Bachelorarbeit, 2013
54 Seiten, Note: 1,3
1 Einleitung
2 Der Umbau des Sozialstaats und die Wiederentdeckung des community organizing
2.1 Die Krise des Sozialstaats und die Entwicklung zur Leistungsgesellschaft
2.1.1 Ökonomisierung der Sozialpolitik
2.1.2 Individualisierung der Lebensrisiken
2.1.3 Hartz IV - Fördern und Fordern
2.2 Community organizing
2.2.1 Gewerkschaftliches organizing
2.2.2 Soziale Arbeit und community organizing
2.3 Wandel der Sozialen Arbeit
3 Eine Analyse des Umbaus des Sozialstaats
3.1 Die Regulationstheorie als Instrument der Analyse
3.1.1 Akkumulationsregime
3.1.2 Regulationsweise
3.1.3 Kapitalistische Formation
3.2 Die neue Hegemonie: Mehr Markt und Wettbewerb
3.3 Soziale Arbeit im Kontext der Regulation
3.3.1 Bedingungen für Soziale Arbeit
3.3.2 Soziale Arbeit im Wettbewerbsstaat
4 Transformative organizing als Reaktion auf den 35 Umbau des Sozialstaats
4.1 Transformative organizing
4.1.1 Gesellschaftliche Transformation
4.1.2 Abgrenzung zum community organizing
4.2 Beispiele aus der Praxis
4.3 Soziale Arbeit und transformative organizing
5 Fazit
Quellenverzeichnis
Seit der Bankenkrise 2007, die sich mittlerweile zu einer Staatsschulden- und Eurokrise entwickelt hat, hört man fast täglich von Hiobsbotschaften aus ganz Europa. Doch Deutschland scheint von der Krise kaum betroffen: „Es hat drei Gründe, weshalb Deutschland heute so gut dasteht. Da sind zum einen die Reformen der Agenda 2010. Dann hilft uns in der Globalisierung, dass wir in Deutschland eine starke Industrie und einen starken Mittelstand haben. Und die Sozialpartnerschaft, also das verantwortliche Miteinander von Arbeitgebern und Gewerkschaften, ist ein Wettbewerbsvorteil. Das zeigt sich gerade in Krisenzeiten.“ (Schröder nach Martens, 2012)
So antwortete Altbundeskanzler Gerhard Schröder 2012 in einem Interview mit der BILD-Zeitung auf die Frage, welchen Anteil die Hartz-Reformen an der derzeitigen Situation am Arbeitsmarkt haben. Des Weiteren spricht er sich für eine „Agenda 2020“ aus, um gegen die Herausforderungen des demographischen Wandels und der Globalisierung zu bestehen. Das Prinzip der Reformen sei es gewesen, zu „Fordern und fördern [...] Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer arbeitet und Steuern zahlt, kann die Solidarität derer einfordern, die soziale Leistungen erhalten.“ (Schröder nach Martens, 2012)
Auf den ersten Blick scheint dies zu stimmen, hat sich doch zum Beispiel die Zahl der Erwerbslosen seit Einführung der Hartz-Reformen 2005 stetig verringert: 2011 waren 2,9 Millionen Menschen erwerbslos, der niedrigste Stand seit 1992. (vgl. Destatis, 2012) Schon 1999 machte Schröder in Zusammenarbeit mit Tony Blair deutlich, dass er Deutschland an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anpassen wolle. (vgl. Blair, Schröder,1999)
Kritisiert dagegen wird stark, dass nicht erst seit der rot-grünen Regierung die soziale Polarisierung extrem steigt, sondern auch, dass der Sozialstaat im Vergleich zu 2006 ein Drittel schlechter wirkt1, so Matthias Birkwald (MdB, Die Linke): „Das ist die Folge der verheerenden rot-grünen Hartz-Reformen, von der die schwarz-gelbe Regierung, aber ebenso wenig SPD und Grüne partout nicht abweichen wollen." (Birkwald, 2008:S.1)
Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) konstatiert sinkende Reallöhne, eine wachsende Kluft zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten, eine schwindende Mittelschicht (vgl. DIW, 2008), und die Zeitung Financial Times Deutschland nennt Gerhard Schröder bereits 2005 den „Kanzler der Bosse“. (Fricke, 2005)
Die Juristin Helga Spindler sieht in den Hartz-Reformen eine Entrechtung der Betroffenen, „durch Aufbau eines gegenüber Bürgerrechten und -interessen „immunen“ Behördenapparats.“ (Spindler, 2009: S.5)
Doch wie dagegen vorgehen? Gerade wegen der vielen gesellschaftlichen Probleme sollte es doch möglich sein, dass sich Menschen zusammenschließen, um handlungsfähige Bürgerplattformen zu gründen. Hier könnte transformative organizing2 Abhilfe schaffen. Während Kritiker Reformen wie die Agenda 2010 als Versuch sehen, die Gesellschaft so zu ökonomisieren und zu individualisieren, dass der einzelne Mensch zum „nicht-sozialen Wesen“ (Castel, 2000: S.403) wird, könnte transformative organizing ein Mittel sein, um die Gemeinschaft zu stärken und somit die Basis schaffen, auf der eine Transformation der Gesellschaft möglich wird.
