Masterarbeit, 2012
128 Seiten, Note: 1,3
1 Einleitung
2 Inklusion
2.1 Bedeutung des Begriffs Inklusion
2.2 Abgrenzung zum Begriff Integration
2.3 Entstehungskontext von Inklusion
2.4 Rechtliche Grundlagen zum Inklusionsgedanken
2.5 Zwischenfazit
3 Inklusion als Aufgabe der Jugendhilfe
3.1 Aufgabe der Jugendhilfe
3.2 Inklusion im Rahmen der Jugendhilfe
3.3 Lösungsansätze für das Jugendhilfesystem
3.4 Zwischenfazit
4 Inklusion in den Handlungsfeldern der Jugendhilfe
4.1 Inklusion im Rahmen von Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit
4.2 Index für Inklusion
4.3 Kritische Stimmen zur Inklusionsdebatte
4.4 Zwischenfazit
5 Methoden
5.1 Forschungsparadigmen
5.2 Forschungsmethoden
5.3 ExpertInneninterview nach Meuser und Nagel
6 ExpertInnenbefragung zur Umsetzung von Inklusion in der Jugendhilfe
6.1 Vorstellung der Experten
6.2 Auswertung der ExpertInneninterviews
6.3 Darstellung der Ergebnisse
7 Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Anhang
„In einer Gesellschaft, in der Inklusion gelebt wird, gibt es keine Gruppen mit Minderheitsstatus, die in die Mehrheitsgesellschaft integriert werden müssen. Die vorherrschende Heterogenität ist nunmehr Norm, der Mensch in seiner Individualität Teil der Vielfalt“ (Komorek 2012, S.29).
Das Thema Inklusion scheint derzeit in aller Munde. In den Medien wird es immerzu aufgegriffen und findet Einzug in Polit-Runden im TV, TV-Dokumentationen und sogar auf die Kinoleinwand zeigt ein Film das Konzept „Eine Schule für Alle“ als zukunftsweisende Perspektive für unsere Gesellschaft. Doch trotz dieser medialen Präsenz beschränkt sich die Diskussion auf das Feld der schulischen Inklusion. Die Debatte um die inklusive Öffnung anderer gesellschaftlicher Bereiche fällt hinten ab und wird kaum beachtet. So auch das Thema Inklusion auf der Ebene der Jugendhilfe. Doch mit der Ratifizierung der UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, diese Rechte auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu stärken.
Auch wenn die Inklusionsdebatte im Rahmen der Jugendhilfe wenig ausgeprägt ist, so wird doch in diesem System die Eingliederung von jungen Menschen entschieden (vgl. Lotte 2011, S.123):
„Jugendhilfe sichert [...] individuelle Ansprüche auf normale Entwicklung und Förderung von Kindern ebenso wie gesellschaftliche Normalitätserwartungen [...] verbleibendes Ziel der Hilfe- und Kontrollinterventionen der Kinder- und Jugendhilfe ist die Ermöglichung, Unterstützung oder Wiederherstellung einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Lebensweise junger Menschen“ (Schrapper 2004, S.204).
Die vorliegende Masterarbeit wird den Fokus auf Inklusion im Rahmen der Jugendhilfe richten. Im Zentrum sollen folgend die Herausforderung und Probleme bei der Umsetzung inklusiver Strukturen in der Jugendhilfe stehen als auch mögliche Lösungsoptionen, die zur Bewältigung etwaiger Probleme und Herausforderungen beitragen sollen.
Ein besonderes Augenmerk soll auf die Inklusion von Jugendlichen gelegt werden. Hierzu werden die Handlungsfelder Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit als Praxisbezug zur Jugendhilfe herangezogen.
„Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist prädestiniert dafür, soziale, kulturelle und personale Begegnungen strukturell anzulegen, zu ermöglichen und zu leben, während die Schule im Gegensatz dazu erfolgreiche Lernprozesse allzu oft nur unter der Bedingung hergestellter Homogenität erzielen kann. [...]. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit kann und muss somit die Vorreiterrolle auf dem Weg zur Herstellung inklusiver Lernwelten und Teilhabe auf dem Weg zu einer Gesellschaft der Vielfalt spielen “ (Dannenbeck 2010, S. 34).
Mittels einer qualitativen empirischen Forschung werden die herausgearbeiteten Erkenntnisse überprüft. ExpertInnenmeinungen[1] zum Thema Inklusion in der Jugendhilfe sollen den theoretischen Grundlagen, die in den vorherigen Kapiteln erarbeitet wurden, gegenüber gestellt werden.
Der thematische Einstieg in diese Arbeit erfolgt durch eine Annäherung an das Paradigma Inklusion. Hierzu wird zunächst die Bedeutung des Begriffs erläutert. Auf Grund immer wiederkehrender Vergleiche mit dem Begriff Integration wird darauf folgend eine Abgrenzung der Begriffe Integration und Inklusion vorgenommen. Zum tieferen Verständnis dieser Abgrenzung wird in dem anschließenden Abschnitt der Entstehungskontext des Inklusionsparadigmas erläutert und abschließend die rechtliche Grundlage mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung vorgestellt. Die jeweiligen Kapitel schließen stets mit einem Zwischenfazit, in dem die zentralen Erkenntnisse und Fakten des Kapitels nochmals zusammengefasst werden. Im dritten Kapitel dieser Arbeit findet eine Einordnung des Inklusionsbegriffs in das System der Jugendhilfe statt. Zunächst wird in diesem Zusammenhang das Aufgabenfeld der Jugendhilfe beschrieben. Anschließend wird das Thema Inklusion als Aufgabe der Jugendhilfe in den Blick genommen. Hier gilt es die aktuelle Situation im Bereich der Jugendhilfe zu prüfen und entsprechend die Herausforderungen und Probleme bei der Umsetzung inklusiver Strukturen in diesem System herauszuarbeiten. Darauf folgend werden aktuell diskutierte Lösungsmodelle vorgestellt, die zur Bewältigung der dargestellten Herausforderungen und Probleme in aktuellen Debatten herangezogen werden.
