Bachelorarbeit, 2014
67 Seiten, Note: 1,1
Inhaltsverzeichnis … ii
Einleitung … 1
I Das Problem verstehen
2. Die Fragmentierung … 7
2.1 Was ist eine fragmentierte Nation? … 7
2.2 Die kolumbianische Fragmentierung … 13
2.2.1 Regionalismus & Diversität der Bevölkerung … 13
2.2.2 Globale Integration, nationale Fragmentierung … 16
2.2.3 Unvollständige Moderne als Folge einer gespaltenen Elite … 20
2.2.4 Der bewaffnete Konflikt nach der Violencia … 24
2.2.5 „Unpolitische“ Gewalt … 27
2.2.6 Ein demokratischer Rechtsstaat? … 28
2.2.7 Land der fragmentierten Städte … 29
2.3 Zwischenergebnis: Kolumbien - Die fragmentierte Nation? … 30
II Eine Lösung?
3. Cultura Ciudadana … 37
3.1 Zur Person: Antanas Mockus … 37
3.2 Clowns statt Polizisten: La Educación Ciudadana … 39
3.3 Harmonisierung von Gesetz, Moral und Kultur … 41
3.4 Interacción intensificada … 43
3.5 Cultural Agency … 46
3.6 Anfibios Culturales … 47
3.7 Zusammenfassung: Was ist Cultura Ciudadana? … 50
III Abschluss
Ergebnisse … 55
IV Appendix
Bibliografie ... 59
Im Zuge der konstruktivistischen Wende der Sozialwissenschaften in den 80er und 90er Jahren leisteten insbesondere die Arbeiten Ernest Gellners (Gellner, 1983), Eric Hobsbawns (Hobsbawn & Ranger, 1992) und Benedict Andersons[1] (Anderson, 1983) einen entscheidenden Beitrag, um die Notwendigkeit und Funktionsweise des Konzeptes „Nation“ in der Moderne zu verstehen. Ihre Arbeiten suggerierten jedoch eine Entwicklung der kulturellen Homogenität durch das Projekt der Nationenbildung, ohne jedoch den trügerischen Charakter dieses Konzepts in einer wesentlich heterogeneren Welt zu artikulieren.
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts unterzog Clifford Geertz 1996 in seinen drei Vorträgen zur „Weh in Stücken“ (Geertz, 1996) dieser Illusion der homogenen Nation einer grundsätzlichen Kritik, zeigte, wie die Weltvorstellung homogener Nationen zerbrochen ist und äußerte erste Überlegungen, wie man mit dieser Desillusion umgehen sollte. Er kam zu dem Schluss: „Den großen glitzernden Kristallglobus, der die Welt vor dem Zusammenprall der Erfahrungen war, kann man nicht mehr rekonstruieren.“ (Platthaus, 1996, S. 9). Der prominenteste Gegenentwurf, die imagined communities Benedict Andersons; das heißt die Konstruktion der imaginierten Gemeinschaft durch Begriffe wie imaginierte und erinnerungsproduzierende Identität, Kultur, Gesellschaft etc. - kurz: Die in der Moderne geborene Meta-Erzählung namens „Nation“, und damit die Weltdeutung homogener Staaten, liegt am Ende des 20. Jahrhunderts in Stücken. Vielmehr sind die postkolonialen Nationalstaaten fragmentiert oder die Menschen der Industrienationen schaffen sich ihre hybriden bzw. fluiden Identitäten in den Multioptionsgesellschaften der Postmoderne. Zwar ist das Nationalisierungsprojekt der Moderne in Teilen der Welt noch nicht begraben, scheint aber ins Leere zu laufen. Geertz fragt sich daher „Was ist ein Land, wenn es keine Nation ist?“ und „Was ist eine Kultur, wenn sie kein Konsens ist?“ Er folgert, dass wir uns in einer zersplitterten Welt an die Splitter halten und die Erzählungen über sie kleiner werden müssen. Nach seinen Überlegungen eröffnet eine sozialdemokratische Spielart des Liberalismus, an die wir uns halten sollten, mit ihren Idealen die besten Perspektiven, uns in einer solchen, für uns neuen und überwältigend heterogenen Welt, zu orientieren. Doch so treffend seine Analysen und Forderungen auch sind - eine Alternative zu den bisherigen politischen Theorien bietet er nicht an.
