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Bachelorarbeit, 2014
44 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Die Maßzahlen in der Epidemiologie
2.1. Prävalenz, Inzidenz und Mortalität
2.2. Spezifische Suizidraten und Altersstandardisierungen
3. Problemstellung: Suizidraten in Europa
4. Soziologische Theorie: Von Durkheims „Le Suicide“ bis heute
4.1. Emile Durkheim: Soziale Integration und die soziale Ordnung
4.2. Kritik an Durkheim
4.3. Integration, Anomie und sozialer Wandel
4.4. Soziale Integration und geschlechtsspezifische Suizidraten
4.5. Alter und soziale Integration
5. Analyse
5.1. Geschlechtsspezifische Suizidraten
5.2. Altersspezifische Suizidraten
5.3. Zusammenfassung und Interpretation der Zusammenhänge
6. Suizidraten und Soziologie im 20. und 21. Jahrhundert: Fazit
Literaturangaben
Anhang
A) Datenbasis
Aa) Die Todesursachenstatistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Ab) Die Eurostat Online Datenbank (Eurostat)
Ac) Die European Values Study (EVS)
Kurt Cobain, Robert Enke, Robin Williams.
Diese Namen stehen für ein Thema, das in der Öffentlichkeit nur sehr selten diskutiert wird: Suizid. In der Debatte um die Ursachen werden dabei fast immer psychologische Erklärungen gegeben. Konsequent zu Ende gedacht wäre Suizid damit ein rein individuelles Problem. Dabei handelt es sich keineswegs um Einzelfälle, wie es die meist selektive Aufmerksamkeit der Medien nahe legt.
Im Jahr 2010 starben nach Angaben der WHO Todesursachenstatistik 58.847 Menschen in den Staaten der Europäischen Union durch eine vorsätzliche Selbsttötung.1 In der Todesursachenstatistik machte Suizid in diesem Jahr damit etwa 1% aller, bzw. etwa 25% aller externen Todesursachen aus. Folgt man der Annahme der WHO, dass von einem Suizid im Durchschnitt mindestens sechs weitere Personen betroffen sind (vgl. Schmidtke et al. 2012: 50), so verloren im selben Jahr über 353.000 Menschen in der EU eine ihnen nahe stehende Person durch Suizid. Dies legt bereits nahe, dass das Phänomen keine Erscheinung außerhalb der Gesellschaft ist. Welche Bedeutung der soziale Kontext einer Person haben kann, soll daher im Zentrum dieser Arbeit stehen.
Begreift man Suizid in einem größeren Zusammenhang, können mögliche Gemeinsamkeiten untersucht werden. In den folgenden Kapiteln werden zentrale Theorien dargestellt und spezifisch soziologische Fragestellungen zum Suizid behandelt. Um ein besseres Verständnis der folgenden Ausführungen zu gewährleisten, sollen jedoch zunächst die grundlegenden Maßzahlen in der Epidemiologie dargelegt werden.
Epidemiologie ist „die Lehre von dem, was über das Volk kommt“, also die Wissenschaft, die sich sowohl mit dem Auftreten, als auch mit den Ursachen von Krankheiten in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen beschäftigt. Ein Ziel der Epidemiologie ist es, jeder Krankheit mindestens einen Risikofaktor, d.h ein Merkmal zuzuordnen, das dem Krankheitsstatus zeitlich vorangeht. Wo Einflussfaktoren modifizierbar sind, gewährleisten diese Erkenntnisse die Möglichkeit präventiver Maßnahmen (vgl. Charité 2014). Die Maßzahlen, die hier benutzt werden, sind bei der Analyse von Suizidraten auch für die statistische Soziologie bedeutsam. Das sind die Prävalenzrate und die Inzidenz einer Erkrankung in einer Bevölkerung, sowie daraus abgeleitet, die Mortalität. Außerdem soll durch die Anwendung von Standardisierungen eine bessere Vergleichbarkeit unterschiedlicher Gebiete und Zeiträume gewährleistet werden. Warum Standardisierungen jedoch nicht unproblematisch sind, wird in Abschnitt 2.2. ausgeführt.