Zentral für diese Arbeit ist die Frage, wie sich die „Bauarbeiten“ am Sozialsystem der Bundesrepublik auswirken, welche Argumente von den Architekten des Umbaus zur Rechtfertigung geliefert werden und ob sich nicht auch andere Sichtweisen auf den Diskurs ergeben. Außerdem sollen die Möglichkeiten gezeigt werden, inwiefern transformative (community) organizing in Zukunft genutzt werden kann.
Diese Arbeit wird in Kapitel zwei am Beispiel der Hartz-Reformen herausarbeiten, wie tiefgreifend diese Veränderungen für Betroffene sowie für die Soziale Arbeit sind. Des Weiteren soll gezeigt werden, in welcher Form organizing schon von Gewerkschaften und der Sozialen Arbeit genutzt wird.
In Kapitel 3 werden den hegemonialen Deutungsmustern, mit denen der Umbau des Sozialstaats erklärt wird, Interpretationen entgegenstellt, die sich aus der Theorie der Regulation ergeben. Dabei soll eine alternative Sichtweise auf die bekannten „neoliberalen“ Argumente erarbeitet werden.
Zuletzt soll in Kapitel 4 deutlich werden, wie transformative (community) organizing als Reaktion auf den Umbau des Sozialstaats zu verstehen ist und inwieweit es die Möglichkeit bietet, Sozialräume zu organisieren.
2. Der Umbau des Sozialstaats und die Wiederentdeckung des community organizing
In diesem Teil der Arbeit soll gezeigt werden, welche Veränderungen der deutsche Sozialstaat derzeit durchlebt. Hierbei wird im ersten Abschnitt vor allem auf die Folgen der Agenda 2010, im Besonderen der Hartz-Reformen eingegangen. Im zweiten Abschnitt wird aufgezeigt, wie Gewerkschaften und Sozialarbeit organizing nutzen und welchem Wandel die Soziale Arbeit zur Zeit unterliegt.
Der Begriff „deutscher Sozialstaat“ bezeichnet die Summe der staatlichen Institutionen, Steuerungsinstrumente und Normen, die ab 1949 jene sozialen Folgewirkungen und Lebensrisiken, die durch die kapitalistisch-marktwirtschaftliche Wirtschaft entstehen beheben soll. Das Sozialstaatsprinzip ist in den Artikeln 20 und 28 des deutschen Grundgesetzes verankert. (vgl. Andersen, Wichard, 2003: S.1)
Die moderne, staatliche Sozialpolitik ist im 19. Jahrhundert entstanden. Sie sollte die Antwort auf die neuen sozialen Probleme, die sogenannte „Arbeiterfrage“ sein. Ziel war es in erster Linie, dem Erstarken der Sozialdemokratischen Partei etwas entgegen zu setzen und durch eine eigene Antwort auf die soziale Frage der Partei Wählerstimmen abspenstig zu machen. Den Hilfsbedürftigen wurde ein Rechtsanspruch auf Leistungen zugestanden, aus welchem dann die deutsche Sozialversicherung hervorging.