Im vierten Kapitel wird dann Bezug zu den Praxisfeldern der Jugendhilfe genommen. Hier werden Maßnahmen vorgestellt, welche Inklusion in den Bereichen Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit fördern sollen. Im zweiten Abschnitt wird vorgestellt, inwiefern Träger von diesen Leistungen dazu beitragen können, dass inklusive Strukturen in ihren Einrichtungen und Angeboten gefördert werden können. Hierzu wird der Index für Inklusion als Instrument zur Förderung inklusiver Strukturen exemplarisch vorgestellt. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung kritischer Aspekte und Haltungen gegenüber der Umsetzungsplanung von Inklusion im Jugendhilfesystem als auch im Bereich der praktischen Umsetzung in den Handlungsfeldern der Jugendhilfe.
Das fünfte Kapitel dieser Arbeit leitet den Forschungsteil ein. Hier wird zunächst Bezug auf die empirische Sozialforschung im Allgemeinen genommen. Zunächst erfolgt daher eine Vorstellung der Forschungsparadigmen zur quantitativen, qualitativen und triangulati- ven Forschung, bevor im Anschluss auf die klassischen Methoden der quantitativen und qualitativen Forschung eingegangen wird. Das Kapitel schließt mit der Vorstellung der qualitativen Methode des ExpertInneninterviews nach Meuser und Nagel. Mit dieser Methode werden die für die vorliegende Arbeit geführten ExpertInneninterviews ausgewertet. In Kapitel sechs werden jedoch zunächst die Experten, die für die Forschung herangezogen wurden, vorgestellt, bevor anschließend die Auswertung der Interviews erfolgt. Als Grundlage für die Auswertung dienen folgende Forschungsfragen: „Inwiefern sehen ExpertInnen Herausforderungen und Probleme in der Umsetzung von Inklusion in der Jugendhilfe?“ und „Welche Chancen und Perspektive bietet Inklusion?“
In einem abschließenden Fazit werden die zentralen Erkenntnisse aus der theoretischen Grundlage dieser Arbeit im Vergleich mit den Ergebnissen aus der empirischen Forschung zusammengefasst. Hier gilt im Besonderen die Beachtung solcher Ergebnisse, die mit der theoretischen Basis konform gehen, aber auch auf Erkenntnisse die von der Theorie abweichen.
In diesem Kapitel erfolgt der thematische Einstieg zu der Analyse von „Inklusion von Jugendlichen - Herausforderungen, Probleme und Lösungsansätze“. Zunächst erfolgt deshalb eine Bestimmung des zentralen Begriffs dieser Arbeit: Inklusion. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wird dieser Begriff auf seine Bedeutung hin, welches Paradigma sich dahinter verbirgt, worauf dieses abzielt und wer damit angesprochen wird, untersucht.
Da Inklusion immer wieder im Kontext mit dem Paradigma der Integration auftaucht und oftmals Verwirrung stiftet, weil beide Begriffe im selben Kontext auftauchen, ohne voneinander abgegrenzt zu werden (vgl. Frühauf 2012, S.11), wird in Abschnitt 2.2 eine Differenzierung der Begriffe vorgenommen. Dieser Abschnitt klärt zunächst darüber auf, was unter Integration zu verstehen und durch welchen Leitgedanken er geprägt wurde. Daraufhin wird auf die zentralen Unterschiede der Paradigmen eingegangen als auch auf Zusammenhänge in der Konzeption der beiden Eingliederungsmaßnahmen.
In Abschnitt 2.3 erfolgt dann ein kurz gefasster historischer Abriss zum Entstehungskontext von Inklusion. In diesem Zusammenhang werden der Hintergrund und die Beweggründe zur Entstehung des Paradigmas Inklusion erläutert. Die weltweite Verbreitung und insbesondere das Verständnis von Inklusion in Deutschland werden hier fokussiert.
Thematisch schließt dieses Kapitel mit der Darlegung der rechtlichen Grundlage des Inklusionsgedankens. In diesem Zusammenhang werden die für diese Arbeit relevanten Aspekte der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung aufgegriffen und erklärt. Dieses Kapitel endet mit einem Zwischenfazit. Die zentralen Erkenntnisse und Aspekte die im Zusammenhang mit dem Thema Inklusion in diesem Kapitel erörtert wurden, werden hier zusammengefasst.
Inklusion ist nach einer Definition von Andreas Hinz zu verstehen als ein „[...] allge- meinpädagogische[r] Ansatz, der auf der Basis von Bürgerrechten argumentiert, sich gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung wendet und somit allen Menschen das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse zugesichert sehen will“ (Hinz 2006, S.96).
Mit den hier vorgestellten Leitgedanken des Paradigmas Inklusion kann man es als Gegensatzmodell zum Paradigma der Exklusion betrachten. Mit Exklusion ist gemeint, dass durch soziale Ungleichheit eine Ausgrenzung aus der Gesellschaft bzw. eine Randständig- keit in der Gesellschaft gegeben ist. Es gibt unterschiedliche Gründe dafür, dass Menschen aus gesellschaftlichen Strukturen exkludiert werden. Beispielhaft gelten folgende Bedingungen als ursächlich für eine Ausgrenzung aus gesellschaftlichen Regelstrukturen: unzureichende Grundfertigkeiten, Diskriminierung oder auch Armut sind Faktoren, die dazu führen, dass eine barrierefreie Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen nicht gewährleistet ist (vgl. Europäische Kommission 2004, S.12).
Zusammengefasst steht Inklusion, ganz im Kontrast zur Exklusion, also für eine Fokussierung aller Dimensionen der Heterogenität als ein Ganzes. Das heißt also, dass nicht nur körperliche Einschränkungen im Blickpunkt stehen, sondern sämtliche Aspekte, die ursächlich dafür sind, dass Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe ausgegrenzt werden. Dazu gehören Faktoren wie Geschlechterrollen, ethnische Herkunft, sozialer Status, Nationalität, Sprache, Fähigkeiten usw. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass Gegenüberstellungen wie z.B. behindert und nicht-behindert, Ausländer und Nicht-Ausländer etc. abgeschafft werden und somit dichotome Kategorisierungen (vgl. Hinz 2008, S.33). Dabei ist Inklusion als andauernder und nicht als abschließender Prozess zu verstehen, bei dem es darum geht, auf die verschiedenen Bedarfe von Menschen einzugehen und eine Steigerung der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu erwirken, während Ausschlüsse aus sozialen Systemen reduziert werden (vgl. UNESCO 2005, S.13).