Die Prävalenz gibt in der Epidemiologie den Anteil von Personen in einer bestimmten Bevölkerung wieder, der eine bestimmte Krankheit aufweist. Somit misst die Prävalenzrate den Bestand von Erkrankten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Suizid muss jedoch als Sonderfall betrachtet werden, da die hier gemessenen Ereignisse im Bereich der Sterblichkeit und nicht im Bereich der Erkrankungen liegen. Sie haben im weiteren Zeitverlauf keinen Fortbestand. Daher ist die wesentliche Maßzahl zur Beschreibung der Suizidrate die Mortalität, die sich aus der Inzidenz ableiten lässt. Die Inzidenz misst die Anzahl der Neuerkrankungen in einer bestimmten Zeit und gibt die „Veränderung des Krankenstandes hinsichtlich einer bestimmten Krankheit in [einer bestimmten] Bevölkerung“ wieder.2 Analog gibt die Mortalität die Sterblichkeit in einem Zeitintervall wieder. In der amtlichen Statistik entspricht dies der Anzahl der Todesfälle je Ursache in einem Jahr, bezogen auf den durchschnittlichen Bevölkerungsumfang (vgl. Hedderich et al. 2012: 172-175). Bei der Darstellung von Suizidraten handelt es sich also um die spezifische Mortalität einer Bevölkerung. Die ermittelte Zahl wird in der Regel als Anzahl von Suiziden pro Jahr je 100.000 Einwohner dargestellt (vgl. Watzka 2008: 28). Diese Maßzahl wird als eine rohe Sterblichkeitsrate bezeichnet, da sie sich undifferenziert auf die Gesamtbevölkerung bezieht. Die rohe Suizidrate ist nichtsdestoweniger ein Vergleichsmaßstab, der eine sinnvolle Relation zwischen der Anzahl von Suiziden und einer betroffenen Bevölkerung herstellt. Um die inhaltlichen Vergleiche zwischen verschiedenen Regionen oder Zeitintervallen zu verbessern, werden die Daten der Todesursachenstatistik aber häufig zusätzlich mit demographischen Merkmalen gewichtet (vgl. Deutsches Ärzteblatt 1986: 98).
Sowohl der Altersaufbau, als auch die Geschlechterverteilung in einer Bevölkerung haben einen starken Einfluss auf die Mortalität. In epidemiologischen Studien ist es daher üblich den Einfluss dieser Faktoren beim Vergleich verschiedener Populationen durch Standardisierungen zu kontrollieren oder mittels spezifischer Suizidraten zu überprüfen. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass die Effekte anderer Faktoren überlagert werden (vgl. Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit 2004: 18). Bei vielen Vergleichen wird deshalb eine Variante der „allgemeinen“ Suizidrate erzeugt. Es handelt sich dann um die spezifischen Suizidraten von Teilpopulationen. Diese spezifischen Raten lassen sich nach den unterschiedlichsten Unterscheidungskriterien bilden. Besonders häufig sind aus oben genannten Gründen geschlechts- und altersspezifische Suizidraten. Hierbei wird die Anzahl der Suizide innerhalb einer ausgewählten Personenkategorie (z.B. die Alterskategorie der 15-24 Jährigen) auf die Gesamtzahl der Personen dieser Kategorie bezogen (vgl. Watzka 2008: 29). Auf diese Weise lassen sich die Häufigkeitsverteilungen bestimmter Personengruppen mit jener der Gesamtbevölkerung vergleichen.
