Magisterarbeit, 2008
129 Seiten, Note: 1,3
Medien / Kommunikation - Public Relations, Werbung, Marketing, Social Media
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Axiomatische Fundierung
2.1 Einordnung von Karl Bühlers wissenschaftlicher Ausrichtung
2.2 Die Axiomatik Bühlers
2.3 Die Zukunft der Psychologie und die Schule oder „Die Axiomatik des Menschseins"
2.3.1 Erste Richtung
2.3.2 Zweite Richtung
2.3.3 Axiom 1 - Das lebendige Individuum handelt
2.3.4 Axiom 2 - Das Leben ist begrenzt in Raum und Zeit
2.3.5 Axiom 3 - Die Findigkeit und das schaffende Verhalten
2.3.6 Axiom 4 - Die Fortpflanzung
2.3.7 Axiom 5 - Das Gemeinschaftsleben
2.3.8 Axiom 6 - Das Formproblem
2.3.9 Axiom 7 - Das Signalwesen
2.3.10 Fazit
2.4 Sprachtheorie
2.4.1 Axiom A: Das Organonmodell der Sprache
2.4.2 Axiom B: Die Zeichennatur der Sprache
2.4.2.1 Aliquid stat pro aliquo und das Prinzip der abstraktiven Relevanz
2.4.3 Axiom C: Sprechhandlung und Sprachwerk; Sprechakt und Sprachgebilde
2.4.3.1 Sprechhandlung
2.4.3.2 Sprachwerk
2.4.3.3 Sprachgebilde
2.4.3.4 Sprechakt
2.4.4 Axiom D: Das S-F-System (Symbol-Feld-System) vom Typus Sprache
2.4.5 Fazit
3. Gerold Ungeheuers kommunikationstheoretischer Ansatz
3.1 Anthropologische Komponente (M)
3.2 Soziologische Komponente (H)
3.3 Die semiotische Komponente (Z)
3.4 Fazit
4. Die Psychologie der persönlichen Konstrukte
4.1 Korollarium der Konstruktion
4.2 Korollarium der Individualität
4.3 Korollarium der Organisation
4.4 Korollarium der Dichotomie
4.5 Korollarium der Wahl
4.6 Korollarium des Bereichs
4.7 Korollarium der Erfahrung
4.8 Korollarium der Veränderung
4.9 Korollarium der Fragmentierung
4.10 Korollarium der Gemeinsamkeit
4.11 Korollarium der Teilnahme am sozialen Prozess
4.12 Fazit
5. Neues Wissen
6. Die Metapher
6.1 Die kognitive Metapherntheorie
6.1.1 Die Ubiquitätsthese
6.1.2 Die Domänen-These
6.1.3 Die Modell-These
6.1.4 Die Diachronie-These
6.1.5 Die Unidirektionalitäts-These
6.1.6 Die Invarianz-These
6.1.7 Die Notwendigkeits-These
6.1.8 Die Kreativitäts-These
6.1.9 Die Fokussierungs-These
6.1.10 Fazit
7. Marke
7.1 Kurzer historischer Abriss
7.2 Markenansätze
7.2.1 Der instrumentelle Ansatz
7.2.2 Der funktionsorientierte Ansatz
7.2.3 Der imageorientierte Ansatz
7.2.4 Der technokratisch-strategische Ansatz
7.2.5 Der fraktale Ansatz
7.2.6 Der identitätsorientierte Ansatz
8. Handlungsplan
8.1 Skizzierter Fragebogen zur Ermittlung der Selbstsicht
8.2 Skizzierter Fragebogen zur Ermittlung der Fremdsicht
8.3 Auswertung der Selbstsicht
8.4 Auswertung der Fremdsicht
8.5 Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit
9. Strategie
9.1 Der Slogan
10. Gesamtfazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Das Organonmodell der Sprache (Bühler 1999, 28)
Abb. 2: Das Vierfelderschema in Anlehnung an Bühler (1999, 48ff)
Abb. 3: Exemplarisches Konstrukt in Anlehnung an Ewen (1988, 346)
Abb. 3: Die Übertragung vom Ursprungsbereich in den Zielbereich
Abb. 4: Der Rückgriff vom unbekannten Zielbereich auf einen bekannten Ursprungsbereich
Abb. 5: Markendefinitionen nach Bünte (2005,18f)
Abb. 6: Stärken aus Sicht des Unternehmens Sysmeditec
Abb 7: Präsenz in der Öffentlichkeit aus Sicht des Unternehmens Sysmeditec
Abb. 8: Stärken aus Sicht der externen Bezugsgruppen
Abb. 9: Präsenz in der Öffentlichkeit aus Sicht der externen Bezugsgruppen
Abb. 10: Erwartungen an das Unternehmen aus Sicht der externen Bezugsgruppen
Abb. 11: Der Rückgriff vom unbekannten Zielbereich Sysmeditec auf einen bekannten Ursprungsbereich (Er-)Füllung
Das übergeordnete Thema der vorliegenden Arbeit ist die Diskussion von Methoden zur Herstellung einer Markenidentität für ein Unternehmen. Die Markenidentität beinhaltet alle Merkmale, in denen sich eine Marke von anderen dauerhaft unterscheidet. Ihre Stärke hängt wesentlich von der Übereinstimmung zwischen dem Selbstbild eines Unternehmens und der Wahrnehmung des Unternehmens durch Außenstehende (d.h. seiner Fremdwahrnehmung) ab. Ein Teil dieser Markenidentität wird durch den Namen des Unternehmens bestimmt. Im Rahmen dieser Arbeit soll für den Namen eines Unternehmens eine gewünschte Bedeutung entstehen, die es im Vorfeld zu bestimmen und sodann an die Bezugsgruppen zu vermitteln gilt.
Zu diesem Zweck werden wir uns mit der Frage befassen, wie einem neuen, noch nie da gewesenen Begriff (dem Firmennamen) eine spezielle Bedeutung zugewiesen werden kann und auf welchem Weg sich dieses neu Entstandene in einer Sprachgemeinschaft verfestigen kann. Der Weg zu diesem Ziel führt nur über Kommunikation. Die von Gerold Ungeheuer (1987) formulierte Innen- Außen-Dichotomie, durch die Kommunikationsprozesse charakterisiert sind, wird in dieser Arbeit einen Schwerpunkt bilden und als zentraler Bestandteil in verschiedenen Zusammenhängen und unterschiedlichen Erscheinungsformen thematisiert werden.
Da bei der Herstellung einer Markenidentität Kommunikation zwischen Individuen stattfindet, werden wir im Kapitel 2.4 zunächst mit Karl Bühler einige grundsätzliche psychologische Annahmen über den Menschen vorstellen und uns im weiteren Verlauf der Arbeit mit der Sprache und ihrer Rolle für die Kommunikation des Menschen befassen. Mit Gerold Ungeheuer stellen wir weiterhin die Notwendigkeit von Kommunikation zur Überwindung der Innen- Außen-Dichotomie heraus. Ein Schwerpunkt dieses kommunikationstheoretischen Ansatzes ist die von Ungeheuer so bezeichnete individuelle Welttheorie, die wir, nachdem wir sie in ihren Grundannahmen skizziert haben, mit Hilfe eines psychologischen Ansatzes weiter spezifizieren werden. Am Beispiel der „Psychologie der persönlichen Konstrukte" von George A. Kelly (1955) werden wir zeigen, auf welche Weise auf die individuelle Welttheorie gezielt Einfluss genommen werden kann. Dieses Instrument beschreiben wir auf der Grundlage der kognitiven Metapherntheorie von Lakoff und Johnson (1980) näher. Die gewonnenen Erkenntnisse werden im Kapitel 7 exemplarisch zur Anwendung kommen. Hierzu wird ein Projekt zur Herstellung einer Markenidentität entworfen und seine mögliche Umsetzung anhand des Fallbeispiels eines existierenden Unternehmens beschrieben.