Derweil scheint Kolumbien geradezu als Paradebeispiel Geertz* Analysen zu untermauern, sodass von dem Land als „algo diferente de una nación“ (Lobo, 2009), einem „gescheiterten Staat“ (McLean, 2002) bzw. einer fragmentierten Nation gesprochen wird (Browitt, 2001). Neueste Untersuchungen thematisieren auch den Versuch des mittlerweile entpflichteten kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe Vêlez, dem modernen Projekt der Nation wieder neues Leben einzuhauchen (Lobo, 2013). Parallel zu dieser Entwicklung, in Zeiten breiter Resignation über Kolumbiens und Bogotás Werdegang, trat ein Mann auf die politische Bühne, der es vermochte, die Hauptstadt Bogota und das Zusammenleben seiner Bewohner auf unkonventionelle Weise zu erneuern. Mit seinen pädagogisch eindrucksvoll und teils künstlerisch umgesetzten Aktivitäten einer cultural agency belebte Antanas Mockus als Bürgermeister Bogotás sein Projekt der Cultura Ciudadana und verbesserte durch sein Konzept Armonización de Ley, Moral y Cultura das Zusammenleben der Bevölkerung Bogotás. Sein außerordentlicher Erfolg machte Schule und das internationale Interesse an seinem Schaffen lässt bis heute nicht nach. Mit dem Slogan zur Präsidentschaftswahl „Hicimos ciudad, haremos país“, beabsichtigt er, 2010 im Wortsinn seine Programmatik landesweit weiterzuführen.
Ist das, was Mockus da anbietet, eine Alternative? Versucht er eine „Welt in Stücken“ über den Umweg der Cultura Ciudadana zusammenzufügen - quasi als Mosaik aus den kulturellen Bruchstücken des Globus? Befinden wir uns am Anfang einer neuen Variante der modernen Meta- Erzählung über die imaginierte Gemeinschaft oder versucht er lediglich die scharfen Kanten der Welt in Stücken, vor denen uns Geertz warnt, abzustumpfen? Ist es ihm trotz des Verzichts auf Meta-Erzählungen in einer fragmentierten Nation gelungen, gesellschaftliches Miteinander in der Art zu generieren, wie es die moderne Meta-Erzählung der homogenen Nation beispielsweise einst zum Ziel hatte? Bietet Mockus Konzepte für ein Leben in postmodernen Gesellschaften an oder stellen seine Ideen einen Rückschritt dar?
Um diese Frage zu beantworten, soll geklärt werden, warum Kolumbien eine fragmentierte Nation ist. Ziel dabei ist es, dem Leser zu verstehen zu geben, welche Prozesse, trotz der Verfolgung einer homogen gedachten Nation während des 19. und 20. Jahrhunderts, die zentrifugalen Kräfte Kolumbiens entfesselten. Im Zentrum dieses Abschnitts sollen die Zerwürfnisse der kolumbianischen Nationalstaatsbildung stehen. Hierzu sollen, nicht strikt chronologisch, besonders die historischen Analysen Marco Palacios* Aufschluss darüber geben, wie Kolumbien im spezifischen fragmentiert ist.
Daran Anknüpfend werden die Politik Antanas Mockus*, seine verwirklichten Ideen und sein theoretischer Unterbau Armonizar Ley, Moraly Cultura konzeptualisiert, um eine Annäherung an das Konzept Cultura Ciudadana zu ermöglichen.
Zum Schluss soll der Frage nachgegangen werden, ob Cultura Ciudadana die Fragmentierung Kolumbiens überwinden kann. Bietet Mockus eine Alternative zu Geertz* Kritik an der modernen Meta-Erzählung oder fällt er gar in anderer Gestalt zu ihr zurück?