Rechnerisch anspruchsvoller und bei der Analyse von Suiziden auch inhaltlich nicht unproblematisch, ist die Arbeit mit standardisierten Suizidraten. Die in der medizinischen Epidemiologie häufigste Standardisierung wird anhand des Alters vorgenommen (Ebd.: 29). Dabei wird die ermittelte altersspezifische Mortalitätsrate mit der entsprechenden Altersstruktur in einer Vergleichs-, bzw. Standardbevölkerung gewichtet. Die standardisierte Mortalitätsrate entspricht dann der Formel MRSt = ∑(Ni * mri) / ∑(Ni), wobei Ni die Anzahl der Personen in der entsprechenden Altersgruppe i der Standardbevölkerung umfasst und mri der zugehörigen altersspezifischen Mortalitätsrate der untersuchten Bevölkerung entspricht (vgl. Gesundheitsberichtserstattung des Bundes 2014). Hinsichtlich der allgemeinen Mortalität ist dieses Vorgehen sinnvoll, da die Sterblichkeit zweier Populationen durchaus aufgrund deren Altersstruktur variieren kann. Es wird dann angenommen, dass die Sterblichkeit einer Gesellschaft mit dem Anteil der älteren Bevölkerung zusammenhängt. Die unterschiedlichen Mortalitätsraten könnten deshalb „natürlich“ auf die Altersverteilung zurückgeführt werden. Dieselbe Annahme sollte auf spezifische Mortalitätsraten zutreffen, wenn das jeweilige Erkrankungsrisiko mit dem Alter zunimmt. Eine Standardisierung der Suizidrate jedoch sollte nicht unbedacht vorgenommen werden. Neben der bedingten3 Verschleierung der tatsächlichen Suizidhäufigkeit einer Bevölkerung, nennt Watzka (2008: 30f.) zwei weitere Vorbehalte, die es zu bedenken gilt. Einerseits sollte die Standardisierung inhaltlich nicht als Annahme einer Kausalität fehlinterpretiert werden. Die Suizidwahrscheinlichkeit hängt sehr wahrscheinlich in keiner „naturgesetzlichen“ Weise mit dem Alter zusammen. In diesem Zusammenhang besteht auch die rein praktische Gefahr durch methodisch gesenkte Suizidraten die tatsächliche Suizidalität von Personen in einer Region mit vielen alten Menschen – und somit in der Tat eine wesentliche Information für die Suizidprävention – zu verkennen. Andererseits bleibt schlicht zu bedenken, dass nach der Standardisierung mehr oder weniger mit fiktiven Werten operiert wird. Die Ereignishäufigkeit ist nun nämlich mit einer hypothetischen Bevölkerung gewichtet. Es bleibt jedoch unklar, welche Erhebungswerte die Suizidrate und andere Faktoren annähmen, hätte die mit ihnen in Zusammenhang stehende demographische Struktur eine andere Gestaltung. Der Preis für die vordergründige Vergleichbarkeit darf daher nicht die Aufgabe einer wesentlichen Information sein. Die unterschiedlichen Suizidraten in den verschiedenen Altersgruppen verdienen eine eigenständige Begründung. Sofern bei der Analyse von Suizidraten Standardisierungen angewendet werden, sollten diese Einwände Berücksichtigung finden (Ebd.).