Die Bezugsgruppe die klassischerweise und in der Hauptsache im Zusammenhang mit Inklusion genannt wird, sind Menschen mit Behinderung. Dies geht unter anderem aus der Entstehungsgeschichte des Begriffs hervor (siehe Kapitel 2.3) und insbesondere die UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist ausschlaggebend für die aktuelle Debatte über chancengleiche Teilhabe für Menschen mit Behinderung, die durch Inklusion verwirklicht werden soll (siehe Kapitel 2.4). In diesem Zusammenhang ist es jedoch von zentraler Bedeutung zu klären, wie Behinderung zu definieren ist. Fakt ist, dass Definitionen von Behinderung in unterschiedlichen Staaten oftmals stark voneinander abweichen, weil keine Einigkeit über die Indikatoren oder Kategorien von Behinderungen herrschen (vgl. Biewer 2010, S.33f.). Behinderung auf die Beeinträchtigungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen zu reduzieren, ist aus der Sicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht zu vertreten. Die WHO bezieht in ihrem Verständnis von Behinderung neben Körperfunktionen und -strukturen auch die Dimensionen Aktivität und Partizipation mit ein. Nach Ansicht der WHO stehen alle diese Dimensionen in Wechselwirkung zueinander als auch im Kontext zu ihrer Umwelt und anderen Personen. Somit greift die WHO in ihrer Definition den sozialen Aspekt von Behinderung mit auf (vgl. Albers 2011, S.31). Der Einbezug der Dimension Partizipation ist demnach auch so zu bewerten, dass Menschen, bei denen eine Partizipation an gesellschaftlichen Strukturen nicht gegeben ist, gewissermaßen auch „behindert“ sind. Diesen Aspekt greift auch die OECD - Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - in ihrem Kategoriensystem über Behinderung mit auf.
Im Zusammenhang mit dem Inklusionsauftrag hat die OECD ein länderübergreifendes Kategoriensystem entwickelt, um statistisches Material über die Eingliederung von Menschen mit Behinderung vergleichbar zu machen. Die OECD unterscheidet hier drei Kategorien, die mit A, B und C bezeichnet werden. Kategorie A fasst den Begriff „disabilities“ also Behinderungen. Dies meint Behinderungen, die primär aus organischen Gründen hervorgerufen sind, sich also durch Defekte im sensorischen, motorischen oder neurologischen Bereich äußern. Kategorie B beschreibt „learning difficulties“ und meint Lernschwierigkeiten, die mit emotionalen Störungen, Verhaltensstörungen oder speziellen Lernstörungen verbunden sind. In der Kategorie C ist von „disadvantages“ die Rede und dies bezieht sich auf Benachteiligungen durch sozio-ökonomische, kulturelle und sprachliche Umstände (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2003, S.10).
Gerade letztere Kategorie umfasst eine Adressatengruppe, der Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe oftmals verwehrt bleiben, in Deutschland jedoch nicht als Menschen mit Behinderung gefasst werden.
Die in Deutschland verbindlich rechtliche Definition von Behinderung nach §2 SGB9 lautet: Menschen, die „ ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“
Diese Definition umfasst vorrangig die nach der OECD definierten Gruppen A und B. Dennoch bildet die, unter Gruppe C gefasste Gruppe von Menschen mit „Behinderung“, in Deutschland und auch allen übrigen entwickelten Ländern die höchste Quote, der von gesellschaftlicher Marginalisierung betroffener Menschen (vgl. Biewer 2010, S.60f). Da sich Inklusion auf alle Aspekte von Verschiedenheit bezieht, so Hinz, und Behinderung nur einen Subaspekt darstellt, erfasst die vorliegende Kategorisierung der OECD mit der Gruppe C zwar nicht diejenigen die klassischer Weise als Menschen mit Behinderung gesehen werden, aber solche die durch diverse Aspekte als gesellschaftliche Randgruppe einzuordnen sind und an einer barrierefreien Teilhabe in der Gesellschaft „behindert“ werden. Ausgehend von einem dynamischen Behinderungsbegriff wie er von der WHO und auch der OECD formuliert wurde, ist festzuhalten, dass Menschen mit Beeinträchtigung dann Behindert werden, wenn Teilhabehindernisse die auf Grund einer Wechselwirkung zwischen ihrer individuellen Beeinträchtigungen und baulichen und sozialen Barrieren entstehen, keinen Ausgleich bieten. Die Forderung nach Inklusion und damit nach gleichberechtigter Teilhabe und Barrierefreiheit begründet sich somit im Bezug auf alle Menschen mit Behinderung, unabhängig von Geschlecht, Alter, Kultur, Religion etc. (vgl. Landesinitiative NR- W-inklusiv, S. 15)
Da der Begriff Inklusion oft synonym zu dem Begriff Integration verwendet wird (vgl. Frühauf 2012, S. 11), wird in Kapitel 2.2 darauf eingegangen, inwiefern diese Begriffe und die dahinter stehenden Paradigmen zu differenzieren sind. Hierzu wird der Begriff Integration in einer kurzen Zusammenfassung des Entstehungskontextes erklärt und anhand des- sen erörtert, inwiefern sich die Paradigmen der Integration und Inklusion voneinander unterscheiden und inwiefern tatsächlich auch ein Zusammenhang besteht.
Seit dem Aufkommen des Begriffs Inklusion wird dieser immer wieder mit dem Begriff Integration durcheinander gebracht oder gar synonym zu diesem Begriff gebraucht (vgl. Frühauf 2012, S.11). So werden sie in vielen Texten in abwechselnder Form oder als Schrägstrichformulierungen angegeben, ohne auf die Unterschiede ihrer jeweiligen Bedeutung einzugehen. Zudem findet man in der pädagogischen Forschung und auch in der Praxis komplett gegensätzliche Darstellungen der Begrifflichkeiten (vgl. Wocken 2009a, S.2). Dies lässt darauf schließen, dass auch Fachleute Probleme darin sehen, dass Konzept der Inklusion von dem der Integration abzugrenzen und dies damit nicht einzig ein Problem unter Laien zu sein scheint. In diesem Abschnitt wird folgend eruiert, welche Differenzen und welchen Zusammenhang die beiden Konzepte aufweisen. Durch eine Darstellung der Unterschiede innerhalb der beiden Paradigmen soll verdeutlicht werden, dass ein synonymer Gebrauch der Begrifflichkeiten oder auch Schrägstrichformulierungen in dieser Debatte irreführend ist und den jeweiligen Konzepten nicht gerecht wird.