Die Frage, was eine fragmentierte Nation eigentlich ist, lässt sich aufgrund des komplexen Gegenstandes nur schwer beantworten. Der Begriff kursiert aufgrund seiner Mehrdeutigkeit immer noch unscharf in den Geisteswissenschaften und findet unterschiedlich Verwendung, wie etwa in der Soziologie, wo er synonym für „sozial geteilte Gesellschaften“ oder etwa in den Politikwissenschaften, wo „Nation“ gleichbedeutend als „Land“ und Fragmentierung als „Staatszerfall“ verwendet wird. Darüber hinaus sollte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive dem Einwand stattgegeben werden, dass jedes Land bzw. jede Nation anders fragmentiert ist, und zwar in dem Maße, wie sich jedes Land als Nation imaginiert. Kurz: Es gibt nicht die Fragmentierung. Es ist ein Sammelbegriff für verschiedenste Ausprägungen eines Phänomens.
Das Konzept der fragmentierten Nation, wie es in der vorliegenden Arbeit Anwendung finden soll, lässt sich ausgehend von Geertz* Analyse mit einer Wörterbuchdefinition, wie etwa „Bruchstück“ oder „Fferausgelöstes“ nicht in all seinen Facetten fassen (vgl. Marx, 1994, S. 306f.). Diese Auslegung erweckt den Eindruck, dass eine Nation, aufgefasst als Andersons imagined Community, in ihrem schillernden Glanz oder gar eine Art Natürlichkeit des Nation-Seins bereits im Vorfeld bestand und man nun mit deren Bruchstücken, etwa kleinere abgesplitterte Nationen, konfrontiert ist. Dieses Bild ist so eher untauglich, denn im Verlauf der Arbeit soll verdeutlicht werden, dass Fragmentierung, speziell im Fall Kolumbiens, zumeist ein historischer Fall des Nicht- Zueinanderfindens, statt eines Auseinanderbrechens ist. Das begehrte Zueinanderfinden ist eines der entzauberten und dem Fortschrittsstreben dienenden meta-erzählerischen Projekte der Moderne und das nun sichtbar gemachte Eben-Nicht-Zueinanderfinden eine Erkenntnis an der Schwelle zur Postmoderne im 21. Jahrhundert (vgl. Williams, 2010, S. 25). Man ist also nicht mit einem Zerfallsprozess als solchen, sondern eher mit einer zerbrochenen Weltdeutung konfrontiert. Dies ist die essentielle Einsicht der Welt in Stücken oder besser: Einer Weltdeutung in Stücken.
Im kolumbianischen Kontext soll Fragmentierung also als die Folgeerscheinung der unvollständigen Nationen- und Nationalstaatsbildung betrachtet werden, die die europäische Modernisierungsgeschichte zum Vorbild nahm, „wo nationale Einheiten als quasi-ethnische Identitäten gedacht waren [...]“ (Pfaff-Czarnecka, 2004, S. 6). Das Projekt der westlichen Nationalstaatsbildung wird hier als meta-erzählerische Notwendigkeit verstanden, um dem Verfall der übergreifenden Religionsgemeinschaften oder monarchischen Dynastien zu substituieren (Anderson, 1983).[2] Anders ausgedrückt: Die Fragmentierung Kolumbiens entsprang den vielfältigen Ausprägungen einer, sich von der europäischen Modernisierungsgeschichte unterscheidenden, lateinamerikanischen Moderne (vgl. William, 2012, S. 131f.).[3] Der Traum José Martis von einer panamerikanischen Einheit bzw. einer lateinamerikanischen Nation in Nuestra América zerfiel in 20 Staaten aufgrund der inkongruenten technischen, geografischen, kulturellen, ethnischen und politischen Umstände der Nationalstaaten, wie Simón Bolívar 1815 schon in der Carta de Jamaica mahnte (vgl. Beluche, 2007, S. lfi).
