Diplomarbeit, 2002
131 Seiten, Note: gut
1. Einleitung und Problemaufriss
1.1. Datenlage
1.2. Aufbau der Arbeit
1.3. Literaturüberblick
I. THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN UND BEGRIFFS- BESTIMMUNGEN
2. Politische Transition in den neuen Bundesländern
2.1. Phasen des politischen Wandels: Ein Transitionsmodell
2.2. Politische Struktur und politische Kultur im Transitionsprozeß
2.3. Politische Kultur in den neuen Bundesländern: Zur Ausgangslage 1990
3. Legitimität, Stabilität und politische Unterstützung
3.1. Zum Begriff der Legitimität
3.2. Zum Begriff der Stabilität
3.3. Zum Verhältnis von Legitimität und Stabilität in demokratisch verfaßten Systemen
3.4. Politische Unterstützung
3.4.1. Spezifische Unterstützung
3.4.2. Diffuse Unterstützung
3.5. Zusammenfassung und Hypothesen zur politischen Unterstützung in Ostdeutschland
4. Der Begriff der inneren Einheit und seine Dimensionen
4.1. Innere Einheit als Modell
4.2. Sozialisation und Situation: zwei grundlegende Erklärungsansätze mangelnder innerer Einheit
4.3. Verstärkte Selbstidentifikation und kollektives Benachteiligungs- empfinden der Ostdeutschen
4.3.1. Persönliche Erfahrungen mit dem neuen System: Die Erfahrungshypothese
4.3.2. Praktische, politische und charakterliche Diskriminierung der Ostdeutschen:
Die Kompensationshypothese
4.3.3 Sozioökonomische Aspekte: keine materielle Einheit.
4.4. Einstellungen zur Demokratie im vereinten Deutschland
4.4.1. Objektebenen von Demokratie
4.4.2. Normative Modelle der Demokratie
4.4.3. Einordnung der bundesdeutschen Demokratie
5. Hypothesen zu Stand und Verlauf der inneren Einheit
II. STAND UND VERLAUF DER INNEREN EINHEIT
6. Entwicklung des Bürger-zweiter-Klasse-Empfindens seit 1990
6.1. Das Phänomen Bürger-zweiter-Klasse, Wirtschaftserwartungen und tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung
6.2. Das Phänomen Bürger-zweiter-Klasse und politische Unzufriedenheit
6.3. Das Phänomen Bürger-zweiter-Klasse und Externalisierung von Problemen im Einigungsprozeß
7. Ursachen des Bürger-zweiter-Klasse-Empfindens
7.1. Erfahrungshypothese
7.2. Kompensationshypothese
7.3. Sozioökonomische Aspekte
8. Einstellungen zur Demokratie im vereinten Deutschland
8.1. Demokratie als Prinzip
8.2. Normative Prinzipien der Demokratie
8.3. Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland
8.4. Die Performanz der Demokratie im vereinten Deutschland
III. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK: EIN STAAT - ZWEI POLITISCHE KULTUREN?
IV. LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Mehrebenenmodell der politischen Transition
Tabelle 2: Normative Modelle der Demokratie
Tabelle 3: Zuordnung normativer Prinzipien zur Demokratie
Tabelle 4: Übereinstimmung mit normativen Prinzipien der Demokratie
Tabelle 5: Gewünschte Anpassung der implementierten Struktur an normative Prinzipien
Verzeichnis der Schaubilder
Schaubild 1: Modell „Innere Einheit“
Schaubild 2: Gefühl Bürger-zweiter-Klasse in Ostdeutschland 1990 bis 2001
Schaubild 3: Externalisierer nach Kaase in beiden Teilen Deutschlands 1992 – 1997
Schaubild 4: Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland 1998
Schaubild 5: Objektebenen von Demokratie und ihre Wirkungszusammenhänge
Schaubild 6: Bürger zweiter Klasse, negative Wirtschaftserwartungen und erwarteter Anstieg der Arbeitslosigkeit 1990 bis 1997
Schaubild 7: Arbeitslosenquote und Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland 1991 bis 1997
Schaubild 8: Bürger zweiter Klasse, politische Beunruhigung, Zufriedenheit mit der Bundesregierung und CDU nicht im Stimmungshoch 1990 bis 1997
Schaubild 9: Zustimmung zu Ost-West-Wahrnehmungsstereotypen 1997
Schaubild 10: Durchschnittliche Zustimmung zu den gegen die jeweils andere Gruppe gerichteten Äußerungen 1997 in Prozent
Schaubild 11: Durchschnittliche Zustimmung zu den gegen die jeweils andere Gruppe gerichteten Äußerungen 1992 bis 1997
Schaubild 12: Typologie der Ost-West-Stereotype 1997
Schaubild 13: Einschätzung der persönlichen Situation der Ostdeutschen im Vergleich zur Zeit vor der Wende 1992
Schaubild 14: Demokratie ist die beste Staatsform
Schaubild 15: Freiheit und Gleichheit in Westdeutschland 1990 bis 2000
Schaubild 16: Freiheit und Gleichheit in Ostdeutschland 1990 bis 2000
Schaubild 17: Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland 1992 und 1998
Schaubild 18: Zufriedenheit mit dem Funktionieren des Systems
Schaubild 19: Zufriedenheit mit dem Funktionieren des Systems 1991 bis 1994
Der Begriff „innere Einheit“ erfreut sich seit Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands einer Hochkonjunktur in der öffentlichen Diskussion.[1] Spätestens seitdem klar wurde, daß teilungsbedingte Probleme wohl doch nicht innerhalb weniger Jahre gelöst werden können, stellen insbesondere die politischen Akteure die Herstellung der inneren Einheit als vordringliches Ziel heraus. So erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder den Aufbau Ost nach seinem Amtsantritt sogleich zur „Chefsache“. Im ersten Jahresbericht der neuen Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit heißt es: „Die innere Einheit braucht auch eine emotionale Basis, ein gemeinsames Zusammengehörigkeitsgefühl und soziale Verantwortung. (...) Die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist daher wichtig. Er wird letztlich darüber entscheiden, ob die innere Einheit Deutschlands gelingen wird.“[2] Diese Lesart sieht also neben der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse die Förderung des „gesellschaftlichen Zusammenhalts“ als wesentlich für die innere Einigung an. Ob damit jedoch der Gehalt des Topos „innere Einheit“ hinreichend erfaßt ist, bleibt fraglich.
Der deutsche Vereinigungsprozeß bekleidet im Kontext der Transformationen anderer postkommunistischer Staaten einen Sonderfall. Zwei Gründe sind hierfür entscheidend: Erstens das enorme Tempo, in dem das gesamte politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale System durch eine neue Ordnung ersetzt wurde, zweitens die Tatsache, daß auf ein vollständig entwickeltes Ordnungsmodell – nämlich auf das der Bundesrepublik – zurückgegriffen werden konnte (Wiesenthal 1992, 1994; Offe 1994; von Beyme 1996). Der Einigungsprozeß vollzog sich dementsprechend als „Institutionentransfer“, also als Transfer des institutionellen Gefüges der Bundesrepublik auf die DDR, der nicht Ergebnis eines langwierigen Verhandlungsprozesses war, sondern in einer Ausnahmesituation und – aufgrund mangelnder Vorbereitung der handelnden Akteure – unter massiver Problemvereinfachung bewältigt werden mußte (Lehmbruch 1991, 1995).
Auf der Ebene der Transformation des Wirtschaftssystems von einer zentralen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft war für diese Vorgehensweise die sogenannte „Schocktherapie“ charakteristisch. Diese war Auslöser und Ausgangspunkt, jedoch nach Auffassung des Verfassers nicht Grund für einen bisher beispiellosen Arbeitsplatzabbau. Die oft diskutierte Frage nach Alternativen zu „Schocktherapie“ und „Institutionentransfer“ soll nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Bisher gibt es jedenfalls kein einziges Indiz dafür, daß andere Transformationsstrategien zu geringeren Verwerfungen geführt hätten. Wesentlich interessanter für die vorliegende Untersuchung sind die Folgen des Transformationsprozesses für die Einstellungen der Bürger zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland und die Herstellung der inneren Einheit.