Zu Beginn werden wir zunächst grundlegende Annahmen sowohl über den Menschen als auch über die Sprache treffen. Es handelt sich um Grundsätze, die aus dem Bestand der (Sprach-) Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts mittels Reduktion zu gewinnen waren. Bühler nennt das Ausformulieren der Grundsätze in Anlehnung an Hilbert ein „Tieferlegen der Fundamente" (Bühler 1999, 20). Sie seien zu verstehen als „[...] rein phänomenologische Explikation oder als eine erkenntnistheoretisch (und ontologisch) neutrale Fixierung von Grundsätzen [...]" (Bühler 1999, 20), die ein System von Axiomen bilden. Axiome sind keine Theorien, sondern eher bedingende Voraussetzungen einer solchen. Sie werden ohne Beweis als basal vorausgesetzt und werden als in sich einsichtige und unbestreitbare Grundsätze angenommen. Axiome liegen einer Theorie zugrunde. Mithilfe der vorangestellten Axiome werden wir in Ansätzen aufzeigen, wie der Mensch konstituiert ist und wie er mit seiner äußeren Umwelt in Wechselwirkung steht. Weiterhin beschreiben und bestimmen wir bestimmte Aspekte der Ordnung und Leistung der menschlichen Sprache. Die Axiome dienen als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen dieser Arbeit.
Karl Bühler stellt Axiome an den Beginn seiner Arbeiten „Die Zukunft der Psychologie und die Schule" (1936) und „Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache" (1934). Seine Axiome legen psychologische und sprachwissenschaftliche Fundamente erstmalig explizit frei.
Bühlers Axiome setzen einige Grundannahmen für unsere weitere Vorgehensund Betrachtungsweise voraus und geben damit einen umfassenden Überblick über den gesamten Gegenstandsbereich. Bühler setzt seine Axiome als Ausgangspunkt jeglicher weiterer Überlegung.
„Axiome sind die konstitutiven, gebietsbestimmenden Thesen, es sind einige durchgreifende Induktionsideen, die man in jedem Forschungsgebiete braucht." (Bühler 1999, 21)
Die Quellpunkte für die Axiome seiner Sprachtheorie findet Bühler in den Vorarbeiten der Sprachforschung und deren Einsichten. Sprachforschung setzt sich aus allen wissenschaftlichen Disziplinen zusammen, die Sprache zum Untersuchungsgegenstand haben. Die gesamten daraus resultierenden Ergebnisse werden auf einen Grundkanon reduziert und als neutraler Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen verwendet.
Eine axiomatische Vorgehensweise lässt sich in vielen Werken Bühlers feststellen. „Die Krise der Psychologie" wurde 1927 herausgegeben. Karl Bühler wollte nach eigenem Bekunden (Bühler 1927, 1) mit diesem Werk zunächst nichts anderes als einen konstruktiven Vorschlag liefern, wie man die Methodenkrise der Psychologie in den zwanziger Jahren überwinden könnte. Anhand des Phänomens der Sprache zeigt er mit dieser Arbeit die Unzulänglichkeiten und Probleme der zu dieser Zeit vorherrschenden einzelnen psychologischen Methoden auf. Seine ausführlichen Erläuterungen liefern elementare Grundlagen für die moderne Sprach-, Zeichen- und Kommunikationswissenschaft.
In der „Krise der Psychologie" geht es in weiten Teilen um die Frage nach dem Ursprung der Sprache, die Bühler dazu verwendet, die drei damals vorherrschenden Strömungen der Psychologie, die Erlebnispsychologie, den Behaviorismus und die geisteswissenschaftliche Psychologie als Einheit zu betrachten. In seiner 1934 erschienenen Sprachtheorie befasst Bühler sich - wiederum in axiomatischer Vorgehensweise - mit der Frage nach der Ordnung der menschlichen Sprache. Hier stellt Bühler vier Axiome auf, mit denen die Sprache nicht nur systematisch betrachtet, sondern auch hinsichtlich ihrer sozialen Funktion verstanden werden kann.
In Bühlers 1936 erschienenem Text „Die Zukunft der Psychologie und die Schule" geht es - wie wir es nennen wollen - um eine Axiomatik des Menschseins. Mithilfe von sieben Grundannahmen gelingt es Bühler eine umfassende Betrachtung des Menschen zu formulieren.
Wir werden im Folgenden zuerst auf die Axiomatik des Menschseins sowie auf die Axiomatik der Sprachtheorie eingehen und anschließend, den Einsichten und Ergebnissen Bühlers folgend, versuchen, diese für unseren Gegenstandsbereich fruchtbar zu machen und als methodische Grundlage einzusetzen.
In folgendem Abschnitt befassen wir uns mit Karl Bühlers Text „Die Zukunft der Psychologie und die Schule"[1], in dem grundsätzliche Annahmen über das Menschsein formuliert sind.
Wir stellen mit Karl Bühler vorab die Frage nach den Gegenständen der Psychologie. Hierauf hält Bühler zwei Antworten bereit. Er differenziert zunächst zwischen philosophischer Psychologie und Erlebnispsychologie. Zum einen beschäftigte sich die philosophische Psychologie, deren bekanntester Vertreter Aristoteles war, mit der Seele als dem Prinzip des Lebens. Der philosophischen Psychologie stellt Bühler die Erlebnispsychologie gegenüber, die einst durch Augustinus angedeutet und unter anderem durch den französischen Philosophen René Descartes, Hobbes und andere programmatisch ausgestaltet wurde. Sie galt tendenziell als die neuere Psychologie und wurde vertreten durch Namen wie Lotze, Fechner und Wundt. Ihr zufolge bildet die Seele das Bewusstseinsprinzip - die res cogitans (Bühler 1936, 3).
Betrachtet man diese Differenzierung genauer, so stellt man fest, dass die Psychologie einen Umbruch erfahren hat: Von der Wissenschaft des sinnvollen Lebens wurde sie zur Lehre von den Bewusstseinsvorgängen. Die Folge dieses Wandels war die Entstehung einer unüberschaubaren Anzahl verschiedener psychologischer Richtungen.[2]Bühler ist aber der Auffassung, dass diese zum Teil grundlegend divergierenden Richtungen nur als Ganzheit zu betrachten seien, denn
„(...) wer die Bewusstseinszustände ihrem Mutterboden, den Vorgängen des Lebens, entzieht, der macht sie saft- und kraftlos. Und wer sie löst von den Dingen, loslöst von der Bestimmung des Menschen, der macht sie sinnleer." (Bühler 1936, 4)
Ferner sei, so Bühler, die Psychologie mit weiteren Wissenschaftsdisziplinen eng verwachsen.
Auf Seite der Naturwissenschaften spielen die Biologie und die Medizin eine tragende Rolle, und auf der Seite der Geisteswissenschaften gehören Disziplinen wie Sprache, Recht und Staat, Kunst, Religion und andere dazu. Bühler sieht diese beiden Strömungen als eng miteinander verbunden:
„Unaufhebbar ist nach meiner Auffassung die Verflechtung der Psychologie nicht mit einer, sondern mit zwei Gruppen von Wissenschaften, mit der Biologie und der Medizin auf der einen Seite und mit den Geisteswissenschaften auf der anderen. Die Psychologie ist endständig wie eine Blüte am Stamm der biologischen Wissenschaften; denn die Lehre von den Tieren ist unvollendet, solange das Kapitel vom sinnvollen Verhalten des Tieres fehlt, des sinnvollen Verhaltens in allen Lebenssituationen, denen das Tier gewachsen ist. Und das ist ein Stück echter Psychologie. Gleichzeitig ist aber die Seelenkunde verwachsen mit jener anderen Gruppe von Wissenschaften, die es zu tun haben mit Sprache, Sitte, Recht und Staat, Kunst, Religion usw.; ich meine die Geisteswissenschaften. Die Psychologie ist grundständig sozusagen im Reiche der Geisteswissenschaften." (Bühler 1936, 4)
Die Psychologie sei durch diese unaufhebbare Verflechtung sowohl auf den Bereich der Lebenswissenschaften - wie Bühler sie nennt - als auch auf den Bereich der Geisteswissenschaften angewiesen.
Wir können also von zwei Richtungen sprechen, die wir nun näher betrachten werden.
Zunächst soll als Ausgangspunkt der Überlegungen die Frage gestellt werden, was die Psychologie für die Geisteswissenschaften leisten kann.