Schlägt man im Duden den Begriff „Integration“ nach, so wird beschrieben, dass es sich bei Integration um die Verbindung einer Vielfalt handelt. Entweder einzelne Personen oder auch Gruppen werden verbunden zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit (vgl. Duden 1999, S.1959). Auch Hillmann beschreibt in seinem „Wörterbuch der Soziologie“ (1994, S.377) Integration als die Wiederherstellung eines Ganzen und bezieht dies auf Verläufe der Eingliederung in eine Gesellschaft und in diesem Zuge eine Anpassung an gesellschaftliche Werte und Verhaltensmuster.
Seit Mitte der 1970er Jahre gilt Integration als Leitbegriff in der Diskussion über die Eingliederung von Menschen mit Behinderung. Eingebracht wurde der Begriff von den Betroffenen selbst, die sich in dieser Zeit gegen das bis dato geltende Paradigma der Segregation stellten (vgl. Hermes 2007). Die praktizierte Aussonderung von Menschen mit Defiziten in separate Sondereinrichtungen und die damit einhergehende Separierung von gesellschaftlicher Teilhabe und auch der Normalitätsbegriff wurden in dieser Zeit stark hinter fragt. Die Zielvorstellung der politischen Bewegung, initiiert von den Betroffenen selbst, war es, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, gesetzliche Gleichstellung zu erlangen und Lebens- und Unterstützungsformen zugestanden zu bekommen, die ein gemeindenahes Leben ermöglichen (vgl. Miles-Paul 1992).
Der in Italien bereits bestehende Grundsatz der Integration ließ auch in Deutschland die Forderung nach einer Eingliederung in die gesellschaftlichen Regelstrukturen für „ausgesonderte“ Menschen aufkommen. Im Einzelnen wurde gefordert, dass behinderte Kinder in Regelschulen integriert werden und zudem unterstützende Begleitung im Unterricht erhalten. Darüber hinaus wurde die Eingliederung in das Gemeindeleben mit Hilfe ambulanter Dienste beansprucht (vgl. Schädler 2002, S.77) sowie eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt (zitiert nach Daniels, u.a. 1983, S.72ff. in: Hermes 2007).
Aus der Perspektive der Bürgerrechtsbewegung von den Menschen mit Behinderung ist mit Integration die gleichberechtigte Teilhabe im gesellschaftlichen Kontext gemeint und zudem die Abkehr von Sondereinrichtungen für Menschen mit Defiziten (vgl. Hermes 2007). In der praktischen Umsetzung hat sich Integration jedoch in eine Richtung entwickelt, die ein Potpourri an Modellen zur Eingliederung von Menschen mit Defiziten offen hält. So beschreibt auch Hinz, dass unter Integration inzwischen alles Mögliche zu fassen sei und alles was als gut, fortschrittlich und hilfreich gesehen werden wolle, sich das Etikett Integration anheften (vgl. Hinz o.J.). So stellt Integration nicht - wie einst geplant - einen Ersatz für Sondereinrichtungen dar, sondern ist vielmehr eine Ergänzung solcher Einrichtungen (vgl. ebd. 2004b, S.245).
Was Integration und Inklusion grundlegend voneinander trennt, ist die Auffassung des Integrationsparadigmas, der 2-Gruppen-Theorie. In der Integration unterscheidet man zwischen Menschen mit Behinderung, die einer Eingliederung in die Gruppe, derer ohne Behinderung, bedürfen. Im Zentrum steht dabei das zu integrierende Individuum mit seinen jeweiligen Defiziten (vgl. Hinz 2004a, S.45f.). Das Ausmaß der Integration ist davon abhängig, wie sehr das Individuum von der „Norm“ abweicht. Das heißt, hier findet erneut eine Selektion statt, die die Menschen mit Förderbedarfen in Gruppen verschiedener Integrationspotentiale unterteilt. Je weniger man von der „Norm“ abweicht, desto größer die Chance, dass integrierende Maßnahmen ergriffen werden (vgl. Boban 2003, S.39).
Im Gegensatz dazu sieht der Inklusionsansatz die Heterogenität der Gesellschaft im Fokus. Dichotome Vorstellungen wie behindert und nicht-behindert oder auch Deutscher/Ausländer werden grundsätzlich abgelehnt (vgl. ebd., S.33). Inklusion plädiert für die Akzeptanz und Wertschätzung aller Menschen und dies umfasst nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern bezieht sämtliche Gründe für gesellschaftliche Marginalisierung mit ein (vgl. Hinz 2003, S.10ff.). Weiterhin gilt, dass eine inklusive Gesellschaft dafür Sorge trägt, dass für alle der Zugang zu Institutionen und Dienstleistungen barrierefrei erfolgen kann.
Während also bei der Integration versucht wird, Menschen in das bestehende System einzugliedern, indem man probiert, sie an das System anzupassen, wird bei der Inklusion der Fokus auf das System gesetzt, dass sich in seinen Strukturen ändern muss, um sich der Vielfalt der Menschen anzupassen. Das Problem liegt also nicht mehr in der Person, die sich den Hindernissen seiner Umwelt stellen und anpassen muss, sondern in der Umgestaltung der Umgebung, die sich bestenfalls auf die gesamte Vielfalt der Menschen einlassen muss und Barrieren soweit wie möglich abbaut (vgl. Gesellschaft für Erwachsenenbildung und Behinderung e.V Deutschland 1998).
Ein weiterer zentraler Aspekt, der in der Unterscheidung von Integration und Inklusion benannt werden muss, ist, dass Integration keine verpflichtende Maßnahme darstellt (vgl. Wocken o.J.). Das heißt, es besteht kein Rechtsanspruch auf integrierende Leistungen im Gesellschaftssystem. Mit der Forderung von Inklusion und Plänen der Vertragsstaaten zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, kann es dazu kommen, dass inklusive Maßnahmen einklagbar werden. Dies bedeutet wiederum, dass das Recht auf eine barrierefreie Teilhabe in allen Institutionen und an Dienstleistungen rechtlich erwirkt werden kann (vgl. ebd.). Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung stellt keine generelle Grundlage für die Einklagbarkeit inklusiver Maßnahmen dar. Sie normiert keine neuen Rechte oder Spezialrechte für Menschen mit Behinderung, denn sie basiert auf bereits bestehenden Menschenrechten, die als Wertentscheidungen im deutschen Recht bereits lange verankert sind. Jedoch ändert die Umsetzung in der UN-Behindertenrechtskon- vention in den entsprechenden Ländergesetzen diese Sachlage. Mit einer Veränderung und Anpassung des Landesrechts kann Inklusion auch rechtlich eingefordert werden (vgl. Riedel 2009).