Die heutige Sozialpolitik ist hauptsächlich staatlich, sie hängt nicht mehr von den Ansichten der AkteurInnen ab, sondern von der Entwicklung der realen Verhältnisse, das heißt, sie nimmt eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung als gegeben an, die soziale Ungleichheiten erzeugt, die wiederum eines Ausgleichs bedürfen. In der Praxis erfordert dies eine Umverteilung bestehenden Besitzstandes, die Begünstigten erhalten etwas in Form von Transferleistungen. Die Verpflichteten zahlen diese durch Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung. Dabei kann auf den Staat nicht verzichtet werden, da er der Erbringer der Transferleistungen ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Je weniger Staat, desto weniger soziale Sicherheit. (vgl. Sienknecht, 2008: S. 8-15)
2.1. Die Krise des Sozialstaats und die Entwicklung zur Leistungsgesellschaft
Galt die „soziale Frage“ bis in die 1960er Jahre noch als gelöst, wird etwa seit den 1970er Jahren über die Leistungsgrenze des Sozialstaats diskutiert und werden von verschiedenen Seiten grundlegende Reformen der Sozialsysteme gefordert. (vgl. Andersen, Wichard, 2003: S.3)
Die Phase der Vollbeschäftigung war zu Ende, immer mehr Menschen wurden arbeitslos: Seit dem Jahr 1971 stieg die Zahl der Arbeitslosen mit kleinen Unterbrechungen stetig an. (vgl. Destatis, 2012) Die technischen Fortschritte der Jahrzehnte davor, vor allem in den Bereichen Information und Kommunikation, führten dazu, dass sich die Lohnarbeit in Deutschland stark veränderte. (vgl. Reitzig, 2005: S.160)
1997 erreicht die Arbeitslosigkeit ihren bisherigen Höchststand. So waren damals 2 870 021 Menschen arbeitslos gemeldet. (vgl. Destatis, 2012)
In dieser Situation war immer öfter die Rede von der Globalisierung, die es zwingend notwendig mache, die Wettbewerbsbedingungen für deutsche Betriebe zu erleichtern, da man im „globalen Rennen“ (Herzog nach Butterwegge, 2011: S. 165) den Anschluss nicht verlieren dürfe. Vor allem wurd eine härtere Gangart gegenüber Leistungsunwilligen und Langzeitarbeitslosen gefordert. Denn „für viele ist es komfortabler, sich vom Staat aushalten zu lassen, als sich anzustrengen und etwas zu leisten.“ (Herzog nach Butterwegge, 2011: S. 166)
In diesem Klima trat Gerhard Schröder 1998 seine Kanzlerschaft an. In der mit den Grünen getroffenen Koalitionsvereinbarung, vom 20.10.1998, mit dem Titel „Aufbruch und Erneuerung - Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert“, machte die Koalition die Bekämpfung der Armut und eine Reform des Arbeitsmarktes zu ihren Hauptthemen. Die Regierungsparteien setzten ab diesem Zeitpunkt voll auf die „Aktivierung der Arbeitsfähigen“ (Butterwegge, 2011: S.168) und stießen so in die Debatte über den Missbrauch von Sozialleistungen. Am 22.02.2002 wurde die Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ eingerichtet, deren Vorsitzender das VW- Personalvorstandsmitglied Peter Hartz wurde. Die Kommission legte ihren Abschlussbericht am 16.08.2002 vor, in dem es hieß: „die Zahl der registrierten Arbeitslosen lasse sich in drei Jahren um zwei Millionen verringern.“ (Butterwegge, 2011: S.171) Die „Hartz-Reformen“ traten schließlich am 1.1.2005 in Kraft. (vgl. Butterwegge, 2011: S. 165-181)
Die Hartz-Reformen wirken sich stark auf die Lohnabhängigen aus: aufgrund starken Drucks durch die Jobcenter werden Arbeitslose angehalten, auch schlecht bezahlte Stellen anzunehmen. Durch den zeitgleichen Ausbaus des Niedriglohnsektors, vor allem der sogenannten „1-Euro-Jobs“, zwingt man sie unter Androhung von Leistungskürzungen und schärferen Zumutbarkeitsklauseln, fast jede Arbeitsstelle anzunehmen und somit den Preis für ihre Arbeitskraft zu unterbieten. Wegen des so entstehenden Gefolges von Niedriglöhnern, entsteht ebenfalls Lohndruck für die Beschäftigten. (vgl. Butterwegge, 2011: S. 180)