Das Modell der kulturell homogenen Nation, das als Projekt der Moderne entstand und die differenziert-hierarchisch organisierte Gesellschaftsordnung ablöste (Gellner, 1983), musste durch Erinnerungsproduktionen wie bspw. Mythen, Statuen, Bauwerke, Erinnerungsorte, Ikonen, Riten, Helden usw. „erzählt“, in das kulturelle Gedächtnis aufgenommen werden und sollte so homogenisieren.[4] Die dirigierenden „Erzähler“ waren besonders in den ersten Jahren dieses Modells die nationalen (hier: kreolischen) Eliten eines Landes. Vor allem waren es aber die Unstimmigkeiten in den Erzählungen über die nationale Identität, also die Form der zu erinnernden bzw. kulturgeschichtsschreibenden nationalen Einheit (Hobsbawn & Ranger, 1992) in heterogenen Gesellschaften, die den Begriff „Fragmentierung einer Nation“ treffen und den Diskurs über die pluri- kulturellen Gesellschaften eröffneten (vgl. Pfaff-Czarnecka, 2004, S. 66). Um diese Gegenüberstellung nachzuvollziehen, bietet sich eine historische Analyse der kolumbianischen Zerwürfnisse an.
Die imaginierte Gemeinschaft „Nation“ kann also nicht, wie etwa eine Landesverfassung, als einmal konstruiert und so als manifestierte Institution betrachtet werden. Das heißt, sie muss erzählt (homogenisiert) und dadurch imaginiert werden bzw. imaginiert und dadurch erzählt werden. Eine Nation soll im Zuge dieses Prozesses zur Autolegitimation ihrer nationalstaatlichen Institutionen werden.[5] Aber: Auch die Spannungen innerhalb eines solchen lateinamerikanischen Nationalisierungsprozesses vergrößern sich aufgrund einer eigentlich heterogeneren Gesellschaft. Die fragmentierte Nation entwickelt sich zur einer Legitimations- bzw. Sinnkrise für ihre Institutionen, sobald sie die gesellschaftliche Einheit und Identifikation nicht mehr hersteilen kann.
Doch was unterscheidet nun eine fragmentierte Nation, verstanden als imagined Community, von dem schlichten Bild eines Landes und seinen „typisch staatlich administrativen“ Problemen? Was macht sie im kulturwissenschaftlichen Kontext gerade zu einer fragmentierten Nation? Dem vielleicht am nächsten kommt die Definition aus der Stadtsoziologie, die Fragmentierung als ein Fehlen oder eine Unterentwicklung gesellschaftlicher Bindungen bzw. Verknüpfung durch eine gemeinsame Kultur, Nationalität, Rasse, Sprache, Beruf, Religion, Einkommen, Ideologie o.ä. bestimmt. Das Etikett „Fragmentierte Nation“ hebt letztlich damit begrifflich das Ergebnis Andersons imagined community auf: Die Bindung, empfundene Homogenität oder Vereinigung derer, die sich ihr zugehörig fühlen (sollen). Wo die gesellschaftlichen Fragmente zu heterogen sind, lässt sich keine Einheit mehr vorstellen. Fragmentierung ist also ein Phänomen, an dessen Ende die Teilbereiche der imaginierten Gemeinschaft je nach Fall, plastisch interpretiert, nach der Logik „jeder gegen jeden“, zumindest jedoch teilweise konkurrieren: Arm gegen Reich, Ost gegen West, Stadt gegen Land, Wallonen gegen Flamen, Christen gegen Moslems, Spanisch gegen Englisch, Schwarz gegen Weiß etc. Somit wird die Funktionalität der imaginierten Gemeinschaft, hier Nation, selbst in Frage gestellt.
Fragmentierung ist aber keinesfalls eine dystopische Logik eines „Kampf der Kulturen” (Huntington, 2002), denn sie beschreibt modellhaft gesellschaftliche Entwicklungen, die sich eben nicht zwangsweise versuchen zu übertrumpfen, sondern immer weiter teilen. Am Ende besteht eine kulturell heterogenere Weltdeutung, aber keine potentielle kulturelle Hegemonie oder ihr Anspruch darauf.
