Bachelorarbeit, 2014
46 Seiten, Note: 2,0
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Praxisgebühr
2.1 Historische Entwicklung
2.2 Gesetzliche Grundlage und Ausgestaltung
2.3 Ziele
3 Grundlagen der Selbstbeteiligung
3.1 Notwendigkeit
3.2 Modelltheoretische Wirkung und Empirie
4 Auswirkungen der Praxisgebühr
4.1 Finanzentwicklung in der Gesetzlichen Krankenversicherung
4.2 Inanspruchnahmeverhalten der Versicherten
5 Die Abschaffung der Praxisgebühr
6 Folgen der Abschaffung
7 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Abbildung 1: Entwicklung der Arztbesuche pro Kopf (1993 - 2003)
Abbildung 2: Zusammenhang von Überweisung und Praxisgebühr
Abbildung 3: Steuerungswirkung einer Selbstbeteiligung
Abbildung 4: Finanzierungswirkung einer Selbstbeteiligung in
Abhängigkeit der Preiselastizität der Nachfrage
Abbildung 5: Ausgaben der GKV für ärztliche Behandlung und Zahnärzte in Mrd. Euro (2003 - 2012)
Abbildung 6: Einnahmen der GKV durch die Praxisgebühr in Mio. Euro (2005 - 3. Quartal 2011)
Abbildung 7: Entwicklung des GKV-Beitragssatzes (2003 - 2012)
Abbildung 8: Überschuss der Einnahmen der GKV in Mrd. Euro (2001 - 2012)
Abbildung 9: Reaktion auf die Praxisgebühr in Abhängigkeit vom Haushaltsnettoeinkommen
Abbildung 10: Entwicklung der Zahl der Praxiskontakte abhängend von der Häufigkeit der Arztbesuche
Abbildung 11: Vermeidung von Arztbesuchen abhängend vom Gesundheitszustand
Abbildung 12: Entwicklung der Arztbesuche pro Kopf (2003 - 2011)
Abbildung 13: Ausgaben der GKV für Ärztliche Behandlung und
Zahnärzte in Mrd. Euro (2012 - 2013)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Als Reaktion auf die im OECD-Ländervergleich ermittelte überdurchschnittliche hohe Zahl ambulanter Arztbesuche und die damit gestiegenen Gesundheitsausgaben, führte die deutsche Bundesregierung mit dem Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG) erstmals eine Zuzahlung für die ambulante ärztliche Behandlung ein.1 Die sog. Praxisgebühr verpflichtete ab dem 1. Januar 2004 alle volljährigen Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dazu, pro Quartal 10 Euro für die erste Behandlung eines ambulant tätigen Arztes, Zahnarztes, Psychotherapeuten sowie des kassen- ärztliches Notdienstes zu entrichten. Weitere Arztbesuche waren nur dann zuzahlungsfrei, wenn eine Überweisung zum jeweiligen Facharzt vorlag.
Mit dieser Form der Selbstbeteiligung sollte zum einen die Eigenverantwortung der Versicherten gestärkt, also ein kostenbewussteres Nachfrageverhalten nach medizinischen Leistungen geschaffen werden, wie z.B. durch die Selbstbehandlung von Bagatellerkrankungen,2 zum anderen sollte die Rolle des Hausarztes als Lotse im Gesundheitswesen gestärkt und somit die Anzahl der Selbstüberweisungen reduziert werden. Weiterhin wurde durch die Mehreinnahmen der Praxisgebühr eine finanzielle Entlastung der Krankenkassen von jährlich 2,6 Mrd. Euro prognostiziert.