Des Weiteren gilt, dass Integration nur vorrangig zur Separation ist, wenn die notwendigen
Ressourcen für eine gelingende Integration vorhanden sind. Es müssen demnach personelle, sächliche und organisatorische Ressourcen gewährleistet sein, um einen integrativen Zugang zu ermöglichen. Sind diese Ressourcen nicht vorhanden, wird der Weg der Separation gewählt und Betroffene werden in Sondereinrichtungen untergebracht. Die mit dem Prinzip der Inklusion verbundene Rechtsgrundlage - die UN-Behindertenrechtskonvention - kennzeichnet diesen Ressourcenvorbehalt als nicht zulässig. Auf Grund des Rechtsanspruches auf Inklusion und den damit einhergehenden Anspruch auf entsprechende Förderung muss sich das System hier anpassen. Das heißt, wenn der Wunsch auf Teilhabe an gesellschaftlichen Regelsystemen und Dienstleistungen besteht, müssen entsprechende Fördermaßnahmen getroffen werden, um einen barrierefreien Zugang zu gewährleisten (vgl. ebd.).
In dem Stufenmodell, welches Sander aus den Entwicklungsmodellen des Schweizer Heilpädagogen Bürli (1997, S. 55f.) und der österreichischen Heilpädagogen Wilhelm und Bin- tinger (2001, S.45) zusammenfasst, stellt er fünf historische Entwicklungsstufen des Bildungssystems dar. Inklusion ist hier als Entwicklungsfolge der Integration dargestellt. Daran lässt sich der Zusammenhang der beiden Paradigmen festmachen. So sagt Sander, dass Inklusion als „optimierte und erweiterte Integration “ zu verstehen sei (vgl. Sander 2004) und insofern wird sie als Folgeentwicklung in seinem Stufenmodell nach der Integration aufgeführt. Diese Etappen sind nicht als chronologische Reihenfolge zu sehen, da sie im Bildungssystem weiterhin noch alle zum Tragen kommen. Sie sind als Entwicklungsfortschritt zu bewerten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Von der Exklusion zur Inklusion
In der Abbildung 1 steht zu Beginn der Begriff Exklusion. Damit ist gemeint, dass bestimmten Menschen, auf Grund bestimmter Defizite, der Zugang zu Angeboten jedweder Bildungs- und Erziehungssysteme verwehrt bleibt. Sie werden von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. In der Phase der Segregation geht es darum, Menschen auf Grundlage bestimmter Kriterien in unterschiedliche Orte des Systems, also Sondereinrichtungen, einzuordnen. Ein Beispiel hierfür bietet das deutsche Schulsystem: Hier werden Maßnahmen zur Einordnung von SchülerInnen in homogene Gruppen, sortiert nach Leistungskriterien, ergriffen. Ein wichtiges Ziel der Segregation ist, eine gesellschaftliche Akzeptanz und eine Toleranz gegenüber Menschen mit Behinderung zu schaffen. Demnach soll durch Segregation eine soziale Integration gefördert werden. Damit ist auch das dritte Leitprinzip bereits erwähnt, denn die dritte Entwicklungsetappe beschreibt das Paradigma der Integration, bei dem es darum geht, dass Menschen, die von einer Ausgrenzung aus der Gesellschaft betroffen sind, z.B. durch Behinderung, ein Leben ermöglicht werden soll, dass so „normal“ wie möglich verläuft. Wie bereits beschrieben entstand dieses neue Konzept aus der Initiative, sich für die Teilhabe an Entscheidungen behinderter Menschen, die das eigene Leben betreffen, auszusprechen. So steht Integration auch für gezielte Kompetenzerweiterung für Menschen mit Defiziten, um ein möglichst freies und selbstbestimmtes Leben führen zu können. Inklusion als vierte Phase geht von einem Leben aus, dass von der Geburt an in die sozialen Regelstrukturen des Gemeinwesens verankert ist. So wird die heterogene Gesellschaft als Normalität gesehen. Der Gedanke hinter diesem Paradigma wurde bereits ausführlich beschrieben Als Ziel des fünfstufigen Modells beschreibt Sander die Allgemeine Pädagogik für alle. Die Vielfalt menschlicher Bedarfe gilt hier als Normalfall. Das Prinzip kommt dem der Inklusion gleich und wird deshalb in Abb. 1 nicht mehr separat aufgeführt. Diese Phase stellt den Abschluss der Entwicklung dar und geht von der Selbstverständlichkeit der Inklusion aus. An dieser Stelle hat der Begriff selbst also keine Relevanz mehr (zitiert nach Sander in: Frühauf 2012, S.33f.).
Die Unterschiede der Konzepte basieren auf qualitativen Aspekten der durch Integration und Inklusion realisierten Werte. Inklusion stellt gegenüber der Integration ein höherwertiges Rechtsgut dar und ist nicht wie Integration aus sozialen oder karitativen Motiven heraus begründet. Die Höherwertigkeit der Inklusion zeichnet sich durch die Beibehaltung der erwirkten Rechte aus den vorangehenden Entwicklungsstufen aus, andernfalls würde man von einer Werteverschiebung und nicht von einer Höherwertigkeit sprechen (vgl. Wocken 2009a, S.15).
So wird deutlich, dass die Begriffe Integration und Inklusion weder synonym noch konträr zueinander zu verwenden sind, sondern, wie Sander in seinem Stufenmodell bestärkt, als aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen. Inklusion ist demnach also als Folgestufe der Integration zu betrachten. Dies geht, wie vordem beschrieben, aus der Höherwertigkeit der Inklusion gegenüber dem Konzept der Integration hervor, die sich durch die Grundlage der Einbeziehung der bisherigen erwirkten Rechte und der darauf aufbauenden, qualitativen Werte auszeichnet.
