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Masterarbeit, 2012
58 Seiten, Note: 1,3
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Das Konzept des individuellen Burnout
2.1.1 Die medizinische Perspektive
2.1.2 Limitationen des individuellen Burnout-Konzeptes
2.1.3 Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum individuellen Burnout
2.1.4 Arbeitsdefinition des individuellen Burnout für die nachfolgende Untersuchung
2.2 Das Konzept des Organizational Burnout
2.2.1 Vergleichbare Konzepte in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
2.2.2 Limitationen des Organizational Burnout-Konzeptes
2.2.3 Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Organizational Burnout bzw. vergleichbaren Phänomenen
2.2.4 Arbeitsdefinition des Organizational Burnout für die nachfolgende Untersuchung
3 Exemplarische Fallstudien aus der psychiatrischen Praxis
3.1 Facharbeiterin in der Glasverarbeitungsindustrie
3.2 Controller in Medizintechnik-Großunternehmen
3.3 Informatik-Ingenieur in Familienbetrieb
3.4 Assistenzarzt an Universitätsklinik
3.5 Teamleiter in Luftfahrt-Logistikunternehmen
4 Zusammenhänge zwischen individuellem Syndrom und institutionellen Rahmenbedingungen
4.1 Individuelles Burnout-Syndrom als Hinweis auf mangelhafte Führung (Fälle 1-5)
4.2 Individuelles Burnout-Syndrom als Begleiterscheinung organisationaler Fehlentwicklungen (Fälle 2, 3 und 4)
4.3 Individuelles Burnout-Syndrom als Indikator eines beginnenden oder manifesten Organizational Burnout (insbes. Fälle 2, 3 und 4)
5 Mögliche Lösungsstrategien
5.1 Burnout-Prävention als Führungsaufgabe
5.2 Burnout-Indizes (Kennzahlen) in Planung und Controlling
5.3 Mitarbeiterbefragungen als Instrument der Organizational-Burnout-Prävention
6 Fazit und Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf
Literaturverzeichnis
Anhang 1
Abbildung 1: Die vier Phasen des Organizational Burnout
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Einteilung von iBO-Schweregraden
Tabelle 2: Fallbeispiel
Tabelle 3: Fallbeispiel
Tabelle 4: Fallbeispiel
Tabelle 5: Fallbeispiel
Tabelle 6: Fallbeispiel
Dass Menschen im Rahmen ihrer Arbeitstätigkeit „ausbrennen“ können, ist ein lange bekanntes Phänomen, welches im westeuropäischen und nordamerikanischen Kulturkreis seit 1974 unter dem Begriff „Burnout“ wissenschaftlich erforscht wird (vgl. Freudenberger, 1974). Seit der Begriffsprägung durch den Psychologen Herbert Freudenberger bezieht man dieses Ausbrennen in erster Linie auf die negativen Folgen einer dauerhaften Arbeitsüberlastung, insbesondere in personenorientierten, „helfenden“ Berufen. Häufig wird in diesem Zusammenhang bei den Betroffenen von einem Burnout-Syndrom gesprochen, womit angedeutet wird, dass die arbeitsbezogenen Belastungen und Probleme Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit haben und zur Ausprägung eines Komplexes von Symptomen (eben eines Syndroms) führen.
Trotz der stetig wachsenden Zahl wissenschaftlicher Publikationen zum Thema Burnout ist jedoch festzuhalten, dass insbesondere durch die sehr häufige Verwendung eines standardisierten Fragebogens (Maslach Burnout Inventory), welcher wesentliche theoretische Grundannahmen voraussetzt und somit einer kritischen Prüfung entzieht, relativ wenige empirisch gesicherte Erkenntnisse zum Entstehungs prozess sowie zum Verlauf eines Burnout-Syndroms existieren (vgl. Rösing, 2008, S. 91-128). Gleichwohl sind Ursachen, Entwicklungsschritte und Folgen eines einmal konstatierten Burnouts von großer Bedeutung, wenn es darum geht, vorbeugende (präventive) oder gegensteuernde (therapeutische) Schritte zu unternehmen.
Darüber hinaus ist der Zusammenhang zwischen individuellem Burnout und dem neuerdings ebenfalls diskutierten „Ausbrennen“ ganzer Organisationen kaum erforscht. Freilich ist keineswegs erst seit der expliziten Begriffsprägung des „Organizational Burnout“ durch Greve (vgl. Greve, 2010) bekannt, dass auch Organisationen einem stetigen Wandel – vergleichbar der Entwicklung von Individuen – unterliegen, welcher im ungünstigsten Fall in einen Zustand der Ressourcen- und Perspektivlosigkeit münden kann und dann unweigerlich das Ende der Organisation, zumindest in der bisherigen Form, nach sich zieht. Doch gerade die Verbindung zwischen den beschriebenen Negativentwicklungen auf individueller und organisationaler Ebene bedarf einer eigenständigen, kritischen Analyse, die sich nicht in der Suche nach einer möglichst einfachen Kausalkette erschöpfen darf.
Unter den genannten Voraussetzungen ist es jedenfalls nur konsequent, Fragen nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dem „Ausbrennen“ von Personen und einem vergleichbaren Prozess bei ganzen Organisationen zu stellen. Beeinflussen einzelne Individuen die Organisation so stark, dass sie ein „Organizational Burnout“ verursachen können? Oder kann eine „ausbrennende“ Organisation ihrerseits die in ihr beschäftigten Mitarbeiter quasi „mit in den Abgrund reißen“, d.h. ein individuelles Burnout-Syndrom begünstigen? Schließlich die Frage, ob die postulierte Kausalkette nur in eine Richtung verläuft oder ob es wechselseitige Interaktionen gibt, die womöglich gar in einen Teufelskreis münden könnten, so dass z.B. erste organisatorische Fehlentwicklungen zu vermehrten Fällen von individuellem Burnout führten, was seinerseits durch den Verlust von Qualifikationen und Motivationen von Mitarbeitern eine Verstärkung organisatorischer Defizite verursachen könnte, woraus sich wiederum weitere individuelle Burnout-Fälle ergäben und so weiter.