Da die Praxisgebühr bereits neun Jahre nach ihrer Einführung wieder abgeschafft wurde, gilt es zu untersuchen, welche Gründe hierfür verantwortlich waren. Kritisch zu hinterfragen ist, ob mit Einführung der Praxisgebühr, die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen nachhaltig reduziert werden konnte, ohne zu einer Gesundheitsverschlechterung oder sozialen Ausgrenzung in der Gesellschaft zu führen.3
Das Ziel dieser Bachelorarbeit ist es zu analysieren, ob mit der Praxisgebühr ein wirkungsvolles Steuerungsinstrument abgeschafft wurde. Hierfür wird sich zunächst mit ihrer historischen Entwicklung, der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung und ihren Zielen auseinandergesetzt (Kapitel 2). Anschließend werden die Notwendigkeit einer Selbstbeteiligung, ihre unterschiedlichen Wirkzusammenhänge und Ziele dargestellt (Kapitel 3). Auch wird sich kritisch damit auseinander gesetzt, inwieweit die Praxisgebühr die in sie gesetzten Ziele erreichen konnte (Kapitel 5). Darauf aufbauend wird ihre Abschaffung thematisiert (Kapitel 6) sowie die hierdurch entstanden Folgen näher betrachtet (Kapitel 7). In der Schlussbetrachtung (Kapitel 8) werden die wesentlichen Aussagen und Ergebnisse resümiert, um abschließend die Fragestellung dieser Bachelorarbeit zu beantworten.
Um die politische Intention hinsichtlich der Einführung einer Praxisgebühr verstehen zu können, müssen zunächst die Folgen der vorangegangen Gesundheitsreform - des Gesetzes zur Sicherung und Strukturverbesserung der Gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz4 ) - begutachtet werden.
Als zentrales Element des Gesundheitsstrukturgesetzes wurde zum 1. Januar 1995 die Krankenversicherungskarte5 eingeführt.6 Diese sollte es den Patienten ermöglichen, Leistungen von mehreren Ärzten in Anspruch zu nehmen, ohne dass eine vom Hausarzt ausgestellte Überweisung zwingend erforderlich war.7 In den folgenden zehn Jahren konnte als Auswirkung dieser Vereinfachung in Deutschland eine spürbare Zunahme von Arztbesuchen (Abbildung 1) sowie eine damit verbundene Steigerung der GKV-Ausgaben für ärztliche Leistungen um 14,3 Mrd. Euro (auf insgesamt 62,3 Mrd. Euro) festgestellt werden.8,9
Abbildung 1: Entwicklung der Arztbesuche pro Kopf (1993 - 2003)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung, Rohdaten entnommen aus OECD (Hrsg.) (2014), o. S.
Diese Entwicklung verursachte im Jahr 2003 in Verbindung mit Vorzieheffekten10 ein Defizit der Gesetzlichen Krankenversicherung i.H.v. 3,44 Mrd. Euro,11 welches für die damalige Regierung ausschlaggebend war, sich erneut mit Möglichkeiten zur Kostensenkung im deutschen Gesundheitssystem zu beschäftigen.12
Im Rahmen der Agenda 2010 beschloss daher die rot-grüne Regierungskoalition (SPD mit Bündnis 90/Die Grünen) gemeinsam mit der Fraktion der CDU / CSU das zum 1. Januar 2004 geltende Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Kranken- versicherung. Diese Gesundheitsreform beinhaltete neben diversen Leistungs- kürzungen die Einführung folgender Selbstbeteiligungen: Eine Zuzahlung von 10 % zu Arznei- und Hilfsmitteln sowie von 10 Euro pro Tag für die ersten 28 Tage eines Krankenhausaufenthaltes im Jahr, wie auch die Neueinführung der Zuzahlung von 10 Euro pro Quartal für ambulante ärztliche und zahnärztliche Behandlungen - die sog. Praxisgebühr.13
Bevor auf die mit der Praxisgebühr angestrebten Ziele eingegangen wird, soll im Folgenden ein Überblick über die gesetzlichen Bestimmungen gegeben werden sowie über die detaillierte Ausgestaltung der Praxisgebühr, wie sie bis zum 31.12.2012 bestand.