Sie kann die Eigenschaften des Menschseins bestimmen und aufzeigen. Eine wesentliche Eigenschaft des Menschen ist seine Sprachfähigkeit. Der Mensch hat - im Gegensatz zu anderen Lebewesen - Zugang zum Reich der Symbole, oder wie Bühler unter Bezugnahme von Cassirer sagt, „zum Reich der symbolischen Formen" (Bühler 1936, 5), mit denen der Mensch umgehen kann.
„Voll bis zum Rande mit symbolischen Gebilden ist der Lebensraum, den die Menschen schaffen und ausgestalten, und der Quellpunkt aller Symbolik ist die Sprache. Darum beginnt die wahre, die höhere Menschwerdung des Kindes in jenem einzigartigen und unwiederholbaren Augenblick um die Wende vom ersten zum zweiten Lebensjahr, wo seine Lal- laute zu Namen für die Dinge werden, ein Erwachen, eine Entfaltung, die bei keinem Tiere bis heute gefunden worden ist. Aus dem gleichen Grunde beginnt auf höherer Ebene das Werk der Schule am Kinde in jenem zweiten fruchtbaren Augenblick, wo es aus sich heraus reif geworden ist und danach verlangt, aufgenommen zu werden in die Gemeinschaft derer, die Lesen und Schreiben und mit Ziffern, den Symbolen der Zahlen, sachgerecht umgehen können." (Bühler 1936, 5)
Der Lebensraum, die Umwelt, in der sich der Mensch bewegt, ist also reich an Symbolen. Aussagekräftige und eindeutige Symbole haben die Fähigkeit, als Orientierungsgröße zu dienen:
„Noch einmal aus gleichem Grunde üben wir den Geist des Kindes in der Schule, indem wir es einführen in das Verständnis der Struktur seiner Muttersprache und wo es angeht, in das Verständnis der Struktur dazu besonders geeigneter Fremdsprachen." (Bühler 1936, 5)
„Zum vollendeten Homo sapiens wird der junge Mensch in dem Maße, wie er Einblick erhält in die Struktur der Symbolsysteme (vom Typus Sprache) und sie praktisch zu beherrschen vermag" (Bühler 1936, 5, Klammer gesetzt durch d. Verfasser).
Die Psychologie lehrte uns an dieser Stelle, dass zur Menschwerdung das Erlernen und der Umgang mit den Symbolen gehören. Denn aus dieser Fähigkeit resultiere die Möglichkeit des Menschen, sich in seinem Lebensraum orientieren und zurechtfinden zu können. Der Mensch sei also fähig, Symbole zu erlernen. Für Bühler ist ein Symbol ein sprachliches Zeichen, welches Gegenstände und Sachverhalte darstellt. Er beschreibt das Sprachzeichen als „[...] Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten [...]" (Bühler 1999, 28). Das Unternehmen mit all seinen Eigenschaften kann mittels Symbolen vermittelt werden. Hierzu muss eine geeignete Kommunikationsstrategie gefunden werden (dazu mehr in Kapitel 9).
Neben der Beherrschung der symbolischen Formen gehört für Bühler noch eine weitere Eigenschaft zum Menschsein, nämlich der Werkzeuggebrauch, der allerdings in sehr einfachen Formen auch schon beim Tier zu finden ist. In einer höher entwickelten Form betrachtet Bühler auch die Sprache des Menschen als ein Organon, d.h. als ein Werkzeug. Wir werden in Kapitel 2.4.1 näher auf die Idee der Sprache als Werkzeug eingehen.
Der Blickwinkel hier ist die aristotelische, antike Sichtweise. Es geht um das ,,sinnvolle Verhalten der Lebewesen, der Tiere und des Menschen." (Bühler 1936, 7)
Während bei Aristoteles noch von den beseelten Menschen gesprochen wurde, betrachtete Descartes den menschlichen Körper als nichts anderes als eine Maschine:
„Im Menschenleibe ist an bestimmter Stelle (ein bisschen vergröbert in meiner Polemik gesehen: wie in einem Kabriolett) die res cogitans untergebracht. Sie erhält durch die Sinne im bescheidenen Maße Nachrichten vom Körpergeschehen und schickt ebenso in beschränktem Maße Richtungsimpulse in das sonst maschinelle Geschehen des Körpers hinein. Wie das zugeht und nach welchen Grundgesetzen hinüber und herüber zwischen Körpermaschine und dem Bewusstseinsprinzip, das versuchte darzulegen und zu erläutern eine Wissenschaft, mit der man nie recht fertig geworden ist, die sogenannte Psychophysik." (Bühler 1936, 7)
Diese Lehre von der Annahme eines Sitzes der Seele im Maschinenkörper ist für Bühler unzulänglich (Bühler 1936, 7), und so folgen wir Bühler weiter, wenn er die aristotelische Sichtweise aus den Augen eines modernen Menschen betrachtet und seine - wie wir sie nennen wollen - Axiomatik des Menschseins aufstellt.
Im einfachsten vorzustellenden Fall handelt der Mensch aus einer inneren Motivation heraus, welche sich an äußeren Gegebenheiten orientiert. Als allgemeines Schema spricht Bühler an dieser Stelle vom „Situationsmodell der Handlung, wonach das sichtbare Geschehen von einem Außen- Innenfaktor zugleich bestimmtwird." (Bühler 1936, 7)
Was den Außenfaktor betrifft, ist es besonders interessant festzuhalten, dass sich das Individuum mittels sogenannter orientierter Bezugswendungen stets weg vom Ungünstigen hin zum Günstigen bewegt. Diese Wendungen ließen sich mit Hilfe einer systemeigenen Orientierung des Individuums erklären (vgl. Bühler 1936, 9). Die orientierte Bezugswendung ist somit Bestandteil jeder Handlung, ja ist im Grunde genommen als Ausgang jedes Handelns zu erachten:
„Sie (die orientierte Bezugswendung) erfolgt als erstes bei den sogenannten Reaktionen, sie erfolgt später, wenn ein inneres Bedürfnis den ersten Anstoß zum handeln gibt und dann die Gelegenheit gesucht werden muss." (Bühler 1936, 9, Klammer gesetzt durch d. Verfasser)
Bühler unterscheidet zwei Typen innerer Bedürfnisse. Beim ersten Typus spricht er vom Bedarf, den der eigene Körper signalisiert. Dazu gehören Dinge wie Nahrung und Wasser, die unser Organismus zum Leben benötigt. Als Beispiel nennt er Hunger und Durst und ihre körperlichen Indikatoren wie z.B. eine vertrocknete Schleimhaut als Indikator für den Bedarf an Wasser, empfunden als Durst. Diesen ersten Typus innerer Bedürfnisse nennt Bühler die Hungerklasse. Der zweite Typus ist dagegen von anderer Struktur. Bühler spricht hier von Bedrängnissen, zu denen beispielsweise Angst und Sorge zählen - die sogenannte Angstklasse. Bühler führt als Beispiele Bedürfnisse wie Liebe oder Kampf an. Da diese Bedürfnisse aber immer ein zweites Individuum benötigen, sind sie im Gegensatz zur Hungerklasse und der Angstklasse im Bereich des Sozialen zu verorten und fordern daher neue Ansätze für den Psychologen. Wir werden sie hier vernachlässigen.
Der erlebte Bedarf ist nicht isoliert zu betrachten, sondern stellt einen Impuls zum Handeln dar, um eine Veränderung der aktuellen Situation herbei zu führen. Somit ist die Brücke von den Bedürfnissen zu den Trieben geschlagen, denn „[...] das erlebte Bedürfnis ist in der Mehrzahl der Fälle keine kalte Bedarfsanzeige, sondern es trägt in sich einen Impuls und es treibt zum Handeln. Durst sagt mit starkem Appell: Mach etwas Bestimmtes. Und so jedes andere Bedürfnis in seiner Art." (Bühler 1936, 10). Wiederholt und mehrfach auftretende Bedürfnisse zählt Bühler somit zu den Trieben. Das Zusammenwirken der äußeren und inneren Faktoren nennt Bühler den „Zweifaktoren-Ansatz der tierischen und menschlichen Handlung" (Bühler 1936, 10).