Der bildungswissenschaftliche Begriff Inklusion leitet sich aus dem englischen „inclusion“ (Einbeziehung) ab (vgl. Biewer 2010, S.125). Der Ursprung dieses Begriffs liegt im lateinischen inclusio, welcher für Einschließung oder Einbeziehung steht (Lautenbach 2002, S.351). Entstanden ist der Begriff in den USA und wurde zunächst im Zusammenhang mit der amerikanischen Bildungspolitik diskutiert. Als Ablösung für den Begriff „mainstreaming“, der für die gemeinsame Beschulung von behinderten und nicht-behinderten SchülerInnen stand, wurde der Begriff „inclusion“ in den Jahren zwischen 1990 und 1995 populär. Anders als in den USA galt außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika die Bezeichnung „integration“ als Leitbegriff für die gemeinsame Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne besondere Bedürfnisse, aber auch hier setzte sich der Begriff „inclusion“ schnell durch (vgl. Biewer 2010, S.125). Von Bedeutung im Zusammenhang mit der begrifflichen Veränderung „mainstreaming/integration“ durch „inclusion“ ist die Veränderung der Konzeption der Regelschulen im Umgang mit den SchülerInnen, die auf einen speziellen Förderungsbedarf angewiesen sind. So bezieht sich das neu reformierte Schulkonzept, welches sich durch strukturelle Veränderungen auszeichnet, nicht auf die Leitlinien des integrativen Schulkonzepts, sondern bietet ein eigenständiges Konzept für sogenannte „Inclusive Schools“. Biewer bezieht sich hier auf Aussagen der britischen Literatur der 1990er Jahre, in der für die Konzeption der „Inclusive School“ Merkmale gelten, die die Verschiedenheit von SchülerInnen als Vorteil und Bereicherung sehen und nicht als
zusätzliche Belastung oder Problem für die Lehrkräfte. Im Mittelpunkt dieses Modells steht die Fokussierung der Vielfalt von SchülerInnen bezogen auf pädagogische und auch gesellschaftliche Dimensionen, dabei ist Behinderung nur ein Aspekt der Heterogenität von SchülerInnen. Weitere Aspekte sind z.B. geschlechtliche, kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede (vgl. ebd.).
Zur Konzeption der „Inclusive School“ gehört eine grundlegende Reformation des Schulsystems, um der Vielfalt von SchülerInnen gerecht zu werden. Neben der Veränderung von Lern- und Lehrprozessen bedarf es auch einer Umwandlung der Organisationsformen der Schule. Ziel ist es, durch diese Änderungen die Leistungsfähigkeit im Lernen der SchülerInnen zu steigern und den Beitrag zur inklusiven Gesellschaft zu fördern (vgl. Biewer 2010, S.126f.).
Die Unterscheidung zu einem integrativen Schulkonzept ist, dass sich der integrative Ansatz darauf konzentriert, die Unterschiede der SchülerInnen zu erkennen, wahrzunehmen und diese SchülerInnen, die bisher auf Grund dieser Unterschiede ausgesondert wurden, wieder einzugliedern (vgl. Abram 2003). Inklusion zielt hingegen darauf ab, Vielfalt anzuerkennen und Menschen nicht mehr in Gruppen einzuteilen (z.B. behindert, anderssprachig, andere Religion etc.).
Während sich in den USA der Begriff „inclusion“ bereits durchsetzen konnte, sorgten vornehmlich britische WissenschaftlerInnen durch ihre Einbindung in die Aktivitäten der UNESCO dafür, dass der Begriff „inclusion“ auf der ganzen Welt verbreitet wurde. In einem Workshop zum Thema „Special Needs in the Classroom“, der von der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) organisiert wurde, wurden bereits wesentliche didaktische Inhalte festgehalten, die der Idee eines inklusiven Schulkonzeptes entsprachen (UNESCO 1993). Auch in dem Buch von Mel Ainscow aus dem Jahr 1991 „Effective Schools for All“ sind bereits wesentliche Elemente des inklusiven Ansatzes beschrieben. Beide Ansätze verwenden den Begriff „inclusion“ jedoch noch nicht (vgl. Biewer 2010, S.125).
Die Etablierung des Begriffs „inclusion“ stabilisierte sich vor allen Dingen durch die Beschlussfassung von Salamanca im Jahr 1994. In dieser Erklärung, die auf der UNESCO Weltkonferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ abgegeben wurde, wird die Forderung, Schulsysteme so zu verändern, dass alle SchülerInnen in inklu-siven Schulen ausgebildet werden können, maßgebendes Ziel der internationalen Bildungspolitik (vgl. Schumann 2009, S.51).
Auch in Deutschland ist die Diskussion um den Begriff Inklusion mit der Erklärung von Salamanca und insbesondere auch durch die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ins Laufen gekommen. Der Artikel 24 dieser Konvention fordert das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderung, ohne sie zu diskriminieren. Dies soll in einem inklusiven Bildungssystem gefördert werden. Genau dieser Artikel regte zu Diskussionen an und führte dazu, dass auch in andern gesellschaftlichen und sozialen Kontexten das Thema Inklusion in aller Munde ist (vgl. Ziemen 2011, S.9). Das generelle Ziel der UN-Konvention ist, Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dies meint, dass Barrierefreiheit in jeglichen Dimensionen des gesellschaftlichen Handelns und Wirkens zu gewährleisten ist. In diesem Zusammenhang wird vor allen Dingen von sozialen Barrieren gesprochen, wie z.B. Stigmatisierungen, die durch Vorurteile und Stereotypisierung entstehen und zur Exklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen führt (vgl. Schulze 2011, S.15). Eine genaue Erörterung zur UN-Behindertenrechtskonvention folgt im nächsten Unterkapitel und wird deshalb an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt.
Die Übernahme des Begriffs Inklusion verlief im deutschsprachigen Raum jedoch nicht ganz reibungslos. So übersetzte die UNESCO Kommission in Österreich im Jahr 1996 die Salamanca-Erklärung in die deutsche Sprache und machte aus dem englischen „inclusion“ den im Deutschen bekannten Begriff „Integration“. Zu diesem Zeitpunkt war nicht klar, dass es sich bei dem Begriff „inclusion“ um einen anderen Sachverhalt handelte, der sich von dem Paradigma der Integration abgelöst hatte (vgl. Biewer 2010, S.125).