Einer Untersuchung durch das Statistische Bundesamt zufolge, waren 2010 7,9 Millionen Menschen atypisch beschäftigt. Atypische Beschäftigung bezeichnet vier Arten der Anstellung: Teilzeitbeschäftigung bis zu 20 Wochenstunden, befristete Beschäftigung, Zeitarbeit sowie Mini-Jobs. (vgl. Destatis, 2012 A sowie 2012 C) Da Lohnarbeit das bestimmende Kriterium darstellt, um an unserer Gesellschaft teilzuhaben, beziehungsweise die Art der Lohnarbeit definiert welche soziale Stellung man einnimmt, ist durch die massenhafte atypische Beschäftigung ein zentraler integrativer Faktor in Gefahr. (vgl. Castel, 2000: S. 283-335)
Gemeinhin lässt sich aber sagen, dass sich die Auffassungen über den Sozialstaat schon vor den Reformen verändert hatten. Sprach man bis 1999 noch vom „sorgenden Sozialstaat“ (Rothgang; Preuss 2008: S. 32), ist diese Bezeichnung dem „investitiven Sozialstaat“ (Rothgang; Preuss 2008: S. 32) gewichen, einem Sozialstaat, dessen Ausgaben sich lohnen müssen. Dadurch gewinnt der Anspruch der Effizienz, ein Kernbereich der Ökonomie, an Bedeutung, und Sozialpolitik wird an ihrer ökonomischen Gewinn-/Verlustrechnung gemessen. Die Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang und Maike Preuss sprechen sogar gänzlich von einer „Ökonomisierung der Sozialpolitik“ (Rothgang; Preuss 2008: S.32)
Sozialpolitik, die ursprünglich marktkorrigierende Funktion innehatte, zielt nun darauf ab, bei den Individuen „employability“3 (Rothgang; Preuss, 2008: S.33) wiederherzustellen, also auf das Generieren von sozialem und humanem Kapital. (vgl. Rothgang; Preuss, 2008: S. 31ff.) Als beispielhaft nennen Rothgang und Preuss die Veränderungen in der Gesundheits- und Familienpolitik: Beiträge zur Krankenversicherung werden von Arbeitgeberseite zunehmend als Last gesehen, als Hemmnis auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes. In der Familienpolitik zeigt sich jedoch durch die Einführung des Einkommensabhängigen Elterngeldes und die Verbesserung von Betreuungsmöglichkeiten für Kinder eine Anerkennung der in den Familien erbrachten Erziehungsleistungen, also das Aufziehen „von künftigen Beitragszahlern“. (Rothgang; Preuss, 2008: S. 42f.)
Die Soziologin Ilona Ostner spricht von einem Paradigmenwechsel in der Familienpolitik, den sie als „Ökonomisierung der Lebenswelt“ (Ostner, 2008: S.49) bezeichnet. Die auf Aktivierung ausgerichtete Agenda 2010 betrachte Familien unter ökonomischen Gesichtspunkten: „als Ressourcen des Arbeitsmarktes und allgemeiner der Wissensgesellschaft, als Kostenfaktor für junge Erwachsene vor und nach der Entscheidung für ein Kind, als Armutsrisiko für Kinder und Eltern, Beeinträchtigung von Erwerbs- oder Konsumchancen“ (Ostner, 2008: S. 49) In der Untersuchung der Diskurse um Leistung der Familie, später Versagen der Familie, fand eine Umdeutung statt. Wurde vor der Agenda 2010 noch von Möglichkeiten für die Familien gesprochen, um zum Beispiel Beruf und Kinder durch Arbeitszeitverkürzung besser zu vereinbaren, sei das Ziel der Politik nach Implementierung der Agenda, das Erwerbspotential der Familien, vor allem der Mütter, zu stärken. In diesen Prozessen sieht sie einen Wechsel zu marktzentrierter Familienpolitik. (vgl. Oster, 2008: S. 49-64)
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Staat sich aus seinen sozialpolitischen Verantwortlichkeiten zurückzieht. Denn ebenfalls in der Rentenversicherung findet durch Riester- und Rüruprente eine Verschiebung von staatlicher Fürsorge zu individueller Vorsorge statt. Mit den Argumenten Massenarbeitslosigkeit, Fachkräftemangel und Demografischem Wandel werden maßgebliche Kürzungen in allen Sozialversicherungen begründet. (vgl. Mätzke, 2008: S. 266ff.) Ganz im Zeichen der Ökonomisierung, denn diese steht für „Rationalisierung, Effizienzsteigerung und Leistungsorientierung“ (Dries, 2006)
Da sich Sozialpolitik und -staat nach ökonomischen Vorgaben verändern, hat dies Auswirkungen auf die einzelnen Individuen im Staat. Sich selbst und seine Arbeitskraft auf den Markt zu werfen, soll helfen, „man selbst zu werden“ (Kaindl, 2011: S. 35) Die Zusammenführung von employability und lebenslangem Lernen soll die Anpassungsfähigkeit an eine flexibilisierte Produktionsorganisation ermöglichen. Die Aktivierung des Staates besteht darin, den Individuen vorzugeben, wie sie sich den neuen Bedingungen anpassen müssen. (vgl. Kaindl, 2011: S. 35ff.)