Bei der Betrachtung der verschiedenen Suizidraten in Europa fällt auf, dass sie sich mitunter beträchtlich unterscheiden. Die Suizidrate Litauens war mit beinahe 33 Suiziden gemessen an 100.000 Einwohnern im Jahr 2010 die höchste in der Europäischen Union. Sie betrug damit rund das 10-fache der griechischen Suizidrate, die mit etwa 3,3 Suiziden je 100.000 Einwohnern die niedrigste war. Vergleicht man die Suizidraten von 2010 mit den durchschnittlichen Werten der Jahre 1979 bis 2012, scheint diese Verteilung durchaus nicht zufällig zu sein. Bereits im 19. Jahrhundert nahmen Statistiker an, dass die Suizidraten in Europa nach einer geographischen Verteilung variieren. Sie führten ihre Beobachtung auf kosmische, genetische und religiöse Faktoren zurück. Zumindest lassen sich gewisse Regelmäßigkeiten bestätigen. Sowohl für Südeuropa, mit Ausnahme von Frankreich, als auch für die angelsächsischen Staaten lässt sich im Verlauf der Zeit eine durchschnittlich niedrige Suizidrate beobachten. Daneben sind es insbesondere nord- und osteuropäische Staaten, deren Suizidrate besonders hoch liegt. Jedoch ist die Gruppe jener Staaten mit einer durchschnittlich hohen Suizidrate geographisch deutlich heterogener. Die hohen Suizidraten von Ungarn, sowie Estlands, Lettlands und Litauens scheinen zunächst die These eines Ost-West-Gefälles zu stützen. Sowohl die Werte von Frankreich und Luxemburg, als auch jene Belgiens widersprechen dem Befund jedoch. Die Suizidraten dieser Länder sind deutlich höher, als die ihrer Nachbarstaaten. Ebenso verhält es sich für die Verteilung zwischen nord- und südeuropäischen Staaten. Während die Suizidraten des Baltikums und in Skandinavien, sowie in Griechenland, Spanien und Italien für eine Zunahme der Suizide von Süd- nach Nordeuropa sprechen, werfen die relativ hohen Werte von Bulgarien, Kroatien und Frankreich Fragen auf. Auch zwischen den benachbarten Staaten Finnland und Schweden bestehen diesbezüglich offensichtliche Unterschiede. Die Abweichungen belegen, dass die Suizidrate nicht über die geographische Lage eines Landes bestimmt wird. Es sind sehr wahrscheinlich andere Faktoren, die hier ihre Wirkung entfalten (vgl. Bieri 2005: 122f.).
Ein genauerer Blick offenbart, dass auch innerhalb der Gesellschaft nicht alle gleichermaßen suizidgefährdet sind. Sowohl zwischen Männern und Frauen, als auch zwischen verschiedenen Altersgruppen gibt es deutliche Unterschiede. Diese Unterschiede bestehen über Landesgrenzen hinweg. Die Suizidrate der Frauen ist dabei stets niedriger als jene der Männer. In Deutschland beträgt das Verhältnis zwischen den Geschlechtern etwa 1:3 (Frauen:Männer) (Zeit Online 2014).4 Die Suizidraten verschiedener Altersgruppen unterscheiden sich dagegen nicht nur zwischen den einzelnen Staaten, sie weisen auch ungleiche Muster auf. In vielen Staaten, darunter auch in Deutschland, ist die Suizidrate nach dem sogenannten „ungarischen Muster“ (vgl. Schmidtke et al. 2008: 5) verteilt, d.h. sie steigt bis ins hohe Alter fortwährend an. Im Baltikum und in Skandinavien finden sich dagegen Staaten, so etwa Finnland und Litauen, deren Suizidrate bis in die Altersgruppe der 35 bis 54 Jährigen zunimmt, dann jedoch bei der älteren Bevölkerung wieder abnimmt.
Empirische Studien weisen darauf hin, dass etwa 95% aller Suizide in Zusammenhang mit der Diagnose einer Depression stehen. Dennoch kann suizidales Verhalten durch diese Erkenntnis weder zufriedenstellend erklärt, noch vorhersehbar werden. Denn andererseits wurde auch beobachtet, dass etwa 85% aller wegen Depression in Behandlung stehenden Personen niemals versuchten sich selbst tödlich zu verletzen (vgl. Watzka 2008: 39). Damit stellt sich einerseits die Frage, welche Gründe hinter bzw. neben diesen psychischen Problemen liegen, die schließlich zum Suizid führen. Das schließt die Frage ein, warum Suizid manche Personengruppen stärker betrifft als andere.