Grundlage für die Erhebung der Praxisgebühr war der zum 1.Janaur 2004 in Kraft getretene § 28 Abs. 4 SGB V. Gemäß diesem hatten volljährige Patienten der GKV für die jeweils erstmalige Inanspruchnahme eines Arztes einer der vier Behandlungs- klassen (niedergelassener Allgemein- und Facharzt14, Psychotherapeut, Zahnarzt und Notarzt15 ) eine Zuzahlung von 10 Euro pro Quartal zu leisten.16 Weitere Arzt- kontakte waren gebührenfrei, wenn die Gebühr im laufenden Quartal bereits bezahlt worden war und eine Überweisung zu dem betreffenden Arzt aus der gleichen Behandlungsklasse vorlag.17,18 Zuzahlungsfrei waren darüber hinaus Vorsorgeuntersuchungen19 gem. § 25 SGB V sowie Behandlungen, die aufgrund eines Arbeitsunfalls anfielen.20
Versicherte waren darüber hinaus nach § 62 SGB V (der sog. Härtefallregelung) von der Praxisgebühr befreit, wenn ihre in dem jeweiligen Jahr an die GKV entrichteten Zuzahlungen die Belastungsobergrenze von 2 % ihres jährlichen Bruttoeinkommens (1 % für chronisch Kranke) überschritten.21 Beim Erreichen dieser Grenze wurden die Versicherten auf Antrag bei ihrer Krankenkasse von weiteren Zuzahlungen für das laufende Kalenderjahr befreit.22 Auch hatten Versicherte die Möglichkeit eine (teil- weise) Erstattung der Praxisgebühr durch ihre Krankenkasse zu erhalten, wenn sie regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen gingen oder an einem Disease-Manage- ment-Programm23 (DMP) bzw. an einem Hausarztmodell24 teilnahmen.25
Für den Fall, dass eine Überweisung eines Arztes zum Facharzt vorlag, die (Folge)Untersuchung jedoch erst im nächsten Quartal stattfinden konnte, sah die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Gebührenbefreiung nur dann vor, wenn es sich um Laboruntersuchungen, wie bspw. die Auswertung von Blut- oder Gewebeproben handelte. Es galt, dass zu Unrecht erhobene Praxisgebühren den Patienten zurückgezahlt werden mussten.26
Ebenso entscheidend für die zu zahlenden Gebühren war die Reihenfolge der Ärzte- konsultationen. Fand die Behandlung beim Notarzt vor dem Besuch des niedergelassenen Arztes statt, konnte sich der Patient eine Quittung für die bereits gezahlte Praxisgebühr ausstellen lassen und war damit von einer weiteren Zuzahlung befreit. Wurde jedoch nach einem Arztbesuch eine unvorhergesehene Behandlung beim Notarzt nötig, musste der Patient die Gebühr erneut entrichten.27 Eine Ausnahme von dieser Regelung bestand ab dem 01.04.2004 mit der sog. geplanten Inanspruchnahme des Notfalldienstes mit Überweisungsschein.28
Doch schon zum 01.07.2004 trat eine von den Vertragspartnern (Spitzenverbände der Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung) gefasste Neu- regelung in Kraft, nach der die Praxisgebühren für die Behandlung eines niederge- lassenen Arztes und die Notfallbehandlung getrennt voneinander zu berechnen waren. Ab diesem Zeitpunkt war die Überweisung zum Notarzt wegen geplanter Be- handlung abgeschafft. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass eine Quittung über die be- reits beim Notarzt entrichtete Praxisgebühr nur noch zu einer Befreiung von erneuter Zuzahlung bei weiterer Notfallbehandlung führte, nicht aber bei einer Behandlung durch einen niedergelassenen Arzt.29 Zusätzlich wurde beschlossen, die Praxisgebühr nur einmal zu erheben, wenn der Patient in einem Quartal sowohl eine ärztliche als auch eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nahm.30 Diese Neuregelungen bedeuteten für einen Patienten, dass er pro Quartal - trotz vorliegender Überweisungen - maximal 30 Euro an Gebühren zu zahlen hatte, wenn er neben einem niedergelassenen, einen Zahn- und einen Notarzt aufsuchte (vgl. Abbildung 2).31
Abbildung 2: Zusammenhang von Überweisung und Praxisgebühr
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Hanselmann, R. (o. J.), o. S.
