Eigenschaften oder Kompetenzen messen sollen. Der Ablauf der Durch- führung, die Auswertung und die Interpretation der Ergebnisse sind eindeutig determiniert und normiert. Die Leistungen des Kindes können, mit Hilfe von Vergleichsmaßstäben oder Normtabellen, mit der entsprechenden Altersgruppe des Kindes verglichen, eingeordnet und bewertet werden. Kany u. Schöler (2007, S.120) nennen einige Beispiele für standardisierte Sprachentwicklungs- tests, wie
- HSET - Heidelberger Sprachentwicklungstest,
- KISTE - Kindersprachtest für das Vorschulalter,
- MSVK - Marburger Sprachverständnistest für Kinder,
- SETK-2 - Sprachentwicklungstest für zwei- bis dreijährige Kinder,
- SETK3-5 - Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder,
- Teddy-Test,
- AWST-R - Aktiver Wortschatztest für 3- bis 5-jährige Kinder
- LBT - Lautbildungstest für Vorschulkinder
- LUT - Lautunterscheidungstest für Vorschulkinder
Die Anzahl der vorhandenen Sprachentwicklungstests ist nach Kany u. Schöler (2007, S.120) überschaubar. Kritisiert wird, dass Sprachtests die Kinder immer in eine künstliche Testsituation bringen. Allerdings können Beobachtungs- oder Einschätzverfahren weder Sprachverständnis, noch Sprachproduktion in ihren vol- len Ausmaßen messen, weshalb der Einsatz von standardisierten Tests notwendig wird. Ein weiterer Kritikpunkt der Autoren ist allerdings, dass beinahe alle Tests ausschließlich für den Einsatz bei einsprachig deutschen Kindern entwickelt wur- den und bei Kindern mit Migrationshintergrund nicht mit diesen Normskalen ein- setzbar sind. „ Der Einsatz ist bei dieser Gruppe von Kindern durch deren geringe- res Instruktionsverst ä ndnis, aber auch durch nicht vorhandenes Verst ä ndnis ein- zelner Aufgabeninhalte nur begrenzt m ö glich. “ (Kany u. Schöler 2007, S.122)
- Screenings
Screenings sind ebenfalls standardisiert. Es handelt sich um sogenannte Sieb- verfahren, mit denen große Gruppen von Kindern untersucht werden können. Durch die Normierung ergibt sich ein kritischer Leistungswert, anhand dessen die Kinder als gefährdet oder nicht-gefährdet für Sprachentwicklungsstörungen eingestuft werden können. Diese Verfahren decken meist nur einen kleinen Teil der Sprachkompetenz ab. Die Zuverlässigkeit alle sprachentwicklungsgefährde- ten Kinder zu identifizieren ist nicht bei allen Screenings gesichert. Im Gegen- satz zu den meisten standardisierten Tests müssen Screenings nicht von spe- ziell qualifiziertem Personal durchgeführt werden, sondern sind zur Anwendung des pädagogischen Personals der Einrichtungen gedacht. Außerdem ermögli- chen sie eine zeitsparende, erste Einschätzung der sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes bzw. einer großen Untersuchungsgruppe. Außerdem erlauben sie Prognosen für zukünftige Entwicklungsverläufe und liefern wichtige statistische Daten. Beispiele für Sprachscreenings sind
- BISC - Bielefelder Screening zur Früherkennung von LeseRechtschreibschwierigkeiten
- Breuer-Weufen - Differenzierungsprobe
- HASE - Heidelberger Auditives Screening zur Einschulungsuntersu- chung
- HVS - Heidelberger Vorschulscreening zur auditiv-kinästhetischen Wahrnehmung und Sprachverarbeitung
- SSV - Sprachscreening für das Vorschulalter
- MSS - Marburger Sprachscreening für 4- bis 6-jährige Kinder
- Informelle Verfahren
Informelle Verfahren sind nicht standardisierte Verfahren, bei denen auf zeit- aufwändige Testnormierungen verzichtet wurde. Aus diesem Grund bezeichnen Kany und Schöler (2007, S. 115) viele der informellen Verfahren als unbrauch- bar, auch wenn sie weit verbreitet sind. Andere informelle Verfahren genügen jedoch den Ansprüchen, da Durchführung, Auswertung und Interpretation fest- gelegt sind. Oft sind informelle Verfahren auch unveröffentlicht oder werden nur regional verwendet. Um nur ein paar Beispiele zu geben, seien hier die Verfah- ren IDIS (Inventar diagnostischer Informationen bei Sprachentwicklungsauffäl- ligkeiten) oder IVÜS (Informelles Verfahren zur Überprüfung von Sprachver- ständnisleistungen) genannt.