Nach einer Allensbach-Umfrage[3] im September 2000 stimmten 53 Prozent aller Befragten in Ostdeutschland der Aussage zu, daß wir „einen Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus“ brauchen. Nur 31 Prozent ihrer westdeutschen Landsleute teilten diese Auffassung. Lediglich 33 Prozent der Ostdeutschen waren der Meinung, daß wir „mit Demokratie die Probleme in der Bundesrepublik lösen können“ (West: 61%) und gar nur 42 Prozent hielten die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik für verteidigenswert, 38 Prozent äußerten hier Zweifel (West: 69% bzw. 17%). Elisabeth Noelle-Neumann sieht in den neuen Bundesländern bisher „nicht das gewachsen, was Dolf Sternberger in den 80er Jahren ‚Verfassungspatriotismus‘ genannt hat“ (2000: 1). Als das Emnid-Institut im August 2001 in der Tageszeitung „Die Welt“ seine regelmäßig durchgeführte Erhebung über das „Bürger-zweiter-Klasse-Empfinden“ der Ostdeutschen veröffentlichte[4], waren es 80 Prozent der Ostdeutschen, die sich als Bürger-zweiter-Klasse wähnten. Nur 17 Prozent meinten, sie seien mit den Westdeutschen gleichberechtigt. Offenbar ist die innere Einheit Deutschlands längst nicht vollendet.
Damit ist aber ein Begriff genannt, dem es bisher an „einer klaren theoretischen Einbettung“ gemangelt hat (Kaase/Bauer-Kaase 1998: 251). Was mit innerer Einheit konkret gemeint ist, differiert je nach Kommentator[5]. Manche Autoren stellen politische Wertorientierungen und Einstellungen zur sozialen Marktwirtschaft in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen (Arzheimer/Klein 1997), für andere geht es um unterschiedliche Demokratieverständnisse (Feist 1991; Fuchs 1997) oder um wahrgenommene Verteilungsungerechtigkeiten (Schluchter 1996) und wieder andere zielen auf Ost-West-Stereotype, d.h. auf die gegenseitige Zuweisung von negativen Charaktereigenschaften ab (Kaase 1995, 1999; ders./Bauer-Kaase 1998). Auf einige Autoren wird im Literaturüberblick zurückzukommen sein.
In der vorliegenden Arbeit soll ein zweidimensionales Begriffsverständnis angewandt werden. Die Herstellung der inneren Einheit bedeutet demnach erstens die Überwindung eines kollektiven Benachteiligungsempfindens der Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen, welches als „Bürger-zweiter-Klasse-Empfinden“ operationalisiert werden kann. Dieses Benachteiligungsempfinden führt zu einer verstärkten Selbstidentifikation der Ostdeutschen, die als Abgrenzung gegenüber dem Westen zu verstehen ist. Zweitens ist mit innerer Einheit die Überwindung der Präferenz für unterschiedliche Demokratiemodelle in beiden Teilen Deutschlands gemeint. Umfrageergebnisse lassen die Annahme zu, daß Demokratie als Prinzip zwar in beiden Teilen Deutschlands eine gleichermaßen hohe Zustimmung erfährt und über Mindestanforderungen an Demokratie (z.B. Meinungsfreiheit, Demonstrationsrecht usw.) ebenfalls Einigkeit besteht, die Ostdeutschen aber anders als ihre westdeutschen Landsleute weitere, über dieses Maß hinausgehende Anforderungen an Demokratie stellen, die in der Bundesrepublik nicht verwirklicht sind (etwa Recht auf Arbeit, Wohnung usw.), und somit ein anderes Demokratiemodell befürworten, als das in der Bundesrepublik implementierte (vgl. hierzu Fuchs 1997).
Damit wird deutlich, daß es bei dem Begriff innere Einheit offenbar weder um objektive, materielle Angleichung geht, noch um regionale Mentalitätsunterschiede, wie sie beispielsweise zwischen Ostfriesen und Bayern existieren, sondern um eine tiefgreifendere Teilung Deutschlands auf der Ebene der Identitätssuche und der Demokratieverständnisse. Das Phänomen mangelnder innerer Einheit hängt also möglicherweise mit noch unterschiedlichen politischen Kulturen in Deutschland zusammen, die im Gegensatz zur politischen Struktur, also zum Institutionengefüge, bestehen.
Die Notwendigkeit einer gemeinsamen politischen Kultur ergibt sich zum einen aus dem Legitimationsbedarf demokratisch verfaßter Systeme, zum anderen aus den für die Bundesrepublik zu bewältigenden Zukunftsaufgaben. Würde sich etwa herausstellen, daß ein Großteil der Bevölkerung – unabhängig von Ost oder West – mit dem Ziel der Herstellung möglichst großer materieller Gleichheit eher ein stärkeres Eingreifen des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft wünscht, so wäre dies gerade in einer Zeit problematisch, in der unter dem Gesichtspunkt eines sich verstärkenden internationalen Wettbewerbs der Rückzug staatlicher Maßnahmen aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens diskutiert wird.
Zugleich ist die Stabilität eines demokratischen Systems grundsätzlich in Frage gestellt, wenn sich ein größerer Teil der Bevölkerung dauerhaft benachteiligt wähnt oder die vom System produzierten Entscheidungen dauerhaft nicht mitträgt. Nun darf eher bezweifelt werden, daß es in der Bundesrepublik zu einer ernsthaften Infragestellung des politischen Systems seitens der Ostdeutschen kommt. Schon aufgrund der Mehrheitsverhältnisse ist eine solche Entwicklung kaum zu erwarten. Andererseits belegen die empirischen Befunde eindeutig ein deutlich niedrigeres Niveau des Vertrauens in politische Institutionen der Bundesrepublik.[6] Schon unter Machtgesichtspunkten – etwa im Hinblick auf die künftige Entwicklung des Parteiensystems – ergibt sich also die Relevanz der hier behandelten Fragestellung (Brunner/Walz 1998: 229f, 234f).
Die Untersuchung des Problems „innere Einheit“ soll in zwei Arbeitsschritten erfolgen. Zunächst soll der Begriff auf der Grundlage der einleitend angeführten Annahmen operationalisiert werden. Anschließend soll anhand statistischer Umfragedaten Stand und Verlauf der inneren Einheit gemessen werden, um Aussagen über Ursachen einer evtl. noch nicht vollzogenen inneren Einheit treffen zu können und mögliche Zukunftsperspektiven aufzuzeigen. Obwohl die Arbeit aufgrund ihres Ziels vergleichend angelegt ist, wird der Schwerpunkt bei der Betrachtung auf die politischen Einstellungen der Ostdeutschen gelegt. Die Wiedervereinigung Deutschlands wurde durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grungesetzes vollzogen. Damit ist die politische Struktur der alten Bundesrepublik auf die ehemalige DDR übertragen worden. Zwar heißt dies keineswegs, daß die Ostdeutschen nun gehalten sind, auch die politischen Einstellungen der Westdeutschen unreflektiert zu übernehmen, allerdings ist die Frage nicht unberechtigt, ob und inwieweit die Ostdeutschen das neue System akzeptieren, es unterstützen und – mehr noch – sich in ihm heimisch fühlen.
Die Datenlage ist für das Ziel der vorliegenden Arbeit alles andere als kompfortabel. Dies ergibt sich bereits daraus, daß es eine theoretische Fundierung des Begriffs innere Einheit nicht gibt. Damit kann aber auch keine auf eine solche Untersuchung abgestimmte Sammlung von Daten existieren. Da es sich bei dem, was wir unter innerer Einheit verstehen, um ganz unterschiedliche Aspekte der politischen Kulturforschung handelt, kann auch nicht erwartet werden, daß Daten nun gerade in der hier benötigten Zusammensetzung verfügbar sind. Konkret heißt dies, daß etwa Daten zu bestimmten Fragen nicht für den gesamten Untersuchungszeitraum zur Verfügung standen oder aber nicht mehr auf dem neuesten Stand weil veraltet waren. Teilweise mußten auch Daten einfach aus der Literatur entnommen werden, weil es nicht möglich war, sie z.B. in einem Datensatz von einem Meinungsforschungsinstitut zu akquirieren. Natürlich beeinträchtigt dies die Aussagekraft der in dieser Arbeit getroffenen Feststellungen, weil z.B. Ergebnisse auf der Grundlage von Umfragedaten aus dem Jahre 1995 heute nun einmal mit Vorsicht behandelt werden müssen.