Aber wie genau wirken die äußeren und inneren Faktoren zusammen? Wo ist die Verbindung zu suchen und wie ist die Interaktion zwischen beiden Faktoren beschaffen? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, unternehmen wir zusammen mit Bühler einen Vergleich mit dem Gebiet der menschlichen Wirtschaft. Hier gilt das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Dieses Prinzip findet seinen Ausgang im Urbild des „handelnden Individuum(s), das entweder von innen bedrängt nach äußeren Gelegenheiten sucht oder im anderen Falle, wo eine Gelegenheit lockt, zuerst die Bedürfnisfrage erhebt und ordentlich beantwortet, bevor es handelt" (Bühler 1936,11).
Sowohl der Bereich der menschlichen Wirtschaft als auch das psychophysische System des Menschen folgen dem Prinzip des Angebots und der Nachfrage. Während in der menschlichen Wirtschaft Marktplätze, Markttage und - als deren moderne Weiterentwicklungen - die Börsenplätze dieser Welt zur Verfügung stehen, so finden sich nach Bühler auch im psychophysischen System des handelnden Menschen Börsenstellen und eine „[...] eigene Klasse von Erlebnissen, an welchen dieses Abmessen, Abwerten zum Vorschein kommt" (Bühler 1936,11).
Seine Annahme belegt Bühler mit den Erkenntnissen aus der physiologischen Forschung und der Gehirnpathologie. Als Beispiel führt er das Wärmeempfinden in unterschiedlichen Ausgangslagen an:
„Haben sie je erlebt, oder, was wichtiger ist, sich darüber gewundert (denn die Verwunderung steht immer am Ausgange einer neuen Erkenntnis) daß Sie ein und der selbe Windhauch oder dieselbe Schattenstelle zweimal ganz verschieden anmutete? Beide Male kühl, aber das eine Mal äußerst angenehm kühl, man fühlt sich wohlig, und das andere Mal gewiß nicht angenehm, sondern unangenehm und unerwünscht kühl, man fröstelt. Sie wissen, unter welchen Umständen das eine und das andere zu erwarten ist. Es kommt auf den Wärmezustand unseres Körpers an." (Bühler 1936,12)
Bühler spitzt das Beispiel weiter zu, indem er von Patienten spricht, bei denen Teile des Gehirns (hier: Thalamus opticus) gestört sind, und weiter mit Theodor von Brücke zeigt:
„Einfache Empfindungen, wie Wärme oder Berührungen, können (solchen Thalamus-Patienten) intensiv lust- oder unlustbetont erscheinen, u. zw. erstreckt sich diese abnorme Gefühlsbetonung mitunter nur auf die durch den Thalamus-Herd erkrankte Körperhälfte (das ist ... . die zum Herd gekreuzte Körperhälfte)." (Bühler 1936,12)
Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass analog zur menschlichen Wirtschaft auch der Körper Prinzipien folgt, die abhängig von der gegebenen (Körper-) Situation sind. Für Bühler ist es unumgänglich, dass die menschliche Handlung bei einem notwendigen Neuaufbau der Psychologie als wissenschaftlicher Disziplin an erster Stelle steht. Als kleinste Einheit des beobachtbaren sinnvollen Verhaltens darf man zwar die sogenannten Erlebniselemente, wie z.B. Vorstellungen, Gefühle, Reflexe nicht vernachlässigen oder sogar ganz unberücksichtigt lassen, jedoch bilden sie nur die Materialien, Einzelbetrachtungen, die nie das Ganze erschließen lassen. Es gilt: „Element des sinnvollen Verhaltens ist die Handlung, weil aus Handlungen das Leben selbst, das sinnvolle, sich aufbaut" (Bühler 1936,13f).
Das menschliche Leben ist maßgeblich durch die Dimensionen Zeit und Raum bestimmt. Bühler unternimmt die Unterscheidung in Lebenszeit und Lebensraum, in denen der Mensch die Welt erlebt.
Das Leben des Menschen findet in dem Raum statt, welchen er für seine Zwecke beherrscht - in seinem Lebensraum. In seinem Lebensraum ist das Individuum orientiert. Diese Orientierung birgt eine Erweiterung in sich, die uns in Anlehnung an das vorangegangene Axiom (das sich mit dem reinen Situationsmodell der Handlung beschäftigt) befähigt, das sinnvolle Verhalten des Individuums wissenschaftlich zu begreifen. Die Orientierung innerhalb des Lebensraumes findet mit Hilfe von Zeichen und Signalen statt. Wir können mit Bühler vorab festhalten, dass alle psychophysischen Systeme auf Signale ansprechen, „das ist eine Grunderkenntnis der neuen Psychologie" (Bühler 1936, 14). In Axiom 7 werden wir uns mit dieser Thematik intensiver auseinandersetzen.
Mit Charlotte Bühler (1933) kann man die Lebenszeit in verschiedene Phasen einteilen. Beginnend mit Phasen wie Kindheit und Jugend gibt es weitere Stufen (Erwachsenenalter, Seniorenalter) bis hin zum natürlichen Tod. Innerhalb dieser Phasen kann man einen Dominanzwechsel beobachten „von den überwiegend vitalen zu den höheren Pflichten" (Bühler 1936, 14). Auch bei den Tieren gibt es solche Phasen. Bei manchen Tieren ist dieser Übergang auch von starken körperlichen Verwandlungen begleitet, z.B. von Metamorphosen.
Wenn wir unsere Schlaf- und Wachphasen betrachten, wird deutlich, dass sich unsere Lebenszeit in noch feinere Phasen aufgliedern lässt, die man als Zyklen bezeichnen kann. Dies gilt sowohl für den Menschen als auch für Pflanzen und Tiere. Diese Zyklen können sich hinsichtlich ihrer zeitlichen Dimensionen unterscheiden, z.B. nach Tageszeit oder aber nach Gezeiten. Anhand eines Beispiels verdeutlicht Karl Bühler, dass es nicht nur einen Außenfaktor, sondern auch einen Innenfaktor zu berücksichtigen gilt:
„Viele Strandbewohner z.B. verfallen gesetzmäßig mit dem Wechsel von Ebbe und Flut in zwei ganz verschiedenen Arten ihres Gesamtverhaltens. Daran können Beobachtungen gemacht werden von allgemeiner Bedeutung. Man nehme einen solchen Strandbewohner, ein Tier und setze ihn ins Aquarium, wo es keine Ebbe und Flut gibt. Was wird geschehen? Antwort: Wenn ich die Wahl passend getroffen habe, wird er mir noch tagelang in seinem Verhalten Ebbe und Flut aufs genaueste anzeigen, sogar Spring- und Nippflut, wenn er an einem Ort lebte, wo es Spring- und Nippflut gab. Das ist ein Hinweis darauf, daß nicht der Außenfaktor allein für den Zyklus maßgebend ist sondern auch ein Innenfaktor." (Bühler 1936,15)
Wie im ersten Axiom (dem Situationsmodell) gibt es also auch hier eine Verflechtung von internen mit externen Faktoren:
„Es gibt eine innere Uhr oder Uhren; auch wir Menschen haben eine Kopfuhr (so hat es Pötzl genannt) und manches in unserem Verhalten ist auf das richtige Gehen dieser Kopfuhr eingestellt." (Bühler 1936,15)
Rückblickend auf das erste Axiom und somit also vom Gesamtleben auf die Einzelhandlung wird schnell deutlich, dass es relevant ist, unter welchen Bedingungen - in welchem Lebensraum und in welcher Lebenszeit - die Einzelhandlung geschieht:
„Die Handlung trägt etwas wie einen Horizont in sich, und der Augenblick gewinnt einen Teil seines Gewichtes und seines Wertes aus der Totalität es Lebens." (Bühler 1936,16)
Das Verhalten und das Handeln des Menschen werden von Bühler als Findigkeit und schaffendes Verhalten bezeichnet. Während Findigkeit eher im Bereich der Artgeschichte anzusiedeln ist und sich tendenziell den Instinkten und der Dressur zuordnen lässt (innere Faktoren), führt alles angelernte Verhalten, jede erlernte (äußere Faktoren) Handlung in den Bereich der Individualgeschichte.
„Es führt in die Artgeschichte des handelnden Individuums, es führt zu Abstammung und Vererbung, wenn wir den instinktiven Einschlag des sinnvollen Verhaltens für sich betrachten. Denn, was wir bei Tier und Mensch als das instinktive Moment im Handeln ansehen, ist zutiefst verwurzelt im Artbesitz und in der Erbmasse. Anders als alles Gelernte; das ist eine Angelegenheit der Individualgeschichte.“ (Bühler 1936,16)
Da jede Handlung individuell zu betrachten ist, erfährt das einfache Situationsschema der Handlung neben der Differenzierung von äußeren und inneren Faktoren (siehe Axiom 1) hiermit also eine zweite Erweiterung.