Diese und ähnliche Fragestellungen bilden den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung – ohne dass freilich der Anspruch erhoben wird, am Ende einfache Antworten oder allgemeingültige Lösungen präsentieren zu können. In erster Linie soll eine erhöhte Sensibilität für die praktische Relevanz von individuellem Burnout und organisationalem Burnout geweckt werden. Denn nur wenn diese beiden Phänomene bei Managemententscheidungen zumindest mitberücksichtigt werden, kann ihnen wirksam und nachhaltig begegnet werden – und dies wird sich ohne Zweifel positiv auf den Unternehmenserfolg auswirken.
Bevor nun zwei verschiedene Ebenen des Phänomens Burnout miteinander verglichen und in Beziehung gesetzt werden, ist eine Darstellung der theoretischen Voraussetzungen auf den Einzelebenen unabdingbar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zum individuellen Burnout-Syndrom (iBO) bereits eine Fülle von Forschungsliteratur existiert, wohingegen das organisationale Burnout (oBO) erst kürzlich einer gesonderten Betrachtung unterzogen wurde und in der Fachliteratur bisher noch kaum berücksichtigt wird. Dementsprechend wird das iBO an dieser Stelle im Sinne einer Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes beschrieben, woraus sich notwendigerweise eine zweckorientierte Selektion und Gewichtung der vorhandenen Informationen ergibt. Hingegen muss das oBO als eigenständiges theoretisches Konstrukt quasi erst entwickelt werden, wobei hier einerseits die Begriffsprägung durch Greve gewürdigt wird, andererseits jedoch auch Forschungsbeiträge der Fachliteratur ausgewertet werden, welche ähnliche Phänomene der „Erschöpfung“ von Organisationen sowie deren vermutete Ursachen mit anderen Begriffen beschreiben.
Die Prägung des Begriffes Burnout durch Freudenberger erfolgte auf der Grundlage von aufmerksamer klinischer Beobachtung und Symptombeschreibung im Rahmen seiner Tätigkeit in der psychiatrischen Grundversorgung (vgl. Freudenberger, 1974). Dementsprechend handelte es sich zunächst um einen rein deskriptiven Forschungsansatz, der sich auf qualitative Methoden (Fallbeschreibungen, klinische Interviews etc.) beschränkte und dabei explorativ ein Problemfeld erschloss, für welches anschließend möglichst alltagstaugliche Lösungen gefunden werden sollten. Die erste Burnout-Forschung kann daher als praxisnah und lösungsorientiert betrachtet werden – freilich noch ohne Zuhilfenahme von quantitativen Messmethoden und ohne explizit ausgearbeitete Theorie zur Klärung begrifflicher, methodischer und inhaltlicher Voraussetzungen.
Es handelte sich letztlich um eine Erstbeschreibung, die nicht die Standards heutiger evidenzbasierter empirischer Forschung erfüllte, aber gleichwohl wesentlich zur Aufdeckung eines wichtigen wissenschaftlichen und zugleich praxisrelevanten Untersuchungsgegenstandes beigetragen hat. Neben einer genauen Beschreibung der verschiedenen Symptome der Burnout-Betroffenen hat Freudenberger im Übrigen durchaus auch Überlegungen zu den Ursachen dieses Zustandes angestellt. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass ein Mensch zunächst für eine Sache „gebrannt“ haben muss, d.h. seine Aufgabe mit Enthusiasmus und Engagement begonnen haben muss, um später überhaupt ausbrennen zu können: „… it is precisely because we are dedicated that we walk into a burn-out trap “ (Freudenberger, 1974, S. 161).
In der weiteren Forschung wurden seither regelmäßig folgende drei Symptomkomplexe als diagnostisch wegweisend für ein individuelles Burnout-Syndrom betrachtet: 1) Emotionale Erschöpfung, 2) Depersonalisation/Zynismus und 3) reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit/Selbstzweifel (vgl. die Zusammenfassung bei Burisch, 2006, S. 24ff). Diese Symptomtrias wurde durch die Arbeit von Maslach und Jackson 1981 erstmals operational definiert und in einem standardisierten Fragebogen (Maslach Burnout Inventory, MBI) systematisch erfasst, welcher seither in unzähligen Studien zur Prävalenz des Syndroms bei verschiedensten Berufsgruppen zu Anwendung gekommen ist (vgl. Maslach und Jackson, 1981). Die klassische Definition des iBO gemäß dem MBI-Konstrukt lautet wie folgt: “Burnout is a syndrome of emotional exhaustion, depersonalization and reduced personal accomplishment that can occur among individuals who do ‛people work‛ of some kind” (Maslach/Jackson, 1986, S. 1).
Entscheidend ist hierbei, dass nach Maslach alle drei Phänomene – und zwar unabhängig voneinander – vorhanden sein müssen, um von einem Burnout-Syndrom sprechen zu können (vgl. Maslach et al., 1996). Es genügt also nicht, dass eine Person durch ihre Arbeit (oder andere Belastungsfaktoren) emotional erschöpft ist. Zusätzlich muss ein Prozess eingesetzt haben, der dazu führt, dass sich die betroffene Person mehr und mehr von ihrem Arbeitsinhalt entfremdet – bei personenbezogenen Berufen also von den Menschen, mit denen er oder sie tagtäglich zu tun hat (Depersonalisation), andernfalls von der ursprünglich als lohnenswert und sinnvoll angesehenen Aufgabenstellung (Zynismus). Schließlich muss ein Gefühl der reduzierten Leistungsfähigkeit vorherrschen, welches zu Selbstzweifeln führt und mit der Zeit tatsächlich abnehmende Arbeitsleistungen nach sich zieht.
Schreiten die genannten drei Prozesse ungehindert fort, kommt es letztlich zum Vollbild des iBO, welches von den Betroffenen nicht mehr aus eigener Kraft überwunden werden kann, sondern professionelle Unterstützung erfordert. Interessanterweise wird der letztgenannte Punkt, also die faktische Hilflosigkeit bzw. Notwendigkeit externer Hilfestellung, in keiner der bisherigen Definitionen explizit benannt (vgl. Rook, 1998, S. 109f).