Grundsätzlich wurden Daten aus fünf verschiednen Quellen verwendet. Für die Betrachtung der Einstellungen zur Demokratie kamen Umfragedaten aus der Studie von Westle/Roßteutscher „Politische Kulturen im vereinten Deutschland 1992“ sowie aus der Nachfolgestudie von Westle „Politische Kulturen im vereinten Deutschland 1993“[7] zur Anwendung. Außerdem wurden unter diesem Aspekt Daten aus der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage für Sozialwissenschaften (ALLBUS) benutzt.[8] Weitere Umfragedaten zu ganz verschiedenen Aspekten des Themas stammen aus dem Archiv des Instituts für Demoskopie Allensbach. Dieses stellte dankenswerterweise zahlreiche Dokumentationen inklusive Anhangtabellen und Schaubilder der regelmäßigen Beiträge Elisabeth Noelle-Neumanns in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Verfügung.[9] Schließlich mußten einige Daten, wie bereits ausgeführt, aus der einschlägigen Literatur zitiert werden. Dies betrifft alle Daten zum Bürger-zweiter-Klasse-Empfinden der Ostdeutschen, die den Beiträgen von Brunner und Walz entnommen sind sowie die Typologie von Max Kaase über die Selbst- und Fremdkategorisierung von West- und Ostdeutschen.[10]
Die Daten wurden jeweils benutzt, um mit Hilfe von Häufigkeitsauszählungen Ost-West-Unterschiede zu verdeutlichen. Alle verwendeten und dokumentierten Daten sind im Anhang aufgeführt.
Die vorliegende Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil sollen die theoretischen Grundlagen für die weitere Untersuchung gelegt werden. Anhand eines allgemeinen Transformationsmodells soll zunächst gezeigt werden, daß die Implementierung eines neuen politischen Systems nicht unbedingt zeitgleich mit dessen Akzeptanz einhergehen muß. Es soll dargelegt werden, daß beim Übergang von einer Diktatur zur Demokratie die Veränderungen in den politischen Einstellungen der Bürger zeitlich verzögert zu denen auf der institutionellen Ebene, d.h. zur Implementierung des neuen Systems ablaufen können (Abschnitte 2.1. und 2.2.). Die Resultate sollen anschließend auf die Situation in den neuen Bundesländern angewendet werden, um einen Eindruck von der Ausgangslage im Hinblick auf die politischen Orientierungen der Ostdeutschen zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung zu gewinnen. Von Bedeutung ist dabei auch die Frage, ob und gegebenenfalls wie bereits in der DDR politische Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber dem neuen System entstehen konnten (Abschnitt 2.3.).
Im dritten Kapitel wird hergeleitet, welche Bedeutung die Akzeptanz des neuen Systems durch die Ostdeutschen für dessen Stabilität hat. Dabei werden zunächst die Begriffe „Legitimität“ und „Stabilität“ erläutert, um anschließend den Zusammenhang zwischen beiden Konzepten zu skizzieren (Abschnitte 3.1., 3.2. und 3.3.).
Ausgehend von diesen allgemeinen Äußerungen zur Legitimität und Stabilität von politischen Systemen sollen die politischen Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber dem neuen System operationalisiert werden. Hierfür eignet sich das Konzept politischer Unterstützung nach David Easton, welcher die Bedeutung einer von den Leistungen eines Systems unabhängigen Unterstützung – also einer Unterstützung des Systems aus Gründen seines Eigenwertes – für die Funktionsfähigkeit von Demokratie herausarbeitet. Das Konzept wird in Abschnitt 3.4. eingehend dargestellt.
Schließlich soll das Kapitel mit der Formulierung einiger allgemeiner Hypothesen zur politischen Unterstützung in Ostdeutschland beendet werden (Abschnitt 3.5.). Diese mögen einen ersten Eindruck vom Stand der inneren Einheit vermitteln, der im anschließenden Kapitel zu vertiefen ist.
Die Herleitung eines Modells innerer Einheit ist Gegenstand des vierten Kapitels. Es wird ausgehend von den in der Literatur zum Thema debattierten Aspekten in Abschnitt 4.1. konstruiert. Für die Erklärung der Ursachen fehlender innerer Einheit müssen situationsbedingte und sozialisationsbedingte Ansätze als grundlegende Erklärungsmodelle voneinander unterschieden werden (Abschnitt 4.2.) Sodann sind zwei Dimensionen innerer Einheit zu betrachten. Erstens wird das kollektive Benachteiligunsempfinden in den neuen Bundesländern in Verbindung mit der verstärkten Selbstidentifikation der Ostdeutschen und mögliche Ursachen dieses Phänomens betrachtet (Abschnitt 4.3.), zweitens sollen zur Untersuchung der Einstellungen zur Demokratie Objektebenen derselben sowie verschiedene Demokratiemodelle voneinander getrennt werden, um darauf aufbauend die Frage aufzuwerfen, ob die Bürger in den neuen Ländern möglicherweise ein anderes Demokratiemodell präferieren (Abschnitt 4.4.).
Am Ende des ersten Teils werden im fünften Kapitel auf der Grundlage der bis dahin hergeleiteten Annahmen einige Hypothesen formuliert, welche dann im zweiten Teil zu untersuchen sind.
Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Messung beider Ebenen innerer Einheit und ihrer Dimensionen. Zunächst steht das Bürger-zweiter-Klasse-Empfinden der Ostdeutschen im Mittelpunkt (Kapitel 6 und 7), welches mit den Wirtschaftserwartungen sowie der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung (Abschnitt 6.1.) und der politischen Unzufriedenheit (Abschnitt 6.2.) verglichen wird. Anschließend wird das Bürger-zweiter-Klasse-Empfinden der Untersuchung von Selbst- und Fremdkategorisierungen nach Kaase gegenübergestellt (Abschnitt 6.3.), wodurch die Selbstidentifikation der Ostdeutschen und ihre gleichzeitige Abgrenzung von den Westdeutschen herausgearbeitet werden kann. Auf dieser Grundlage beschäftigt sich Kapitel 7 mit der Diskussion über die in Kapitel 4 vorgestellten Erklärungsansätze für das kollektive Benachteiligungsempfinden der Ostdeutschen. Die normativen Einstellungen zum Demokratiemodell der Bundesrepublik in Ost und Westdeutschland werden schließlich im achten und letzten Kapitel untersucht, und zwar auf der Grundlage der in Kapitel 4 vorgestellten Objektebenen von Demokratie.
Am Schluß soll ein Fazit darüber gezogen werden, ob wir auch elf Jahre nach der Wiedervereinigung ein Staat mit zwei politischen Kulturen sind.
Seit Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands hat es vielfältige Versuche gegeben, sich den Phänomenen des Transformationsprozesses wissenschaftlich anzunähern. Die Fülle an Literatur zu diesem Thema – vor allem in Form von Aufsatzsammlungen – ist dabei ebenso unüberschaubar wie die unterschiedlichen Aspekte des ostdeutschen Transformationsprozesses. Leider exisitieren kaum in sich schlüssige Theorien über Wandlungsprozesse, wie wir sie Anfang der neunziger Jahre in ganz Osteuropa erlebt haben. Bis 1990 war es für Sozialwissenschaftler zudem nicht möglich, seriöse Umfragedaten in Ostdeutschland zu erheben, was die Analyse politisch-kultureller, aber auch struktureller Entwicklungen in der ehemaligen DDR erschwerte, wenn nicht gar verunmöglichte. Daß der Rückgriff auf offizielle Parteiangaben nicht für die Erlangung umfangreicher Kenntnisse ausreichte, dürfte außer Frage stehen.
Die Vielfältigkeit der Literatur zum Transformationsprozeß Ostdeutschlands erklärt sich aber auch durch die Überkomplexität und Multidimensionalität des Problems. So gehören auf der strukturellen Ebene die Etablierung neuer Verwaltungsstrukturen, die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und die Übernahme des bundesrepublikanischen Rechtssystems ebenso zum Forschungsgegenstand wie die Herstellung annähernd gleichwertiger Lebensverhältnisse auf der materiellen und die Angleichung der politischen Orientierungen in beiden Teilen Deutschlands auf der politisch-kulturellen Ebene.