Dieser Logik folgend, sind Arbeitslosigkeit und Untätigkeit die Folge von fehlendem Engagement und somit die persönliche Schuld des Einzelnen. Im Gefolge des Qualitätsmanagements, der Effizienz und der Rationalisierung finden sich Modelle des „Unternehmers deiner selbst“ (Kaindl, 2001: S.39), Also dem Menschen, der mit seinen Ressourcen haushaltet und diese zur Steigerung seiner Leistungsfähigkeit einsetzt. (vgl. Kaindl, 2011: S. 39f.)
In einem Großteil der entwickelten Industrieländer befinden sich die sozialen Sicherungssysteme unter dem Zwang sich zu legitimieren. Es geht um Privatisierung der öffentlichen Versorgungssysteme und sozial-karitativen Einrichtungen, die Öffnung des Gesundheitssystems, der Rentenkassen und der Sozialversicherungen für die Märkte, eine Reform des Bildungssystems, die Konkurrenz unter den Schulen und Hochschulen fördern soll und vieles mehr. Überall erlebt man, wie die Pflicht und Verantwortung der einzelnen Individuen für das eigene Wohlergehen herausgestellt und betont wird. Der Einzelne wird „als Verbündeter des ökonomischen Erfolgs angesprochen, indem man dafür sorgt, dass er in […] die Weiterentwicklung und Stärkung des eigenen ökonomischen Kapitals […] investiert“ (Rose, 2000: S. 93) Durch die Betonung des Einzelnen, der seinen Erfolg selbst steuert, wird versucht, unternehmerische Tugenden zu maximieren, so dass er bei der Erfüllung beruflicher Wünsche mehr Engagement, Risikofreudigkeit und Einsatz zu zeigt. Der Arbeitsplatz gilt als Stätte persönlicher Verwirklichung, in der sich der Einzelne in ein Arbeitskollektiv einbindet. (vgl. Rose, 2000: S. 92f.)
Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist die immer tiefere Spaltung der Arbeitnehmerschaft in Kernbelegschaften, die schwer ersetzbar und überall einzusetzen sind, sowie die Randbelegschaften, die leicht zu ersetzen und potentiell überflüssig sind. Diese „Überflüssigen“ müssen immer unattraktivere Arbeitsstellen annehmen und dies auch noch in steigender Konkurrenz zu anderen „Überflüssigen“. Als Konsequenz müssen sie individuell eine „Ellbogenmentalität“ entwickeln, um überhaupt am Berufsalltag teilnehmen zu können, obwohl ihre Belange vergleichbar sind. (vgl. Ulmer, 2004:S.32f.) Eine neue Auffassung von Sozialem und Wirtschaftlichem ist die Folge: „Soziales und Ökonomisches werden folglich als Antagonismus gesehen: Das Soziale muss fragmentiert werden, um den moralischen und psychologischen Pflichtenkatalog des Wirtschaftsbürgers in Richtung auf ein selbstinitiiertes persönliches Fortkommen umzuwandeln. […] Um das unternehmerische Handeln des Individuums aufs Höchste zu steigern, muss die Regierung des Ökonomischen de-sozialisiert werden.“
(Rose, 2000: S. 94)
Da so Empfänger von Transferleistungen, wie schon gezeigt, immer mehr marginalisiert werden, weil sie nicht bereit sind, sich selbst nach dieser Logik wie Unternehmen zu führen, werden sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen, und somit wird ihre Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft aufgekündigt. Das Versicherungswesen, eigentlich eine soziale Angelegenheit und Bestandteil bürgerlicher Rechte, ist nun ausschließlich für „unschuldig Verarmte“ gedacht. In dieser neuen Konstellation kommt dem Sozialsystem nicht mehr die Rolle eines elementaren Bestandteils sozialer Solidarität zu, denn: „Wer arbeitet und Steuern zahlt, kann die Solidarität derer einfordern, die soziale Leistungen erhalten.“ (Schröder nach Martens, 2012) (vgl. Rose, 2000: S. 94 - 100)