Obwohl die Betroffenen häufig medizinische oder psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, hat der Begriff Burnout-Syndrom bisher keinen bzw. nur einen indirekten Eingang in die beiden gängigen Klassifikationssysteme psychischer Erkrankungen (ICD-10 und DSM-IV) gefunden. Im DSM-IV-Katalog kommt der Terminus überhaupt nicht vor, im ICD-10 ist er lediglich in der Zusatzkategorie Z73.0 als „Erschöpfungssyndrom (Burn-out-Syndrom)“ verzeichnet. Dies ist vermutlich der häufig beklagten Unschärfe des Begriffes geschuldet, welche sich nicht nur in unterschiedlichen Theorien zu Ursachen und Folgen widerspiegelt, sondern insbesondere die Uneinigkeit hinsichtlich der Frage betrifft, ob dem Burnout-Syndrom an sich bereits ein Krankheitswert zukommt oder ob es sich lediglich um einen Risikofaktor, eine Vorstufe oder gar ein Epi-phänomen einer anderen Erkrankung wie z.B. Depression handelt (vgl. Kaschka et al., 2011).
Gleichwohl werden Burnout-Patienten in den psychiatrischen Kliniken zunehmend häufiger behandelt, ja es existiert inzwischen eine Fülle von ambulanten, teilstationären sowie vollstationären Therapieangeboten, welche sich jeweils aus interdisziplinären, multimodalen Behandlungskonzepten zusammensetzen. Um eine Qualitätsprüfung der zahlreichen Angebote vorzunehmen, wurde kürzlich in Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) eine umfassende Analyse zum Forschungsstand bzgl. Therapie des Burnout-Syndroms vorgelegt (Korczak et al., 2012). Darin wird durchaus eine skeptische Haltung vertreten, welche noch erheblichen Forschungsbedarf bei diagnostischen wie therapeutischen Fragestellungen sieht, dabei insbesondere den allzu häufigen Einsatz des (klinisch nicht validierten) MBI bemängelt und auf die fehlende Berücksichtigung ethischer, sozialer und rechtlicher Aspekte hinweist – wobei anzumerken wäre, dass auch der organisationale Aspekt des Burnout-Syndroms in den dort zitierten Studien stark vernachlässigt wird.
In der abschließenden Beurteilung findet sich im Wortlaut folgende Einschätzung: „Die Wirkung der Therapien, die zur Behandlung des Burnout-Syndroms eingesetzt werden, ist unzureichend erforscht. Es liegt nur zur Wirkung der KVT [kognitive Verhaltenstherapie, Anmerkung des Verfassers] eine hinreichend große Anzahl von Studien vor, die ihre Wirksamkeit belegen. Es fehlen große langfristig angelegte experimentelle Studien, die die einzelnen Therapien in ihrer Wirkung vergleichen und evidenzbasiert evaluieren. Auch die ohne Einfluss einer bestimmten Therapie erreichte ‘natürliche’ Erholung ist näher zu untersuchen. Weder die Diagnostik noch die Therapie des Burnout-Syndroms sind gegenwärtig optimal. Es ist daher zweifelhaft, ob an Burnout erkrankte Personen eine angemessene Behandlung erhalten. Es ist außerdem zu prüfen, inwieweit Therapien und ihre mögliche Wirkung durch die Bedingungen am Arbeitsplatz und die Arbeitsplatzsituation konterkariert werden“ (Korczak et al., 2012, S. 84).
Unabhängig von medizinisch-diagnostischen Fragen der Terminologie wird als theoretisches Fundament der Burnout-Forschung weiterhin meistens das dreigliedrige Konstrukt herangezogen, auf dem die Gestaltung des MBI-Fragebogens beruht. Dies bietet den entscheidenden Vorteil, dass mittels standardisierter Erfassung vordefinierter Symptome empirische Untersuchungen großer Studienpopulationen möglich werden, welche statistisch signifikante Aussagen zur Prävalenz des iBO gestatten. Dabei ist anzumerken, dass das MBI im Grunde nichts anderes darstellt als eine schematische Bestandsaufnahme wesentlicher, klinisch zu beobachtender Burnout-Charakteristika, die schon Freudenberger – wenn auch nicht systematisch – beschrieben hatte.
Während der größte Teil der Burnout-Forschung auf das MBI zurückgreift (vgl. Burisch, 2006 und Rösing, 2008), werden im Gegenzug klinische Interviews und andere explorative Forschungsmethoden wegen des vergleichsweise großen Aufwandes und der problematischen Interpretation subjektiver, nicht-strukturierter Aussagen heute nur noch selten herangezogen. Hier liegt ein wesentlicher Kritikpunkt begründet, welcher wichtige Limitationen des heutigen Burnout-Konzeptes erklärt: Denn wenngleich die Kriterien der Reliabilität und Objektivität sowie der Faktor- und Konvergenzvalidität für das MBI in zahlreichen Studien berücksichtigt und bestmöglich erfüllt wurden (vgl. Rösing, 2008, S. 73f), bleibt doch die Frage offen, ob sich das Phänomen des iBO mit diesem Testverfahren überhaupt adäquat und vollständig erfassen lässt. Mit anderen Worten: Wird man dem iBO gerecht, wenn man es durch eine Anzahl festgelegter Kriterien beschreibt und die Erfüllung dieser Kriterien dann auf ihre statistische Häufigkeit hin überprüft?
Zweifel ergeben sich zumindest bei der Frage nach den Ursachen für die gemessene Ausprägung der genannten Kriterien, selbst wenn man sich – wie es selten geschieht – die Mühe macht, den Fragenkatalog des MBI mehrfach im Verlauf des iBO zu verwenden (vgl. Rösing, 2008, S. 105-107) und so eine Entwicklung des Syndroms zu beschreiben. Denn das Vorhandensein der klassischen Burnout-Symptome bei z.B. einer bestimmten Berufsgruppe sagt per se noch nichts darüber aus, warum diese Symptome hier mit einer bestimmten Häufigkeit auftreten. Kennt man aber die Ursachen nicht, so lässt sich letztlich wenig tun, um das Burnout zu vermeiden.
