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Bachelorarbeit, 2013
42 Seiten, Note: 1,8
Geschichte Deutschlands - Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg
1. Einleitung
2. Ideologische Voraussetzungen für die Gesundheitspolitik im „Dritten Reich“
3. Der polykratische Staat Adolf Hitlers
3.1. Die Verwaltung der Stadt Dessau in der Zeit des Nationalsozialismus
4. Das Gesundheitswesen im Nationalsozialismus am Beispiel der Stadt Dessau
4.1. Die Umformung des Gesundheitswesens in der Zeit von 1933 bis
4.1.1. Parteiliches vs. staatliches Gesundheitswesen - der Konflikt zwischen Dr. Gerhard Wagner und Dr. med. Arthur Gütt bis
4.1.2. Der Einfluss des Zweiten Weltkrieges ab
4.2. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und die Anpassung von Justiz und Ärzteschaft
4.3. Die „Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens“ - die „Euthanasie“ in der Anstalt Bernburg
5. Schlussbetrachtungen
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
Die hier vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Wandel des deutschen Gesundheitswesens in der Zeit des Nationalsozialismus. Anhand des regionalen Beispiels der Stadt Dessau soll aufgezeigt werden, wie der Nationalsozialismus das Gesundheitswesen beeinflusst und verändert hat.
Zu Beginn der Arbeit sollen gedankliche Grundvoraussetzungen behandelt werden, die nicht nur die Basis der rassistischen und menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus, sondern auch das Grundgerüst für die Radikalisierung des deutschen Gesundheitswesens in der Zeit von 1933 bis 1945 bildeten. Neben rassenhygienischen und sozialdarwinistischen Theorien werden hier auch gesellschaftliche Faktoren und Veränderungen, aber auch die Weltwirtschaftskrise und erste Diskussionen über eugenische Maßnahmen besprochen. Dieser Abschnitt soll es ermöglichen,einige der Faktoren nachvollziehen zu können, die zur Entwicklung der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus beitrugen.
Im nachfolgenden Kapitel soll dann auf die wichtigsten Aspekte der Herrschaftsstrukturen und auf das Machtgefüge innerhalb des „Dritten Reiches“ eingegangen werden. Dadurch soll aufgezeigt werden, wie NSDAP und Staat nebeneinander bestanden und sich gegenseitig beeinflussten. Zudem soll auf das allgegenwärtige Führerprinzip, aber auch auf die relative Unstrukturiertheit im Machtgefüge des NS-Staates hingewiesen werden. Es soll also verständlich gemacht werden, wie die Verwaltung im „Dritten Reich“ aufgebaut war und wie diese funktionierte.
Ausgehend von den Betrachtungen des Machtgefüges der NS-Diktatur, soll dann der Aufbau der regionalen Verwaltung der Stadt Dessau erläutert werden. Es sollen dabei der steigende Einfluss der NSDAP auf die Verwaltung und die daraus resultierenden Veränderungen selbiger in Augenschein genommen werden. Zudem soll dieses Kapitel auch auf wichtige Personen der Dessauer Politik und ihre Stellung im Machtgefüge eingehen. Weiterhin wird ein Überblick über den Aufbau der städtischen Verwaltung geschaffen, der es ermöglichen soll, zu erfahren, welche Ämter an der Umsetzung der NS-Gesundheitspolitik beteiligt waren.
Den Hauptteil der Arbeit bildet das Kapitel vier. Hier soll die Umformung des Gesundheitswesens in der Zeit von 1933 bis 1945 am Beispiel der Stadt Dessau beschrieben werden. Im ersten Abschnitt des Kapitels wird es um den Konflikt zwischen Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner und Dr. med. Arthur Gütt gehen, die ihre unterschiedlichen Vorstellungen eines einheitlichen Gesundheitswesens durchsetzen wollten. Dabei sollen Prozesse beschrieben werden, die sich an der Spitze der Partei abspielten und wie diese sich auf die Stadt Dessau auswirkten. Hier werden vor allem die Versuche in der Zeit von 1933 bis 1939 behandelt, in der durch Erlasse und Gesetze ein einheitliches Gesundheitswesen geschaffen werden sollte. Zudem sollen diverse Interessengruppen betrachtet werden, die auf ihre eigene Art und Weise Einfluss auf die Umgestaltung der deutschen Gesundheitspolitik nehmen wollten. Im darauf folgenden Abschnitt wird dann auf einen weiteren Faktor eingegangen, der den Wandel des Gesundheitswesens ab 1939 maßgeblich beeinflusste: Der Zweite Weltkrieg. Neben dem Aufstieg Karl Brandts im Bereich der Gesundheitspolitik im Zuge des beginnenden Weltkrieges, soll auch auf die Zustände des Dessauer Gesundheits- und Fürsorgewesens eingegangen werden.