Der Spracherwerb ist ein hochkomplexer Prozess, der auf verschiedenen Ebenen ab- läuft. Die Linguistik unterscheidet zwischen der phonologischen, morphologischen, syntaktischen, semantischen, pragmatischen und der lexikalen Ebene (vgl. Kapitel 2.2). Den komplexen Bereich der kompletten Sprachkompetenz eines Menschen zu diagnostizieren ist kaum realisierbar und in der Praxis auch (zeit- und ressourcentech- nisch) meist nicht möglich. Aus diesem Grund werden bei den meisten Spracherfas- sungsverfahren nur bestimmt Bereiche der sprachlichen Kompetenz getestet, von de- nen angenommen wird, dass ihr Vorhandensein Aussagen darüber zulässt, ob sich bei der weiteren Sprachentwicklung evtl. Probleme ergeben könnten. Je nach zugrunde- liegender Spracherwerbstheorie geht man davon aus, dass die Kompetenz, ganz be- stimmte sprachliche Phänomene zu produzieren, darauf schließen lässt, dass eine bestimmte Stufe im Spracherwerbsprozess erreicht oder eben nicht erreicht ist. In Be- zug gesetzt zu einer Vergleichsgruppe Gleichaltriger, ließe sich so auf eine eventuelle Entwicklungsverzögerung schließen. Ausgehend von den linguistischen Ebenen des Spracherwerbs beschreiben Ehlich et al. (2007, S.12) einen erweiterten Kanon von Einzelfähigkeiten, die alle Voraussetzung für einen störungsfreien Spracherwerb sind. Diese können aber nicht klar voneinander abgegrenzt werden und entwickeln sich teil- weise synchron und korrelativ. Ehlich unterscheidet sieben sprachliche Basisqualifika- tionen.
„ Sprachliche Basisqualifikationen
a. die rezeptive und produktive phonische Qualifikation (phonetische und pho- nologische Lautunterscheidung und -produktion, Erfassung und zielsprachliche Produktion von suprasegmentalen-prosodischen Strukturen wie z. B. die Satz- intonation, sonstige paralinguistische Elemente, ihre Unterscheidung und Pro- duktion);
b. die pragmatische Qualifikation I (aus dem Einsatz von Sprache bei anderen deren Handlungsziele erkennen und darauf angemessen eingehen sowie Spra- che angemessen zum Erreichen eigener Handlungsziele einsetzen);
c. die semantische Qualifikation (die Zuordnung sprachlicher Ausdr ü cke zu
Wirklichkeitselementen und zu Vorstellungselementen sowie zu deren Kombi natorik rezeptiv und produktiv herstellen);
d. die morphologisch-syntaktische Qualifikation (zunehmende Bef ä higung, komplexe sprachliche Formen, Form- und Wortkombinationen sowie Kombina tionen zu S ä tzen und von S ä tzen verstehen und herstellen);
e. die diskursive Qualifikation (Strukturen der formalen sprachlichen Kooperati- on erwerben; Bef ä higung zum egozentrischen handlungsbegleitenden Spre- chen und zur sprachlichen Kooperation im Zusammenhang mit aktionalem Handeln, zur Narration, zum kommunikativen Aufbau von Spiel- und Phanta- siewelten);
f. die pragmatische Qualifikation II (die F ä higkeit, die Einbettung von Hand- lungsbez ü gen in unterschiedlichen sozialen Wirklichkeitsbereichen erkennen und die angemessenen Mittel zur kommunikativen Einflussnahme auf diese Wirklichkeitsbereiche zielf ü hrend nutzen);
g. die literale Qualifikation I (erkennen und produzieren von Schriftzeichen auf der Grundlage pr ä literaler Vorl ä uferf ä higkeiten, Umsetzung m ü ndlicher in schriftliche Sprachprodukte und umgekehrt, erste Erfahrungen mit Texten durch Vorlesen und darauf bezogene Anschlusskommunikation);
h. die literale Qualifikation II (Entwicklung von Graphie, Leseverm ö gen, Ortho- graphie und schriftlicher Textualit ä t; Aneignung der Ver ä nderungen im Sprachaufbau durch Schrift, Aneignung schriftlicher Textformen; Auf- und Ausbau von Sprachbewusstheit) “
(Ehlich 2007, S. 12)
Die Übersicht von Lisker (2011) zeigt die verschiedenen sprachlichen Dimensionen und die ihnen zugerechneten Basisqualifikationen.
Abb. 1-1 Die Sprachdimensionen und ihre Basisqualifikationen (aus Lisker, 2011, S.12)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die folgende Tabelle von Ehlich (2007, S.47) gibt einen Überblick, welche Basisqualifi- kationen von den einzelnen Spracherfassungsverfahren berücksichtigt bzw. getestet werden.
Abb. 1-2 Spracherfassungsverfahren, die noch im Vorschulalter ansetzen und die darin berücksichtigten Basisqualifikationen (aus Ehlich, 2007, S.47)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Vielfalt und Komplexität der verschiedenen Verfahren zur Spracherfassung macht die Entscheidung darüber, welches Verfahren eingesetzt werden soll, nicht einfach. Abgesehen davon, dass das Messverfahren dem Kind, der Situation, dem Zweck oder auch den Kenntnissen der durchführenden Person angemessen gewählt werden muss, gibt es weitere Kriterien, die für oder gegen ein bestimmtes Messverfahren sprechen, bzw. die Qualität einer bestimmten Methode zur Spracherfassung bestimmen. In den folgenden Kapiteln werden Qualitätsmerkmale aufgeführt, wie sie Becker-Mrotzek et al. (2013) für das Mercator-Institut in ihrem Werk „Qualitätsmerkmale für Sprachstandsverfahren im Elementarbereich“ entwickelt haben.