Natürlich existieren auch zu den Ursachen und Folgen des iBO etliche Hypothesen, die in der Regel aus den Ergebnissen der genannten MBI-Befragungen abgeleitet wurden. Zugleich zusammenfassend und auf weiteren Forschungsbedarf hindeutend seien folgende hypothetische Kausalfaktoren genannt: Qualität der interpersonalen Beziehungen, Rollenkonflikte, Rollenüberlastung, Vorhersehbarkeit der organisationalen Erfolge (Belohnungssysteme/Sanktionen), allgemeine Arbeitsbedingungen („ job context “), demographische Variablen, soziale Umgebung (Familie, Freunde, Kollegen), persönliche Erwartungshaltungen, erreichte oder verpasste Karrierefortschritte, emotionale Arbeitsbelastung sowie die Firmen-Kultur (vgl. Cordes/Dougherty, 1993 und Rösing, 2008, S. 92-116). Auffällig ist dabei, dass einige der genannten Faktoren sowohl bei den Ursachen wie auch bei den Folgen des iBO diskutiert werden und so auf einen zirkulären Prozess hinweisen. Zudem werden bei Rösing eine intrapersonale, eine interpersonale und eine Person-Institutionen-Ebene unterschieden, d.h. es wird durchaus gesehen, dass nicht nur individuelle, sondern auch institutionelle Bedingungen für das iBO relevant sind. Dennoch berücksichtigt keiner der aufgeführten Faktoren explizit einen möglichen Zusammenhang zwischen gravierenden organisationalen Defiziten (im Sinne eines oBO) und dem betrachteten iBO.
Wie bereits ausgeführt, besteht die aktuelle Burnout-Forschung zum größten Teil aus MBI-Erhebungen bei verschiedensten Berufsgruppen, für die dann spezielle Risikoprofile postuliert und analysiert werden. Ein positiver Nebeneffekt dieser massenhaften Anwendung des Fragebogens ist immerhin derjenige, dass für verschiedene Arbeitsbereiche unterschiedliche Bögen entwickelt worden sind. Auf diese Weise wurde das ursprüngliche Konzept des Burnout als Folge eines „Helfer-Syndroms“ bei sozial orientierten Berufen erweitert und besser auf die vielfältigen modernen Arbeitsbedingungen abgestimmt.
Derzeit existieren drei Varianten des MBI, welche auf die Besonderheiten verschiedener Tätigkeitsfelder einzugehen versuchen: Die ursprüngliche Fassung wird als MBI-HHS (Human Services Survey) bezeichnet, da sie auf Berufe mit intensivem Patienten- oder Klientenkontakt zugeschnitten ist. Eine adaptierte Fassung zielt speziell auf die Besonderheiten des Lehrerberufs ab und heißt entsprechend MBI-ES (Educators Survey). Schließlich existiert seit 1996 eine allgemeingültige Version (MBI-GS, General Survey), die es ermöglichen soll, das Burnout-Syndrom auch bei all jenen Berufen zu untersuchen, die keine direkte oder zumindest keine intensive zwischenmenschliche Interaktion erfordern, aber dennoch von großer individueller Belastung bzw. großem Stress geprägt sein können.
Beim MBI-GS wurden die ursprünglichen drei Burnout-Kategorien (emotional exhaustion, depersonalization und personal accomplishment) durch die allgemeineren Begriffe exhaustion, cynicism und professional efficacy ersetzt (vgl. Schaufeli et al., 1996). Wesentlich erscheint insbesondere die Umbenennung des Terminus „Depersonalisation“ in „Zynismus“, da dies die Generalisierbarkeit des Testverfahrens deutlich erhöht. Eine breit akzeptierte Validierung des auf 16 Items verkürzten, von sozialen Aspekten der Arbeit weitgehend abstrahierenden MBI-GS steht allerdings trotz erster vielversprechender Studien noch aus (vgl. beispielhaft Bakker et al., 2002). Immerhin waren ja gerade soziale Faktoren entscheidend für das ursprüngliche Burnout-Konstrukt, so dass deren stark reduzierte Bedeutung im General Survey durchaus als wesentliche Veränderung des zugrundeliegenden theoretischen Konzepts angesehen werden muss. Dies war im Übrigen einer der Gründe für die Entwicklung eines neuen Burnout-Messinstrumentes, des sogenannten Copenhagen Burnout Inventory (CBI), auf das hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann (vgl. Kristensen et al., 2005).
Interessant ist im Zusammenhang mit der Generalisierbarkeit des Testverfahrens auch die Tatsache, dass das MBI inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt worden ist, wobei durchaus einige Merkmale eine Nuancierung in Bezug auf die vorherrschende Landeskultur erfahren haben. Zwar lassen sich bei der transkulturellen Anwendung des MBI insgesamt ähnliche Dimensionen in sehr unterschiedlichen Kulturregionen feststellen (vgl. exemplarisch Schutte et al., 2000 sowie Hwang, 2003), dennoch wäre ein detaillierter interkultureller Vergleich einzelner Parameter sicher lohnenswert, um die Hintergründe des iBO besser zu verstehen. Diese sehr interessante Fragestellung kann freilich an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden, da sie den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde.
Ein weiterer Gegenstand aktueller Forschung ist die Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen den drei Komponenten des MBI-Burnout-Modells. Uneinigkeit besteht darüber, ob es sich tatsächlich, wie ursprünglich postuliert, um vollständig unabhängige Variablen handelt, oder ob in Wahrheit eine direkte oder indirekte Abhängigkeit besteht. Dies würde freilich unmittelbar die Frage aufwerfen, inwiefern das Drei-Faktoren-Modell dann überhaupt gerechtfertigt wäre. In der Tat wird in der aktuellen Burnout-Literatur immer wieder diskutiert, anstelle des dreigliedrigen MBI-Konstruktes ein Zwei-Faktoren-Modell zu verwenden (vgl. exemplarisch Kalliath et al., 2000), wobei diese Überlegung sogar bis hin zur Entwicklung eines eigenen Messinstrumentes, des Oldenburg Burnout Inventory (OLBI), vorangetrieben wurde (vgl. Demerouti, 1999). Schließlich wurde auch versucht, das iBO als einheitliches Konzept ohne spezifische Faktorabgrenzung zu fassen, was den Vorteil eines leichter auswertbaren Burnout-Gesamtscores mit sich brächte (vgl. etwa Golembiewski/Munzenrider, 1981). Allerdings wurde der Gedanke eines Ein-Faktor-Modells in jüngerer Zeit kaum weiter verfolgt.