Im Anschluss wird dann noch einmal das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Augenschein genommen. Da dieses Gesetz eine der wichtigsten Grundlagen für die nationalsozialistische Gesundheitspolitik darstellte, ist eine Betrachtung dieses Textes für diese Arbeit unerlässlich. Außerdem stellt die durch das Gesetz geschaffene Möglichkeit der Zwangssterilisation den rechtlich verankerten Startpunkt der Radikalisierung der NS- Gesundheitspolitik hin zum aktiven Krankenmord dar und zeigt deutlich, wie sehr der Wahn der Rassenhygiene das Leben des Einzelnen verändern konnte. In diesem Abschnitt soll auch auf die Umsetzung des Gesetzes und die damit verbundene Einflussnahme auf die deutsche Ärzteschaft und die Justiz eingegangen werden.
Der vorletzte Abschnitt wird sich mit der „Euthanasie“ im „Dritten Reich“ befassen. Zunächst sollen grundlegende Informationen über die „Euthanasie-Aktionen“ vermittelt werden um diese nachfolgend am Beispiel der Anstalt Bernburg, die nur wenige Kilometer von Dessau entfernt war, zu vertiefen. Dabei soll es vor allem um die Planung und Umsetzung der Ermordung kranker Menschen gehen. Weiterhin wird beschrieben, welche Dessauer Ämter in die Vorgänge involviert waren. Den Abschluss der Arbeit bilden dann die Schlussbetrachtungen, in denen die wichtigsten Erkenntnisse noch einmal kurz zusammengefasst und aufbereitet werden sollen.
Das Hauptanliegen der hier vorliegenden Bachelor-Arbeit ist es also, anhand des regionalen Beispiels Dessau, ein möglichst konkretes Bild über den Wandel des Gesundheitswesens in der Zeit von 1933 bis 1945 zu schaffen. Es soll aufgezeigt werden, welche Faktoren und Aspekte für den Wandel von der Gesundheits- hin zu einer Erbgesundheitspolitik verantwortlich waren und wie sich dieser in der anhaltischen Stadt bemerkbar machte. Im Zuge dessen soll ersichtlich gemacht werden, welche Ämter und Personen in diesen Wandlungsprozess und die Radikalisierung involviert waren. Grundlage hierfür bilden die Geschäfts- und Verwaltungsberichte des Dezernats V (Fürsorgeamt) der Jahre 1935 bis 1944, die dem Autor freundlicherweise vom Dessauer Stadtarchiv zur Verfügung gestellt wurden. Maßgeblich waren außerdem Christian Gansmüllers Monographie über die Erbgesundheitspolitik in der NS-Zeit sowie die von Norbert Frei herausgegebene Aufsatzsammlung über Medizin und Gesundheitspolitik im „Dritten Reich“.
Um die Entwicklung der deutschen Gesundheitspolitik unter der nationalsozialistischen Diktatur nachvollziehen zu können, sollen zunächst einige Gedankenströmungen sowie einzelne gesellschaftliche Faktoren betrachtet werden, die bereits vor der Machtübertragung im Jahre 1933 bestand hatten. Diese Ansichten und Faktoren verschwanden nicht einfach; im Gegenteil: Sie fügten sich in die nationalsozialistische Ideologie ein und schufen durch diese Kontinuität zugleich eine erste Legitimationsbasis für die Erbgesundheits- und Bevölkerungspolitik der NSDAP unter Adolf Hitler.