allgemeine testtheoretische Gütekriterien
Natürlich gelten auch für die verschiedenen Verfahren der Spracherfassung die allgemeinen Gütekriterien für diagnostische Testverfahren wie Validität, Objektivität und Reliabilität. Was diese Kriterien speziell für die Sprachdiagnostik bedeuten, haben Becker-Mrotzek et al. (2013, S.23 - 26) wie folgt beschrieben:
- Objektivität
„ Das Verfahren ist unabh ä ngig von subjektiven Einflussfaktoren, wie beispiels- weise dem Verhalten der p ä dagogischen Fachkraft. Die Standardisierung eines Verfahrens ist dann optimal, wenn das Verhalten des Kindes in der Testsituati- on die einzige Variationsquelle darstellt, alle anderen Bedingungen hingegen konstant oder kontrolliert sind, …“ (Becker-Mrotzek et al. 2013, S. 24)
Diese Bedingungen müssen sowohl für die Durchführung, als auch für die Auswertung und die Interpretation der Ergebnisse gegeben sein.
Bei Spracherfassungsverfahren bedeutet das, dass nur geplante sprachliche In- teraktionen zwischen dem durchführenden Personal und der Testperson statt- finden. Alle möglichen Reaktionen sind in einem Manual berücksichtigt und können eindeutig einer Beobachtungskategorie zugeordnet werden, wobei die- se Kategorien klar definiert sind. Die Interpretation der Ergebnisse findet in Be- zug zu einem Referenzrahmen statt. Dieser enthält Angaben darüber, welche Leistungen als über- oder unterdurchschnittlich zu bewerten sind und ab wann eine Sprachentwicklungsstörung oder ein Defizit festzustellen ist.
- Validität
„ Das Verfahren ist so konstruiert, dass es exakt den Sprachstand eines Kindes erfasst und nicht andere Bereiche, wie zum Beispiel kulturelles Wissen. “ (Becker-Mrotzek et al. 2013, S.23)
Bei der Untersuchung der sprachlichen Entwicklung eines Kindes müssen die einzelnen Kompetenzen mit entsprechenden Items überprüft werden. Die Umsetzung kann hierbei über das Lösen vorgegebener Aufgaben, Beobachten oder durch Einschätzung erfolgen. Beim erstgenannten Verfahren wird absichtlich eine Reaktion ausgelöst. Hierbei ist darauf zu achten, dass nicht die Fähigkeit des Kindes gemessen wird, mit der ungewohnten Situation umzugehen, sondern der das Sprachniveau des Kindes.
- Reliabilität
„ Das Verfahren misst den Sprachstand des Kindes pr ä zise. Wird das Verfahren wiederholt, steht am Ende das gleiche Ergebnis. “ (Becker-Mrotzek et al. 2013, S. 26)
Im Gegensatz zur Untersuchung, beispielsweise eines Förderprogramms, bei dem Gruppenmittelwerte ermittelt werden, handelt es sich bei der Spracherfas- sung um eine Individualdiagnostik, die eine hohe Bedeutung für die individuel- len Testpersonen und deren Biographie hat. Eine eventuelle Falschklassifikati- on hätte bedeutsame Konsequenzen für das Individuum, weshalb eine hohe Reliabilität besonders wichtig ist. Im Bereich der Spracherfassungsverfahren für den Elementarbereich wurden bisher noch keine konkreten Anforderungen diesbezüglich formuliert.
Normierung
„ Die Ergebnisse eines Kindes lassen sich mit den Ergebnissen anderer Kinder ver gleichen. Nur so l ä sst ein Verfahren eine Aussage dar ü ber zu, welche Kinder einen Sprachf ö rderbedarf haben und welche Kinder sich sprachlich altersgerecht entwi ckeln. “ (Becker-Mrotzek et al. 2013, S. 27)
Diagnosearbeit bedeutet zu vergleichen und um vergleichen zu können, werden Bezugsmaßstäbe, also Normen, benötigt.
Bei der Sprachdiagnostik geht es darum beurteilen zu können, ob die Sprachent- wicklung eines Kindes ‚normal‘ verläuft, also dem Entwicklungsstand einer Gruppe von gleichaltrigen Kindern entspricht, oder signifikante Abweichungen davon auf- weist. Bei der Auswertung eines Tests werden die ermittelten Rohwerte üblicher- weise in einen Normwert umgerechnet, um eine Bewertung der Ergebnisse möglich zu machen. Damit eine solche Vergleichsnorm zustande kommt, muss bei der Testkonstruktion zuvor eine solche Norm ermittelt werden. Je repräsentativer und größer die Normierungsstichprobe ausfällt, desto präziser können die individuellen Ergebnisse verglichen werden.1
Fehlerquote
„ Das Verfahren stellt sicher, dass die Kinder, die einen Sprachf ö rderbedarf haben, auch wirklich identifiziert werden. “ (Becker-Mrotzek et al. 2013, S. 28)
Da kein Testverfahren perfekt sein kann, kommt es immer wieder zu Falschklassifikationen. Kinder, die keinen Förderbedarf haben, werden als förderbedürftig eingestuft und umgekehrt. Hier muss abgewogen werden, welche der beiden Möglichkeiten im speziellen Fall als die negativere Folge eingeschätzt wird, um die Fehlerquote dahingehend zu minimieren.