Und worin besteht das Problem? Warum kann man nicht einfach den Katalanen in Spanien, den Wallonen und Flamen in Belgien, den Südtirolern in Italien, den Igbo in Nigeria usw. ihre Selbstverwaltung zugestehen? Fragmentierung sollte nicht allein als einfacher Staatszerfall oder Zerfall der Gesellschaft verstanden werden, denn ihr spezifisch ist die Vorstellung einer übergeordneten Gemeinschaft, die nicht zusammenfindet, ähnlich eines Bildes, das aus unterschiedlich genormten Puzzleteilen besteht, die sich gelegentlich überlappen oder Lücken aufwerfen. Dennoch sollte dem Nationalstaat als Inhaber des Gewaltmonopols und Hüter des Zusammenlebens besondere Zuwendung zuteilwerden:
„Unsere zeitgenössischen globalen Sorgen erwachsen zum großen Teil aus der Krise des Nationalstaats und seiner doppelten politischen bzw. kulturellen Dimension: Die des Staates, als legaler, administrativer und militärischer Ausdruck der kulturellen ,Nation' als Gemeinwesen. Wenn eine der beiden in die Krise gerät - eine Krise der Identität für das Gemeinwesen oder der Legitimität für den Staat - dann zieht sie die andere ebenfalls unweigerlich in die Krise.“ (eigene Übersetzung, Browitt, 2001, S. 1074)
Gewisse Ausprägungen der Fragmentierung betreffen daher durchaus administrative, rechtliche und exekutive Konzepte. Sie ist eine Frage von staatlicher und identitärer Souveränität, sowie ihrer Organisation. Doch sie ist in den wenigsten Fällen regional kohärent oder limitiert. Viel entscheidender kann Fragmentierung horizontal in einer Gesellschaft, wie bereits erwähnt Kultur, Nationalität, Rasse, Sprache, Politik, Glaube oder andere gemeinsame Bindungsformen betreffen. Sie lässt sich also im Besonderen an Heterogenitäten innerhalb eines sozialen Raumes bestimmen. Sie äußert sich als Folge durch viele soziale, politische oder rechtliche Konzepte, wie Atomisierung, Isolation, Entfremdung, Separatismus, Desintegration, Segmentierung, Tribalisierung, Polarisierung — oder eben Gewalt. Fragmentierung möchte man also vermeiden, um eine Wahrung des sozialen Friedens bzw. des gesellschaftlichen Miteinanders anzustreben, denn Menschen werden im 21. Jahrhundert nicht mehr in homogene Gemeinschaften bzw. Gesellschaften, mit denen sie sich solidarisch identifizieren können, hineingeboren. Fragmentierung soll hier also als Funktionsunfähigkeit bzw. Spannungsfeld des gesellschaftlichen Friedens bzw. Miteinanders betrachtet werden, trotz vorangegangener und doch gescheiterter Homogenisierung über eine national-kulturelle Vorstellung. Die Nation ist also als solidarisches Konzept nicht mehr relevant.
In Historia de Colombia: País fragmentado, sociedad dividida verwenden Marco Palacios und Frank Safford den Begriff Fragmentierung hingegen vornehmlich für das räumlich-geografische Kolumbien und den Begriff der gesellschaftlichen Spaltung für das kulturelle, ethnische, politisch- ideologische oder sozio-ökonomische Kolumbien. Diese begriffliche Trennung zwischen Spaltung und Fragmentierung soll in der vorliegenden Arbeit nicht gemacht werden, sondern sie will eher mit Bezug auf Andersons und Gellners Nationenbegriff den in der Kulturwissenschaft angekommenen Begriff verwenden.
Der Sammelbegriff Fragmentierung ist also kein perfekt abgegrenztes und verdefiniertes Konzept. Das kann es auch nicht sein, denn dies bringt sein komplexer Gegenstand Nation schon mit sich. Seine Perspektive ermöglicht aber die Erfassung einiger verwandter Phänomene (Marx, 1994, S. 306f.) und die Möglichkeit einen neuen Blickwinkels einzunehmen, um den toten Winkel einzusehen, der uns in Zukunft eventuell wirklichkeitsgetreuer die Welt erfahren und erleben lässt. Auf den folgenden Seiten soll ausgehend vom Beginn des 19. Jahrhunderts, also mit dem Auftreten des Phänomens „Nation“, dargelegt werden, welche Gründe Kolumbien im Spezifischen zu einer fragmentierten Nation machten.