Neben der Unterscheidung nach Individual- bzw. Artgeschichte gibt es noch ein weiteres Charakteristikum menschlicher Handlung. Dabei spricht Bühler von der sogenannten Aktgeschichte. Durch die Aktgeschichte erreicht der Mensch in Vergleich zum Tier eine Sonderstellung. Hier wird die Handlung des Menschen „wissentlich und willentlich“ (Bühler 1936, 16). Der Mensch wird sich seiner Handlung bewusst.
Bühler spricht in seinem vierten Axiom - dem Axiom der Fortpflanzung - mit Georg Simmel von einer Transzendenz des Lebens. Gemeint ist damit, dass der Mensch innerhalb seines Lebens mit Dingen befasst ist, die über seine eigene Lebenszeit hinausreichen.
„Denn gleichgültig, wie es geschehen mag, so ist das Individuum in diesen Dingen befaßt mit einer Angelegenheit, die über sein eigenes Leben hinausreicht.“ (Bühler 1936,17)
Analog zum Verhalten der Brutpflege bei Tieren lassen sich beim Menschen die Betreuung und die Erziehung durch die Mutter betrachten:
„Nur von dieser so einfachen Einsicht her wird wissenschaftlich begreifbar, wie ganz anders und oft kaum wiederzuerkennen schon ein Tier bei der Brutpflege (sagen wir eine Henne mit ihrem Küchlein) sich benimmt. Und es ist keine Schande für den Menschen, wenn in diesen Dingen sein Instinkt gesund ist, wenn eine Mutter vom Blut und Körper her sozusagen ein gesundes Verständnis in die Betreuung und Erziehung des Kindes einzusetzen hat.“ (Bühler 1936,17)
Dass man sich über die Rolle der Mutter und des Vaters in der modernen Gesellschaft durchaus streiten mag, zeigen viele aktuelle Diskussionen, welche aber nicht in den Kontext der von Bühler erwähnten Instinktivität gehören und daher hier nicht weiter erörtert werden.
Vielmehr ist interessant, dass auch mit diesem Axiom der Fortpflanzung innere und äußere Bereiche miteinander in Wechselwirkung stehen. Wir haben keine Schwierigkeiten, die von Simmel formulierte Transzendenz eher einem Bereich äußerer Angelegenheiten zuzuordnen, einem Bereich, in dem der Mensch sich mit Dingen befasst, die über sein eigenes Leben hinausreichen. Und somit haben wir auch keine Schwierigkeit damit, den in diesem Axiom nicht explizit erwähnten Beschäftigungen des Individuums mit Dingen, die sein eigenes Leben angehen, einen tendenziell inneren Charakter zu verleihen.
Das Axiom des Gemeinschaftslebens steht dem Axiom der Fortpflanzung sehr nahe, denn auch das soziale Verhalten führt auf eine Ebene, welche die rein individuellen Interessen übersteigen. Wir nennen diese Ebene die Außenebene, da sie in erster Linie durch äußere Faktoren bestimmt wird.
Bühler sieht das soziale Verhalten, die Bestimmtheit aus der Gemeinschaft, also ebenso als Quellpunkt des Menschseins wie die individuellen Faktoren, die wir analog als Innenebene bezeichnen wollen. Damit stellen wir uns mit Bühler klar gegen den „überspannte(n) Individualismus" (Bühler 1936,17, Klammer gesetzt durch d. Verfasser) der erlebnispsychologisch cartesianischen Linie, die mit Hobbes einen namhaften Verfechter fand:
„Die bekannte Formel des bellum omnium contra omnes, des Krieges aller gegen alle, stammt von einem der Väter der rein subjektivistischen Psychologie, sie stammt von Hobbes. Heute aber sehen wir ein, daß dies ein biologischer Irrtum war. Denn die sozialen Momente im sinnvollen Verhalten liegen genauso unableitbar und autochthon (ich übersetze: wurzelecht) im Menschenwesen beschlossen wie die rein egoistischen." (Bühler 1936,18)
Als weiteren Hinweis für die Bedeutung des Sozialen führt Bühler das Prinzip der gegenseitigen Förderung und Hilfe an.
Somit sind bei der Betrachtung des Menschenwesens oder des Menschseins als wesentlicher Aspekt neben den individuell inneren Faktoren die sozial äußeren Faktoren zu betrachten. Die innere Ebene verschmilzt an dieser Stelle mit der äußeren Ebene zu einer Gesamtheit, zu der Gesamtheit des Menschseins.
Mit dem sechsten Axiom beschreibt Bühler das Formproblem. Leider findet man in seinem Aufsatz „Die Zukunft der Psychologie und die Schule" keine tiefgehende Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Bühler beruft sich darauf, dass der Formbegriff sowohl unter den Aspekten der antiken als auch der modernen Psychologie komplett neu zu beleuchten sei:
„Wer heute „Form" sagt, denkt zuerst an das, was unter dem Titel „Gestalten" geht; man wird aber auch hier die Dinge noch einmal von Anfang an durchdenken und das alte mit dem neuen Programm der Psychologie vergleichen müssen. Der antike Formbegriff, welcher von Aristoteles philosophisch ausgedacht wurde, ist erneuerungsbedürftig; und der moderne Formbegriff der Gestaltpsychologie noch unvollendet." (Bühler 1936,18)
Aus diesem Grund sei das Axiom 6, das Axiom des Formproblems nur der Vollständigkeit halber an dieser Stelle mit aufgeführt.
Auch hinsichtlich des Signalwesens gibt es wiederum eine Außen- und eine Innenseite, d.h. Signale, die innerhalb, und solche, die außerhalb des Leibes eine Rolle spielen. Bühler spricht an dieser Stelle zuerst von den „[...] lebenswichtigen chemischen Umsetzungen drinnen im Körper und draußen in Küche und Fabriken" (Bühler 1936, 18). Er macht hiermit deutlich, dass der Mensch in seiner Umwelt ständig umgeben ist von einer Vielzahl von Signalen, welche die Psychologie allerdings vernachlässigen dürfe, da sie nicht in ihren direkten Bereich fielen:
„Auch das ist wahr, daß die Stofftransporte im Blut- und Saftstrom drinnen und das Transportwesen draußen in den Untersuchungsbereich anderer Wissenschaften gehören." (Bühler 1936,18)
Worum es uns mit Bühler im Wesentlichen geht, ist der Zeichenverkehr. Überall dort, wo der Mensch in Gemeinschaft auftritt, gibt es Zeichenverkehr von mehr oder minder komplexer Ausprägung. Zeichenverkehr funktioniert zum einen hochkomplex als Sprache und zum anderen im Sinne einer Wirtschaft, in der durch Konventionen und klare Definitionen Bedeutungen und Regeln festgelegt werden.
„Der Mensch hat im Außenverkehr allgemein eine Sprache, und wenn die Sprache nicht ausreicht, so erfindet er z.B. bei wachsender Verkehrsdichte auf unseren Straßen Lichtsignale an Stelle der Sprache. Das ist eine schlichte Tatsache." (Bühler 1936,19)
Doch das Signalwesen ist nicht nur den Menschen vorbehalten, es gibt es gleichermaßen auf der Ebene der Tiere bis hin zur Ebene der Organismen.
„Ameisen, Bienen und Vögel können als Beispiel dienen. Gilt es die innerkörperlichen Steuerungsmittel aufzuzählen, so wird man am Ausgang die „Signalstoffe" im Saftstrom nicht vergessen; genau so wenig, wie die Stoffproben im äußeren Steuerungswesen der Bienen. Denn signalähnlich fungieren beide, fungieren auch in unserem Körper gewisse Edelstoffe des Haushaltes sozusagen, die in minimalen Quantitäten im Saftstrom kreisen und Hormone heißen." (Bühler 1936,19)
Das Prinzip des Signalwesens gilt also sowohl für den Menschen als auch für die Tiere und findet sowohl innerhalb als auch außerhalb des Körpers seine Anwendung. Doch gehen wir einen Schritt weiter. Neben den Signalen spricht Bühler weiter von Zeichen. Dinge, die unsere Sinne von der Außenwelt aufnehmen und welche durch das Zentralnervensystem in Steuerungsimpulsen münden, sind Zeichen, oder besser „Anzeichen, die wir von den Dingen erhalten" (Bühler 1936,18) .