Praktikabilität
„ Das Verfahren ber ü cksichtigt die Konzentrationsf ä higkeit des Kindes und die zeitli- che Machbarkeit im p ä dagogischen Alltag. “ (Becker-Mrotzek et al. 2013, S. 32)
Ab einer Durchführungsdauer von über 30 Minuten ist bei vier- bis fünfjährigen Kin- dern mit einem wesentlichen Einfluss auf die Konzentrationsfähigkeit und damit auch auf die Leistungsfähigkeit der Kinder zu rechnen. Deshalb sollte die Testsitua- tion auf diese Zeitfenster beschränkt sein. Gegebenenfalls können nur Teilbereiche geprüft werden oder die Diagnose in mehreren Teilen durchgeführt werden.
Ein zweiter Aspekt ist, dass für die Durchführung, Auswertung und Rückmeldung der Ergebnisse, an die Eltern und in der Institution intern, insgesamt nicht mehr als eine Stunde pro Kind aufgewendet werden sollte.
Spezifität (Relevanz für die Förderplanung)
Pädagogische Diagnostik dient laut Becker-Mrotzek et al. (2013, S.35) nicht dem Selbstzweck, sondern führt im besten Fall zu einer zielgerichteten Förderplanung. Eine simple Zuweisung zu einer Risikogruppe oder nicht, ist die am wenigsten spe- zifische Form der Diagnose. Im Gegensatz zu Diagnoseinstrumenten, die verschie- dene sprachliche Bereiche und Kommunikationssituationen unterscheiden und konkrete Empfehlungen für eine gezielte Förderung geben. Außerdem sollte ein Verfahren mit hoher Spezifität darüber Aufschluss geben, welche Art der Förderung angemessen ist. Bei Kindern, die ca. drei bis vier Monate hinter dem durchschnittlichen Entwicklungsstand zurückliegen, liegt ein Sprachförderbedarf vor, der mit Hilfe von gezielter Förderung ausgeglichen werden kann. Sprachauffällig sind Kinder, die ungefähr eine sechsmonatige Verzögerung aufweisen. Hier sollte eine sprachtherapeutische oder logopädische Therapie eingesetzt werden.
Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit
Das Einbeziehen der persönlichen Sprachbiographie ist für Becker-Mrotzek et al. ein wichtiges Qualitätsmerkmal und in unserer heutigen Gesellschaft auch auf keinen Fall zu vernachlässigen. Deshalb wird auf dieses Thema im dritten Kapitel ausführlich eingegangen.
Konrad Ehlich, in Zusammenarbeit mit Ursula Bredel, Brigitta Garme, Anna Komor, Hansjürgen Krumm, Tim McNamara, Hans H. Reich, Guido Schnieders, Jan D. ten Thije, Huub von den Bergh (2005), kommen mit ihrer Expertise zu ‚Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Sprachförderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund‘ auf entsprechende qualitative Voraussetzungen für sprachdiagnostische Verfahren. Ebenso wie Lilian Fried (2004) in ihrer Expertise zu ‚Sprachstandserhebungen für Kindergartenkinder und Schulanfänger. Eine kritische Betrachtung‘.
Die verschiedenen diagnostischen Methoden haben alle ihre Berechtigung, um in den unterschiedlichsten Situationen eingesetzt zu werden. Dennoch ergeben sich einige Nachteile oder Probleme, die bei der Auswahl eines Verfahrens nicht außer Acht gelassen werden dürfen.
Jeuk (2007, S.106) weist darauf hin, dass beim komplexen Vorgang des Spracher- werbs Prozesse auf verschiedenen Ebenen stattfinden. „ Hierzu geh ö rt der Erwerb der allgemeinen F ä higkeit zur symbolischen Interaktion mit einem Gegen ü ber genauso wie das Lernen der komplexen Regeln der Grammatik in Bezug auf die Bildung von W ö r- tern, S ä tzen und l ä ngeren Ä u ß erungen und der Erwerb eines differenzierten Wort- schatzes mit den dazu geh ö renden Bedeutungen der W ö rter. “ Er kommt zu dem Schluss, dass konstruierte Tests, bei denen der Gebrauch von Sprache meist nur nach sprachlichen Strukturebenen eingeteilt ist, dieser Tatsache nicht gerecht werden kann.
Bei der Auswertung wird oft nicht berücksichtigt, dass Äußerungen wie Einwortsätze oder rudimentäre Äußerungen (evtl. begleitet von Gesten), die im mündlichen Ge- brauch zu kommunikativen Zwecken völlig ausreichend sind, „… aus dem Blickwinkel einer an der schriftlichen Norm orientierten Komplexit ä t nicht immer richtig sind. “ (Jeuk, 2007, S.108) Dieser Unterschied zwischen kommunikativen Fertigkeiten und der Fä- higkeit formalsprachlich richtig zu sprechen, kann große Unterschiede bei der Auswer- tung von Tests ergeben.
Wie in Kapitel 2 genauer beschrieben, ist die Sprachaneignung kein linearer Prozess, sondern unterliegt einer gewissen Variationsbreite von möglichen Verläufen, sowohl in der Reihenfolge, als auch im Tempo. Diese Tatsache kann die Interpretation von Er- gebnissen oder den Vergleich mit vorgegebenen Normen erschweren oder zu Fehlin- terpretationen führen.