Der zentralste Punkt der Agenda 2010 sind die Hartz-Gesetze, im Volksmund Hartz 1 - 4, um welche die Sozialgesetzbücher von 2003 - 2005 erweitert und verändert wurden. Die Sozialgesetzgebung leitet sich aus dem Grundgesetz ab, mit der Vorstellung, dass jedes Individuum soziale Rechte und Leistungsansprüche hat. Der Mensch in einer sozialen Notlage, soll Subjekt bleiben und nicht Objekt behördlichen Handelns. Um diese Rechte einzufordern, steht ebenfalls gerichtliche Kontrolle für den Bürger bereit. Die Juristin Helga Spindler definiert folgende Komponenten, die einen sozialen Rechtsstaat ausmachen:
- durchsetzbare Rechtsansprüche auf bedarfsdeckende Existenzsicherung als letztes Netz für alle und ohne Vorleistung,
- keine Delegation hoheitlicher Macht an private Dienstleister und Arbeitgeber,
- Mitentscheidungsmöglichkeiten für sozial Schwache (einschließlich dem Recht einen Arbeitsvertrag frei aushandeln und abschließen zu können),
- […]
(vgl. Spindler, 2005: S. 50)
Dies sei ein gewichtiger Unterschied des deutschen Sozialstaates zum englischen oder österreichischen, da es dort „weniger gerichtliche oder sonstige Kontrolle“ gebe,
„sondern nur noch Zielvereinbarung und Kontraktmanagement durch die Behörden.“
(Spindler, 2005: S.51)
In den Hartz-Gesetzen sieht sie eine Neubewertung des Sozialstaats, der im Mainstream schon länger in Frage gestellt wird: Regelungen des Arbeitsrechts, Rechte, die über Jahrzehnte von der Arbeiterschaft erkämpft wurden, gelten als „Verkrustung“ oder „Überregulierung“. Staatliche Leistungen im Falle der Arbeitslosigkeit als „passiver Alimentierung“ oder „Abhängigkeit vom staatlichen Geldtopf.“ (Spinder, 2005: S. 52) Fördern und Fordern ist das neue Paradigma, aktivierende Sozialpolitik das Gegenteil der vorherigen Rolle des Staates, in der Betroffene sich ohne Gegenleistung aushalten lassen können. Der Leitsatz ist sogar als Überschrift im zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) zu finden. (vgl. Spindler, 2005: S. 52f. und Brütt, 2011: S. 137)
In der Praxis sieht Spindler vier Ebenen auf denen die Aktivierung Betroffener stattfindet: Senkung des Existenzminimums, Abbau von Schutzrechten, monopolistisch verzerrter Wettbewerb, neue Steuerung der Arbeitsverhältnisse. Es soll nun kurz auf das Existenzminimum und die Schutzrechte eingegangen werden. (vgl. Spindler, 2005: S.51 - 58)
Senkung des Existenzminimums:
Der neuen Rolle des Sozialstaats folgend, werden materielle Transferleistungen grundsätzlich neu bewertet. Der/die BürgerIn, der zu viel erhalte, werde träge oder faul und habe keinen Grund mehr, sich Arbeit zu suchen. Um die neue Selbststeuerung anzustreben, wurde mit Regelsätzen das Existenzminimum unter die Armutsgrenz gesenkt, da so das Individuum „durch regelmäßig auftretende Mangelsituationen auf Trab gehalten werden soll.“ (Spindler, 2005: S. 54) Das vorige Prinzip der Bedarfsdeckung wird verändert, und eine Verarmung der Bevölkerung in Kauf genommen. (vgl. Spinder, 2005: S. 54)
Abbau von Schutzrechten:
Im aktivierenden Sozialstaat ist der/die SachbearbeiterIn im Arbeitsamt nun Case- ManagerIn, der umfassende Vollmacht und Entscheidungsfreiheit gegenüber dem Arbeitslosen besitzt. Es kommt „zu einem dynamische Kommunikations- und Interaktionsprozess, bei dem der Case-Manager als Verbindungsglied zwischen dem Klienten/Patienten, [sic!] seinem sozialen Umfeld und den verantwortlichen