Andererseits fällt auf, dass sich die Suizidraten trotz ihrer relativen Konstanz über die Zeit entwickeln. Gegenwärtig lässt sich vielerorts ein abnehmender Trend beobachten. Im Jahr 2010 lagen die Suizidraten lediglich in sechs Staaten der EU über ihren Durchschnittswerten von 1979 bis 2012. Das waren die der Slowakei, Rumäniens, Irlands, Portugals, Zyperns5, Polens und Maltas. Die Suizidraten dieser Länder wichen 2010 in einer Spanne von etwa 0,17 (Slowakei) bis 3,75 (Malta) Suiziden je 100.000 Einwohner von ihrem Durchschnitt ab. Dagegen sanken die Suizidraten in allen anderen europäischen Staaten. Gemessen am jeweiligen Landesdurchschnitt dieses Zeitraums sanken sie am stärksten in Estland (-11,3 Suizide je 100.000 Einwohner), Ungarn (-9,75) und Lettland (-9,61).
In der vorliegenden Arbeit soll die These vertreten werden, dass sowohl die Höhe, als auch die Entwicklung von Suizidraten weder zufällig, noch primär individuell begründet sind. Dagegen soll angenommen werden, dass der Suizid in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Indikatoren steht. Eine zentrale Frage wird daher sein, wie sich die Suizidraten in den Staaten der Europäischen Union im Vergleich zu bestimmten sozialen, ökonomischen und demographischen Faktoren verhalten (vgl. zu diesem Teil der Problemstellung Bieri 2005: 12f.). Um die zentralen Faktoren zu bestimmen, sollen zunächst die wesentlichen soziologischen Theorien zum Suizid dargelegt werden. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausprägung und Entwicklung müssen auch die geschlechts- und altersspezifischen Unterschiede beleuchtet werden. Abschließend gilt es, die auf dieser Basis vermuteten Zusammenhänge statistisch zu überprüfen. Dabei soll stets die These im Vordergrund stehen, dass ein etwaiger individueller Lebenssinn immer der Logik des sozialen Gefüges folgt, in das er eingebettet ist. Dies zu zeigen wird neben theoretischen Überlegungen auch ein wichtiger Bestandteil der Analyse sein. Die wesentlichen Fragen dieser Arbeit sind daher die Folgenden:
1. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Werten und Normen in der EU und den Problemlagen von Individuen in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen?
2. Inwiefern bestimmen soziale Indikatoren die Suizidhäufigkeit in den Staaten der EU?
Ein soziologischer Blick auf die Thematik des Suizids legt folglich einen Zusammenhang zwischen sozialen und individuellen Problemlagen nahe, die schließlich zum Suizid führen. Dabei können die sozialen Umweltbedingungen betroffener Individuen über Zeit und Raum variieren, nicht jedoch jene Mechanismen, die als ursächlich bestimmt werden sollen (vgl. Albrecht 2012: 1032). Eine vertiefende Einführung in diese Betrachtungsweise des Suizids soll der folgende Abschnitt gewährleisten. Es werden systematisch soziologische Überlegungen erörtert, um die soziale Dimension von Suizidraten zu beschreiben und zu erfassen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.
Tabelle 1: Ausgewählte Zahlen der Todesursachenstatistik der 28 EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2010 (Absteigend sortiert nach Suizidrate je 100.000 Einwohner). Suizidrate gemäß eigener Berechnung. Quelle: WHO Mortality Database.
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Tabelle 2: Ausgewählte Zahlen der Todesursachenstatistik der 28 EU-Mitgliedstaaten im jährlichen Durchschnitt (Mittelwerte absteigend sortiert nach Suizidrate je 100.000 Einwohner). Suizidrate gemäß eigener Berechnung. Quelle: WHO Mortality Database.
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Tabelle 3: Altersspezifische Suizidraten der 28 EU-Mitgliedstaaten im jährlichen Durchschnitt (Mittelwerte absteigend sortiert nach Suizidrate der über 75 Jährigen je 100.000 Einwohner der Altersgruppe). Suizidrate gemäß eigener Berechnung. Quelle: WHO Mortality Database.