„Als richtige Signale aber (weil sie auf der langen Stufenleiter einer Ent- stofflichung der Steuerungsmittel schon die erste Stufe erreicht haben) fungieren die steuernden Impulse des Zentralnervensystems." (Bühler 1936,19)
Anzeichen vermitteln uns durch die Sinne Eindrücke von den Dingen. Die Steuerungsimpulse, die durch das Zentralnervensystem in die stofflichen Vorgänge des Körpers geschickt werden, sind hingegen Signale - sonst nichts.
„Wenn das Zentralnervensystem durch die Sinne Meldungen von den Dingen aufnimmt, so sind es Zeichen und nichts als Anzeichen, die wir von den Dingen erhalten. Und wenn Steuerungsimpulse umgekehrt vom Zentralnervensystems hineingeschickt werden in das stoffliche Geschehen im Körper, so sind das streng gesehen nie etwas anderes als Signale. " (Bühler 1936,19)
Wie sich die Zusammenhänge zwischen der Aufnahme der Dinge (außen) in Form von Anzeichen durch unsere Sinnesorgane und den Steuerungsimpulsen des Zentralnervensystems in Form von reinen Signalen in das stoffliche und damit hormonelle Geschehen im Körper (innen) genau charakterisieren lassen, können wir an dieser Stelle nicht bestimmen. Interessant festzuhalten ist aber, dass in der Außenwelt, wie wir sie nennen wollen, das Prinzip des Signalverkehrs herrscht, welches in der Innenwelt (in Analogie) bestimmte Vorgänge auslöst und beeinflusst.
Mit der in den vorausgehenden Abschnitten vorgestellten grundlegenden Axio- matik wurde deutlich, dass es stets sowohl innere als auch äußere Faktoren gibt, die in unterschiedlichster Art miteinander verwoben sind. Menschsein ist immer durch ein Innen und ein Außen bestimmt. Der Mensch ist nicht nur Materie oder Geist, er ist verwachsen in seinem Innen und in dem Außen der Welt.
Die inneren Faktoren beziehen sich auf das Individuum, die äußeren Faktoren auf den Lebensraum, auf die Umwelt. Eine wichtige Eigenschaft sei, so Bühler, dass der Umgang mit Symbolen zur Menschwerdung gehöre und dass somit der Mensch Symbole erlernen könne. Innerhalb seiner Umwelt orientiere sich der Mensch mit Zeichen und Signalen, die aus dem jeweiligen Lebensraum entsprängen. Damit diese zum Verständnis im Individuum gelangen, müssen die inneren und äußeren Faktoren zu einer Übereinstimmung kommen. Der Gebrauch von sprachlichen Zeichen stellt für Bühler eine Möglichkeit dar, diese Dichotomie zu überbrücken. Hierbei sollte bedacht werden, dass die Außenwelt soziokulturellen Einflüssen unterliegt und auch die Innenwelt durch individuelle Eigenschaften, wie z.B. Erfahrungen, geprägt ist.
Für uns ist es aus diesem Grund wichtig, sich der Symbole zu bedienen, die für die Bezugsgruppen eine weitestgehend gleiche oder ähnliche und nachvollziehbare Bedeutung haben. Das Verwenden von Sprachzeichen bezeichnet Bühler als Organon, als ein Werkzeug. Im folgenden Kapitel werden wir im Rahmen der Sprachtheorie (1934) detaillierter hierauf eingehen.
Bühlers 1934 erschienenes Buch „Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache" beschäftigt sich mit der Ordnung der menschlichen Sprache. Axioma- tisch knüpft es an sein 1933 veröffentlichtes Werk „Die Axiomatik der Sprachwissenschaften" an, setzt dabei allerdings einen anderen Schwerpunkt. In der „Axiomatik der Sprachwissenschaften" erarbeitet und formuliert Bühler seine Grundannahmen ausgehend von der Zeichenhaftigkeit der Sprache. Diese Überlegungen münden in der Annahme, dass die Sprache als Organon, also als ein Werkzeug, zu fassen ist. In der „Sprachtheorie" findet eine Verlagerung des Schwerpunktes insoweit statt, als Bühler hier nun die Annahme über die Sprache als Organon als Ausgangspunkt seiner weiteren Überlegungen setzt und auf dieser Grundlage seine sprachtheoretischen Überlegungen formuliert. In der „Sprachtheorie" formuliert Bühler seine Axiome in folgender Reihenfolge:
Das Organonmodell der Sprache Die Zeichennatur der Sprache Sprechhandlung und Sprachwerk; Sprechakt und Sprachgebilde Das S-F-System vom Typus Sprache Das erste Axiom (A) legt die Sichtweise auf die Sprache als Organon fest. Axiom (B) konstatiert die grundsätzliche Zeichenhaftigkeit der Sprache, und mit dem dritten Axiom (C) grenzt Bühler den gesamten Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaften auf die vier konstituierenden Momente der Sprechhandlung, des Sprachwerkes, des Sprachgebildes und des Sprechaktes ein. Im vierten Axiom (D) beschreibt Bühler Sprache in einem Zweiklassensystem, was bedeutet, dass das System der Sprache aus den zwei basalen Strukturmerkmalen Wortwahl und Satzbau erwächst. Die lexikalische Bedeutung verbindet sich in der menschlichen Sprache mit der syntaktischen Ordnung, und erst in dieser Verbindung ist ihre Leistungsfähigkeit begründet.
Bühler stellt in seiner Sprachtheorie das konkrete Sprechereignis als Ausgangssituation seiner Untersuchungen. Dabei sieht er die Sprache in Anlehnung an Platons Kratylos als ein Organon, also als ein Werkzeug (vgl. Bühler 1999, 24). Einer teilt dem Anderen etwas über die Dinge mit. Betrachten wir mit Bühler das konkrete Sprechereignis (das Schallphänomen) genauer, so lassen sich an ihm drei Relationen aufzeigen. Eine Relation hin zum Sender, eine zum Empfänger, und eine Relation, welche die Gegenstände und Sachverhalte miteinbezieht. Diese Verhältnisse verdeutlicht Bühler anhand seines Organonmodells:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Das Organonmodell der Sprache (Bühler 1999, 28)
Da die Einbeziehung von Gegenständen außerhalb des Wahrnehmungsfeldes eine fundamentale Eigenschaft der Semantik menschlicher Sprache ist, berücksichtigt Bühler diese in seiner Systematik. Dadurch, dass Menschen über Dinge kommunizieren können, die nicht in einem gemeinsamen Wahrnehmungsbereich liegen, erhält die menschliche Sprache eine Leistungssteigerung. Durch diesen Umstand lässt sich auch von einer Dominanz der Darstellungsfunktion sprechen.