Als Charles Darwin 1895 seine Theorie über die Selektion und die natürliche Auswahl von Tieren und Pflanzen veröffentlichte, schuf er damit die Grundlage für eine scheinbar endlose Diskussion. Es sollte nicht lange dauern, dass seine Theorie auch auf den Menschen übertragen wurde. Die Anhänger des Sozialdarwinismus sahen in der durch die Industrialisierung bedingten Modernisierung ein Hemmnis für die natürliche Selektion. Da das Leben kranker Menschen aufgrund der Fortschritte in Medizin und Hygiene stark verlängert werden konnte, war ihrer Ansicht nach die natürliche Auslese außer Kraft gesetzt. Diese sollte durch eine gesellschaftliche Auslese ersetzt werden.1 Kurze Zeit später prägte der britische Naturforscher Francis Galton den Begriff der Eugenik. Die Anwendung einer positiven Eugenik - also die Begünstigung der Vermehrung der Personen, die die vermeidlich besseren Erbanlagen besäßen - sollte den Wert der eigenen Rasse heben. Die negative Eugenik, bei der die Vermehrung schlechterer Erbanlagen z. B. durch Sterilisation verhindert werden sollte, sollte dem selben Ziel dienen. Bereits hier ist zu erkennen, welch wichtige Voraussetzung der Sozialdarwinismus für die Rassenhygiene und somit auch die Gesundheitspolitik im „Dritten Reich“ bildete.2 Christian Gansmüller stellte in seiner umfassenden Monographie zur Erbgesundheitspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands diesbezüglich treffend fest, dass „die Vorstellung einer gesellschaftlichen Auslese nach bestimmten, meist rassischen Maßstäben […] der Ursprung für das nationalsozialistische Programm der „Schaffung eines neuen Menschen und neuen Volkes in einer neuen Ordnung“ [war].“3 Für diese Genese war die Umformung des bisherigen Gesundheitswesens unabdingbar. Die für das NS-Regime typische „Verschmelzung von Wissenschaft und Ideologie“, die zu einer stetigen Wertung von höheroder eben minderwertigen Eigenschaften führte, war - wie aus den bisherigen Ausführungen bereits zu erkennen ist - keine Neuschöpfung der Nationalsozialisten.4
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts führte dann die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen heilbaren und unheilbaren Krankheiten v. a. in der Psychiatrie dazu, dass sich die bestehenden Heil- und Pflegeanstalten zu „trostlosen Massenunterkünften“ verwandelten, in denen die unheilbar Kranken mehr oder weniger vor sich hin vegetierten.5 Begleitet von der am Ende des 19. Jahrhunderts gewonnenen Erkenntnis, dass bestimmte Krankheiten erblich bedingt sein könnten - also auch von Generation zu Generation weiter gegeben werden können - , verbreitete sich der Gedanke der „Minderwertigkeit“ unheilbar kranker und damit der Gesellschaft zur Last fallenden Personen in Europa äußerst schnell.6 Begünstigt wurden solche Anschauungen in Deutschland v. a. durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg, welcher zum einen eine fallende Geburtenrate zur Folge hatte und zu enormen Verlusten innerhalb der Bevölkerung führte. Zum anderen schürte die durch die Niederlage geschaffene wirtschaftliche Notsituation die Idee, dass es nicht mehr möglich wäre, Kranke und Behinderte weiterhin „durchzufüttern“.7 Das ökonomische Argument der hohen Kosten, die für die Fürsorge unheilbar kranker Menschen aufgebracht werden müssten, drückte sich dann in dem 1920 erschienenen Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von Karl Binding und Alfred E. Hoche auf radikale Art und Weise aus und sollte damit die nationalsozialistische Gesundheitspolitik maßgeblich bestimmen. Die Autoren maßen den Wert eines Menschen daran, wie nützlich er für die gesamte Gesellschaft sei. Wäre dieser Wert nicht vorhanden, handle es sich hierbei um eine „Ballastexistenz“, die somit „lebensunwert“ wäre.8 Mit ihrem Werk schufen Hoche und Binding die Grundlage für die Euthanasiediskussion, die neben der Sterilisierungsdiskussion geführt wurde.