Neben dem Versuch, das Instrumentarium des MBI zu verfeinern oder zu erweitern, existieren unter den jüngeren Publikationen durchaus einige Arbeiten, die sich dem Thema explorativ nähern. Hierzu zählen einige qualitative trankulturelle Vergleichsstudien (vgl. etwa Meyerson, 1994 und Savicki, 2002) sowie Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Organisationskultur und Burnout (vgl. Winnubst, 1993 und Williams et al. 2007). Diese Forschungen stellen jedoch derzeit eher Ausnahmeerscheinungen dar und berücksichtigen auch nicht die Gesamtheit organisationaler Phänomene, die sich auf die Entwicklung eines iBO auswirken können.
In der vorliegenden Untersuchung wird das individuelle Burnout-Syndrom wie folgt definiert: Bei dem iBO handelt es sich um einen Zustand der emotionalen, aber auch körperlichen Erschöpfung bei einer aktuell oder vormals berufstätigen Person, welcher im Kontext der Arbeitstätigkeit entstanden ist und von einer zunehmenden Entfremdung von den Arbeitsinhalten und –idealen begleitet wird sowie durch ein Gefühl der reduzierten persönlichen Leistungsfähigkeit gekennzeichnet ist, welches zu Beginn meist eine Fehlwahrnehmung darstellt, im Verlauf jedoch zunehmend durch eine tatsächlich reduzierte Arbeitsleistung bestätigt wird.
Dem Autor ist bewusst, dass diese Definition Phänomene des privaten „Ausbrennens“ (z.B. von alleinerziehenden Müttern) ebenso ausschließt wie das neuerdings diskutierte „Burnout“ bei Studenten, Athleten oder Schülern. Der Fokus wird jedoch ganz bewusst auf die Population der Erwerbstätigen gelegt, um später möglichst spezifische Lösungsansätze entwickeln zu können, was bei einer allzu breiten Definition nicht möglich wäre.
Auch der Begriff des Organizational Burnout ist zunächst aus aufmerksamer Beobachtung des unternehmerischen Alltags heraus entstanden, wobei in erster Linie praktische Erwägungen die Definition bestimmten. Der Unternehmensberater Gustav Greve hat diesen Terminus kürzlich in seinem gleichnamigen Buch geprägt, wobei er explizit darauf hinweist, ein Buch „aus der Praxis für die Praxis“ geschrieben zu haben (Greve, 2010, S. 5). Der Autor beschreibt im Vorwort, dass er trotz intensiver Quellenforschung keine wissenschaftlichen Publikationen finden konnte, welche sich dieses Themas in der von ihm angestrebten Weise widmen. In der Tat konnte auch während des Quellenstudiums zu der vorliegenden Arbeit kein fachwissenschaftlicher Beitrag aufgefunden werden, welcher das oBO explizit als solches benennt und analysiert.
Natürlich sind durchaus mit dem oBO-Konzept vergleichbare Phänomene in der betriebswirtschaftlichen Fachliteratur beschrieben worden, sei es unter anderen Bezeichnungen oder sei es ohne spezifische begriffliche Abgrenzung von „gewöhnlichen“ organisatorischen Fehlentwicklungen. So beschreibt der Psychoanalytiker und Managementwissenschaftler Kets de Vries schon in den 1980er Jahren das Konzept einer „neurotischen Organisation“ (vgl. Kets de Vries, 1984) und wendet geläufige Begriffe der Psychopathologie auf Organisationen an. Dieser Ansatz ist insofern interessant, als er Erkenntnisse aus der Psychologie des Individuums für das Management von Organisationen nutzbar macht. So klassifiziert der Autor Organisationen nach den in ihnen vorherrschenden Verhaltensmustern und leitet aus der Analyse von Führungsstilen und Führungspersönlichkeiten entsprechende Zusammenhänge mit der Unternehmenskultur und -struktur sowie der verfolgten Strategie ab. Dabei zeigen sich verschiedene Typen von „kranken“, d.h. „neurotischen“ Organisationen.
Robert de Board schlägt in einem ähnlichen Ansatz der Psychologisierung von Institutionen gar eine „organisationale Psychoanalyse“ vor (vgl. de Board, 1978). Allerdings muss bei beiden Ansätzen darauf hingewiesen werden, dass sie sich im Wesentlichen auf einen Teilaspekt organisationaler Fehlentwicklungen konzentrieren, nämlich ein fehlerhaftes Verhalten der beteiligten Manager und Führungspersonen. Fehlerhafte oder redundante Geschäftsprozesse, Überforderung durch ständige Erhöhung der individuellen Arbeitslast („ workload “), verpasste Technologievorsprünge, negative Umweltbedingungen etc. werden dagegen stets als Folge der Führungsdefizite betrachtet, wenngleich sie natürlich durchaus auch als eigenständige Phänomene untersucht und behandelt werden können und dann ebenso zu einem „Ausbrennen“ von Organisationen beitragen können wie Fehlverhalten des Führungskaders.
Die Anthropologin Mary Douglas betrachtet Organisationen zwar ebenfalls unter psychologischen Gesichtspunkten, konzentriert sich dabei jedoch auf nicht-pathologische kognitive Prozesse wie „Denken“, „Entscheiden“, „Erinnern“ und „Vergessen“ oder „Klassifizieren“ (vgl. Douglas, 1986). Sie argumentiert dahingehend, dass Individuen die genannten Prozesse häufig nicht allein, sondern im Rahmen eines Kollektivs verwirklichen, welches insbesondere bei Angelegenheiten mit weitreichenden Konsequenzen für das notwendige Gefühl von Sicherheit sorgt. Im letzten Kapitel deutet sie unter der Überschrift „ Institutions Make Life and Death Decisions “ an, dass wichtige Entscheidungen geradezu nach einer Organisation verlangen, in der sie getroffen werden, um das Individuum von allzu großer Verantwortung zu entlasten. Die Schlussfolgerung, dass Institutionen, die mit weitreichenden Kompetenzen hinsichtlich der Werte und Ordnungsprinzipien einer ganzen Gesellschaft ausgestattet sind (z.B. staatliche Einrichtungen, Kirchen etc.), auch eine Erschöpfung (z.B. durch Autoritätsverlust oder Mitgliederschwund) erfahren können, wird von Douglas zwar nicht explizit formuliert, liegt aber nach Lektüre ihres Buches nahe.