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Tabelle 4: Alters- und Geschlechtsspezifische Suizidraten der 28 EU-Mitgliedstaaten im jährlichen Durchschnitt: Männer. (Mittelwerte absteigend sortiert nach Suizidrate der über 75 Jährigen je 100.000 männl. Einwohner der Altersgruppe). Suizidrate gemäß eigener Berechnung. Quelle: WHO Mortality Database.
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Tabelle 5: Alters- und Geschlechtsspezifische Suizidraten der 28 EU-Mitgliedstaaten im jährlichen Durchschnitt: Frauen. (Mittelwerte absteigend sortiert nach Suizidrate der über 75 Jährigen je 100.000 weibl. Einwohner der Altersgruppe). Suizidrate gemäß eigener Berechnung. Quelle: WHO Mortality Database.
Der statistische Zusammenhang zwischen der Suizidhäufigkeit und sozialen Faktoren wurde von Emile Durkheim bereits in seinem 1897 erschienenen Werk „Le suicide“ festgestellt (vgl. Bieri 2005: 11). Wenngleich nicht als Erster, legt Durkheim in dieser empirischen Untersuchung eindrücklich die Bedeutung sozialer Tatsachen für die Suizidthematik dar.6 Gemäß seiner Einschätzung liegt die Begründung für die Suizidrate einer Gesellschaft außerhalb des individuellen Handelns und ist, begriffen als Folge und Wirkung eines sozialen Zustandes, ausschließlich soziologisch erklärbar (vgl. Durkheim 1983: 346). Der Anspruch einer solchen exklusiv auf sozialen Tatsachen beruhenden Erklärung des Suizids ließ sich zwar damals wie heute nicht erhalten.7 Entscheidend ist jedoch die Erkenntnis, dass Erscheinungen auf der kollektiven Ebene, d.h. soziale Phänomene, ein wesentliches Erklärungspotential hinsichtlich der Höhe und der Entwicklung von Suizidraten in einer Gesellschaft bergen (vgl. Watzka 2008: 48; Bieri 2005: 11). Für die Soziologie ist Durkheims Theorie des Suizids nach wie vor grundlegend und soll im Folgenden kurz ausgeführt werden. Gleichwohl sind seither einige Versuche unternommen worden, dieses theoretische Fundament zu ergänzen und zu vertiefen oder auch in Teilen zu revidieren, die hier ebenfalls Beachtung finden sollen. Das in diesem Abschnitt verfolgte Ziel wird sein, die Grundsätze der sozialwissenschaftlichen Betrachtung des Suizids aufzuzeigen und ihr Potential zu beleuchten.
Im 19. Jahrhundert erfährt der Suizid nach einer langen Episode der Tabuisierung ein gesteigertes Interesse, sowohl in der natur-, als auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Während einige Erklärungsansätze dieser Zeit insbesondere auf organische Hirnstörungen oder eine psychische Bedingtheit von Suiziden fokussieren, stellt Durkheim eine Alternativhypothese entgegen (vgl. Bieri 2005: 22). Beim Vergleich der Suizidraten verschiedener Gesellschaften kommt er zu dem Schluss, dass die Gesamtzahl der Suizide einer einzelnen Gesellschaft nicht einfach „die Summe voneinander unabhängiger Einzelfälle“ darstelle, sondern eine Tatsache sui generis schaffe (vgl. Durkheim 1983: 30). Auf diese Weise betrachtet ist Suizid lediglich scheinbar eine individuelle Handlung, die Suizidrate jedoch vielmehr Indikator der gesellschaftlichen Verfassung und des sozialen Wandels (vgl. Feldmann 2013: 3; Bieri 2005: 28f.). Das bedeutet keinesfalls, dass die Individuen durch die Gesellschaft gesteuert werden. Vielmehr wird hier eine soziale Realität außerhalb der Individuen beschrieben, die sich auf die subjektiven Erfahrungen der Einzelnen auswirkt (vgl. Taylor 1982: 18f.). Um die Suizidrate als soziales Phänomen zu erklären rückt Durkheim daher das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Theorie. Von einem späteren Autor zusammengefasst, wird Suizid in einer Gesellschaft dann häufig, „wenn das Leben des Einzelnen in der Gemeinschaft [...] wenig Bedeutung hat“ (vgl. Watzka 2008: 49). Das anthropologische Konzept dahinter begreift den Menschen als ein Wesen, dessen Bedürfnisse gesellschaftlich geregelt werden müssen (vgl. Feldmann 2013: 5). Gemäß diesen Einschätzungen orientiert Durkheim seine Suizidtypologie an zwei Konzepten, die