Da die vorliegende Arbeit das Problem der noch nicht vollendeten inneren Einheit – wie einleitend dargestellt – auf der politisch-kulturellen Ebene sieht, soll dieser Literaturüberblick vor allem Untersuchungen auf diesem Gebiet behandeln. Die Debatte wird dabei vor allem auf zwei Ebenen geführt: erstens auf der Ebene der Suche nach einer gemeinsamen, gesamtdeutschen Identität und zweitens auf der der Einstellungen zum politischen System der Bundesrepublik. Darüber, daß auf beiden Ebenen auch elf Jahre nach Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands erhebliche Verwerfungen und Unterschiede zwischen beiden Teilen Deutschlands besetehen, herrscht in der Literatur weitgehend Einigkeit.
„Vereint – und doch gespalten“, so der Befund, den Ursula Feist bereits 1991 in ihrem Beitrag vorlegte (1991: 21). Für Manfred Kuechler zeigt sich „im Zeitverlauf eher ein (Wieder-)Anwachsen sich abgrenzender ostdeutscher Gruppenidentität“, woraus eine „hinreichende empirische Evidenz, in der Tat von einer inneren Mauer zu sprechen“, gegeben sei (1998: 298). Andere Autoren führen den Gedanken noch weiter und meinen, daß das spezifische „Ost-Bewußtsein“ mit dem nationalen Bewußtsein nicht identisch sei, wohingegen die Westdeutschen ihr „West-Bewußtsein“ als Teilaspekt ihres Nationalbewußtseins betrachteten (so Hessel/Geyer/Würz u.a. 1997: 46).
Dieter Fuchs, Edeltraud Roller und Bernhard Weßels zeigen, „daß es zumindest Hinsichtlich der Akzeptanz der Demokratie des vereinigten Deutschlands noch keine integrierte politische Gesellschaft gibt“ (1997: 11). Auch werden Differenzen in der Wertehierarchie zwischen Ost und West festgestellt. Während „im Westen die Freiheitsrechte an erster Stelle stehen“, werden „im Osten soziale Bedürfnisse als Menschenrechte reklamiert“ (Spittmann 1995: 6). Mithin gehe es also um die Fähigkeit „ost-west-übergreifende Grundkonsense zu stiften“, beim Prozeß der „inneren Einigung“ handle es sich um einen „politischen, geistig-kulturellen Vermittlungsprozeß und seine(n) Bedingungen“ (Misselwitz 1999: 25).
Im Mittelpunkt der Debatte stehen vor allem die Ursachen dieser Ost-West-Unterschiede. Dabei können zwei Strömungen voneinander getrennt werden: Während die erste unterschiedliche Wertorientierungen in beiden Teilen Deutschlands ausmacht (Meulemann 1995, 1996, 1998; Klages/Gensicke 1993; Wegener/Liebig 1998; Noll 1998), stellt die zweite eine noch nicht gefundene gemeinsame Identität in den Mittelpunkt der Betrachtung, wobei in den neuen Bundesländern eine zunehemend stärker werdende ostdeutsche Teilidentität diagnostiziert wird. Hinsichtlich der Urschachen dieser Phänomene lassen sich grob wiederum zwei sich gegenüberstehende Erklärungsansätze ausmachen.
Der erste geht davon aus, daß unterschiedliche Wertorientierungen und Demokratieverständnisse auf die Sozialisation in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen zurückzuführen sind. Dieser Ansatz ist als Sozialisationsthese bekannt. Die Vertreter dieser These gehen davon aus, daß Wertvorstellungen und politische Orientierungen in einem langfristigen Prozeß und unter Einwirkung des jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes von den Individuen erworben werden und kurz- oder mittelfristig nicht veränderbar sind. Bezogen auf den Prozeß der inneren Einheit bedeutet dies, daß die Bürger Ostdeutschlands ihre Wertvorstellungen im Gesellschaftssystem der DDR erworben haben und die Kompatibilität dieser Orientierungen mit dem System der Bundesrepublik zumindest nicht kurzfristig gewährleistet werden kann (vgl. Gabriel 1997a: 17ff, 1997b: 472ff).[11]
Dieser Ansatz ist von verschiedenen Autoren kritisiert worden. Bezweifelt wird vor allem der Erfolg, den das SED-Regime bei der Vermittlung des sozialistischen Wertesystems hatte. Außerdem wird kritisiert, daß der Ansatz die DDR-Gesellschaft unzulässig homogenisiere (Ders. 1997a: 19; Pollack 1997: 5). Gegen den Sozialisationsansatz spricht in der Tat die Bürgerbewegung von 1989, welche unter der Annahme der erfolgreichen Etablierung einer sozialistischen Gesellschaft im Rahmen der DDR-Sozialisation nicht hätte stattfinden dürfen. Auch kann die Sozialisationsthese kaum zur Erklärung einer erst nach der Wiedervereinigung entstandenen spezifischen Ost-Identität beitragen, weisen doch die Befunde in der Literatur gerade auf das Phänomen einer stärker werdenden Abgrenzung der Ostdeutschen nach 1990 hin (vgl. Brunner/Walz 1998: 229ff).
Neben der Sozialisationsthese werden deshalb situative Faktoren zur Erklärung unterschiedlicher Wertorientierungen und einer sich verstärkenden ostdeutschen Teilidentität herangezogen[12]. Der Begriff „situativ“ deutet bereits darauf hin, daß es sich hierbei – im Gegensatz zur Sozialisationsthese – um zumindest theoretisch kurzfirstig veränderbare Faktoren handelt. In dieser Kategorie werden vor allem sozioökonomische Aspekte als Erklärungsfaktoren angeführt. So sei es nicht der „Abbau der vermeintlichen ‚Überheblichkeit des Westens‘, sondern vielmehr eine durchgreifende Änderung der Verhältnisse auf wirtschaftlicher Ebene, die einen Rückgang des Gefühls ‚Bürger 2. Klasse‘ bewirken und den entscheidenden Beitrag zur ‚Einheit Deutschlands‘ leisten wird“ (Brunner/Walz 1998: 249).
Es bestehe „ein erhebliches Ausmaß an Unzufriedenheit mit dem Prozeß der Einigung, das auf seiten der Ostdeutschen bereits tendenziell zu einer Ab- und Ausgrenzung (...) geführt hat, und das sich in erheblichen Vorbehalten gegenüber gesellschaftstragenden Institutionen (...) niederschlägt“ (Kuechler 1998: 297).
Eine zweite Spielart situativer Erklärungsansätze ist die Kompensationshypothese. Diese führt die Abgrenzung der Ostdeutschen auf eine vermeintliche gesellschaftliche Diskriminierung zurück. Detlef Pollack erkennt in der Distanz der Ostdeutschen zum System der Bundesrepublik ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung. Die Ostdeutschen nehmen sich selbst und ihre Vergangenheit vielfach als abgewertet wahr (Pollack 1997: 9).
Das „Gefühl des Mißachtetwerdens“ habe vielfach mit der Art und Weise des öffentlichen Umgangs mit der DDR-Vergangenheit zu tun, was zu einer schlechteren Bewertung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung Westdeutschlands bei gleichzeitiger rückbilckenden Aufwertung des DDR-Systems beitrage, weil so die erfahrene Abwertung der ostdeutschen Herkunft kompensiert werden könne (ders.: 10).
Erwähnenswert, weil aus dem Rahmen fallend, erscheint der Beitrag Hans-Joachim Veens, der die Existenz des Problems mangelnder innerer Einheit an sich bestreitet. „Wie steht es also mit der inneren Einheit?“, fragt Veen und antwortet: „Wir haben sie bereits“ (1997: 28). Auf der Grundlage eines Kriterienkatalogs über das, was innere Einheit beinhalten soll, leitet Veen seine These ab. Demnach sei das Ziel der inneren Einheit strikt auf „die Legitimitätsgrundlagen des Verfassungsstaates“ zu beschränken (ders.: 26). Neben der Zustimmung der Bürger zu den gemeinsamen Grundlagen der staatlichen Ordnung und der Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft gehörten dazu die Identifikation mit dem vereinigten Deutschland und eine unabhängig von wechselseitigen Vorurteilen bestehende Grundsympathie füreinander. Veen hält diese Kriterien für verwirklicht.
Wenn Veen allerdings die Identifikation mit dem vereinigten Deutschland als Kriterium anführt, so läßt die empirische Forschung zumindest Zweifel an der Tragfähigkeit seiner These zu. Auch bei der Zustimmung zu marktwirtschaftlichen Prinzipien könnte Veens optimistischer Einschätzung widersprochen werden.