Hierbei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass alle drei Relationen zusammen betrachtet und als Einheit gesehen werden müssen:
„Was nun folgt, ist geeignet und dazu bestimmt, die von uns unbestrittene Dominanz der Darstellungsfunktion der Sprache einzugrenzen. Es ist nicht wahr, daß alles, wofür der Laut ein mediales Phänomen, ein Mittler zwischen Sprecher und Hörer ist, durch den Begriff 'die Dinge' oder durch daß adäquatere Begriffspaar 'Gegenstände und Sachverhalte' getroffen wird. Sondern das andere ist wahr, daß im Aufbau der Sprechsituation sowohl der Sender als Täter der Tat des Sprechens, der Sender als Subjekt der Sprechhandlung, wie der Empfänger als Angesprochener, der Empfänger als Adressat der Sprechhandlung eigene Positionen innehaben. Sie sind nicht einfach ein Teil dessen, worüber die Mitteilung erfolgt, sondern sie sind die Austauschpartner, und darum letzten Endes ist es möglich, daß das mediale Produkt des Lautes je eine eigene Zeichenrelation zum einen und zum anderen aufweist." (Bühler 1999, 30ff)
Wenn sich mindestens zwei Individuen mithilfe von Sprache aufeinander beziehen und auf Gegenstände oder Sachverhalte hin orientieren, ist die hier angesprochene Funktion der Darstellung nur einer von mehreren Aspekten. Die Zei- chenhaftigkeit des Sprachlautes konstituiert sich vollständig erst unter Einbeziehung der beiden anderen Relationen, wie Bühler bereits in einer früheren Arbeit über den Satz (1918) ausführte:
„Dreifach ist die Leistung der menschlichen Sprache, Kundgabe, Auslösung und Darstellung." (Bühler 1999, 28)
Ferner lässt sich bezüglich der Relationen festhalten, dass das Schallphänomen hinsichtlich des Senders als Symptom, also als ein Ausdruckszeichen fungiert, da es auf sein Erleben und seine Befindlichkeit hinweist. In seiner Relation zum Empfänger ist das Schallphänomen wiederum Signal. Es ist ein Appell an den Empfänger, seine Aufmerksamkeit auf das Gesagte hin zu richten und sich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten. In seiner Relation zu den Gegenständen und Sachverhalten ist es Symbol. Es dient der Darstellung und beruht dabei auf Konventionen einer Sprachgemeinschaft (Bühler 1999, 30).
„Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicum) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen." (Bühler 1999, 28)
Das Organonmodell ist also stets im Zusammenspiel seiner drei Relationen des Sprechereignisses und der semantischen Funktionen Ausdruck, Appell und Darstellung zu sehen. Jede Mitteilung kann hinsichtlich dieser drei jeweiligen Aspekte mit entsprechend verschobener Perspektive untersucht werden, wie das folgende Beispiel zeigt:
„Das deutsche Wort ,es regnet' trifft aus jeder konkreten Situation heraus gesprochen das uns allen bekannte meteorologische Ereignis; trifft es kraft seiner phonematischen Prägung, die musikalische Modulation ist irrelevant. Darum kann der Sprecher im Musikalischen seiner Seele die Zügel schießen lassen, kann den Ärger oder die Freude, wenn es sein muß, Jubel oder Verzweiflung erklingen lassen, ohne den reinen Darstellungssinn des Wortes im mindesten zu tangieren. Und wenn die umsichtige Gattin zum aus dem Haus gehenden Professor sagt ,es regnet', dann mag sie jene aufrüttelnde Appell-Melodie hineinlegen, welche das Benehmen des Zerstreuten erfolgreich derart steuert, daß er das sonst vergessene Schutzdach gegen den Regen mitnimmt." (Bühler 1999, 46)
Nach Bühler haben Laute eine Bedeutungsunterscheidungsfunktion (vgl. Bühler 1999, 33), d.h., dass durch phonematische Modulationen wort- und bedeutungsunterscheidende Differenzierungen entstehen können[3]. Darüber hinaus haben Zeichen einen Darstellungscharakter, d.h. sie stellen Gegenstände oder Sachverhalte dar. Eine weitere grundlegende Eigenschaft sieht Bühler darin, dass Zeichen auch stets in einen Kontext eingebettet sind. Sie beziehen ihre Bedeutung also in ihrer Relation zu bestimmten (Um-)Feldern. Bühler unterscheidet an dieser Stelle zwischen dem Zeigfeld und dem Symbolfeld. Mit einer begrenzten Zahl an Phonemen und Silben ist es dem Menschen somit möglich, durch Kombinationen eine nahezu unbegrenzte Anzahl von Wörtern und Sätzen und damit Bedeutungen zu schaffen[4], worauf wir in Kapitel 2.4.4 detaillierter zu sprechen kommen werden. Unabhängig voneinander sind Bühler und E. C. Tol- man mit seinem Buch „Purposive behaviour in animals and men" (1932) auf die Tatsache gestoßen, dass bei allen Lebewesen das Lernen stets mit einem Reagieren auf Signale verbunden ist.
„Es gibt nach seiner und meiner Auffassung von den Infusorien bis zum Menschen kein Lernen, in welchem neben allem anderen nicht das Reagieren auf Signale enthalten und objektiv nachweisbar wäre; ja es charakterisiert und definiert geradezu das psychophysische System der Tiere, daß es auf tieferer oder höherer Stufe als Signalempfänger und Signalvertreter fungiert." (Bühler 1999, 38)
Somit kommt den Zeichen durch sein phonematisches Signalement eine Zeigefunktion hinzu; überall dort, wo ein Zeichenverkehr zu beobachten ist, wo also ein Sender und ein Empfänger zusammenkommen, erfüllt das Zeichen die Funktion des Zeigens und Verweisens auf etwas. Mit Bühler können wir folgendes anschauliche Beispiel geben:
„Wenn unter Herdentieren ein Individuum kraft seiner lokalen Position oder kraft erhöhter Wachsamkeit als einziges den gefahrdrohenden Geruch oder Gesichtseindruck aufnimmt und außer der eigenen Flucht mit einem „Schreckruf' reagiert, so ist das Benehmen seiner Herdengenossen, das wir daraufhin beobachten können, dasselbe, wie wenn sie alle denselben originären Gefahreindruck erhalten hätten. Es ist „als ob' ihr eigener Wahrnehmungshorizont erweitert worden wäre, der Zusatzreiz des Schreckschreies, der in ihren Wahrnehmungsbereich einbricht, erfüllt die Funktion eines lebenswichtigen Signals." (Bühler 1999, 39)
Eine weitere grundlegende Eigenschaft der Zeichen kommt ihrer Stellvertreterfunktion zu, die sich treffend mit der scholastischen Formel aliquid stat pro aliquo zusammenfassen lässt. Ein Zeichen fungiert kraft seiner Eigenschaften als ein Stellvertreter von etwas:
„Wo immer eine Stellvertretung vorliegt, da gibt es wie an jeder Relation zwei Fundamente, ein etwas und ein noch etwas, was die Betrachtung auseinanderhalten muß." (Bühler 1999, 40)
Die Stellvertreterfunktion des Zeichens ist bestimmt durch seine Unidirektiona- lität, durch seine nicht umkehrbare Relation. Das heißt, dass das Zeichen für etwas steht, aber nicht umgekehrt:
„Der Gesandte ist ein Stellvertreter seines Staates, aber nicht umgekehrt, der Rechtsanwalt steht vor Gericht für seinen Klienten, aber nicht umgekehrt." (Bühler 1999, 40)
In der Eigenschaft als Stellvertreter sind es aber immer nur die abstrakten Momente, durch die ein Zeichen funktioniert. Bühler spricht an dieser Stelle vom Prinzip der abstraktiven Relevanz:
„Im Falle des Zeichenseins sind es immer nur abstrakte Momente, kraft derer und mit denen das Konkretum „als" Zeichen fungiert. Ich habe diesen sprachtheoretisch grundlegenden Tatbestand als das Prinzip der abstraktiven Relevanz bezeichnet und am Unterschied von Phonetik und Phonologie erläutert." (Bühler 1999, 40)
Das Prinzip der abstraktiven Relevanz beinhaltet all diejenigen Eigenschaften, die für ein Zeichen als wesentlich für die Erfüllung seiner Funktion sind. Hierbei wird von allen anderen unwesentlichen Eigenschaften abgesehen, sie werden ausgeblendet oder besser: abstrahiert Das Zeichen funktioniert als solches kraft seiner relevanten Eigenschaften.
Bühler unterscheidet demnach zwei Charakteristika von Zeichen:
1. das, was das Zeichen selbst ist
2. das, kraft dessen es als Zeichen fungiert
Die Eigenschaft der Stellvertreterfunktion eines Zeichens lässt sich mit dem zeichenhaften Grundprinzip der abstraktiven Relevanz beschreiben. Das, was an diese Eigenschaften zusätzlich hinzugefügt wird, ist eine apperzeptive Ergänzung. Ein Zeichen funktioniert also auf zwei Ebenen: Auf der Ebene der abstraktiven Relevanz in der Hinsicht, dass alles, was für die Stellvertretung notwendig ist, im Zeichen enthalten ist; auf der Ebene der apperzeptiven Ergänzung dahingehend, dass der Stellvertretung stets Attribute variabel hinzugefügt werden (können). Es existiert somit eine Verbindung von Invarianz und Varianz. Die Invarianz wird durch die abstraktive Relevanz bestimmt, während die apperzep- tive Ergänzung die Varianz darstellt.