Während der inneren Konsolidierung der Weimarer Republik gingen die Forderungen nach Sterilisationen oder gar „Euthanasie“ zunächst etwas zurück, verschwanden allerdings nicht völlig. Als die Republik dann am Ende der 20er-Jahre von der Weltwirtschaftskrise getroffen wurde und in eine wirtschaftliche sowie soziale Notlage geriet, wurden erneute „Einsparungsmöglichkeiten“ debattiert, die auch das Gesundheitswesen betrafen. Während die Sterilisation z. B. in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits erlaubt war, fehlte in Deutschland ein solches Gesetz völlig. So wurde 1932 in Preußen ein Gesetzesentwurf angefertigt, der die freiwillige Sterilisierung unheilbar Kranker rechtskräftig werden lassen sollte. Dieser Entwurf wurde so zunächst nicht umgesetzt, diente jedoch als Vorlage für das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933“ (GzVeN).9 Dies war allerdings nicht die erste Forderung nach einem Sterilisierungsgesetz. Bereits im Jahr 1905 gründete sich die „Gesellschaft für Rassen-hygiene“, die sich 1911 in „Deutsche Gesellschaft für Rassen-Hygiene“ umbenannte. Ihre Mitglieder - u. a. Ernst Rüdin, einer der Autoren des GzVeN - waren führende Teilnehmer in der bestehenden Sterilisierungsdiskussion. Schon im Juli 1914 wurde daraufhin vom Reichskanzler Bethmann Hollweg ein Entwurf für ein „Gesetz zur Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsabbrechung“ vorgelegt, der aufgrund des beginnenden Ersten Weltkrieges nicht umgesetzt wurde.10 Die Weltwirtschaftskrise hingegen sorgte nun jedoch für einen Paradigmenwechsel „von der Sozialhygiene zur Rassenhygiene,“ der in diesem komplexen Gefüge aus Wertewandel, Anschauungen und gesellschaftlichem Wandel eine weitere wichtige Grundlage für die Gesundheitspolitik im „Dritten Reich“ darstellte.11
Es gilt nun festzuhalten, dass die Diskussionen um Sterilisationen aber auch die Diskussionen um die „Euthanasie“ seit ihrem Beginn im 19. Jahrhundert, immer dann an Fahrt gewannen, wenn die Gegenwart von Krisen geprägt war. Zu dem lassen die bisherigen Ausführungen erkennen, dass die in der Zeit von 1933 bis 1945 in Deutschland von der NS-Elite angestrebten erbgesundheitspolitischen Ziele keineswegs eine genuine Erfindung des Nationalsozialismus waren. Viel mehr handelt es sich dabei um die Fortführung fest verankerter Denkmuster, die sich innerhalb der nationalsozialistischen Diktatur radikalisieren konnten. Vor der Machtübertragung waren „die politisch-sozialen Verhältnisse […] jedoch so, daß die Zwangssterilisierung oder gar Tötung („Euthanasie“) […] im Reichstag [nicht] durchsetzbar gewesen wäre“.12 Hitler erkannte jedoch den Geist der Zeit und übernahm die oben genannten Forderungen und Gedankenkonstrukte in seine Schrift „Mein Kampf“. Bereits 1924 während seiner Haftstrafe in Landsberg erhielt Hitler das von den Professoren Bauer, Fischer und Lenz verfasste Buch „Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“, aus dem er „die wesentlichen Gedanken der Rassenhygiene“ übernahm.13
Somit waren die Grundvoraussetzungen für die nationalsozialistische Gesundheitspolitik geschaffen. Zum einen konnten eugenische Maßnahmen durch das „biologistische Degenerationstheorem“, nachdem sich „Minderwertige“ schneller fortpflanzen würden, als „Höherwertige“, legitimieren lassen.14 Des weiteren waren die „biologische Utopie“ von der „Züchtung eines Übermenschen“, aber auch die Dynamik der Begriffe „Erbkrankheit“ und „Erbgesundheit“ gegeben, was wiederum eine „Ausgrenzung immer breiterer Schichten der Bevölkerung“ ermöglichen konnte.15 Zudem diente das durch die Weltwirtschaftskrise geschaffene „rassenhygienische Paradigma“ nicht nur als Legitimation für die Zwangssterilisationen, sondern auch als Legitimation für die gesamte Erbgesundheitspolitik an sich.16 Ein weiterer Aspekt, der sich aus eben jenem Paradigma ergab, war der, dass das individuelle Lebensrecht von dem Wert des Lebens für die Gesellschaft bzw. von dem Wert für das, was im späteren NS-Jargon als „Volkskörper“ bezeichnet wurde, abhängig war. Hierdurch wurde die Einbindung in die NS-Ideologie garantiert, in der das „Volkswohl“ an erster Stelle stand.17 Abschließend ist nochmals der durch den Sozialdarwinismus begünstigte Gedanke der fließenden Grenze zwischen Tier und Mensch zu erwähnen. Dieser ermöglichte es innerhalb der NS-Ideologie, den „degenerierten Menschen“ auf eine niedere Stufe zu stellen wodurch das später geschaffene Bild vom „Untermenschen“ durch eine scheinbar wissenschaftliche Beweisführung gefestigt werden sollte.18
Dem rassenhygienischen Paradigma, dass im Zeitalter der Industrialisierung und Modernisierung das Paradigma der Sozialhygiene abgelöst hatte, ist demzufolge ein sehr hoher Stellenwert in der ideengeschichtlichen Entwicklung der Ziele der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik einzuräumen. Flankiert wurde diese Entwicklung von der „schwankende[n] Position der Menschenrechte in Deutschland“ und der daraus resultierenden schwachen Präsenz in der deutschen Gesetzgebung.19 Begleitet von sozialdarwinistischen, rassistischen, völkischen und antisemitischen Denkweisen, die der NS-Ideologie von Beginn an inhärent waren, bildeten diese Faktoren die wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklungen, die das Gesundheitswesen nach der Machtübertragung im Jahre 1933 durchlaufen konnte.