Die Fragestellung lautet deshalb: Was bedeutet „innere Einheit“? Reicht der Verweis auf die ohne Zweifel vorhandene breite Akzeptanz der demokratischen Grundordnung in Ost und West wirklich aus? Welche Aussagen lassen sich über die Existenz einer gemeinsamen politischen Kultur in Deutschland treffen und welche Fortschritte konnten gegebenenfalls in den letzten zehn Jahren erzielt werden? Auf diese Fragen eine Antwort zu geben, ist das Anliegen dieser Arbeit.
I. THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN UND BEGRIFFSBESTIMMUNGEN
Einleitend wurde bereits kurz dargestellt, daß der deutsche Einigungsprozeß ein Transformationsprozeß war, der im Kontext des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime in den Ostblockstaaten stattfand. Ausgangspunkt war – wie in anderen Ostblockstaaten – die Umwandlung eines totalitären, sozialistischen und planwirtschaftlich orientierten Einparteiensystems in eine liberale und marktwirtschaftliche Demokratie. Derartige Systemwandel sind seit jeher Bestandteil der politikwissenschaftlichen Forschung, ohne daß es jedoch bislang gelungen wäre, eine in sich schlüssige und allgemein gültige Theorie von Systemwechseln zu etablieren. Andreas Eisen und Max Kaase (1996) greifen in ihrem Beitrag ein auf O’Donnel, Schmitter und Whitehead zurückgehendes Phasenmodell der Transformation (Abschnitt 2.1.) auf, das für die vorliegende Arbeit deshalb geeignet erscheint, weil Interaktionen und Verwerfungen zwischen politischer Struktur und politischer Kultur (2.2. und 2.3.) während der Uwandlungsprozesse hier explizit gedanklich angelegt sind.
Eisen und Kaase bezeichnen den gesamten Zeitraum vom Beginn der Erosion eines alten Regimes bis zur Konsolidierung des neuen politischen Regimes als Transition. Der Begriff Transformation bezieht sich dagegen lediglich auf die Umwandlung politischer Institutionen in einer bestimmten Phase des Transitionsprozesses (1996: 8). Im folgenden soll deshalb auf die bei Eisen und Kaase angewandte Terminologie zurückgegriffen werden.
Das Modell ist ein Mehrebenenmodell, d.h. es wird zwischen einer Makro-, Meso- und einer Mikroebene unterschieden. Die Makroebene bezeichnet das Regierungssystem und die politischen Institutionen, die Mesoebene das intermediäre System bzw. die kollektiven Akteure und die Mikroebene die individuellen Akteure (ebd.: 19).
Die nachfolgend dargestellten drei Phasen des politischen Wandels müssen auf allen drei Ebenen stattfinden. Es sind dies die Liberalisierung, die Demokratisierung und schließlich die Konsolidierung.
a) Liberalisierung: Die Liberalisierung ist die erste Phase der Transition. Die politische Elite des alten, nichtdemokratischen Systems versucht hier eine gewisse Öffnung des Systems zu erreichen, ohne daß dabei jedoch die Machtverhältnisse prinzipiell in Frage gestellt werden. Diese Liberalisierungsversuche schließen zaghafte Erweiterungen der persönlichen Freiheitsrechte ein. Während die alten Eliten auf der Makroebene also vorerst verharren, kommt es auf der Mesoebene zum Auftreten neuer kollektiver Akteure. Für die individuellen Akteure auf der Mikroebene beginnt eine Neuorientierung gegenüber dem politischen System. Am Beispiel der DDR läßt sich die Phase der Liberalisierung zeitlich recht genau eingrenzen. Sie reichte vom Oktober bis zum Dezember 1989. Charakteristische Ereignisse dieser Phase waren die Leipziger Montagsdemonstrationen, der Rücktritt Erich Honeckers von allen politischen Ämtern, die Verkündung der neuen Reiseverordnung, in deren Folge die Mauer fiel, und die Entstehung neuer, oppositioneller Kräfte (z.B. Neues Forum). Diese Phase endet mit der Streichung des Führungsanspruchs der SED aus der DDR-Verfassung (ebd.: 8f, 19).
b) Demokratisierung: Die Phase der Demokratisierung umfaßt die Herstellung demokratischer politischer Institutionen sowie die Gewährleistung von Bürgerrechten und politischen Partizipationsmöglichkeiten. Auf der Makroebene des politischen Systems findet nun das statt, was Eisen und Kaase als Transformation bezeichnen. Die Mesoebene ist geprägt durch die Neukonstellation des intermediären Systems Es entsteht Parteienpluralismus und -wettbewerb einschließlich der Durchführung freier und geheimer Wahlen. Die individuellen Akteure auf der Mikroebene zeichnen sich durch diffuse Orientierungen gegenüber dem System aus. Die Phase der Demokratisierung in der DDR dauerte von Dezember 1989 bis zum 3. Oktober 1990. Hier kam es zur ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990, zur Neugründung der fünf Bundesländer und zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bunderepublik (ebd.: 8f, 19).
c) Konsolidierung: Diese Phase ist gekennzeichnet durch die endgültige Institutionalisierung des neuen politischen Systems, der Stabilisierung des intermediären Systems und der Entwicklung einer Neuorientierung der Bürger gegenüber dem politischen System. Hierzu gehören sowohl die Bewältigung wirtschaftlicher Krisen, der Umgang mit den Belastungen des vorangegangenen Regimes und der Verbleib alter sowie die Rekrutierung neuer Eliten, als auch Probleme aufgrund einer noch nicht ausgebildeten demokratischen politischen Kultur. Die Konsolidierungsphase stellt somit wohl den schwierigsten Abschnitt in einem Transitionsprozeß dar.
Hinsichtlich der zeitlichen Abgrenzung dieser Phase lassen sich allgemein weniger Aussagen treffen als bei den anderen Phasen, da die zeitliche Dimension der Konsolidierung nicht eindeutig definiert werden kann. Die Frage nach der Stabilität neu etablierter Demokratien kann wohl nur empirisch und im historischen Kontext beantwortet werden, weil überraschende Ereignisse plötzlich zu erneuten Systemwechseln führen können (ebd.: 8, 19).
Die Konsolidierungsphase in den neuen Bundesländern beginnt mit dem Vollzug der staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990. Zu welchem Zeitpunkt sie als abgeschlossen gelten kann, hängt wesentlich davon ab, ob das neue politische System hinreichend unterstützt wird. Auf der Makroebene kann die Konsolidierung als abgeschlossen gelten, auf der Mesoebene erscheint dies jedoch bereits fraglich. Inwieweit die politischen Orientierungen individueller Akteure auf der Mikroebene bereits so weit stabilisiert sind, daß der Transitionsprozeß insgesamt auch hier als abgeschlossen gelten kann, bleibt nicht zuletzt Teil der hier aufgeworfenen Fragestellung.
Im folgenden soll das in Tabellenform aufgestellte Modell noch einmal einen kurzen Überblick über das gesagte gewährleisten.
Tabelle 1: Mehrebenenmodell der politischen Transition
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
historische Zeit
Quelle: Eisen, Andreas / Kaase, Max: Transformation und Transition: Zur politikwissenschaftlichen Analyse des Prozesses der deutschen Vereinigung, in: Kaase, Max / Eisen, Andreas / Gabriel, Oscar W.: Politisches System, Opladen 1996, 19.
Auf der Mikroebene des eingeführten Modells werden Wandlungsprozesse der individuellen Einstellungen und Orientierungen der Bürger gegenüber dem politischen System betrachtet. Hinter der Notwendigkeit der Erforschung solcher Prozesse auf dieser Ebene steckt der Grundgedanke, daß demokratische Systeme – ganz im Gegensatz zu Diktaturen – langfristig nur dann existieren können, wenn sie von der Bevölkerung hinreichend unterstützt werden. Wo totalitäre Regime ihre Stabilität durch Rückgriff auf Gewaltmittel oder durch bloße Androhung dieser sichern, bedürfen demokratische Systeme – wollen sie langfristig stabil bleiben – der freiwilligen Unterstützung durch ihre Bürger.