Mit der im Zuge des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) eingeführten Praxis- gebühr, beabsichtigte der Gesetzgeber, sowohl die Eigenverantwortung der Versicherten für ihre Gesundheit, als auch die zentrale Lotsenfunktion des Haus- arztes zu stärken.32 Verfolgt wurde damit das Ziel „…die übermäßige Inanspruch- nahme von ärztlichen Leistungen (»Ärzte-Hopping«) auf Kosten der Krankenkassen (zu) reduzieren“33 und die hohe Anzahl der direkten Facharztkonsultationen ohne Überweisungen zu verringern.34
Mit den neu eingeführten Zuzahlungen35 und der damit verbundenen Neuordnung der Finanzierung, sollten zusätzlich Bürokratien abgebaut und die Finanzgrundlagen der GKV gestärkt werden. So sollte durch das GMG eine finanzielle Entlastung innerhalb der GKV von ca. 10 Mrd. Euro im ersten Jahr und ca. 14,5 Mrd. Euro im Jahr 2007 geschaffen werden.36 Allein die Praxisgebühr sollte der GKV laut des Gesundheitsministeriums jährliche Zusatzeinnahmen von 2,6 Mrd. Euro einbringen.37 Langfristig wurde mittels der erzielbaren Einsparungen eine Stabilisierung bzw. Senkung der Beitragssätze in der GKV angestrebt. Im Jahr 2004 sollte der Kranken- kassenbeitrag von ehemals 14,3% (2003) um durchschnittlich 0,7 Prozentpunkte sinken.38
Bevor auf die Folgen der Praxisgebühr eingegangen wird, sollen zunächst die Notwendigkeit und die Wirkungen von Selbstbeteiligungen und die hierfür maßgebliche theoretische Basis erläutert werden.
Mittels einer Selbstbeteiligung werden zwei wesentliche Wirkungen angestrebt: Die Finanzierungs- und die Steuerungswirkung. Die Finanzierungswirkung beschreibt eine Verbesserung der finanziellen Situation der Gesetzlichen Krankenversicherung, durch die zusätzliche Beteiligung der Versicherten an den Ausgaben der GKV.
Beanspruchen die Versicherten aufgrund der Kostenbeteiligung insgesamt weniger Gesundheitsleistungen, können die Ausgaben der GKV noch weiter gesenkt werden. Bspw. betrugen im Jahr 2005 die Zuzahlungen der privaten Haushalte ca. 5,45 Mrd. Euro und machten damit einen Anteil von knapp 3,8% des Gesamteinkommens der GKV aus.39
Die zweite Wirkung der Selbstbeteiligung, die Steuerungswirkung, zielt darauf ab, „… mittels finanzieller Anreize eine Überinanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch die Versicherten zu verhindern.“40 Das Problem der Überinanspruchnahme wird zum größten Teil durch das Finanzierungskonzept41 der Gesetzlichen Krankenversicherung und ihrem Bedarfsprinzip hervorgerufen. Nach diesem werden den Versicherten medizinische Leistungen nach individueller Bedürftigkeit gewährt, während sich der zu zahlende Beitrag nach der individuellen Leistungsfähigkeit42 richtet.43 Mit ihrem gesetzlich festgelegten Leistungskatalog bietet die GKV einen umfassenden Versicherungsschutz, für den die Versicherten einen festen Versicherungsbetrag bezahlen. Dieser geschaffene Vollversicherungsvertrag führt zu einem Verhalten der Versicherten, das in der Versicherungstheorie als Moral Hazard44 bezeichnet wird.
Da die Höhe der individuell gezahlten Versicherungsbeiträge nicht von den jeweils beanspruchten Leistungen abhängt, ist es für die Versicherten rational, ein koste- nunabhängiges Nachfrageverhalten aufzuweisen.45 Die Kosten der GKV werden formal von den Beiträgen der Versicherten finanziert, jedoch verliert der Versicherte als Einzelner den Bezug zwischen den in Anspruch genommenen Leistungen und den verursachten Kosten, da letztere von der Allgemeinheit getragen werden.46 Hinzu kommt, dass die Versicherten den Beiträgen weder durch eine gesunde Lebensweise noch durch eine reduzierte Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ausweichen können.47
Um einen niedrigeren Beitragssatz realisieren zu können, wäre es von den Versicherten kollektiv rational, Gesundheitsleistungen nur im medizinisch notwendigen Umfang zu beanspruchen. Jedoch ist eine individuelle sparsame Nach- frage irrational, da die entstehende marginale Beitragssenkung allen Mitgliedern zu Gute kommt. Umgekehrt verhält es sich mit einer Nachfragesteigerung. In diesem Fall ist es für den einzelnen Versicherten rational, eine Maximalversorgung anzustreben, da die entstehenden Kosten von allen Versicherten der GKV getragen werden.