Dienstleistungen tätig wird.“ (Bertelsmann, 2002: S.158) Hierbei soll der Case- Manager nicht nur helfen, sondern auch „durch gleichzeitige Drohung mit Leistungseinstellung oder Zurückhaltung von Geldleistungen auch diktieren dürfen, was zu tun ist.“ (Spindler, 2005: S. 55)
Diese zweite Ebene schließt auch ein, dass diverse Dienstleister mit staatlicher Machtfülle ausgestattet werden, von Bildungsträgern bis Schuldnerberatungen, all jene sollen neben den Case-ManagerInnen im Jobcenter platziert werden. Diese liefern mittlerweile Entwicklungszeugnisse und interne Führungszeugnisse an die Center und können sogar das Existenzminimum kürzen. (vgl. Spindler, 2005: S. 53ff.)
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich die Leitbilder im Sozialstaat verändert haben. Vor allem mit den Hartz-Gesetzen findet ein Wandel zum Paradigma der Leistungsgesellschaft statt: nur wer etwas leistet, kann sich zur Gesellschaft zählen. Wer nichts leistet, der muss in eigener Schuld und Verantwortung alles dafür tun, um leisten zu können.
Community organizing bezeichnet einen aktivierenden Ansatz zum Aufbau von Bürgerorganisationen, der durch den Bürgerrechtler Saul Alinsky bekannt gemacht wurde. Dieser stammt aus einem der Slums Chicagos. 1930, zur Zeit der Großen Depression, erkannte Alinsky, dass sich viele Schwache zusammenschließen können, um so gemeinsame Interessen durchzusetzen. „Schaut, ihr müßt das nicht hinnehmen; ihr könnt was dagegen tun. Ihr könnt Jobs kriegen, ihr könnt all die Schranken durchbrechen, die euch am Leben hindern. Aber ihr müßt Macht dazu haben, und diese Macht bekommt ihr, wenn ihr euch organisiert.“ (Alinsky, 1999: S.11) So organisiert können die „Habenichtse“ (Alinsky, 1999: S.12) den Status quo in Frage stellen und von Opfern zu Handelnden werden. Laut Alinsky müsse die Regierung ständig dem anhaltenden Druck des Volkes nachgeben. Des Weiteren erkannte Alinsky, dass die Probleme der Slumbewohner nicht individuell gesehen werden dürften, sondern als große, zusammenhängende Problemstruktur. Ziel einer Bürgerorganisation aus einem Slum sei nicht ein trivialer oder oberflächlicher Verbesserungsvorschlag, sondern immer die Beseitigung des Slums. Da die Missstände das Ergebnis bestimmter grundlegender Ursachen sind, kann ein Erfolg über die Missstände letztlich nur ein Erfolg über die Ursachen sein. (vgl. Alinsky, 1999: S. 7-18)
Im Zuge der Settlement-Bewegung und der Impulse der Community-Center, wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts Gedanken zur Wiederherstellung der communities -der lokalen Gemeinschaften- formuliert. Monna Heath, eine Mitarbeiterin des „National Conference for Charity and Correction“, sah die community und damit die Demokratiefähigkeit schon 1884 durch private Einzeltinteressen der Industrialisierung zerstört. Integration in den lokalen communities sei der zentral organisierende Faktor für Gemeinweseninteressen und somit für Gemeinwohl. Verstärkt durch die 1960er Jahre und die Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas erlebte community organizing seinen Durchbruch und Zenit, die Civil-Rights-Bewegung, die Anti- Vietnamkriegsbewegung, die Studentenbewegung und etliche andere Bewegungen. Diese nutzten community organizing, um auf bestehende soziale Probleme aufmerksam zu machen. (vgl. Mohrlock, 1993: S. 20-33)
FO-CO, das deutsche Forum für Community Organizing definiert community organizing als:
„Aufbau und die Entwicklung von BürgerInnen-Organisationen, die eine doppelte Zielsetzung haben:
- die Veränderung von Machtbeziehungen, so dass die Menschen, die weder über Institutionen noch viel Geld [oder Anm. T.D.] über Medien verfügen, sich nicht mehr als ohnmächtig erfahren und den Inhabern von Machtpositionen „auf gleicher Augenhöhe“ gegenüber treten;
- die konkrete Verbesserung der Lebenslage von Menschen aus den mittleren und unteren Schichten vor allem im lokalen Zusammenhang“
(Rothschuh, 2012: S. 2)
Heute wird community organizing vor allem genutzt, um konkrete, lokale Probleme zu lösen, die von BewohnerInnen eines Viertels als dringend eingestuft werden. Community organizing entwickelt Forderungen an konkrete Personen sowie Taktiken und Strategien, um diese Forderungen durchzusetzen. Häufige Themen können zum
Beispiel Gentrifizierung, Wohnungsnot, Nahverkehr, Mieterschutz und Infrastruktur eines Viertels sein. (vgl. Rohschuh, 2012: S. 2-6)
Durch breit angelegte, internationale Austauschprogramme kam community organizing nach 1945 in die BRD. Es existierten zu Beginn meist nur Abhandlungen oder Berichte über die Methode, ab 1962 wurde community organizing mit zur Gemeinwesenarbeit gezählt und in die Lehrpläne der Höheren Fachschulen für Sozialarbeit aufgenommen. (vgl. Mohrlock, 1993: S.40ff.)
Aus der Intention des community organizing, es Menschen zu ermöglichen, Einfluss auf Strukturen und Prozesse zu nehmen, die sie selbst betreffen, resultieren drei Grundprinzipien: 1. Bemächtigung entmachteter Menschen und die Erlangung von Macht, 2. Gründung und Ausbau von Bürgerorganisationen als Basis für die Durchsetzung von Interessen sowie 3. den Wandel der Strukturen, die zu Benachteiligung führen. (vgl. Fehren, 2008: S.160f.)
Nach Saul Alinsky geht community organizing von der Grundannahme aus, dass Menschen sich vor allem aus zwei Gründen in Bürgerorganisationen engagieren: Eigeninteresse und Beziehungen. Alinsky unterscheidet allerdings legitimes Eigeninteresse von reinem Egoismus. Um zu verhindern, dass aus Eigeninteresse Egoismus wird, hat community organizing die Aufgabe, nicht nur die Einzeltinteressen der Subjekte zu identifizieren, sondern diese auch untereinander zu verknüpfen. So soll mit Hilfe des organizers herausgefunden werden, was das Gemeinwohl ist. (vgl. Fehren, 2008: S.160ff.)
Neben dem Eigeninteresse werden die sozialen Beziehungen als zweiter Grund für das Engagement in Bürgerorganisationen genannt. Dieser Faktor ist für den Erfolg einer Organisation von entscheidender Wichtigkeit. Da das Ziel des organizing das Verändern der Ursachen von Missständen ist, kann dies nur langfristig geschehen. Hierzu müssen Bürgerorganisationen auch langfristig bestehen. Durch den Aufbau von sozialen Beziehungen innerhalb der Organisation, entsteht dem Ziel gegenüber eine gewisse Verbindlichkeit, denn sonst sehen sich die Individuen nur als befristete Teile eines Ganzen und nicht als Ganzes selbst. Die Erkenntnis, im „selben Boot“ zu sitzen, veranlasst die einzelnen Akteure oft zum Handeln. (vgl. Fehren, 2008: S.162f.)
[...]
1 Birkwald bezieht sich hier auf den „Wirkungsgrad des Sozialstaats“, dies ist eine statistische Größe,welche die Armutsquote vor und nach dem Erhalt von Sozialleistungen in Beziehung setzt.
2 Aus Gründen der Einfachheit werden die englischen Begriffe im Bereich des organizing in der folgenden Arbeit im Original belassen.
3 Arbeitsmarktfähigkeit oder Vermittelbarkeit
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