Allgemein verbindliche Entscheidungen, welche im politischen Alltagsgeschäft getroffen werden müssen, kommen auf der Basis bestimmter Werte und im Rahmen einer bestimmten institutionellen Ordnung zustande. Die Akzeptanz dieser Werte, Normen und Entscheidungsverfahren durch mindestens einen Teil der Bürger ist unabdingbare Voraussetzung für die Existenz des politischen Systems, denn letztlich müssen von den Bürgern auch solche politische Entscheidungen hingenommen werden, mit denen sie nicht einverstanden sind. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, werden also die politischen Institutionen und Entscheidungsverfahren von einer Mehrheit der Bürger nicht akzeptiert, so wird die Funktionsweise des entsprechenden Systems entscheidend in Frage gestellt. Diese Überlegungen werden in der Politikwissenschaft unter dem Begriff der Legitimität subsumiert (Gabriel 1996: 239; vgl. auch Mandt/Kaase 1991: 338ff).
Die Summe der auf das jeweilige System bezogenen Orientierungen und Einstellungsmuster wird als politische Kultur bezeichnet. Damit steht die subjektive Dimension des politischen Systems im Mittelpunkt. Da als prägende Faktoren hierbei sowohl gegenwartsbezogene als auch historische Aspekte mitberücksichtigt werden, muß politische Kultur „immer mehr sein (...) als ein Durchschnittswert der politischen Einstellungen zu einem bestimmten Erhebungszeitpunkt“ (Glaab/Korte 1999: 642; vgl. dazu auch Greiffenhagen/Greiffenhagen 2000: 493ff).
Mit der Erforschung der politisch-kulturellen Ebene beschäftigten sich 1963 Gabriel Almond und Sidney Verba in ihrer Pionierstudie „The Civic Culture“, in der sie die politischen Einstellungen der Bürger gegenüber ihrem System in fünf Staaten untersuchten und bestimmte Typen von politischer Kultur zu klassifizieren versuchten. Almond und Verba verstanden unter politischer Kultur „the particular distribution of patterns of orientation toward political objects among the members of the nation“ (1989: 13).
Politische Einstellungen beziehen sich auf bestimmte Objekte. Bisher gelang es der politischen Kulturforschung jedoch nicht, hinreichend Einigkeit über die Abgrenzung solcher Objekte voneinander zu erlangen. Politische Orientierungen können mithin dem politischen System als Ganzem, aber auch Inhabern politischer Ämter, dem politischen Regime oder bestimmten Institutionen bzw. Organisationen gelten. Als Zweckmäßig hat sich hierbei die Benennung bestimmter Bezugsgrößen, wie „politisches System“, „inputs“, „outputs“ und „Ego als politischer Partizipant“ erwiesen (Gabriel 1997a: 12f; vgl. auch Bergem 1993: 21f).
Neben den Bezugsobjekten politischer Orientierungen werden im Rahmen mehrdimensionaler Einstellungskonzepte mehrere Orientierungsarten unterschieden: kognitive Orientierungen beziehen sich auf die Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit, und normative Orientierungen bewerten selbige. Normative politische Orientierungen können weiter in affektive und evaluative untergliedert werden. Erstere werden von individuellen Bedürfnissen, Vorlieben oder Abneigungen, letztere von in der Gesellschaft gültigen moralischen Standards bestimmt (vgl. Gabriel 1997b: 388; Bergem 1993: 21f).
Die Ungenauigkeit, ja sogar Beliebigkeit derartiger Abgrenzungen erschweren eine Operationalisierung zum Zweck empirischer Untersuchungen erheblich. Offen bleiben bislang auch Fragen nach Wertorientierungen, Verhaltensweisen und Kenntnissen, die unbedingt zur politischen Kultur einer Demokratie gehören, nach dem erforderlichen Maß der Verbreitung und der Homogenität solcher Orientierungen in einem demokratisch verfaßten Gemeinwesen und nach den Folgen eines Dissenses für Funktionsfähigkeit und Bestand des politischen Systems. Letztlich werden damit normative Fragen angesprochen, die mittels empirischer Forschung kaum einhellig beantwortet werden können (Gabriel 1997b: 389).
Wenn sich demokratische Wertorientierungen jedoch auf politische Objekte, wie z.B. Institutionen beziehen, dann ist das Zusammenspiel und die Beziehung zwischen politischer Struktur und politischer Kultur bei Wandlungsprozessen von entscheidender Bedeutung. Damit wäre ein Aspekt angesprochen, der im oben eingeführten Transitionsmodell gedanklich bereits angelegt ist. Das Modell unterscheidet als Mehrebenenmodell zwischen Makro-, Meso-, und Mikroebene. Eine solche Unterscheidung wäre prinzipiell zwar auch dann möglich, wenn die Wandlungsprozesse auf allen drei Ebenen gleichzeitig verlaufen würden, die eigentliche Komplexität von Transitionsprozessen ergibt sich jedoch erst aus der Ungleichzeitigkeit der Transition auf jenen Ebenen.
Wenn politische Struktur als „Muster der konstitutionell vorgegebenen und institutionalisierten Rollen und Regeln“ und politische Kultur als „Orientierungen gegenüber diesen Rollen und Regeln“ bezeichnet wird, so kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, daß sich politische Struktur und Kultur parallel zueinander entwickeln, da sich auf totalitäre Systeme ausgerichtete und sozialisierte Einstellungsmuster in der Bevölkerung nur langsam verändern (ebd.: 25f).
Zudem impliziert der Begriff der politischen Kultur – verstanden als Summe der gegenüber einem System vorhandenen Einstellungsmuster – eine Heterogenität, die insbesondere in Transitionsprozessen zum Tragen kommt. Teile der Bürger fungieren etwa als Initiatoren oder Träger von Wandlungsprozessen, andere wiederum stehen den Veränderungen und dem neu zu etablierenden politischen System ablehnend gegenüber. Wird der Regimewechsel nicht konsensual durchgeführt, so gibt es Gewinner und Verlierer, und somit eine Spaltung in Befürworter und Gegner des neuen Regimes, was wiederum die Konsolidierungsphase beeinflußt (vgl. Gabriel 1997a: 14f).
Zwischen dem Wandel individueller Orientierungen und dem politischer Institutionen und Organisationsstrukturen kann somit kein Bestehen einer „Eins-zu-Eins-Beziehung“ unterstellt werden, vielmehr verlaufen die Veränderungen auf der Mikroebene mit einer erheblichen Zeitverzögerung zu denen auf der Makroebene. Ein synchroner Verlauf ist dabei „eher die Ausnahme als die Regel“ (Gabriel 1996: 235).
Ob und wenn ja, welche politischen Institutionen als legitim gelten, hängt entscheident von den gesellschaftlichen Wertorientierungen ab. Schlüssig erscheint das von vielen Autoren vertretene Argument, daß die Herausbildung solcher politischer Wertorientierungen maßgeblich von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen beeinflußt wird. Verwiesen wird auf die ersten 20 der Bundesrepublik, in denen der Zusammenhang zwischen ökonomischer Prosperität und Wohlstandsentwicklung einerseits sowie der Akzeptanz und somit der langfristigen Stabilität des politischen Systems andererseits sehr eng war (vgl. Eisen/Kaase 1996: 26; Kaase 1999: 455).
Bezogen auf die Akzeptanz des politischen Systems in den neuen Bundesländern darf jedoch die Frage gestellt werden, inwieweit gerade ein solch selbsttragender ökonomischer Aufschwung in diesen Zeiten überhaupt realistisch erscheint. Der Verweis auf den engen Zusammenhang zwischen Demokratieakzeptanz und sozioökonomischen Bedingungen in den ersten beiden Dekaden der Bundesrepublik kann in bezug auf Ostdeutschland allenfalls eingeschränkt gelten.
Unter welchen Umständen ein System von seinen Bürgern auch dann akzeptiert wird, wenn über den Output mehrheitlich Unzufriedenheit herrscht, soll im dritten Kapitel näher betrachtet werden. Zuvor muß sich der Blick jedoch auf die Ausgangslage des Transitionsprozesses in Ostdeutschland richten. Dabei soll – insbesondere bezogen auf die Ebene der politischen Einstellungen – das bisher allgemein über Wandlungsprozesse politischer Systeme gesagte nun auf die spezifische Situation im vereinten Deutschland übertragen und angewendet werden.