Die unterschiedlichen Diagnoseverfahren verlangen vom durchführenden Personal unterschiedliche fachliche Kompetenzen bei der Durchführung, Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten. Falls die Qualifizierung des Testpersonals nicht mit den für den Test vorausgesetzten Fachkompetenzen übereinstimmt, kann das Auswirkungen auf die Aussagekraft der Ergebnisse haben.
-bjektivität von Beobachtungsverfahren
Ulrich u. Mayr (2003, S.1) erwähnen einige Schwierigkeiten der Spracherfassung, be- sonders bei mehrsprachigen Kindern. Nach ihren Angaben wurden viele Diagnosever- fahren und vor allem Sprachtests ursprünglich dafür entwickelt, um Sprachstörungen bei einsprachig deutschen Kindern zu identifizieren. Werden solche Tests nun zum Beispiel eingesetzt, um Förderentsscheidungen zu begründen, kommt es leicht zu ei- ner Pathologisierung von mehrsprachig aufwachsenden oder sozial benachteiligten Kindern. Dagegen werden speziell für den Zweitspracherwerb bekannte Probleme, wie z.B. Fossilierungen, nicht erkannt. Ein einzeln durchgeführter Test kann nur Aussagen machen über den momentanen Sprachstand eines Kindes. Solche punktuellen Stich- proben haben wenig Aussagekraft über die tatsächliche Entwicklung sprachlicher Kompetenzen. Auch muss darauf geachtet werden, dass die Kinder nicht durch ein einmaliges Testergebnis stigmatisiert werden und als ‚Mängelwesen‘ abgestempelt, da Tests häufig das Augenmerk auf die Defizite richten und weniger auf die vorhandenen Kompetenzen.
Alle Diagnoseverfahren haben verschiedene Vor- und Nachteile. Es muss darauf ge- achtet werden, die Verfahren nur für die vorbestimmten Zwecke einzusetzen, um ein entsprechendes aussagekräftiges Ergebnis zu bekommen. Es dürfen keine überzoge- nen Erwartungen an sprachdiagnostische Mittel gestellt werden. Ein flächendeckendes
Sprachscreening für alle Schulanfänger ist noch kein Allheilmittel gegen Schulversa- gen.
Alle oben beschriebenen Merkmale von Spracherfassungsverfahren sollten bei der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Sprachdiagnostik berücksichtigt werden. Ob ein Verfahren sinnvoll eingesetzt werden kann, hängt von vielen verschiedenen Faktoren und Umständen ab und muss individuell für die jeweilige Situation bestimmt werden.
Welche Aussage oder Entscheidung soll auf der Grundlage der Ergebnisse getroffen werden?
Mit welcher Methode lassen sich sinnvolle Aussagen über den Untersuchungsgegenstand gewinnen?
Welcher Bereich der Sprachentwicklung soll untersucht werden?
Welche äußeren Bedingungen sind gegeben? Welche Ressourcen (Zeit, Personal, Räumlichkeiten, Geld,…) können für die Durchführung in einem ökonomisch vertretbaren Rahmen eingesetzt werden?
Welches Verfahren weist die (für den entsprechenden Zweck) erforderlichen Qualitätsmerkmale auf?
Um solche Aussagen gezielt treffen zu können und ein entsprechendes diagnostisches Verfahren angemessen auszuwählen, ist es wichtig, dass die Dokumentation eines Verfahrens in Bezug auf die Eindeutigkeit und Zweckmäßigkeit seiner Selbstbeschreibung vorhanden und treffend ist. Ein Qualitätsmerkmal, sozusagen auf einer Metaebene, für die beigestellten Informationen zum Verfahren, die über den zu testenden Bereich und erfüllbaren Zweck ausführlich Auskunft geben.
die Auswahl eines Verfahrens und die Durchführung auf der Basis von fundier- ten diagnostischen, sprachwissenschaftlichen und entwicklungspsychologi- schen Kenntnissen beruht. Also das durchführende Personal entsprechend qualifiziert ist.
Es ist sprachwissenschaftlich erwiesen, dass wesentliche Unterschiede darin bestehen, wann und unter welchen Bedingungen jemand eine oder mehrere Sprachen erlernt. Im folgenden Kapitel werden Begrifflichkeiten geklärt und wichtige Erkenntnisse zum (Zweit-)Spracherwerb erläutert.
All diese Begriffe werden in der Fachliteratur benutzt für den Prozess, den ein Kind durchläuft, wenn es nach und nach seine Muttersprache versteht und produziert. Kany und Schöler (2007, S.15) weisen aber darauf hin, dass die verschiedenen Begriffe dennoch unterschiedliche Sichtweisen auf diesen Prozess implizieren. Mit Sprachent- wicklung wird häufig verbunden, dass Sprache sich auf einer genetischen Basis an- hand eines vorbestimmten Reifungsprogramms entwickelt und das Kind dabei eine passive Rolle spielt. Beim Spracherwerb wird dagegen eine aktive Auseinanderset- zung des Kindes mit seiner sprachlichen Umgebung vorausgesetzt. Der Begriff Sprachlernen lässt den Vergleich ziehen, zu anderen Lernprozessen, durch die sich Kinder bestimmte Fähigkeiten aneignen. Ehlich (u.a. 2008) wiederum schreibt in sei- nen Veröffentlichungen von Sprachaneignung und hebt sich damit begrifflich, aber nicht durch eine eigene Definition, von den anderen Bezeichnungen ab.