[Dies ist eine Leseprobe. Tabellen und Grafiken können nicht dargestellt werden.]
Abbildung 1 - Karte Kolumbiens 2013
Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/e/ee/Mapa_de_Colombia_%28orograf%C3%ADa%29.svg/1377px-Mapa_de_Colombia_%28orograf%C3%ADa%29.svg.png
Frank Safford und Marco Palacios arbeiten in Colombia: país fragmentado, sociedad dividida heraus, dass die kulturelle, ökonomische, politische und lokale Fragmentierung der kolumbianischen Nation ursprünglich der topografischen Eigenheit des Landes geschuldet ist. Das heutige Kolumbien war demnach in drei bevölkerte Regionen bzw. soziale Räume geteilt: Die zwei Hochlandregionen im Westen und Osten, sowie die Tieflandregion der Karibikküste. Die drei Andenkordilleren waren wie natürliche Wegsperren und behinderten die Integration dieser Regionen.[6] Die Bevölkerung war im Vergleich zur Ausdehnung des Territoriums zudem lange Zeit relativ klein und verstreut.[7] Die Mehrzahl der Ortschaften fristete ihr Dasein daher in Abgeschiedenheit. Die bevölkerungsreichsten Gebiete waren indes die tropischen Hochlandebenen. Von den Regionen Santander und Antioquia gingen die Kolonialisierungszüge aus und schufen damit die dichteste Bevölkerungsmasse im Land: Nur 15% des Landes liegen 1.000 Meter über dem Meeresspiegel, aber 1964 lebten dort über 60% der Bevölkerung und im Zuge der Landflucht heute noch mehr. In den östlichen Ebenen und im Amazonas-Gebiet - immerhin 56% des heutigen Staatsgebietes - lebte nur etwas mehr als 1% der nationalen Bevölkerung (vgl. Palacios & Safford, 2012, S. 13f.).[8]
Der Regionalismus war und ist immer noch durch starke kulturelle und ethnische Diversität erkennbar, obwohl es gegenüber der nordamerikanischen Kolonialisierung im Zuge der Mestizaje zu einer starken Vermischung der Bevölkerungsgruppen kam: Der Westen wurde insbesondere aufgrund der rapiden Auslöschung der indigenen Bevölkerung stark durch die afrikanischen
Sklaven und ihre Nachkommenschaft geprägt. Im Departamento Chocó stellen heute die Afroko- lumbianer sogar die Bevölkerungsmehrheit und die 3.500 Seelen-Gemeinde San Basilo de Palenque im Departamento Bolívar gilt als das älteste freie afroamerikanische Dorf der beiden Amerika, das so mithin die einzige spanischbasierende Kreolsprache hervorbrachte (vgl. Arnaiz-Villena, 2009, S. 61). Die hohe Konzentration der afro kolumbianischen Bevölkerung in den Küstengebieten und die zeitweilige Autonomie der palenques (Gemeinden gegründet durch entflohene Sklaven) waren Grundlage für die Entstehung des kolumbianischen negrismo. Die meisten der heute noch bestehenden indigenen Gemeinden befinden sich im karibischen Departamento La Guajira.[9] Diese Gemeinden sehen sich nicht als Kolumbianer, sondern als eigenständige Nationen. Rechtlich wurden mit der 1991 verabschiedeten Verfassung 87 indigene Völker anerkannt, während die Organización Nacional Indígena de Colombia von 102 Völkern spricht (vgl. GIZ, 2011, S. 1). Im östlichen Hochland, in dem nicht derart viele Indigene der Conquista zum Opfer fielen und die Mestizaje die Bevölkerungszusammensetzung wesentlich prägte,[10] gibt es eher eine ländliche, weiße und größtenteils mestizische Bevölkerung mit physiognomischen und kulturellen Zügen der präkolumbi- schen Muiscas. Die ethnisch-kulturelle Heterogenität der Region war damit schon in vorrepublikanischer Zeit gegeben (s. Tabelle 1) (vgl. Palacios & Safford, 2012, S. 19f, 371-376).