Anders als in den übrigen ehemals kommunistischen Staaten war der Transitionsprozeß Ostdeutschlands von der Aufgabe der staatlichen Souveränität der DDR und dem Beitritt derselben zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland geprägt. Während es in den übrigen Ostblockstaaten keine klaren und allgemein akzeptierten Vorstellungen über grundlegende Strukturen des künftigen Regierungssystems gab – klar war hier lediglich die allgemeine Zielrichtung einer liberalen, pluralistischen und marktwirtschaftlichen Demokratie –, war die Institutionenordnung in Ostdeutschland mit dem Beitritt zur Bundesrepublik von Anfang an klar vorgegeben. Insofern schienen die Voraussetzungen für einen erfolgreich verlaufenden Transitionsprozeß gerade in Ostdeutschland hervorragend. Mittlerweile kann zwar der Institutionentransfer als abgeschlossen gelten, dennoch scheint die Phase der Konsolidierung – insbesondere auf der Mikroebene des politischen Systems – keineswegs beendet.
Da es bis 1990 nicht möglich war, eine breite Datenbasis über die politischen Einstellungen der Bürger in Ostdeutschland zu erarbeiten, konnte über Fragen nach der Kompatibilität der politischen Orientierungen der neuen Bündesbürger mit dem nunmehr etablierten System zunächst nur spekuliert werden. Allgemein akzeptiert war die These, daß die politischen Einstellungen der DDR-Bürger in einem totalitären System geprägt wurden und die Demokratieakzeptanz in den neuen Bundesländern erst in einem langfristigen Prozeß, ähnlich wie in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, wachsen müsse. Die ersten Umfrageergebnisse brachten dann jedoch erstaunliche Resultate hervor. Wie bereits Ergebnis und Wahlbeteiligung bei der ersten freien Volkskammerwahl erahnen ließen, ergab sich eine außerordentlich große Zustimmung zu demokratischen und liberalen Grundwerten. Auch Umfragen in anderen Einstellungs- und Verhaltensbereichen ließen große Übereinstimmungen zwischen Ost- und Westdeutschen erkennen (vgl. Gabriel 1996: 231f). Wenngleich diese Ergebnisse doch erheblichen Verzerrungen durch die Wiedervereinigungseuphorie unterlagen, kann festgestellt werden, daß die grundsätzliche Akzeptanz der Demokratie durch die Bürger in den neuen Ländern nicht zur Disposition steht. Allerdings lassen sich durch in den letzten zehn Jahren durchgeführte Untersuchungen durchaus Unterschiede in bezug auf Freiheits- und Gleichheitsideale, Institutionenvertrauen, Zufriedenheit mit der bundesrepublikanischen Demokratie bzw. Romantisierung der DDR und schließlich Wertepräferenzen ausmachen (Eisen/Kaase 1996: 43).
Wenn aber zumindest auf der Ebene der grundsätzlichen Akzeptanz von Demokratie große Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen festzustellen waren, so fragt sich, wie diese in so unterschiedlichen politischen Systemen haben zustande kommen können. Während in der Bundesrepublik die Entscheidung für eine liberale und pluralistische Demokratie mit der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Integration in das westliche Bündnis gefallen war, verstand sich die DDR von Anfang an als politisches und ökonomisches Gegenmodell zum Westen. Ihre Legitimation bezog die DDR aus ihrem Selbstverständnis als erster Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, womit eine Ablehnung der politischen und ökonomischen Ordnungsvorstellungen der Bundesrepublik einherging. Die Implikationen für die politischen Kulturen in beiden Teilen Deutschlands waren der erfolgreiche Versuch, in der alten Bundesrepublik eine mit der liberalen Demokratie kompatible politische Kultur zu etablieren und die Propagierung der sozialistischen Persönlichkeit seitens der SED in der DDR. Ob dieses Unterfangen ebenso erfolgreich verlief, darf angesichts der nach 1989/90 möglich gewordenen Untersuchungen bezweifelt werden. Dennoch „läßt das vermutete Akzeptanzdefizit des DDR-Sozialismus keine Voraussage über die Einstellungen zur Gesellschaft und Politik im vereinigten Deutschland zu“ (Gabriel 1996: 243).
Es darf nämlich trotz der offensichtlichen Ablehnung des SED-Regimes seitens der DDR-Bürger nicht automatisch von einer Ablehnung sämtlicher Elemente des sozialistischen Wertesystems ausgegangen werden. Berücksichtigt werden muß, daß negative Einstellungen zur Marktsteuerung, Antipluralismus und Kollektivismus in Deutschland historisch verankert sind – Einstellungen, an die die propagierte DDR-Staatsdoktrin anknüpfen konnte.
Daß dennoch ein großes Maß an Demokratieakzeptanz bei den Bürgern in den neuen Ländern festgestellt wurde, liegt möglicherweise daran, daß diese sich bereits in der DDR mit bestimmten Elementen der bundesdeutschen Demokratie identifizierten. Die gemeinsame Sprache ermöglichte immerhin einen Informationsaustausch über Rundfunk und Fernsehen, so daß die Ostdeutschen ein Bild vom anderen Teil Deutschlands gewinnen konnten, wenngleich ein verzerrtes. Zumindest konnten auf diesem Wege diffuse politische Orientierungen gegenüber dem 1990 übernommenen System entstehen.
Die infolge mangelnder Erfahrungen mit dem bundesrepublikanischen System offenbar weitverbreitete Idealisierung desselben durch die DDR-Bürger schlug nach der Wiedervereinigung in Enttäuschung um, nachdem klar wurde, daß Erfolge bei der Lösung teilungsbedingter Probleme allenfalls mittelfrisitig erzielbar waren. Welche Implikationen dies für die – nicht in Jahrzehnten gewachsenen – Einstellungen der Ostdeutschen gegenüber dem neuen System hat, hängt davon ab, inwieweit die Bürger die Unzufriedenheit über aktuelle tagespolitische Probleme auf das System zurückführen, d.h. dieses für Probleme verantwortlich machen. Das im folgenden Kapitel einzuführende Konzept der „Politischen Unterstützung“ nach Easton mag hier für weitere Erkenntnisse hilfreich sein.
Eingangs wurde erläutert, daß die Akzeptanz eines politischen Systems durch seine Bürger für seine langfristige Stabilität notwendig ist, so daß zwischen der Legitimation eines politischen Systems durch seine Bürger (Abschnitt 3.1.) und seiner Stabilität (3.2.) ein Zusammenahng besteht (3.3.). Wenn es im vereinten Deutschland also Akzeptanzdefizite eines Teils der Bevölkerung in bezug auf das etablierte politische System gäbe, so hätte dies nicht zu unterschätzende Rückwirkungen auf dasselbe. Vom eher allgemein gehaltenen Begriff der Legitimität politischer Systeme ausgehend versucht das Konzept „Politische Unterstützung“ David Eastons (Abschnitt 3.4.) einen Objektbezug herzustellen und gleichzeitig verschiedene Formen von Unterstützung zu klassifizieren. Wendet man das Konzept auf die Verhältnisse in Ostdeutschland an, so lassen sich schließlich allgemeine Hypothesen formulieren (3.5.).
Unter dem Begriff Legitimität wird gemeinhin die Rechtfertigung politischer Herrschaft verstanden. Diese äußert sich einerseits durch den Glauben an die Rechtmäßigkeit der Herrschaft seitens der Bürger (Legitimitätsglaube) und stützt sich andererseits auf Grundnormen und konstitutive Verfahren, die zur „Verwirklichung der als unverbrüchlich geltenden Normen geeignet sind und normalerweise diesen Maßstäben entsprechend angewandt werden“ (Mandt 1991: 338).
In den westlichen Demokratien sind diese Normen aus der griechisch-römischen Überlieferung, aus jüdisch-christlichen Quellen, aus der germanisch-mittelalterlichen Rechtstradition und aus dem Gedankengut der republikanischen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts erwachsen.
Beide Elemente, Legitimitätsglaube und konstitutive Verfahren, müssen als einander ergänzend betrachtet werden. Legitimitätsglaube allein kann nicht ausreichend für die Legitimität eines politischen Systems sein. Westle führt hierbei das Beispiel des Nationalsozialismus an: „Selbst bei umfassendem Legitimitätsglauben an das nationalsozialistische Regime würde dieses Kriterium keineswegs zur Begründung seiner Legitimität ausreichen“ (1989: 25). Ähnliches kann auch für das SED-Regime gesagt werden.