im Wesentlichen das eben genannte Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beschreiben. Die Integration der Einzelnen in die Gesellschaft einerseits, sowie ihre soziale Regulierung andererseits seien die entscheidenden Faktoren, die die Suizidrate beeinflussten (vgl. Bieri 2005: 29). Beide Konzepte sind dabei durch den Antagonismus zweier Kräfte charakterisiert. Das Kontinuum sozialer Integration reicht von Egoismus bis Altruismus, wohingegen die soziale Ordnung eine mangelhafte (Zustand der Anomie) oder aber übermäßige Regulierung8 der Individuen bewirken kann. Befinden sich diese polaren Kräfte im Gleichgewicht, so sind auch die betroffenen Individuen relativ geschützt vor Suizid. Je unausgewogener jedoch die Auswirkungen dieser Kräfte auf eine gesellschaftliche Gruppe sind, desto größer wird dort die Suizidgefahr (vgl. Taylor 1982: 20).
Um seine Thesen zu stützen untersucht Durkheim die Suizidhäufigkeiten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und stößt auf „einen Zusammenhang der Suizidrate mit dem Grad der gesellschaftlichen Integration durch Kirche, Familie und Staat“ (vgl. Bieri 2005: 30). Es zeigt sich, dass die Suizidrate bei Protestanten, Unverheirateten und kinderlosen Ehepaaren vergleichsweise hoch ist. Eine Erklärung hierfür sieht Durkheim in größeren individuellen Freiheiten innerhalb dieser Personengruppen, sowie einer geringeren gesellschaftlichen Einbindung gegeben.9 Politische Krisen führten dagegen zu einem Rückgang der Suizidraten aufgrund verstärkten gesellschaftlichen Zusammenhalts (Ebd.: 29). Durkheim folgert, dass „der Selbstmord im umgekehrten Verhältnis zum Grad der Integration der sozialen Gruppen, denen der einzelne angehört [variiert]“ (vgl. Bieri 2005: 30; Durkheim 1983: 232; Sainsbury 1955: 22). Diesem, durch übermäßige Individuation hervorgerufenen „egoistischen Selbstmord“ stellt Durkheim den „altruistischen Selbstmord“ gegenüber, den er als mögliche Folge unterentwickelter Individualität, beispielsweise in primitiven und traditionellen Gesellschaften, aber auch in der modernen Armee, versteht (vgl. Bieri 2005: 30). Bei der Analyse von Konjunkturschwankungen in Preußen und Italien stellt Durkheim schließlich fest, dass auch zwischen der ökonomischen Entwicklung und der Höhe der Suizidraten Parallelen bestehen. Sowohl wirtschaftliche Krisenzeiten, als auch Phasen des Aufschwungs gingen mit einem Anstieg der Suizidraten einher. Gemeinsam mit einem bereits 1862 nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Suizid- und Scheidungsraten sieht Durkheim damit seine Annahme bekräftigt, dass Störungen der sozialen Ordnung und Zustände mangelnder gesellschaftlicher Regulierung eine Steigerung der Suizidrate einer Gesellschaft bewirken. Der durch soziale Unordnung und daraus folgender moralischer Orientierungslosigkeit hervorgerufene Suizid wird von Durkheim als „anomischer Selbstmord“ benannt. Wenngleich diese drei Suizidtypen zusätzlich durch den „fatalistischen Selbstmord“ (soziale Überregulierung) ergänzt werden, misst Durkheim dem aus Egoismus resultierenden Suizid in der Moderne die größte Bedeutung für die jährlichen Suizidraten bei. Der anomische Suizidtyp verweist dagegen auf Zeiten gesellschaftlicher Krisen bzw. sozialen Wandels. Demnach ist ein abrupter Anstieg der Suizidrate zu erwarten, der von ihrer gesellschaftstypischen Entwicklung abweicht (vgl. Bieri 2005: 30f.; Durkheim 1983: 279 u. 419). Die Typen des Fatalismus und Altruismus sind für Durkheims Theorie insofern bedeutend, als sie zur Erklärung paradox erscheinender Effekte der beiden sozialen Kräfte auf die Suizidrate herangezogen werden können. Übermäßige soziale Integration befördere den Suizid, sollten die sozialen Normen den Suizid bestimmter Gruppen begünstigen.10 Dagegen könnten maßlose soziale Normen die Individuen betroffener Gruppen derart beschränken, dass die Suizidraten dieser Gruppen trotz ausreichender Integration vergleichsweise hoch ausfielen (vgl. Maris 2000: 243f.).