Nachdem die angloamerikanischen Konzepte unter Anderem von Biewer und Hinz aufgearbeitet wurden, wurde auch im deutschsprachigen Raum der Begriff „inclusion“ mit „Inklusion“ neu übersetzt. Die Substitution des Begriffs „Integration“ durch „Inklusion“ setzt sich in den letzten Jahren immer mehr durch, wobei jedoch anfangs zwar begrifflichen Änderungen vollzogen wurden, jedoch inhaltlich kaum eine Änderung der Konzepte nachzuvollziehen war (vgl. ebd, S.125). Erst durch die aktuellsten Diskussionen auf bundespolitischer Ebene, die mit dem Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behinderten- rechtskonvention auch eine enorme mediale Zuwendung erfahren haben, wird das Thema Inklusion als eigenständiges Paradigma, unabhängig von Integration wahrgenommen.
Wie bereits erwähnt wurde, bietet die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung auch die Rechtsgrundlage für eine gleichberechtigte Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen. Der mit der UN-Konvention beabsichtigte Wandel zu einer inklusiven gesellschaftlichen Haltung soll die chancengleiche Teilhabe für alle Menschen sichern. Im Folgenden wird nun die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung näher erläutert.
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung wurde am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. In Deutschland ist sie am 26. März 2009 ratifiziert worden und somit in Kraft getreten. Sie ist damit in Deutschland, genau wie in allen weiteren Vertragsstaaten, völkerrechtlich verbindlich; das heißt, mit der Unterzeichnung haben sich die Vertragsstaaten nunmehr verpflichtet, die Rechte, die in der Konvention festgehalten sind, zu gewähren (vgl. Albers 2011, S.29). Kern und Ziel dieser Konvention ist, die Rechte von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft zu stärken. Dabei steht nicht mehr das medizinische Modell von Behinderung im Vordergrund, sondern das soziale Modell rückt hier in den Fokus der Aufmerksamkeit. Danach wird der behinderte Mensch nicht durch seine ganz individuelle Beeinträchtigung behindert, sondern Barrieren und Benachteiligungen, die seitens der Gesellschaft produziert werden, machen Menschen zu behinderten Menschen (vgl. Plangger 2009, S.13).
Inhaltlich basiert die Behindertenrechtskonvention in ihren grundlegenden Teilen auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948. Diese Rechte hat jeder Mensch kraft Menschseins und sie ermöglichen jedem ein Leben in Würde zu führen. Dies wird direkt zu Beginn der Menschrechtserklärung festgehalten: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren “ (Artikel 1, Allgemeine Menschenrechtserklärung 1948). Dennoch gilt oftmals, dass die Einhaltung und Durchsetzung dieser Rechte eine große Herausforderung darstellen.
Auch wenn es eine Tatsache ist, dass Menschenrechte in vielen Ländern der Erde nicht ad äquat umgesetzt werden und eine Verbesserungsleistung unbedingt notwendig ist, ist es dennoch so, dass sich die Behauptung der Rechte des Einzelnen stetig verbessern. So können Verbesserungen in der Gesetzeslage oftmals auf die stetig wachsende Anerkennung der Menschenrechte zurückgeführt werden, z.B. auch die Optimierung des Gleichstellungsrechts (vgl. Schulze 2011, S.11f.). Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung hat nun die Aufgabe, insbesondere die Inanspruchnahme aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderung zu fördern (vgl. ebd., S.11). Dabei geht die Leitoption der Behindertenrechtskonvention davon aus, Menschen mit Behinderung die „Teilhabe an der Gesellschaft und die Einbeziehung in die Gesellschaft“ zu ermöglichen (vgl. Lob-Hüdepohl 2010, S.14)
Ein Rückblick auf die Geschichte der Menschenrechte macht deutlich, dass die Belange von Menschen mit Behinderung lange Zeit kaum beachtet wurden. Dies zeigt sich beispielsweise auch dadurch, dass in den Menschenrechtsdokumenten der 1960er bis 1980er Jahre keinerlei Dokumentationen über mögliche Barrieren für Menschen mit körperlichen oder geistigen Defiziten zu finden sind. So wurden weder soziale, kommunikative noch bauliche Hindernisse im Umgang mit Menschen mit Behinderung in menschenrechtlichen Gesetzgebungen berücksichtigt. Generell gilt, dass Verweise auf Behinderungen in Menschenrechtsverträgen nur gelegentlich erwähnt sind (vgl. Schulze 2011, S.11f.).
Dennoch ist die UN-Behindertenrechtskonvention nicht der erste Versuch gewesen, die Rechte von Menschen mit Behinderung, im Zuge der Debatte um Menschenrechte, zu thematisieren. Dieser Konvention gingen verschiedene Prozesse voraus, die bereits das Thema Behinderung und Menschenrechte aufgegriffen hatten. Ab den 1980er Jahren wurde mit dem Weltaktionsprogramm der Vereinten Nationen (1982) und der Verabschiedung der Rahmenrichtlinien zur Herstellung der Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung (1993) erstmals das Thema Gleichheit und generell die Menschenrechtslage von behinderten Menschen, welche von der Menschenrechtskommission und ihrer Unterkommission in zwei Menschenrechtsberichten zusammengefasst wurde, diskutiert. Jedoch blieb es auch in den 1990er Jahren dabei, dass das Thema Behinderung von den Vertragsorganen für Menschenrechtsabkommen zwar mit einbezogen wurde, dennoch knüpfte man nur an die medizinische Perspektive auf Behinderung an. Diese Erkenntnis erschließt sich aus einer Studie, die seitens des hohen Kommissariats für Menschenrechte in dem Jahr 2000 per Resolution in Auftrag gegeben wurde. Untersucht wurde hier die Entwicklung des internationalen
Menschenrechts im Hinblick auf Menschen mit Behinderung (vgl. Degener 2009, S.201f.). Die verantwortlichen AutorInnen Gerard Quinn und Theresia Degener erklärten nach der Auswertung der Studie ausdrücklich die Notwendigkeit einer UN-Menschenrechtskonven- tion zum Thema Behinderung. Damit wurde auch der Bedarf für eine Fokussierung auf soziale Bedingungen von behinderten Menschen herausgestellt.
Diese vorläufigen Prozesse gaben den Anstoß für die Erarbeitung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Die entscheidende Resolution (56/168) hierfür wurde im Jahr 2001 auf Initiative des Staates Mexiko in der UN-Generalversammlung verabschiedet und der Ad-Hoc-Ausschuss zur Erarbeitung einer Behindertenrechtskonvention eingesetzt (vgl. Degener 2009, S.202). Mit der Unterstützung umliegender Staaten und Neuseeland und insbesondere einer hohen zivilgesellschaftlichen Beteiligung konnte rund fünf Jahre später, im Jahr 2006, die Generalversammlung der Vereinten Nationen einberufen werden und die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung beschließen (vgl. Schulze 2011, S.14).