Würde eine Aufrechnung beider Komponenten von Legitimität gegeneinander vorgenommen, so bedeutete dies, „daß etwa ein Optimum äußeren Friedens das Fehlen periodischer Wahlen oder soziale Sicherheit die Parteienkonkurrenz u.a.m. aufwiegen könnte“ (Mandt 1991: 339).
Ebenso ist die Aufrechnung von Grundnormen untereinander nicht möglich. So kann die Sicherung des Lebens als originäre Staatsaufgabe nicht gegen die Freiheiten des Bürgers eingetauscht werden. Die in Grundrechtskatalogen und Verfassungen niedergeschriebenen und in einem Spannungsverhältnis zueinander stehenden Grundnormen Gleichheit und Freiheit etwa sind trotz der Unmöglichkeit ihrer gleichzeitig vollständigen Verwirklichung als gleichrangig zu betrachten (vgl. Mandt 1991: 339; Westle 1989: 22f).
Werte und Grundnormen einerseits und konstitutive Verfahren andererseits müssen in ihrer Eigenschaft als Legitimitätskomponenten als Einheit betrachtet werden. Die Durchsetzung von Grundnormen ist ohne Verfahren nicht denkbar. Andererseits sind Verfahren nicht ausschließlich rein formaler Natur, sondern haben eine inhaltliche Dimension: „So ist die Gewaltenteilung an die Grundnorm der Freiheit im Sinne der Freiheit von Willkür und der Mäßigung der Macht gebunden; das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsregel im demokratischen Verfassungsstaat steht in enger Relation sowohl zum Freiheitspostulat wie zum Gleichheitsgrundsatz, und dies unabhängig von Bildungs- und Besitzqualifikationen; Repräsenstation zielt auf den Ausgleich von öffentlichem Interesse mit Gruppen wie Individualinteressen (Pluralismus)“ (Mandt 1991: 339).
Wenn das Konzept der Legitimität insbesondere in bezug auf den Legitimitätsglauben theoretisch auf der individuellen Ebene anzusiedeln ist und dementsprechend auch dort gemessen werden muß, so kann Legitimität „als Summe der Legitimitätsüberzeugungen der Bürger auch auf das Gesamtsystem hochaggregiert werden“ (Kaase 1991: 344). Um Legitimität jedoch zu operationalisieren, d.h. meßbar zu machen, braucht es den Rückgriff auf theoretische Präzisierungen des Konzepts. Worauf genau bezieht sich Legitimität und welche Arten von Legitimität müssen unterschieden werden? Hier haben die Arbeiten David Eastons (1965; 1975), in denen dieser sein Konzept politischer Unterstützung darlegt, einen außerordentlichen Beitrag geleistet. Auf dieses Konzept wird in Abschnitt 3.4. näher einzugehen sein.
In nichtdemokratisch verfaßten Systemen ist der Bedarf an Legititmitätsüberzeugung wesentlich geringer als in Demokratien. Zwar bedürfen auch totalitäre Systeme der Folgebereitschaft ihrer Bürger (z.B. in Form von „Mitläufern“), die zentral für den Bestand und das Funktionieren jeglicher Form von Herrschaft ist, jedoch bedienen sich solche Systeme der Anwendung von Zwang, um sich jene Folgebereitschaft zu sichern. In rechtsstaatlichen Demokratien indessen beruht die Folgebereitschaft der Bürger auf Freiwilligkeit (vgl. Westle 1989: 27).
Dies führt zur Frage nach der Stabilität demokratisch verfaßter Systeme und ihren Voraussetzungen.
Noch weniger eindeutig als der Begriff der Legitimität ist der der Stabilität politischer Systeme. Als stabil gilt ein System nach Westle, wenn der Bestand der politischen Ordnung mehr oder weniger unverändert bleibt (ebd.: 22, 25). Entscheident ist also das Ausmaß des „Mehr“ bzw. des „Weniger“, d.h. wieviel Veränderung zulässig ist, damit noch von Stabilität gesprochen werden kann. Die politikwissenschaftliche Forschung versucht dieser Abstraktion durch eine negative Abgrenzung, d.h. durch die Definition des Gegenteils von Stabilität, nämlich „Systemtransformation“ zu entgehen.
Problematisch erscheint hier jedoch die Abgrenzung des – im Extremfall revolutionären – Systemwandels von einer eher allmählichen Überführung eines Systems von einem Zustand in den anderen auf dem Wege der Reform. Die Frage der Systemstabilität kann dabei im ersten Fall eindeutig negativ beantwortet werden. Jedoch bleibt sie in bezug auf eine mehr oder weniger langfristige Systemveränderung offen. Das zeitliche Kriterium – plötzliche versus allmähliche Änderung – genügt somit nicht, eine analytisch saubere Abgrenzung zwischen Systemstabilität und Systemtransformation vorzunehmen. Vielmehr ist die Frage nach Bestand oder Veränderung signifikanter und grundlegender Organisationsprinzipien und Strukturmuster eines politischen Systems relevant, will man Aussagen über Stabilität treffen. Erst wenn jene grundlegenden Organisationsprinzipien und Strukturmuster nicht mehr aufrechterhalten werden können, kann auch nicht mehr von Systemstabilität gesprochen werden (ebd.: 26).
Was allerdings signifikante und grundlegende Merkmale eines politischen Systems sind, kann auf einem solch abstrakten Niveau kaum einvernehmlich beantwortet werden, zeichnen sie sich doch gerade durch ihre Spezifik und Besonderheit aus. Damit scheint aber eine allgemeine Aussage darüber, wann ein politisches System in seinen grundlegenden Merkmalen bedroht und damit instabil ist, nahezu unmöglich.
[...]
[1] Vor allem bei Inhabern politischer Ämter erfreut sich der Topos großer Beliebtheit im Rahmen von Vereinigungsbilanzen, oft jedoch, ohne daß er mit einer konkreten Bedeutung versehen wird, so z.B. bei Thierse 1995 und Eppelmann 1995. Andere Kommentatoren verzichten auf die Verwendung des Begriffs, z.B. Süssmuth 2000 und Reich 2000.
[2] Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, Drs. 14/1825, 18.10.1999, S. 5.
[3] IfD-Umfrage Nr. 6069, September 2000; vgl. dazu Noelle-Neumann 2000, Tab. 1.
[4] Die Welt vom 15. August 2001, S. 4.
[5] Zur Entstehung und Unschärfe des Begriffs „innere Einheit“ siehe Pinkert, Ernst-Ullrich: Deutschlands innere Einheit. – Zu einem kontroversen Begriff im politischen Diskurs der Nachwendezeit, in: ders. (Hrsg): Deutschlands ‚innere Einheit‘. Traum oder Alptraum, Ziel oder Zwangsvorstellung?, Kopenhagen u. München 1998, 15 – 44.
[6] Zur vergleichenden Analyse des Institutionenvertrauens in Ost- und Westdeutschland siehe Gabriel 1993; Hoffmann-Lange 1997; Kreikenbom 1997; Rosar 1998; Walz 1996, 1997 und Weßels 1997.
[7] Beide Studien sind beim Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung an der Universität Köln unter den Nummern ZA 2809 und ZA 3033 sowie im Internet unter http://www.gesis.org/Datenservice/Themen/15Politische_Einstellungen.htm abrufbar.
[8] Diese Daten wurden aus dem kumulierten Allbus 1980-1998 entnommen. Auch dieser Datensatz ist abrufbar beim Zentralarchiv unter ZA-Nr. 1795.
[9] Die einzelnen Dokumentationen sind im Literaturverzeichnis aufgeführt. Die Dokumentationsnummern lauten: 5062; 5234; 5743; 6069; 6180.
[10] Brunner/Walz 1997; dies. 1998; Walz/Brunner 1997; Kaase 1995; ders. 1999; Kaase/Bauer-Kaase 1998.
[11] Mit der Sozialisationsthese argumentieren vor allem Arzheimer/Klein (1997), Bürklin (1995), Fuchs (1997), ders./Roller/Weßels (1997) und Maaz (1990, 1991).
[12] Zu situativen Erklärungsansätzen vgl. Brunner/Walz (1998), Kuechler (1998) und Pollack (1997).
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