Gewissermaßen eine Vorstufe des oBO beschreibt der Professor für angewandte Psychologie Jörg Fengler, indem er zu Recht darauf hinweist, dass Burnout keineswegs nur ein individuelles Phänomen darstellt, sondern häufig größere Strukturen wie Teams oder Abteilungen einer Organisation betrifft. Er postuliert in seinem Buch zunächst ein Etappenmodell der Burnout-Entwicklung im Team und beschreibt daran anknüpfend ein 6-Faktoren-Risikomodell, welches neben individuellen Bedingungen auch die Vorgesetzten und schließlich die ganze Institution mit einbezieht. In seinen Überlegungen zur Prävention des Team-Burnouts werden dabei ebenfalls wichtige organisationale Faktoren angesprochen, welche u.a. die Kommunikationskultur im Unternehmen, Maßnahmen der Personalentwicklung, Möglichkeiten der Mitbestimmung durch Mitarbeiter sowie eine möglichst positive Identifikation mit der Organisation umfassen (vgl. Fengler/Sanz, 2011). Hier liegt somit ähnlich wie beim oBO ein Konzept vor, welches die Betrachtungsweise des iBO über die Einzelperson hinaus erweitert und das Konzept auf eine größere Struktur (Team oder Abteilung) überträgt, wenn auch nicht auf die gesamte Organisation.
Als wesentliche Limitation des Konstruktes „Organizational Burnout“ ist derzeit die noch unvollständige theoretische Herleitung und wissenschaftliche Ausarbeitung anzusehen. Dies betrifft freilich nicht nur das Fehlen empirischer Studiendaten zur Prävalenz und Ausprägung des Phänomens in verschiedenen Institutionen, Gesellschaften etc., sondern auch den noch nicht klar definierten theoretischen Rahmen, in den das Phänomen eingeordnet werden muss. Handelt es sich primär um eine betriebswirtschaftliche bzw. volkswirtschaftliche Thematik, einen (organisations-)psychologischen Erklärungsansatz, ein soziologisches Problem oder gar eine arbeitsmedizinische Fragestellung? Sicherlich sind Erkenntnisse aller genannten Fachgebiete bei einer wissenschaftlichen Analyse des oBO zu berücksichtigen – jedoch unter der Voraussetzung, dass zuvor eine einheitliche Terminologie definiert und somit eine Verständnisgrundlage geschaffen wird.
Wie bereits bei der Betrachtung des iBO ausgeführt, existieren auch für das oBO zwar durchaus einige kausale Erklärungsmodelle, doch ein möglicher Zusammenhang mit dem iBO wird entweder überhaupt nicht thematisiert oder ohne weitere Begründung pauschal negiert. So schreibt Greve zu diesem Thema wörtlich: „Das Organizational Burnout ist nicht die Summe von vielen individuellen Burnouts.“ Er begründet dies damit, dass es sich beim oBO um einen „emergenten Prozess in einer Organisation“ handle, ein „Syndrom sui generis“, wobei die Organisation selbst – und nicht ihre einzelnen Mitglieder – die Symptomträgerin sei (vgl. Greve, 2010, S. 30ff). Dass diese Sichtweise nur einen Teil des Problems erfasst, erkennt freilich auch Greve an, wenn er zu diesem Thema abschließend festhält, es sei durchaus zu untersuchen, „ob durch ein fortgeschrittenes Organizational Burnout die Gefahr besteht, die Mitarbeiter in ein persönliches Burnout zu treiben“ (Greve, 2010, S. 32). Eben dies wird nachfolgend genauer betrachtet werden.
Im Zusammenhang mit dem von Greve verwendeten Begriff der Emergenz muss ein Phänomen zumindest erwähnt werden, welches in der Literatur häufig als Mehrebenen-Problem (vgl. Goldstein, 1987) bezeichnet wird. Ohne im Detail auf die wissenschaftstheoretischen und methodischen Konsequenzen eingehen zu können, sei darauf hingewiesen, dass bei der Auswertung von hierarchisch strukturierten Daten (z.B. Individuum vs. Organisation) stets auf eine Wechselwirkung zwischen den Einzelebenen geachtet werden muss. In unserem Fall geht es also darum, dass ein Mitarbeiter mit einem iBO dieses Syndrom als Individuum, aber auch als Mitglied eines Teams, einer Abteilung und schließlich eines gesamten Unternehmens entwickelt, so dass hier Prozesse eines möglicherweise vorhandenen oBO bereits mit hineinspielen und die Einzelbeobachtung verfälschen könnten.
Als weitere Limitation existiert, anders als beim iBO, weder ein allgemein verbindlicher Symptomkatalog noch ein operationalisiertes Messinstrument, um das oBO reliabel und objektiv zu erfassen, geschweige denn seine Validität angemessen zu überprüfen. Hierbei muss freilich zugestanden werden, dass es sich um ein erst kürzlich entwickeltes Konzept handelt, so dass zwangsläufig noch nicht auf eine breite Literatur- und Datenbasis zurückgegriffen werden kann, wie es beim iBO der Fall ist. Umso interessanter wird in den folgenden Jahren die Beobachtung sein, ob sich für das oBO eine ähnliche wissenschaftliche Entwicklung vollzieht wie in den 1980er Jahren für das iBO, oder ob das Konstrukt letztlich über einige praktische Anwendungen nicht hinauskommt. Sollte sich allerdings eine kausale Verknüpfung zwischen iBO und oBO nachweisen lassen, wäre eine weitere Erforschung gerade des letzteren Phänomens dringend geboten, um gegen beide Syndrome effektiv vorgehen zu können.
In seinem begriffsprägenden Buch untergliedert Greve die Beschreibung des oBO in die Bereiche Voraussetzungen und Gründe, Symptome, Phasen einer „Burnout-Spirale“ sowie Folgen, um anschließend unter Rückgriff auf medizinisch-therapeutisches Vokabular einige Überlegungen zu Diagnose, Therapie, Rehabilitation und Prävention anzustellen. Naturgemäß können die genannten Themenkomplexe an dieser Stelle nicht in ihrer ganzen Breite diskutiert werden. Wichtig erscheint ein kurzer Überblick über die als wesentlich beschriebenen Symptome und deren phasenhaft gedachte Progression.