Die Konvention besteht zum einen aus dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung und zum anderen aus dem Fakultativprotokoll. Letzteres enthält besondere Vorgehensweisen zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Die Staaten, die diesem Beschluss beitreten möchten, können entscheiden, ob sie beide völkerrechtlichen Verträge unterzeichnen und ratifizieren oder nur das Übereinkommen (vgl. Degener 2009, S.202).
Die 50 Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention greifen, wie schon erwähnt, die Menschenrechte auf, die bereits in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verfasst sind, und legen diese auf die Bedingungen von Menschen mit Behinderung aus. Im Folgenden werden die Artikel der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung dargestellt. Solche, die sich als besonders relevant für den Kontext dieser Arbeit erweisen, werden detailliert erläutert.
Die Artikel 1-9 sind als allgemeiner Teil der Behindertenrechtskonvention zu verstehen. Die Bestimmungen, die hier erläutert werden, sind als Basis für die übrigen Artikel der Konvention zu verstehen (vgl. Degener 2009, S.203).
Artikel 1 - Zweck
Artikel 2 - Begriffsbestimmungen
Artikel 3 - Allgemeine Grundsätze
Artikel 4 - Allgemeine Verpflichtungen
Artikel 5 - Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung
Artikel 6 - Frauen mit Behinderungen
Artikel 7 - Kinder mit Behinderungen
Artikel 8 - Bewusstseinsbildung
Artikel 9 - Zugänglichkeit
Zunächst sei erwähnt, dass in der Konvention keine feste Definition von Behinderung enthalten ist. So ist im ersten Artikel der Konvention folgendes festgehalten:
„Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe hindern können “ (Artikel 1 BRK - Behindertenrechtskonvention).
Diese dynamische Beschreibung des Behinderungsbegriffs ist gewählt worden, weil davon auszugehen ist, dass eine Definition von Behinderung abhängig von gesellschaftlichen Vorstellungen ist und sich immer wieder ändert. So bietet diese Darstellung von Behinderung die Möglichkeit, sämtliche Definitionen des Begriffs abzudecken.
Als Kernstück der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist Artikel 3 zu sehen. In den Allgemeinen Grundsätzen ist das Prinzip der „Nichtdiskriminierung“ gefasst, welches sich als Leitprinzip durch den gesamten Vertragstext zieht. So wird immer wieder darauf verwiesen, dass die Rechte von Menschen mit Behinderung gewährt werden müssen, ohne sie auf Grund dieser Behinderung zu diskriminieren. Diese Forderung geht einher mit den Grundsätzen, der „Chancengleichheit“ und „volle[n] und wirksame[n] Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ als auch dem Prinzip der „Zugänglichkeit“ (vgl. Degner 2009, S.205). Wobei der Grundsatz, die Teilhabe an und die Einbeziehung in die Gesellschaft, als Grundlage und Ziel einer inklusiven Praxis zu verstehen ist, die nur unter der Bedingung von Chancengleichheit und dem Abbau von Zugangsbarrieren zu gewährleisten ist (vgl. Lob-Hüdepohl 2010, S.14).
Der Artikel 7 ist im Zusammenhang mit der Inklusion von Jugendlichen und mit dem Aufgabenfeld der Jugendhilfe an dieser Stelle hervorzuheben. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird dieser Artikel in Zusammenhang mit der Praxis der Jugendhilfe gebracht. In Kapitel 4.1 wird dieser Zusammenhang erläutert. Der Artikel 7 geht darauf ein, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen von den Vertragsstaaten bei der Umsetzung der UN-Konvention zu berücksichtigen sind. So muss mit der Umsetzung gewährleistet werden, dass Kinder mit und ohne Behinderung gleichberechtigt in ihren Menschenrechten und Grundfreiheiten sind. Dementsprechend sind Maßnahmen zu treffen, um diese Gleichberechtigung herzustellen. Dabei steht das Kindeswohl allen Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche mit Behinderung betreffen, voran (vgl. Abs.2 BRK). Weiterhin hält der Artikel 7 in seinem letzten Absatz fest, dass Kindern mit Behinderung ihre Meinungsfreiheit in allen sie betreffenden Angelegenheiten gewährt werden muss (vgl. Art. 7 BRK). So muss also von den Vertragsstaaten die Möglichkeit geschaffen werden, dass Kinder und Jugendliche ihre Meinung äußern können und somit ggf. Unterstützung erhalten, sei es auf Grund ihrer Behinderung oder ihres Alters. Berücksichtigt werden die Meinungen von Kindern und Jugendlichen entsprechend ihrem Alter und ihrer Reife.
Der Artikel 8 der Behindertenrechtskonvention sichert die allgemeine Bewusstseinsbildung. Vertragsstaaten sind demnach aufgefordert, ggf. Maßnahmen zu ergreifen, die zur Bewusstseinsbildung hinsichtlich der Achtung, Würde und Rechte von Menschen mit Behinderung beitragen.
Der Artikel 9 der Behindertenrechtskonvention beschreibt die Regelung für barrierefreie Zugangsmöglichkeiten. Dieser Artikel ist ebenfalls von besonderer Bedeutung, weil barrierefreie Zugangsmöglichkeiten ganz wesentlich für den Weg zu einer gleichberechtigten Teilhabe für Menschen mit Behinderung sind. So ist in der UN-Konvention festgelegt, dass ein barrierefreies Umfeld sowie ggf. notwendige Unterstützung gewährleistet werden müssen, um dem Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, Folge zu leisten. Dabei ist der Begriff Barrierefreiheit hier in vielfacher Hinsicht zu verstehen und nicht nur auf bauliche Maßnahmen zu reduzieren. Vorrangig wird in der Konvention auf soziale Barrieren eingegangen, die dazu führen, dass Menschen mit dem Thema Exklusion konfrontiert werden. Wie bereits erwähnt wurde, wird mit dieser Konvention die rein medizinische Perspektive
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[1] Diese Schreibweise wird im Folgenden als Hinweis auf die unterschiedlichen Geschlechter einer Kategorie von Personen übernommen. Eine geschlechtsspezifisch differenzierte Schreibweise wird dort, wo es den Le - sefluss erheblich stört, nicht verwendet.
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