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 waren die Weimarer Republik und somit auch ihre demokratische Ordnung beendet. An ihre Stelle trat nun die nationalsozialistische Diktatur unter „der unbeschränkten Führung Hitlers“.20 Es gilt nun die wichtigsten Aspekte der Herrschaftsstrukturen und Machtgefüge dieses Staates zu erläutern, um ein besseres Verständnis der Entwicklungen des deutschen Gesundheitswesens zu ermöglichen. Hierbei soll der Blick vor allem auf die für das Thema dieser Arbeit relevanten Punkte gelenkt werden, da eine vollständige Abhandlung über die Herrschaftsstrukturen einer eigenen Monographie bedürfte und somit den Rahmen der hier vorliegenden Arbeit sprengen würde.
Die bereits erwähnte „unbeschränkte Führung Hitlers“ bildete die „entscheidende Komponente des NS-Staates“.21 Diese exponierte Stellung ermöglichte es ihm, freie und unabhängige Entscheidungen zu treffen oder Vollmachten an die ihm unterstehenden Machtinstanzen zu erteilen. Hitler war also nicht nur Reichskanzler, sondern ab dem 02. August 1934 an dem Hindenburg verstarb, auch „oberster Führer“. Somit war er nicht „Teil des Staates […], sondern der Staat war Teil Hitlers“.22 Unter ihm befand sich jedoch nicht nur der Staat, sondern auch die Partei - also die NSDAP. Beide existierten nebeneinander und beeinflussten sich gegenseitig. Die einzige personelle Verbindung zwischen Partei und Staat war tatsächlich nur der „Stellvertreter des Führers“, der durch einen Erlass vom 25. Juli 1934 als ein Mitglied der Reichsregierung bestimmt wurde.23 Aufgrund dieses Dualismus waren die Machtverhältnisse zwischen Staat und Partei - respektive althergebrachte Verwaltung und nationalsozialistische Bewegung - vom Anbeginn der NS-Diktatur ungeklärt, was folglich zu einer Überlagerung der Kompetenz- und Aufgabenbereiche führen musste. Die Macht der Partei war 1933 zunächst noch relativ gering, sollte sich allerdings mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1939 drastisch erweitern. Einer der Gründe für die vorerst dürftige Macht der Partei könnte u. a. an ihrer schlechten inneren Organisation und anhaltenden Konkurrenzkämpfen liegen.24 Es zeigt sich bereits hier, dass die Herrschaft des Nationalsozialismus von einer gewissen „Strukturlosigkeit“ geprägt war.25 Dieser Strukturlosigkeit versuchte man bereits am 01. Dezember 1933 durch das „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ entgegen zu wirken. Der Versuch scheiterte allerdings und bewirkte eher eine weitere Aufspaltung zwischen den bereits verhärteten Fronten.26 1935
versuchte Hitler dann erneut die Aufgaben von Partei und Staat gegeneinander abzugrenzen um Klarheit zu schaffen: Die Partei hätte nicht die Führung, sondern die Erziehung des Volkes als Hauptaufgabe, während sich der Staat um die Verwaltung und nicht um die Durchführung kümmern sollte. Weiterhin forderte er dazu auf, die Kompetenz- und Machtbereiche des jeweils anderen zu respektieren. Erst als dann im Laufe der Zeit und besonders ab 1938 immer mehr Ämter erschaffen und mit führenden NS-Leuten besetzt wurden, erlangte die Partei mehr Macht. Die erschaffene Polykratie minderte die Macht der Verwaltung, erweiterte den Einfluss der Partei dafür allerdings ungemein.27