Als mögliche Maßnahme zur Eindämmung von Moral Hazard wird von Politikern und Gesundheitsökonomen die Einführung von Selbstbeteiligungen genannt,48 da diese laut früheren internationalen Studien einen Einfluss auf die Anzahl der Arztkontakte haben.49 Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) sieht in Selbstbeteiligungen ein Effizienz erhöhendes Steuerungs- instrument. Ebenso ist das Bundessozialgericht der Ansicht, dass Selbst- beteiligungen „…ein zweckmäßiges Mittel zur Erhaltung der Effektivität und Effizienz der Leistungen der GKV ..„ seien.50 Mit Ihnen soll die hohe Zahl von Arztkontakten verringert und die Eigenverantwortung der Versicherten gestärkt werden können, wodurch letztendlich Einsparungen bei den Krankenkassen und eine Entlastung der Solidargemeinschaft eintreten könnten.51 Das Einsparpotenzial einer Selbstbeteiligung hängt jedoch davon ab, ob sie tatsächlich ein verändertes Nachfrageverhalten der Versicherten hervorruft. In diesem Zusammenhang spricht man von der Preiselastizität52 der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen.53
Im Folgenden sollen das oben beschriebene Problem der Überinanspruchnahme sowie die Wirkungen von Selbstbeteiligungen anhand eines einfachen Modells mittels grafischer Darstellungen veranschaulicht werden.
Bei einem vollen Krankenversicherungsschutz ohne Selbstbeteiligung kann die Marktnachfragekurve nach Gesundheitsleistungen als Senkrechte (MN I) und damit als vollkommen preisunelastisch beschrieben werden (Abbildung 3). Aus Sicht der Versicherten senkt die Vollversicherung sowohl die Kosten als auch die Grenz- kosten54 der Inanspruchnahme auf Null. Dies hat zur Folge, dass die Versicherten, unabhängig von dem Preis der Gesundheitsleistung (P), stets die Sättigungsmenge x nachfragen.55
Abbildung 3: Steuerungswirkung einer Selbstbeteiligung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an von der Schulenburg, J.-M. / Greiner, W. (2013), S. 135.
Wird hingegen eine Selbstbeteiligung i.H.v 10 Euro (SB) für den ersten Arztbesuch im Quartal eingeführt, so betragen die Grenzkosten für diesen Besuch konstant 10 Euro und die Marktnachfragekurve nimmt eine neue Form an (MN II). Die Versicherten müssen nun abwägen, ob ihnen der erste Arztbesuch im Quartal die 10 Euro Zuzahlung wert ist. Sie reagieren dabei preisempfindlich, d.h. je höher die festgesetzte SB, desto geringer die Nachfrage. Übersteigen die tatsächlich anfallenden Kosten der Arztbehandlung jedoch die Zuzahlungsgrenze (P > SB), müssen die Versicherten nur die Selbstbeteiligung tragen. Darüber hinaus anfallende Kosten übernimmt die GKV, weshalb die Versicherten in diesem Bereich nicht mehr mit einer geringeren Nachfrage reagieren (die Marktnachfragekurve wird wieder zu einer Senkrechten).56 Entscheiden sich die Versicherten im selben Quartal erneut zu einem Arztbesuch, entfällt dank der Überweisungsregelung die SB und damit die o.g. Abwägung. Die Marktnachfragekurve kann für diese Situation erneut durch MN I beschrieben werden.
Eine detailliertere Darstellung dieses Modells zeigt die Finanzierungswirkung einer Selbstbeteiligung in Abhängigkeit von der Preiselastizität der Nachfrage (Abbildung 4).
Abbildung 4: Finanzierungswirkung einer Selbstbeteiligung in Abhängigkeit der Preiselastizität der Nachfrage
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Pfaff, A. B. et al. (2003), S. 16.