Zunächst betont Greve, dass der Beginn eines oBO in der Regel unbemerkt und schleichend verläuft, wobei erschwerend hinzu komme, dass ein „Erkranken“ der ganzen Organisation gerade von den zuständigen Führungspersonen kaum akzeptiert und somit teilweise sogar bewusst ausgeblendet wird. Dennoch sind für Greve folgende Symptome eines beginnenden oBO objektivierbar, die hier stichwortartig aufgelistet werden (vgl. Greve, 2010, S. 79-98):
- Nachhaltige, durchaus beachtliche Erfolge machen träge und hemmen die weitere Innovationskraft.
- Erfolgsbedingter Luxus, insbesondere im Management, führt zu Frustration auf unteren Beschäftigungsebenen.
- Die Identifikation der Mitarbeiter mit der Organisation und deren Zielen lässt nach.
- Höchstleistungen werden zur Selbstverständlichkeit, Erholungsphasen finden kaum oder gar nicht mehr statt.
- Leistung und Entlohnung stehen nicht im rechten Verhältnis – insbesondere im Top-Management
- Die Führungskompetenz nimmt sichtbar ab und Führungsdefizite pflanzen sich nach unten fort
- Erfolge der Vergangenheit werden wichtiger als Chancen der Zukunft
- Teamarbeit wird ineffektiv, Arbeitsgruppen lösen sich vorzeitig auf
Wenn den genannten Symptomen nicht frühzeitig begegnet wird – was freilich eine entsprechend aufmerksame und unvoreingenommene Wahrnehmung voraussetzt – kommt es gemäß Greve zur Entwicklung einer oBO-Spirale, die er in vier Phasen unterteilt. Diese sind im nachfolgenden Schaubild dargestellt:
Abbildung 1: Die vier Phasen des Organizational Burnout
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Greve, 2012, S.103 (leicht modifiziert und gekürzt durch den Verfasser)
Insgesamt ist anzumerken, dass die Darstellung Greves zwar sehr praxisnah und durch jahrzehntelange Beratungserfahrung durchaus empirisch gestützt ist, dass aber letztlich keine saubere Trennung von Ursachen, Symptomen und Folgen vorgenommen wird. Zudem sind seine Definitionen nicht operational, so dass sie wissenschaftlich schwer analysiert werden können.
Gleichwohl stellen die Ausführungen Greves zum jetzigen Zeitpunkt das am weitesten ausgearbeitete Konzept zum oBO dar. Daneben existieren einige weitere moderne Ansätze, die sich mit komplexen Fehlentwicklungen in Organisationen befassen. So beschreiben Dilk/Littger (2008) ein „organisationales Burnout“ und meinen damit ähnlich wie Greve eine „Krankheit“ von Unternehmen, die durch Arbeitsüberlastung der Mitarbeiter, strukturelle Fehlentwicklungen und Führungsdefizite charakterisiert ist und strategisches Handeln der Unternehmensleitung erfordert. Der Gesundheitswissenschaftler Badura ermahnt in einem Vortrag dazu, man müsse „Burnout auch als eine Organisationspathologie begreifen, deren Vermeidung hohe Priorität verdient“, und benennt vier Bereiche, die es positiv zu gestalten gilt: Unternehmenskultur, Führung, Arbeitsbedingungen, Teambeziehungen (vgl. Badura, 2012). Der Psychologe Michael Zirkler beschreibt ein dem oBO sehr ähnliches Phänomen unter dem Titel „erschöpfte Organisation“ und verwendet als Metapher den rigiden, erstarrten Zustand eines Parkinsonpatienten, wobei er insbesondere einen Sinnverlust in der Organisation als Ursache der Erschöpfung identifiziert.
In der vorliegenden Untersuchung wird das Organizational Burnout wie folgt definiert: Beim oBO handelt es sich um einen Zustand der nachhaltigen Schwächung der materiellen und immateriellen Ressourcen einer Organisation. Diese Schwächung ist nicht oder zumindest nicht allein durch externe Faktoren zu erklären, sondern beruht auf internen Fehlentwicklungen, welche alle klassischen Bereiche des Managements betreffen können, d.h. Planung, Organisation (im instrumentellen Sinne), Personalwirtschaft, Führung und Controlling (vgl. Koontz/O’Donnell, 1955). Charakteristisch ist ein Verlust der Konkurrenzfähigkeit, der ohne Gegenmaßnahmen zwangsläufig das Ende der Organisation zur Folge hat, wobei dieser Prozess nicht mehr aus eigener Kraft aufgehalten werden kann, sondern externe Unterstützung erfordert. Das oBO kann schleichend verlaufen und ist daher durchaus mit einem Fortbestehen betroffener Organisationen über Jahre hinweg vereinbar.
Um das oBO von anderen, milderen Formen organisationaler Fehlentwicklungen zu unterschieden, wird an dieser Stelle definiert, dass bei langfristigen Defiziten in mindestens zwei Managementfunktionen ein leichtes oBO vorliegt, bei drei langfristig betroffenen Managementfunktionen ein mittelgradiges oBO besteht und bei mindestens vier dauerhaft beeinträchtigten Managementfunktionen von einem schweren oBO auszugehen ist. Dabei ist dem Verfasser bewusst, dass diese Operationalisierung keine allgemeine Gültigkeit oder gar Validität beanspruchen kann – sie ist jedoch für die folgende Untersuchung nützlich und zielführend.
Im Sinne eines explorativen Forschungsansatzes werden nachfolgend fünf kurze Fallstudien präsentiert, bei denen es sich jeweils um Patienten mit einem Burnout-Syndrom handelt, welches den aktuellen klinischen Leitlinien entspricht und in allen Fällen zu einer weiteren psychiatrischen Diagnose geführt hat. Zur Darstellung des iBO wird einerseits das etablierte Messinstrument MBI (quantitativ) verwendet, andererseits werden wichtige Aussagen aus den klinischen Interviews (qualitativ) stichwortartig zusammengefasst.
Die Auswertung der Interviews wird in Anlehnung an die methodischen Grundsätze der qualitativen Inhaltsanalyse vorgenommen, wobei insbesondere das Arbeiten mit Kategorien zur Strukturierung des Textmaterials herangezogen wird (vgl. Mayring/Gläser-Zikuda, 2005, S. 10ff). Die Kategorienbildung erfolgte in diesem Fall gestützt auf die in der Literatur geführte Diskussion möglicher Kausalfaktoren und war von der Hypothese geleitet, dass sowohl persönliche Eigenschaften und Erlebnisse der Patienten als auch objektive Merkmale der beteiligten Organisationen für die Ausprägung von iBO und oBO eine Rolle spielen.