Ein weiteres zu erwähnendes Teilgebiet innerhalb dieses komplexen Machtgefüges bildet die Stellung der Justiz. Ihre Rolle für die Gesundheitspolitik soll im Kapitel 5.2. behandelt werden. Hier soll es zunächst darum gehen, die Art und Weise ihrer Funktionalität im „Dritten Reich“ zu beschreiben. Dafür bietet sich Ernst Fraenkels Modell vom „Doppelstaat“ an. Aufgrund des Fehlens eines „einheitliche[n] nationalsozialistische[n] Rechtssystems“ bestand auch innerhalb der Justiz eine „Formlosigkeit“.28 Aufgrund der Übernahme von Normen, Gesetzen und juristischen Verfahrensweisen aus der prä-nationalsozialistischen Zeit ergab sich laut Fraenkel ein Nebeneinander aus einem Normen- und einem Maßnahmenstaat. Während der Normenstaat frei von „politischem Zugriff“ war, konnte eben dieser im Maßnahmenstaat stattfinden.29 Daraus ergibt sich für die Justiz eine enorme Unsicherheit, da die „Dritte Gewalt“ und ihre Richter ja eigentlich unabhängig von der Politik agieren sollten. Diese Unsicherheit wurde durch die stetigen Versuche der NSDAP die Justiz gleich zu schalten und sie nach dem Prinzip der „unbeschränkte[n] Führergewalt“ um zu bauen nur noch verstärkt.30 Im Jahre 1937 endete dann die „Selbstverwaltung der Gerichte“ durch einen erneuten Gesetzeserlass. Die Richter wurden ab sofort vom Landesjustizminister ernannt und sollten als „Vollstrecker des Willens des von der NSDAP getragenen Staates“ fungieren.31
Festzuhalten bleibt, dass die erwähnten Faktoren - namentlich die „Strukturlosigkeit“, der Dualismus zwischen Partei und Staat sowie die Polykratie - allem Anschein entgegen die nationalsozialistische Politik ungemein begünstigten. Das „administrative Durcheinander“, welches durch die Neuschaffung diverser Ämter und Tarnorganisationen sowie durch die Erteilung verschiedenster Vollmachten und die daraus entstehende undurchsichtige Befehlskette entstand, ermöglichte erst die für das NS-Regime typische Radikalisierung der Politik.32 Der
Umgang mit der Justiz und den Gerichten gestaltete sich allerdings weitaus schwieriger. Auch wenn Versuche der Gleichschaltung unternommen wurden ist zu erkennen, dass diese nicht vollends funktionierten. So mussten z. B. die „Euthanasie“-Aktionen auf die später noch genauer eingegangen werden soll, an den juristischen Instanzen vorbei über neu geschaffene „Sonderverwaltungen“ organisiert werden.33
Um die Entwicklung des Gesundheitswesens am Beispiel der Stadt Dessau erklären zu können, soll vorerst ein kurzer Überblick über die Situation der Stadt und auch über ihre Rolle im Land Anhalt und somit im „Dritten Reich“ geschaffen werden. Das Hauptaugenmerk soll hierbei auf der durch Gesetze und Verordnungen geschaffenen Veränderungen der Verwaltung und dem steigenden Einfluss der NSDAP auf die kommunale Politik liegen.