Wie in Abbildung 3 zeigt sich auch hier, dass die Versicherten bei vollem Kranken- versicherungsschutz ohne eine Selbstbeteiligung die Sättigungsmenge X nachfragen (dargestellt durch MN I). Die von der GKV zu tragenden Kosten, berechnen sich durch Preis mal Menge, dargestellt durch die Fläche PEX0. Wird jedoch eine Selbst- beteiligung (Z) eingeführt, fällt je nach Preiselastizität der Nachfrage, die Finanzierungswirkung unterschiedlich groß aus. Im Falle einer vollkommen unelastischen Nachfrage kommt es zu keiner Steuerungswirkung, denn die Versicherten werden weiterhin die Sättigungsmenge X nachfragen. Unabhängig davon kommt es jedoch zu einer Entlastung der GKV, da die Versicherten nun den Kostenanteil in Höhe der Fläche ZKX0 selbst tragen und die von der GKV zu tragenden Kosten nur noch dem Betrag der Fläche PEKZ entsprechen. Wenn die Versicherten außerdem aufgrund der Kostenbeteiligung insgesamt weniger Gesundheitsleistungen beanspruchen, können die Ausgaben der GKV noch weiter gesenkt werden. Im Falle dieser preiselastischen Nachfrage (dargestellt durch MN II) werden die Versicherten nur noch Gesundheitsleistungen im Umfang von Y nachfragen (Schnittpunkt der Grenzkosten Z mit der Nachfragekurve MN II). Die GKV wird auf diesem Weg zusätzlich Kosten entsprechend der Fläche CEKH einsparen, während die Zuzahlungen der Versicherten der Fläche ZHY0 entsprechen.57
Im Ergebnis wird deutlich, dass eine Selbstbeteiligung genau dann eine größtmögliche Finanzierungswirkung besitzt, wenn sie gleichzeitig eine Steuerungswirkung aufweist, es sich also um eine preiselastische Nachfrage nach Gesundheitsleistungen handelt.
[...]
1 Vgl. Simon, M. (2013), S. 194.
2 Vgl. Sachverständigenrat (Hrsg.) (2002), S. 237.
3 So wurde bereits im Vorfeld befürchtet, dass die Gebühr Kranke von einem medizinisch notwendigen Arztbesuch abhalten und somit zu höheren Kosten für eine verspätet begonnene Therapie führen könnte. Vgl. Mihm, A. (2012), o. S.
4 Vgl. Gesundheitsstrukturgesetz (1992).
5 Vgl. § 291 Sozialgesetzbuch V (2014).
6 Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.) (1995), o. S.
7 Vgl. Dahmen, A. T. (2010), S. 19.
8 Der Anstieg der gesamten Gesundheitsausgaben von 1993 bis 2003 betrug ca. 71 Mrd. Euro und wurde damit zu 20 % durch die gestiegenen Ausgaben für ärztliche Leistungen verursacht. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2006), S. 187.
9 Vgl. ebenda, S. 190.
10 Da die zum 1. Januar 2004 geltende Gesundheitsreform des GMG vorsah, Zuzahlungen für
Arzneimittel zu erhöhen und Sehhilfen aus dem Leistungskatalog zu streichen, reagierten die
Versicherten im Vorjahr mit einer außerordentlich starken Nachfrage, welche allein 800 Mio. Euro des Fehlbetrags verursachte. Vgl. Handelsblatt (Hrsg.) (2004), o. S.
11 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (o. J.) a, Ergebnisse für 2003.
12 Neben den Kostendämpfungsgesetzen der 70er Jahre hatte auch das Gesundheits-Strukturgesetz
von 1993 das Ziel, die Ausgaben der Krankenkassen zu reduzieren, bzw. die finanziellen
Grundlagen der GKV zu sichern. Vgl. Dahmen, A. T. (2010), S. 16, Deutscher Bundestag (Hrsg.)
(1992), S. 1 sowie für ausführliche Informationen Pfaff, A. B. et al. (1994), S. 35 - 116.
13 Vgl. GKV-Modernisierungsgesetz - GMG (2003), o. S.
14 Die Bandbreite der ambulanten Facharztpraxen reicht vom Anästhesisten über den Hautarzt bis hin zum Urologen. Für eine detaillierte Liste vgl. Horenkamp-Sonntag, D. / Verheyen, F. (2012), S. 10.
15 Zu der ärztlichen Notfallversorgung zählten der Kassenärztliche Notfalldienst, die Notfallambulanz im Krankenhaus sowie die Notfallbehandlung in der Praxis.