[Dies ist eine Leseprobe. Tabellen und Grafiken können nicht dargestellt werden.]
Tabelle 1 - Prozentuale Verteilung der Bevölkerung nach „rasa“, 1851 (Palacios & Safford, 2012, S. 381)
[…]
[1] Anderson, der ausarbeitete, dass das Phänomen „Nation“ mit rund 200 Jahren noch sehr jung ist (Anderson, 1983, S. 50), und Gellner verfolgten ähnliche Ansätze. Dennoch gingen ihre Bewertungen über den konstruktivistischen Nationenbegriff auseinander: „The drawback to this formulation, however, is that Gellner is so anxious to show that nationalism masquerades under false pretenses that he assimilates .invention' to .fabrication' and .falsity' rather than to .imagining' and .creation'. In this way he implies that 'true' communities exist which can be advantageously juxtaposed to nations. In fact, all communities larger than primordial villages of face-to-face contact (and perhaps even these) are imagined. “ (Anderson, 1983, S. 49) Gellner untersuchte Nationalismus eher im Sinne kultureller Standardisierung auf ihren Gehalt als soziologische Notwendigkeit in der modernen Welt.
[2] Anderson erklärt, dass die Nation historisch nur möglich wurde, da monarchisch-dynastische Reiche und Religionen nicht mehr die kulturelle und ethnische Heterogenität überlagerten. Trivial ausgedrückt: Es galt die gesellschaftliche Opferbereitschaft für das Kreuz oder den König. Später starb man dann für das Vaterland (rechte Ausdrucksweise) oder das Volk (linke Ausdrucksweise). Nach heutigen Weltvorstellungen scheinen beide diese Ideale althergebracht.
[3] So wird an der Freien Universität Berlin derzeit das Grundlagenmodul „Lateinamerika als Labor der Moderne“ an- geboten.
[4] An dieser Stelle sei auf den Sammelband Entre el olvido y el recuerdo. Iconos, Lugares de Memoria y Cánones de la Historia y Literatura en Colombia (Rincón, De Mojica, & Gómez, 2010) verwiesen werden.
[5] s. Gramsci’s Analysen zur kulturellen Hegemonie.
[6] Sie waren also nicht nur räumlich voneinander abgeschnitten, sondern bildeten auch unterschiedliche soziale Räume (vgl. Radcliff & Westwood, 1996, S. 24-28). Geschuldet ist dieser Regionalismus den willkürlichen Grenzziehungen der Kolonialherren, denn der Westen des Landes musste bspw. größtenteils von Peru aus erschlossen werden. Aus diesem Grund wurde das Gebiet des heutigen Kolumbiens bis zum 18. Jahrhundert von den kolonialen Obrigkeiten in zwei separaten Hoheitsbereichen verwaltet: Einem westlichen und einem östlichen Teil. Gabriel García Márquez zeichnete zudem in Cien años de soledad mit der Isolation des Dorfes Macondo diesen Aspekt Kolumbiens.
[7] Bis zum 19. Jahrhundert war Kolumbien ein Land ohne größere Städte, aber mit vielen kleineren und mittelgroßen Dörfern. 1851 hatte Bogota 30.000 Einwohner, es gab 30 Gemeinden zwischen 8.000 und 15.000, 150 zwischen 4.000 und 8.000, 230 zwischen 2.000 und 4.000 und mehr als 300 mit weniger als 2.000 (vgl. Palacios & Safford, 2012, S. 21).
[8] Rein rechnerisch lebten damit Mitte 60er Jahre kaum mehr als 200.000 Kolumbianer in einem Gebiet, das größer als Deutschland ist (vgl. Palacios & Safford, 2012, S. 14, 431).
[9] Die Wayüu sind bspw. von dem Konzept betroffen, da, auf der kolumbianisch-venezolanischen Grenze und in einem Drogenschmuggelgebiet lebend, man sie verpflichtet einen, für sie symbolisch paradoxen Reisepass mit sich zu führen. Das wayüu'sche Konzept der Namensgebung entspricht aber nicht dem der Einträge „nombre y apellido.“
[10] Ein entscheidender Faktor für die Mestizaje des Landes war der Druck des ethnischen und kulturellen Blanqueamiento, also der Weißwerdung der Nachkommenschaft (Palacios & Safford, 2012, S. 375; Restrepo, 2000).