Bereits im Jahr 1923 hatte die Stadt zwischen Mulde und Elbe eine eigene NSDAP- Ortsgruppe. Der stetige Machtgewinn der NSDAP wird ebenfalls dadurch ersichtlich, dass schon 1928 ein Abgeordneter der Partei im anhaltischen Landtag saß und nur wenige Jahre darauf - im Jahre 1931 - bereits 15 Mitglieder der NSDAP im Dessauer Gemeinderat vertreten waren.34 Die Stadt Dessau wird somit zurecht als eine frühe „Hochburg des Nationalsozialismus“ bezeichnet.35 Am 24. April 1932 gewann die NSDAP dann die Wahlen zum anhaltischen Landtag mit 41,6% der Stimmen.36 Im darauf folgenden Monat sollte dann eine von der Partei geführte Landesregierung für den Freistaat Anhalt errichtet werden, die vom Ministerpräsidenten Alfred Freyberg geleitet wurde.37 Mit der Machtübertragung im Jahr 1933 sollte dann auch die vollkommene Machtentfaltung der NSDAP in der Hauptstadt des Gaues Magdeburg-Anhalt spürbar werden: der liberale Oberbürgermeister Fritz Hesse wurde seines Amtes enthoben und durch den SS-Sturmbannführer Hans Sander ersetzt.38 Durch den Erlass des „Gesetzes zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ im April 1933 wurde der noch bestehende anhaltische Landtag dann politisch gleich geschaltet um eine weitere Konsolidierung der Macht zu gewährleisten. Alle Abgeordneten, die nicht der NSDAP oder der DNVP angehörten, wurden entlassen.39 Im Zuge der Zentralisierung der Verwaltung und durch den
[...]
1 Gansmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches. Planung, Durchführung und Durchsetzung. Köln 1987, S. 10-11.
2 Ebd., S. 12.
3 Zit. n. Ebd., S. 12.
4 Zit. n. Müller-Hill, Benno: Selektion. Die Wissenschaft von der biologischen Auslese des Menschen durch den Menschen. In: Frei, Norbert (Hrsg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit. In: Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte aus dem Oldenbourg-Verlag: Sondernummer, München 1991, S. 139.
5 Zit. n. Frei, Norbert (Hrsg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit. In: Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte aus dem Oldenbourg-Verlag: Sondernummer, München 1991, S. 30.
6 Ebd., S. 30.
7 Zit. n. Kaiser, Jochen-Christoph; Nowak, Kurt; Schwartz, Michael: Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895-1945, Berlin 1992, S. XVIII.
8 Zit. n. Gansmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches, S. 20-21.
9 Kaiser, Jochen-Christoph; Nowak, Kurt; Schwartz, Michael: Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“, S. XIX
10 Gansmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches, S. 13.
11 Labisch, Alfons; Tennstedt, Florian: Gesundheitsamt oder Amt für Volksgesundheit? Zur Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens seit 1933. In: Frei, Norbert (Hrsg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NSZeit. In: Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte aus dem Oldenbourg-Verlag: Sondernummer, München 1991, S. 42.
12 Zit. n. Müller-Hill, Benno: Selektion, S. 142.
13 Ebd., S. 142.
14 Schmuhl, Hans-Walter: Sterilisation, „Euthanasie“, „Endlösung“. Erbgesundheitspolitik unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft. In: Frei, Norbert (Hrsg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit. In: Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte aus dem Oldenbourg-Verlag: Sondernummer, München 1991, S. 300.
15 Ebd., S. 300.
16 Ebd., S. 301.
17 Ebd., S. 301.
18 Zit. n. Ebd., S. 301.
19 Zit. n. Kaiser, Jochen-Christoph; Nowak, Kurt; Schwartz, Michael: Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“, S. XIII-XIV.
20 Zit. n. Gansmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches, S. 25.
21 Zit. n. Ebd., S. 25.
22 Zit. n. Ebd., S. 25.
23 Ebd., S. 27.
24 Ebd., S. 26.
25 Zit. n. Ebd., S. 25.
26 Ebd., S. 27.
27 Gansmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches, S. 28.
28 Zit. n. Ebd., S. 29.
29 Ebd., S. 29.
30 Zit. n. Ebd., S. 29-30.
31 Zit. n. Ebd., S. 32.
32 Zit. n. Wildt, Michael: Geschichte des Nationalsozialismus. Göttingen 2008, S. 88.
33 Zit. n. Gansmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches, S. 32.
34 Keißler, Frank: Findbuch Sammlung NZ. Stadtarchiv Dessau 1993, S. 3
35 Zit. n. Keißler, Frank: Findbuch Sammlung NZ. Stadtarchiv Dessau 1993, S. 3.
35 http://www.gedenkkultur-dessau-rosslau.de/193233-1945/chronik/1932
37 Ebd.
38 Keißler, Frank: Findbuch Sammlung NZ. Stadtarchiv Dessau 1993, S. 3.
39 http://www.antisemitismus-anhalt.de/pdf/Leseprobe_Antisemitismus_in_Dessau.pdf