Zur Erhebung des MBI wurde die deutsche, auf der ursprünglichen Fassung mit 25 Items beruhende Version des MBI verwendet, wie sie 2011 im Deutschen Ärzteblatt erschien (vgl. Kaschka et al., 2011). Dabei wurden allerdings die Alternativbegriffe „Patienten/Klienten“ jeweils noch um den Begriff „Kollegen“ ergänzt, um eine größtmögliche Verallgemeinerbarkeit zu gewährleisten. Die damit verbundene Erweiterung der Kategorie „Depersonalisation“ um eine wichtige Personengruppe (nämlich die Kollegen) wird bewusst in Kauf genommen. Dass stattdessen nicht der MBI-General Survey zum Einsatz kam, hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen existieren für diese verkürzte Version mit lediglich 16 Items noch deutlich weniger Studiendaten bzgl. Validität und Reliabilität (vgl. die Ausführungen in Kap 2.1.3), zum anderen ist der General Survey bisher nicht in einer allgemein anerkannten deutschen Übersetzung verfügbar. Der Fragebogenaufbau ist dem Anhang 1 zu entnehmen.
Für die Auswertung der MBI-Werte werden nachfolgend lediglich die Items 1-22 verwendet, da die letzten drei Fragen auf einen vierten, später von Maslach et al. nicht weiter verfolgten Symptombereich („Betroffenheit“) abzielen, welcher in dieser Arbeit nicht berücksichtigt wird. Im Sinne einer groben Orientierung werden die MBI-Werte gemäß folgender in der Literatur üblichen Dreiteilung ausgewertet (s. Tabelle). So können bei den einzelnen Fällen einfach die Summenwerte für jede Kategorie aufgeführt und ausgewertet werden (vgl. Cubrilo-Turek et al., 2006).
Tabelle 1: Einteilung von iBO-Schweregraden
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Cubrilo-Turek et al., 2006 (eigene Übersetzung aus dem Englischen)
Dabei ergibt die Summe der Werte der Items 1, 2, 3, 6, 8, 13, 14, 16, 20 den Gesamtwert für den Faktor emotionale Erschöpfung. Der Summenwert der Items 5, 10, 11, 15, 22 ergibt den Gesamtwert für den Faktor Depersonalisation/Zynismus. Schließlich ergibt der Summenwert der Items 4, 7, 9, 12, 17, 18, 19, 21 den Gesamtwert für den Faktor persönliche Leistungsfähigkeit, wobei hier anders als bei den vorherigen Faktoren ein höherer Summenwert mit einem geringeren Burnout-Risiko korreliert.
Alle Patienten stimmten einer anonymen Verwendung ihrer Aussagen für die vorliegende wissenschaftliche Studie zu, unter der Voraussetzung, dass aufgrund der beschriebenen Daten nicht auf ihre Person zurückgeschlossen werden kann und keine detaillierten persönlichen Informationen dargestellt werden. Dementsprechend erfolgt keine genaue Beschreibung der Krankengeschichte, des beruflichen Werdegangs oder sonstiger biographischer Daten der Patienten, außerdem keine Nennung der beteiligten Firmen, keine präzise Angabe von Firmenkennzahlen etc. und keine Darstellung von Geschäftsberichten, Aktienkursverläufen oder ähnlichem. Die für die Beurteilung von iBO und oBO relevanten Daten werden für jeden Fall systematisch anhand von zwölf Kategorien dargestellt.
Dieser Fall zeigt deutliche Anzeichen eines durch Defizite in den Bereichen Führung und Organisation verursachten Burnout-Syndroms bei einer langjährigen Mitarbeiterin eines mittelständischen Unternehmens im Rahmen von Re-strukturierungsmaßnahmen mit Vorgesetztenwechsel, Verschlechterung der Firmenkultur sowie Mobbing, gefolgt von gehäuften Entlassungen und selbst eingereichten Kündigungen der Mitarbeiter. Die Patientin erfuhr zunächst eine längere Krankschreibung, in der Folge wurde ihr die Arbeitsstelle nach Ablauf der gesetzlichen Frist gekündigt. Zum Zeitpunkt der Abgabe der vorliegenden Arbeit hatte die Patientin krankheitsbedingt noch keine neue Anstellung gefunden, sie befand sich auf Arbeitssuche.
Die Auswertung des MBI ergab für die drei Hauptsymptomgruppen folgende Summenwerte: 1. Emotionale Erschöpfung: 50 (schweres iBO); 2. Depersonalisation: 19 (schweres iBO); 3. Persönliche Leistungsfähigkeit: 29 (schweres iBO). Nachfolgend werden wichtige Charakteristika dieser Patientin tabellarisch aufgelistet.
Tabelle 2: Fallbeispiel 1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung
Dieser Fall zeigt die zunehmend in den Blick der Forschung geratende Kombination aus Burnout- und Boreout-Syndrom (vgl. Rothlin/Werder, 2009) bei einem aufstrebenden Controller im Rahmen mangelhafter Führung, fehlender externer Motivation und erlebter Sinnlosigkeit der eigenen Arbeit. Es wurde ein beginnender Burnout-Prozess festgestellt, der Patient wurde auf eigenen Wunsch zu keinem Zeitpunkt krankgeschrieben, sondern organisierte im Verlauf selbständig seine Versetzung in eine andere Abteilung des Unternehmens, welche an einem anderen Ort lokalisiert war und nach seiner Aussage von einer angenehmeren, als sinnstiftend erlebten Unternehmenskultur geprägt war.
Die Auswertung des MBI ergab für die drei Hauptsymptomgruppen folgende Summenwerte: 1. Emotionale Erschöpfung: 23 (mittleres iBO); 2. Depersonalisation: 7 (mittleres iBO); 3. Persönliche Leistungsfähigkeit: 21 (schweres iBO). Nachfolgend werden wichtige Charakteristika dieses Patienten tabellarisch aufgelistet.
Tabelle 3: Fallbeispiel 2
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung
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