Wie im folgenden Kapitel deutlich wird, sind alle diese Aspekte Teil des komplexen Vorgangs, durch den eine Sprache angeeignet, gelernt, erworben, erarbeitet wird oder sich entwickelt. Jeder einzelne Begriff beleuchtet den Prozess von einer anderen Seite, aber keiner kann ihn gänzlich umfassen. Weshalb im weiteren Verlauf des Textes nicht explizit zwischen den einzelnen Begriffen unterschieden wird, sondern alle Varianten gegebenenfalls zur Anwendung kommen bzw. die entsprechenden Begriffe aus der zugrundeliegenden Literatur benutzt werden.
Zvi Penner (2005, S.179) bezeichnet den Spracherwerbsprozess als hoch komplex, robust aber auch störungsanfällig, automatisiert, erfolgreich und in großen Teilen ein- heitlich. Es ist mittlerweile allgemein wissenschaftlich bekannt, dass sich der Sprach- erwerb im Wechselspiel mit der kognitiven und interaktiven Entwicklung vollzieht.
Rosemary Tracy (2002 S.3ff) fasst die Grundlagen des Spracherwerbs wie folgt zu- sammen:
Der Spracherwerb basiert auf einer biologischen Veranlagung. Grundsätzlich jedes Kind besitzt die Fähigkeit Sprache zu lernen. Voraussetzung dafür ist der Input durch die Umgebungssprache. Eine explizite Unterweisung ist nicht nötig. Dieser Prozess zeigt sich sehr robust gegenüber möglichen Umwelteinflüssen. So können auch gehörlose Kinder die Gebärdensprache lernen, wie normale Kinder die Lautsprache erwerben, wenn der entsprechende Input gegeben ist. Sprache entwickelt sich mit einer gewissen Eigendynamik und sehr systema- tisch. In jeder Zielsprache sind verschiedene ‚Meilensteine‘ zu beobachten, die die Kinder nacheinander erreichen. Auch greifen Kinder nicht zufällig Elemente aus dem Input heraus. sondern systematisch. Z.B. verwenden zuerst alle deutschsprachigen Kinder grundsätzlich den Akkusativ statt des Dativs. Auch Kany u. Schöler (2007, S.28) erwähnen die Tatsache, dass die Reihenfolge, in der sprachliche Strukturen erworben werden, von der kognitiven und der sprachlichen Komplexität abhängt und grundsätzlich ‚vom Leichten zum Schwe- ren‘ geht.
Die Entwicklung folgt unterschiedlichen Lernprofilen. Obwohl der Verlauf des Spracherwerbs im Wesentlichen immer gleich verläuft, gibt es dennoch Unter- schiede. Bei der holistischen Strategie orientieren sich Kinder an der Prosodie und speichern teilweise große Inputfragmente als komplette Einheiten ab, wo- hingegen beim analytischen Vorgehen komplexere Sprachgefüge aus kleinen Teilen aufgebaut werden. Viele Kinder benutzen beide Strategien.
Zwischenlösungen und Übergeneralisierungen, wie die regelgeleitete Flexion von unregelmäßigen Verben zum Beispiel (‚gekommt‘ anstatt ‚gekommen‘), sind normale und wichtige Meilensteine im Erwerbsprozess und verschwinden automatisch wieder.
Spracherwerb findet gleichzeitig auf mehreren Ebenen statt. Es wird unterschieden zwischen Phonologie, Semantik, Morphologie, Syntax und Pragmatik. Ein wichtiger Teil der Sprachentwicklung ist das metalinguistische Wissen, also das Wissen über Sprache. Hier wird nochmals unterschieden zwischen einem großen Teil impliziten, also intuitivem Wissen und einem expliziten, bewussten Wissen über Sprache und deren Form und Verwendung.2
Die verschiedenen Begriffe, die sich auf den Erwerb von mehreren Sprachen beziehen, werden in der Fachliteratur weitgehend einheitlich unterschieden. So z.B. bei Kany u. Schöler (2007, S.20) oder Bunse u. Hoffschildt (2008, S.78 ff) Allerdings gibt es für die einzelnen Erwerbstypen unterschiedliche Bezeichnungen. Je nachdem zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form der Kontakt mit einer Sprache beginnt, spricht man von unterschiedlichen Erwerbstypen.
Von Bilingualismus, doppeltem oder simultanem Erstspracherwerb (L1) wird ge- sprochen, wenn ein Kind von Geburt an gleichzeitig mit zwei Sprachen konfrontiert wird und diese beide als Muttersprache oder Erstsprache erwirbt. Der Erstspracherwerb, egal ob mono- oder bilingual, läuft implizit, also unbewusst und ungesteuert ab.