Diese HTML-Datei enthält einen Auszug aus einem Text, wahrscheinlich ein Buch oder eine akademische Arbeit, die sich mit dem Thema der Fragmentierung in Kolumbien auseinandersetzt. Sie umfasst ein Inhaltsverzeichnis, eine Einleitung und Auszüge aus dem ersten Kapitel, das sich mit dem Problem der Fragmentierung befasst. Der Fokus liegt auf der Analyse Kolumbiens als einer fragmentierten Nation, unter Berücksichtigung historischer, kultureller und politischer Aspekte.
Das Inhaltsverzeichnis listet die Hauptabschnitte des Textes auf: eine Einleitung, einen Abschnitt zum Verständnis des Problems (Fragmentierung), einen Abschnitt, der eine mögliche Lösung untersucht (Cultura Ciudadana), einen abschließenden Abschnitt mit Ergebnissen und einen Anhang mit einer Bibliografie.
Die Einleitung diskutiert die konstruktivistische Wende in den Sozialwissenschaften und die Bedeutung von Konzepten wie "Nation" in der Moderne. Sie kritisiert die Vorstellung homogener Nationen und verweist auf Clifford Geertz' Konzept der "Welt in Stücken". Kolumbien wird als ein Beispiel für eine fragmentierte Nation dargestellt, und die Arbeit von Antanas Mockus im Bereich der Cultura Ciudadana wird erwähnt.
Dieses Kapitel konzentriert sich auf das Konzept der Fragmentierung, insbesondere im Kontext Kolumbiens. Es wird definiert, was eine fragmentierte Nation ist, und die kolumbianische Fragmentierung wird detaillierter untersucht. Dabei werden Regionalismus, Diversität der Bevölkerung, globale Integration, unvollständige Moderne, bewaffneter Konflikt und andere Faktoren berücksichtigt.
Der Text deutet an, dass "Cultura Ciudadana" eine Lösung für die Fragmentierung Kolumbiens darstellen könnte. Dieser Teil des Textes wird Antanas Mockus und seine Arbeit als Bürgermeister Bogotas untersuchen, in der er versuchte, das Zusammenleben der Bewohner auf unkonventionelle Weise zu verbessern.
Der Text stellt Fragen danach, ob Cultura Ciudadana eine Alternative zur Überwindung der Fragmentierung Kolumbiens bietet und ob Mockus' Ansatz eine neue Variante der modernen Meta-Erzählung über die imaginierte Gemeinschaft darstellt oder lediglich versucht, die negativen Auswirkungen der Fragmentierung abzumildern.
Der Text verweist auf die Arbeiten von Ernest Gellner, Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Clifford Geertz. Auch Marco Palacios und Frank Safford werden im Zusammenhang mit der Analyse der kolumbianischen Fragmentierung genannt.
Fragmentierung wird als Folge der unvollständigen Nationen- und Nationalstaatsbildung betrachtet, die sich an der europäischen Modernisierungsgeschichte orientierte. Sie resultiert aus dem Nicht-Zueinanderfinden verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und der Inkongruenz verschiedener Umstände, die eine homogene Nationsbildung verhinderten.
Der Regionalismus wird als ein wichtiger Faktor der Fragmentierung genannt, der auf die topografischen Besonderheiten des Landes und die damit verbundene kulturelle und ethnische Diversität zurückzuführen ist. Die geografische Isolation verschiedener Regionen erschwerte die Integration und trug zur Herausbildung unterschiedlicher Identitäten bei.
Antanas Mockus wird als eine politische Figur vorgestellt, die durch sein Projekt der Cultura Ciudadana in Bogota auf sich aufmerksam machte. Er versuchte, das Zusammenleben der Bewohner durch pädagogische und künstlerische Aktivitäten zu verbessern. Er ist eine zentrale Figur im Hinblick auf mögliche Lösungen für die Fragmentierung Kolumbiens.
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