16 Damit waren Privatpatienten, Versicherte mit Kostenerstattung nach § 13 II SGB V und
Anspruchsberechtigte der freien Heilfürsorge, wie bspw. Beamte, Zivildienstleistende, Polizisten
und Soldaten von der Praxisgebühr ausgenommen. Beamte mussten erst ab dem 30. April 2009 die Praxisgebühr zahlen, indem sie ihnen von den Beihilfeleistungen abgezogen wurde. Vgl.
Bundesverwaltungsgericht (2009), o. S.
17 Überweisungen an Zahnärzte waren nicht zulässig und psychologische Psychotherapeuten, Kinder-
und Jugendlichenpsychotherapeuten waren in ihren Überweisungen gem. den
Psychotherapierichtlinien eingeschränkt. Vgl § 27 Abs. 9 und 11 Bundesmantelvertrag -
Ärzte/Ersatzkassen (2004).
18 Eine nachträglich vorgelegte Überweisung ermöglichte keine Rückerstattung der gezahlten Praxisgebühr. Vgl. ebenda, § 21 Abs. 1.
19 Diese umfassten u.a. Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft, Maßnahmen zur
Krebsfrüherkennung und zwei Kontrolluntersuchungen pro Jahr beim Zahnarzt. Ergab sich jedoch während dieser Untersuchungen ein Behandlungsbedarf, wurde die Praxisgebühr dennoch fällig.
20 Vgl. § 28 Abs. 4 GKV-Modernisierungsgesetz - GMG (2003), Deutsches Ärzteblatt (Hrsg.) (2006).
21 Dies galt auch für Sozialhilfeempfänger, welche die Praxisgebühr von ihrem Sozialhilfe-Regelsatz bezahlen mussten. Vgl. Ärzte Zeitung (Hrsg.) (2010). Familien wurden gesondert berücksichtigt, da sich ihr Bruttoeinkommen durch Freibeträge für Kinder und Ehepartner reduzierte. Vgl. Neufassung
§ 62 II SGB V in GKV-Modernisierungsgesetz - GMG (2003).
22 Vgl. ebenda, Neufassung von § 62 I SGB.
23 DMPs sind systematische Behandlungsprogramme für chronisch Kranke, für welche
Krankenkassen im Zuge des Risikostrukturausgleichs finanzielle Zuschläge erhielten. Vgl.
Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (o. J.) b. sowie Deutsches Ärzteblatt (Hrsg.) (2004).
24 Ein Hausarztmodell sieht vor, dass Versicherte vor jeder Inanspruchnahme eines Facharztes ihren Hausarzt aufsuchen. Für nähere Informationen vgl. Höhne, A. (2009).
25 Die Erstattungsangebote unterschieden sich bei den einzelnen Krankenkassen und wurden zum
größten Teil nach Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs wieder
abgeschafft. Vgl. Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (Hrsg.) (2012), S. 18, §1 Kassenärztliche
Vereinigung Berlin (Hrsg.) (2004) sowie § 65a SGB V in GKV-Modernisierungsgesetz - GMG (2003).
26 Vgl. § 21 Abs. 1 Bundesmantelvertrag - Ärzte/Ersatzkassen (2004).
27 Im Allgemeinen galt: Bezahlte der Patient die Gebühr nicht, konnte ein Arzt die Behandlung
verweigern, außer es lag ein lebensbedrohlicher Notfall vor. Vgl. § 13 Abs. 6 Bundesmantelvertrag - Ärzte/Ersatzkassen (2004).
28 Vgl. Ärzteverein Südkreis Mettmann (Hrsg.) (2004), o. S.
29 Vgl. Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (Hrsg.) (2004) sowie IWW Institut für Wissen in der Wirtschaft (Hrsg.) (2004) S. 7.
30 Vgl. IWW Institut für Wissen in der Wirtschaft (Hrsg.) (2004), S. 7.
31 Vgl. Neufassung von § 28 Abs. 5 i.V.m. § 61 Satz 2 SGB V in GKV-Modernisierungsgesetz - GMG sowie für eine ausführliche Erläuterung der getrennten Berechnung zwischen den
Behandlungsklassen Kassenärztliche Vereinigung Saarland (Hrsg.) (2009).
32 Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2003), S. 1.