Von (sukzessivem) Zweitspracherwerb (L2) sprechen Fachleute wenn der Kontakt mit der zweiten Sprache erst beginnt, während der Erstspracherwerb schon im Gange ist. Je nach Alter der Kinder zu Beginn des Erwerbs der neuen Umgebungssprache spricht man auch vom frühen Zweitspracherwerb. Thoma u. Tracy (2006, S.58 ff) gehen davon aus, dass bis zum Ende des vierten Lebensjahres noch die impliziten Strategien des doppelten Erstspracherwerbs genutzt werden können. Nach dem der- zeitigen Forschungsstand kann dieser Zeitpunkt aber nicht genau festgelegt werden (vgl. auch Bunse u. Hoffschildt 2008 S.81). Kany u. Schöler (2007, S.20) nehmen an, dass sich während des fünften Lebensjahres die Prozesse beim Zweitspracherwerb ändern. Während die Zweitsprache bisher kommunikationsorientiert, im Umgang mit Anderen und unbewusst erworben wurde, finden die Lernprozesse ab einem Alter von fünf bis sechs Jahren nun immer mehr kognitionsbestimmt statt.
Der Vollständigkeit halber sei hier noch der Fremdsprachenerwerb erwähnt. Davon sprechen u.a. Bunse u. Hoffschildt (2008, S.84), wenn eine Zielsprache strukturiert und an expliziten Erwerbsstrategien orientiert unterrichtet wird, wie es bei älteren Kindern und Erwachsenen der Fall ist. Dieser Erwerbstyp spielt in Kindertageseinrichtungen und speziell für die Kinder mit Migrationshintergrund allerdings keine Rolle. Diese kön- nen in den meisten Fällen zu Kindern mit frühem Zweitspracherwerb gezählt werden oder sind bilingual erstsprachig. In einigen Fällen ist Deutsch, die Umgebungssprache, mit der sie beim Eintritt in die Bildungseinrichtung konfrontiert werden, auch bereits die dritte Sprache.
Im Gegensatz zum Erstspracherwerb (mono- oder bilingual) oder dem späteren Fremdsprachenerwerb bei Jugendlichen oder Erwachsenen gibt es noch wenige Un- tersuchungen darüber, wie der frühe Zweitspracherwerb bei Kindern abläuft. Wie be- reits erwähnt, ist noch nicht eindeutig erforscht, bis zu welchem Alter ein Kind sich in einem zeitlichen Entwicklungsfenster befindet, in dem es über optimale Fähigkeiten für einen Erstspracherwerb einer oder mehrerer Sprachen verfügt, bzw. ab wann man von einem sukzessiven Zweitspracherwerb spricht. Die Angaben in der Fachliteratur schwanken zwischen drei und fünf Jahren. Zusammengefasst lässt sich also sagen, je älter ein Kind wird, desto weniger kann es implizite Spracherwerbsstrategien nutzen und desto eher setzt es kognitive Strategien ein. Dadurch kann auch metalinguisti- sches Wissen mit in den Lernprozess einbezogen werden und die Sprachen zu einan- der in Verbindung gebracht werden. Die Kinder in den Tageseinrichtungen lernen hauptsächlich noch implizit, ohne sprachlich zu reflektieren. Dennoch finden, im Ge- gensatz zum L1-Erwerb, laut Ringler u. Küpelikilinç (2007, S. 45) schon (unbewusste) metasprachliche Prozesse statt. Die Kinder wissen bereits, dass Sprache syntakti- schen Regeln folgt, und es wird davon ausgegangen, dass Kinder diese Annahme auf die Zweitsprache übertragen. Diesen sprachlichen Transfer erwähnen auch Rothweiler u. Ruberg (2011, S.14). Erst- und Zweitsprache beeinflussen sich gegenseitig. Auf der Ebene von grammatischen Strukturen z.B. bei Elemente, Regeln oder Merkmalen der Erstsprache. Dieser Transfer kann sowohl negativen als auch positiven Einfluss auf die Sprachkompetenz in der Zweitsprache haben. Durch die direkte Übertragung auch einzelner spezieller Regeln der Muttersprache in die Zielsprache ergibt sich eine soge- nannte Interims- oder Zwischensprache. Diese wird immer wieder mit der Umgebungs- sprache abgeglichen und entsprechend angepasst. Im besten Fall endet dieser Pro- zess in der perfekten Beherrschung der syntaktischen Regeln der Zielsprache. Eine Besonderheit des Zweitspracherwerbs sind aber immer wieder auftretende „… ..sog. ‚ Fosslierungen ‘ , d.h. lernersprachliche Abweichungen von der Zielsprache, die sehr korrekturresistent sind! “ (Tracy 2002, S. 13)
Bei mehrsprachigen Personen ist auch immer wieder ein Sprachwechsel oder eine Sprachmischung zu beobachten. Entgegen früherer Meinungen ist laut Rothweiler u. Ruberg (2011, S.15) heute nicht mehr davon auszugehen, dass code switching, wie Sprachwechsel oder -mischung auch genannt werden, ein Zeichen von mangelnder Sprachentrennung oder -beherrschung ist, sondern Ausdruck sprachlicher Kompetenz. Wann code switching eingesetzt wird, hängt von mehreren äußeren Faktoren ab. Meist orientiert sich die benutzte Sprache aber an der sprachlichen Kompetenz des Ge- sprächspartners. Eine weitere Einsatzmöglichkeit, als Hilfsstrategie, kommt dann zum Tragen, wenn ein Wort oder eine grammatische Struktur nur in einer Sprache vorhan- den ist und aus dieser in die andere Sprache ausgeliehen wird. Diese Situation ergibt sich durch die Tatsache, die schon in Kapitel 2.2 erwähnt wurde. Zuerst werden ‚leich- tere‘ Strukturen erlernt und danach komplexere. Dadurch ergeben sich für jede Spra- che unterschiedliche Erwerbsreihenfolgen. Deshalb können mehrsprachige Kinder in ihren verschiedenen Sprachen unterschiedliche grammatische Strukturen beherrschen.