Sagt z.B. Person A zu Person B: „Das Fenster ist offen, mir ist kalt!", so kann Person B den Appell, das Fenster zu schließen, apperzeptiv ergänzen, obwohl dieser nicht direkt mit ausgesprochen wurde. Sagt Person A zu Person B: „Könntest du bitte das Fenster schließen, welches einen herrlichen Rahmen aus Mahagoni und eine toll bemalte Thermopenscheibe hat!?", abstrahiert der Empfänger Person B das wirklich Relevante der Aussage, nämlich das Fenster zu schließen.
Durch das Prinzip der apperzeptiven Ergänzung ist die Möglichkeit gegeben, ergänzende und vervollständigende Merkmale oder Attribute mit in das Gesamt- Zeichen einfließen zu lassen. Die apperzeptive Ergänzung hält für uns somit die Möglichkeit bereit, dem Begriff der von uns behandelten Marke ein oder mehrere Bedeutungsfelder hinzuzufügen. Die Zeichennatur verweist sowohl auf Menschen, die Zeichen erkennen und anwenden, als auch auf Menschen, die selber Zeichen produzieren und als Zeichengeber fungieren. Menschen erkennen und verwenden Zeichen. Erst durch die Verwendung wird ein Zeichenträger zum Zeichen. So wird ein Stoppschild erst dadurch zum Zeichen, indem es im Straßenverkehr vom Verkehrsteilnehmer als solches erkannt und verwendet wird.
„Zu allem Zeichenhaften in der Welt gehören der Natur der Sache nach Wesen, die es dafür halten und mit ihm als Zeichenhaftem umgehen. Man muß also physikalisch gesprochen im objektiven Verfahren die geeigneten psychophysischen Systeme wie Detektoren verwenden, um zeichenhaft Wirkendes zu entdecken. Wo die Konkreta, welche die Zeichenfunktionen erfüllen, von handelnden Wesen produziert oder hergerichtet werden, wo diese Konkreta zu jenen Wesen im Verhältnis des Werkes zum Schöpfer oder (nur anders gesehen) im Verhältnis der Tat zum Täter stehen, da kann man diese auch Zeichengeber nennen." (Bühler 1999, 47f)
In seinem dritten Axiom bringt Bühler die Dichotomie Humboldts energeia- ergon und die Dichotomie de Saussures langue-parole zu einem Vierersystem zusammen. Es entsteht das Vierfelderschema, welches sich aufschlüsseln lässt in:
1. Sprechhandlung (energeia)
2. Sprachwerk (ergon)
3. Sprachgebilde (langue)
4. Sprechakt (parole)
Das Vierfelderschema verbindet auf unterschiedlichen Abstraktionsstufen die subjektive mit der objektiven Ebene, also die inneren und die äußeren Faktoren, deren Bedeutung wir bereits in Bühlers Aufsatz „Die Zukunft der Psychologie und die Schule" vorgestellt haben.
Während Sprechhandlung und Sprechakt subjektbezogen sind und sich dem Individuum zuordnen lassen (der innere Faktor), korrelieren sie mit dem subjektentbundenen Sprachwerk und Sprachgebilde (der äußere Faktor). Sprechhandlung und Sprachwerk sind niedriger formalisiert und anschaulicher als die abstrakteren Ebenen Sprechakt und Sprachgebilde.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Das Vierfelderschema in Anlehnung an Bühler (1999, 48ff)
Bühlers Begriff der Sprechhandlung besagt, dass alles Sprechen ein individuelles Handeln ist. Eine Sprechhandlung ist somit eine in die aktuelle Situation eingelassene Rede eines Individuums, die immer im Kontext der jeweiligen individuellen Umstände zu betrachten ist, in denen die Handlung vollzogen wird. Sie ist gleichzusetzen mit dem konkreten Sprechereignis und ist durch ein spontanes Moment gekennzeichnet.
„[...] es gibt für uns alle Situationen, in denen das Problem des Augenblicks, die Aufgabe aus der Lebenslage redend gelöst wird: Sprechhandlungen . [...] Dies ist also das Merkmal, welches im Begriff ,Sprechhand- lung' unterstrichen werden muß und nicht wegzudenken ist, daß das Sprechen „erledigt" (erfüllt) ist, in dem Maße, wie es die Aufgabe, das praktische Problem der Lage zu lösen, erfüllt hat." (Bühler 1999, 53)
Wie es bei jeder Handlung ein Feld gibt, in das die Handlung kontextuell eingebettet ist, so spielt bei Sprechhandlungen das sogenannte Aktionsfeld eine tragende Rolle. Zu diesem Aktionsfeld gehören zwei determinierende Momente, nämlich Bedürfnis und Gelegenheit und dadurch eine innere und eine äußere Situation.
„Es gibt in jeder Handlung ein Feld; ich habe es vor Jahren schon Aktionsfeld genannt und in den KANT-Studien noch einmal die zwei Determinationsquellen jeder Handlung als Bedürfnis und Gelegenheit bestimmt. Daß es zwei sind, haben ARISTOTELES und GOETHE gewußt; derselbe Zweifaktoren-Ansatz, den ich für nötig halte, steht plastische greifbar in GOETHES physiognomischen Studien [...]. Doch es bedarf neben der Aufgliederung des Aktionsfeldes in seine zwei präsenten Bestimmungsmomente (der inneren und äußeren Situation) einer hinreichenden historischen Kenntnis des Handelnden selbst, um einigermaßen präzis vorauszusagen, was geschehen wird oder nachher wissenschaftlich zu begreifen, was geschehen ist." (Bühler 1999, 56)
Das Handeln eröffnet weiterhin ein empraktisches Feld, innerhalb dessen es möglich ist, dass Ellipsen beispielsweise in der Art von „einen schwarzen", bei der Bestellung eines Kaffees in einem Cafe, zum Verstehen gelangen (vgl. Bühler 1999, 52 und 155).
Mit der aristotelischen Abgrenzung der Poesis von der Praxis im menschlichen Verhalten findet sich auf derselben Abstraktionsebene wie die Sprechhandlung das Sprachwerk, welches das vom Individuum gelöste und zeitüberdauernde Werk ist. Es ist ein situationsentbundenes, für sich zu betrachtendes Produkt, wie z.B. ein Text oder ein Gedicht:
„Das Produkt als Werk des Menschen will stets seiner Creszenz enthoben und verselbständigt sein. Man verstehe uns recht: ein Produkt kommt stets heraus, wo ein Mensch den Mund auftut; ein Produkt entsteht auch im reinsten Handlungsspiel des Kindes. Doch sehe man sich diese Produkte näher an; es sind in der Regel Fetzen, die das Spielzimmer erfüllen, solange noch Praxis gespielt wird; erst wenn Poesis gespielt wird, dann sind die Produkte „Bauten" u. dgl. m.." (Bühler 1999, 54)
Das Sprachwerk ist durch das bewusste menschliche Schaffen charakterisiert. Es ist zeitüberdauernd insofern, als es auch für andere Menschen zu späteren Zeitpunkten relevant sein kann, und ist somit transzendent im Sinne des im Axiom 4 des Aufsatzes „Die Zukunft der Psychologie und die Schule" angesprochenen Sachverhaltes (siehe vorausgehendes Kapitel 2.4.6 dieser Arbeit), da es über die eigene Lebenszeit hinausreicht:
[...]
[1]Für die vertrauensvolle Überlassung des Original-Manuskripts möchten wir an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Achim Eschbach (Universität Duisburg-Essen) herzlich danken.
[2]An dieser Stelle sei auf das Buch „Die Krise der Psychologie" verwiesen, in dem Bühler die Psychologie in einer Aufbaukrise sieht und versucht, die stärksten Strömungen dieser Zeit in Einklang zu bringen. Er plädiert für eine Abkehr von einer Einzelsicht der verschiedenen Psychologien zugunsten einer Sicht des gegenseitigen Bedingens.
[3]z.B. „Tische" vs. „Tasche"
[4]Die Kombination einer unbegrenzten Anzahl von Wörtern und Sätzen impliziert ebenfalls die Kreation von Neuem, noch nie Dagewesenen.
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