33 Müller, M. / Böhm, K. (2009), S. 37.
34 Das Ausmaß der Überinanspruchnahme wird bspw. im OECD-Ländervergleich sichtbar. Während
im OECD - Schnitt 6,66 Arztbesuche im Jahr 2002 vorgenommen wurden, betrugen diese in
Deutschland 8. Vgl. OECD (Hrsg.) (2014).
35 Siehe hierzu auch Kapitel 2.1
36 Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2003), S. 2.
37 Vgl. Tagesspiegel Online (Hrsg.) (2009).
38 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (2013), S. 143 sowie Süddeutscher Verlag (Hrsg.) (2003).
39 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (2014)a sowie Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (o. J.) a, Ergebnisse für 2005.
40 Pfaff, A. B. et al. (2003), S. 14 zitiert nach Rürup-Kommission (Hrsg.) (2003), S. 2.
41 Die Finanzierung der GKV beruht auf dem Umlagedeckungsverfahren, wonach die risiko-
unabhängigen Beiträge der Versicherten einmal pro Jahr adäquat festgesetzt werden, damit die
Summe der Einnahmen den voraussichtlichen Ausgaben entspricht. Vgl. Schräder, J. (2008), S. 69.
42 Die Leistungsfähigkeit der Versicherten wird allein nach ihrem Arbeitseinkommen bemessen. Vgl. Winkelhake, O. / John, J. (2003), S. 188.
43 Vgl. Musil, A. (2003), S. 1.
44 Unter dem Begriff Moral Hazard wird verstanden, dass Versicherte ihr Verhalten aufgrund des
Versicherungsschutzes ändern (z.B. eine Überinanspruchnahme von Gesundheitsleistungen). Vgl. von der Schulenburg, J.-M. / Greiner, W. (2013), S. 47.
45 Vgl. Sachverständigenrat (Hrsg.) (2002), S. 273.
46 Auch das Sachleistungsprinzip, nach dem die Versicherten ihre Gesundheitsleistungen erhalten, trägt zu dem Problem der Kostentransparenz bei, da die GKV nur mit den Leistungserbringern direkt abrechnet, nicht aber mit den Versicherten.
47 Vgl. Pfaff, A. B. et al. (2003) S. 15.
48 Vgl. von der Schulenburg, J.-M. / Greiner, W. (2013), S. 48, Gebhardt, B. (2007), S. 12 sowie Sachverständigenrat (Hrsg.) (2002), S. 274.
49 Bereits 1977 konnten Scitovsky und McCall zeigen, dass sich die Anzahl der Arztbesuche um 24 % reduzierte, wenn Versicherte eine Zuzahlung leisten mussten. Ähnliches fanden zwei Jahre zuvor Roemer et al. heraus, welche die Auswirkungen einer 1$-Zuzahlung für die ersten beiden Arztbesuche im Monat untersuchten. Vgl. Scitovsky, A. A. et al. (1977) sowie Roemer, M. I. et al. (1975).
50 Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2012)b, S. 2.
51 Vgl. ebenda.
52 Die Preiselastizität der Nachfrage ist „Die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge eines Gutes infolge einer Erhöhung seines Preises um ein Prozent.“ Pindyck, R. Rubinfel, D. (2013), S. 65. Und wird berechnet durch „…die Prozentänderung der Menge dividiert durch die Prozentänderung des Preises…“ Varian, H. R. (2011), S. 304. Von einer elastischen Nachfrage wird gesprochen, wenn eine Preiserhöhung einen starken Nachfragerückgang auslöst und die berechnete Preiselastizität im Betrag über eins liegt. Bleibt die Nachfrage infolge einer Preiserhöhung unverändert, beträgt die Elastizität gleich 0 und es handelt sich um eine vollkommen unelastische Nachfrage.
53 Siehe hierzu auch Abbildung 4.
54 Als Grenzkosten versteht man die Kosten der nächsten Einheit.
55 Vgl. von der Schulenburg, J.-M. / Greiner, W. (2013), S. 131.
56 Aus diesem Grund ist bei einer niedrigeren Selbstbeteiligung nur von einer geringeren Steuerungswirkung auszugehen. Vgl. von der Schulenburg, J.-M. / Greiner, W. (2013), S. 134 - 135.
57 Vgl. Pfaff, A. B. et al. (2003), S. 16 - 17.
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