Wie bereits bei den verschiedenen Erwerbstypen erwähnt, hängt der Spracherwerb davon ab, wann er beginnt. Auch beim einsprachigen Erwerb gibt es bestimmte Zeiträume, sogenannte sensible Phasen, in denen Kinder bestimmte sprachliche Kompetenzen besonders gut oder ausschließlich erwerben. Beim sukzessiven Zweitspracherwerb fallen die Erwerbszeiträume nicht immer passend in die entsprechenden sensiblen Phasen, wodurch sich Lernschwierigkeiten ergeben können.
Wie bereits erwähnt, sind schon bei der Geburt alle Anlagen vorhanden, um Sprache zu lernen. Zusätzlich bedarf es jedoch weiterer Bedingungen, damit ein Kind seine sprachlichen Kompetenzen vollständig entwickeln kann. Diese Tatsachen hat Wolf- gang Wendlandt in seinem ‚Sprachbaum‘ (s. Abb. 2-2) zusammengefasst und illustriert. Laut Ringler u. Küpelikilinç (2007, S.37 ff) stellt in der folgenden Abbildung die Baum- krone die aktive Sprache eines Kindes dar. Als Grundlage für eine volle Krone ist ein breiter und kräftiger Stamm notwendig, der hier aus Sprachverständnis und der Freude und Motivation zu sprechen besteht. Das Fundament für einen starken Stamm bilden die Wurzeln, die in Wendlands Sprachbaum für sensomotorische Erfahrungen und die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung des Kindes stehen. Ohne diese Wurzeln bekäme der Stamm keinen festen Stand und könnte keine Nahrung aus dem Boden aufnehmen. Der Boden steht für die Umgebung, in der das Kind aufwächst, seine Le- benssituation, die Kultur und die Gesellschaft. Eine weitere Voraussetzung ist genü- gend, aber nicht zu viel Sonne, die hier als Sinnbild für Wärme, Liebe und Akzeptanz dargestellt wird. Die letzte Komponente für das Baum- bzw. Sprachwachstum bilden Dünger und Wasser, die die Bedeutung der Kommunikation veranschaulichen. Sowohl zu viel, als auch zu wenig können hier negativen Einfluss auf die Entwicklung haben. Bei der Kommunikation kommt es vor allem auf die Art und den Umgang mit dem Kind an und auf die Qualität der sprachlichen Vorbilder. Ringler u. Küpelikilinç (2007, S. 39) beschreiben die Kommunikation als einen sehr individuellen Bereich, der oft für große Unterschiede in der Sprachentwicklung verantwortlich ist. Damit bietet dieser Bereich aber auch einiges Potential für die Sprachförderung.
Abb. 2-1: Sprachbaum nach Wendlandt aus 'Sprachstörungen im Kindesalter ' (Wendlandt, 2006, S.11 )
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In Bezug auf mehrsprachige Kinder haben Ringler u. Küpelikilinç (2007, S.39) den Sprachbaum von Wendlandt am Modell eines Kindes mit türkischer Muttersprache, das in einen deutschen Kindergarten kommt, weiterentwickelt und einen zweisprachigen Baum erstellt. Hier entsteht die zweite Baumkrone (Deutsch) aus dem Stamm der Mut- tersprache (Türkisch) und ist noch etwas kleiner. Die Autorinnen betonen, dass es wichtig ist, dass die beiden Kronen sich zwar verzweigen, aber dennoch getrennt von- einander entwickeln, um sich gegenseitig nicht zu behindern. Der Boden in Wurzelnä- he symbolisiert die überwiegend türkischen Einflüsse aus Familie und Kultur, in der das Kind bisher und auch weiterhin die meisten Erfahrungen gemacht hat. Dieser Umstand muss mit ausreichender und qualitativ hochwertiger Kommunikation in der Zielsprache Deutsch kompensiert werden. Besonderes Augenmerk soll auf den Knotenpunkt gelegt werden, an dem sich die zweite Krone ausbildet. Wichtig für das Wachstum sind hier, dass das Kind Sprachunterschiede wahrnimmt und motiviert wird, sich mit den unter- schiedlichen Sprachen zu beschäftigen. Da Kinder die frühkindliche Entwicklung nicht zwei Mal durchlaufen, ist es klar, dass zwei Kronen aus einem Stamm wachsen und kein komplett neuer Baum entsteht. Weiter bedeutet das aber auch, dass für eine gute Baumpflege oder Sprachförderung immer das Gesamtgebilde, also die komplette Sprachbiographie berücksichtigt werden sollte.
[...]
1 Becker-Mrotzek et al. (2013, S.27) beschreiben die Normierung einer Sprachdiagnostik als sehr gut, bei einer Stichprobengröße von 300 Kindern.
2 für detaillierte Informationen zum Spracherwerb s.a. ‚Referenzrahmen zur alterspezifischen Sprachaneignung‘ - Bildungsforschung Band 29/1 (Ehlich et al. 2008)
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