[...]
1 Die Berechnung umfasst alle 28 heutigen Mitgliedstaaten. Somit ebenfalls Kroatien, das erst seit 2013 Mitglied der Union ist (vgl. Europäische Union 2014). Die Zahlen und Fakten der Todesursachen ergeben sich aus der WHO Todesursachenstatistik (vgl. World Health Organization 2014).
2 Dabei wird unterschieden zwischen der kumulativen Inzidenz und der Inzidenzrate. Da diese Unterscheidung jedoch für die Herleitung der Suizidrate nicht wesentlich ist, wird sie an dieser Stelle ausgespart. Eine Erläuterung geben Hedderich et al. (2012: 174).
3 Kennt man die der Berechnung zugrunde liegende Standardbevölkerung, so lässt sich die tatsächliche Anzahl der Suizide durchaus ermitteln. In der Gesundheits- und Todesursachenstatistik ist dies die „alte Europa-Standardbevölkerung“ von 1966 (vgl. Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit 2004: 19)
4 Wenngleich sich die Tendenz höherer Suizidraten in der männlichen Bevölkerung für ganz Europa nachvollziehen lässt, ist auch diese Tatsache kontextgebunden. In China beispielsweise findet sich ein umgekehrtes Verhältnis (vgl. Watzka 2008: 33)
5 Wobei Zyperns Suizidrate einerseits ohnehin niedrig und andererseits bisher erst für zehn Jahrgänge in der WHO Todesursachenstatistik verfügbar ist.
6 Als Durkheim seine Studie begann, lagen bereits einige Untersuchungen zu den Zusammenhängen zwischen Suizidraten und verschiedenen sozialen Faktoren vor. Wesentlich bedeutender als seine empirischen Erkenntnisse, die zu einem großen Teil bereits bekannt waren, war sein Versuch sie alle durch eine konsistente soziologische Theorie zu erklären (vgl. Giddens 1971: 38).
7 Dies war von Durkheim zumindest in der später oft unterstellt radikalen, bzw. (sozial-)„deterministischen“ Form auch gar nicht beabsichtigt (vgl. Taylor 1982: 36-38).
8 Wobei Durkheim die Problematik übermäßiger Regulierung sehr wahrscheinlich nur aufgreift um seine Typologie zu vervollständigen. Der entsprechende „fatalistische Selbstmord“ findet sich nur in einer Fußnote, während die anderen Suizidtypen in jeweils eigenständigen Kapiteln behandelt werden (vgl. Bieri 2005: 31; Maris 2000: 243).
9 Beispielsweise seien Protestanten in Krisensituationen daher mehr auf sich allein gestellt (sozusagen „allein vor Gott“) und weniger sicher vor Suizid als Katholiken (vgl. Taylor 1982: 13 f.)
10 Es besteht dann gleichsam eine „Verpflichtung“ zum Suizid (vgl. Ajdacic-Gross 1999: 39).