Masterarbeit, 2014
44 Seiten, Note: vollbefriedigend
Jura - Zivilrecht / Handelsrecht, Gesellschaftsrecht, Kartellrecht, Wirtschaftsrecht
A. Einleitung
B. Vorbemerkungen zur Nebenklage
I. Historische Entwicklung der Nebenklage
II. Funktion der Nebenklage
III. Motive für einen Anschluss als Nebenkläger
C. Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 1 StPO
D. Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 3 StPO
I. Entscheidung des BGH
II. Verletzteneigenschaft
1. Natürliche Personen
2. Juristische Personen
III. Nebenklagefähige Tatbestände
1. Katalogtaten
2. Andere rechtswidrige Taten
3. Nebenklagefähigkeit wirtschaftsstrafrechtlicher Normen
a) Vermögensdelikte, insbesondere Betrug und Untreue
b) Sonstige Delikte des Wirtschaftsstrafrechts
IV. Prozessuales Schutzbedürfnis
1. Besondere Gründe im Rahmen der früheren Rechtslage
2. Rechtsprechung des BGH
a) Körperliche oder seelische Schäden
b) Abwehr von schweren Schuldzuweisungen
c) Gravierende Beweisnot
3. Weitere Fallgruppen
a) Massiver wirtschaftlicher Schaden
b) Massiver Imageverlust
c) Besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung
d) Vorliegen eines Regelbeispiels
4. Zwischenergebnis
E. Anschluss als Nebenkläger
I. Anschlusserklärung
II. Entscheidung
F. Rechte der Nebenklage
I. Anwesenheitsrecht
II. Teilnahmerechte
III. Informationsrechte
IV. Recht auf Verfahrensbeistand
V. Rechtsmittelbefugnis
G. Verhältnis der Nebenklage zum Adhäsionsverfahren
I. Grundlegendes zum Adhäsionsverfahren
II. Bedeutung des Adhäsionsverfahrens in Wirtschaftsstrafverfahren
III. Umschwenken auf die Nebenklage
IV. Bedürfnis der Nebenklage neben dem Adhäsionsverfahren
H. Fazit
LITERATURVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abkürzungsverzeichnis
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Die Beratung von Einzelpersonen und Unternehmen auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts wird in der anwaltlichen Praxis immer bedeutender. Neben der Verteidigung in Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung sowie der Compliance-Beratung gerät auch vermehrt die Vertretung der Opfer von Wirtschaftsstraftaten in den Focus der anwaltlichen Beratung. Neben Akteneinsichtsgesuchen gem. § 406e StPO, zivilrechtlichen Arresten und vereinzelten Adhäsionsverfahren werden in Wirtschaftsstrafverfahren vermehrt Anträge auf Zulassung als Nebenkläger gestellt.[1] Dies geschieht nicht durch Individualpersonen, sondern auch durch Unternehmen, die durch Wirtschaftsverbrechen geschädigt wurden. Die Entwicklungen im Wirtschaftsstrafrecht folgen damit der Entwicklung auf dem Gebiet des allgemeinen Strafrechts, wo die Nebenklage auch immer bedeutsamer wird.[2]
Die im Jahr 2009 erfolgte Änderung der Nebenklageberechtigung nach § 395 Abs. 3 StPO hat die Frage aufgeworfen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Nebenklage in Wirtschaftsstrafverfahren außerhalb der in § 395 Abs. 1 Nr. 6 StPO normierten Delikte möglich ist. Der 5. Strafsenat des BGH hat 2012 dazu Stellung genommen.[3] Die vorliegende Arbeit geht unter Einbeziehung dieser Entscheidung dieser Frage nach und soll einen Überblick über die Voraussetzungen und Möglichkeiten der Nebenklage in Wirtschaftsstrafverfahren geben.
Die Ausführungen geben zunächst einen Überblick über die historische Entwicklung der Nebenklage und beschreiben die Funktion und Zielrichtung sowie die Motive, die Opfer zum Anschluss als Nebenkläger bewegen. Nach einem kurzen Hinweis auf die Nebenklagemöglichkeit nach § 395 Abs. 1 StPO wird als Schwerpunkt der Arbeit § 395 Abs. 3 StPO und die sich mit dieser Norm befassende Entscheidung des BGH erläutert. Dabei wird aufgezeigt, wer Verletzter i. S. d. § 395 StPO ist und welche wirtschaftsstrafrechtlichen Delikte nebenklagefähig sind. Speziell wird dargestellt, welche besonderen Gründe bei Wirtschaftsstraftaten zu einem prozessualen Schutzbedürfnis führen, das Voraussetzung für einen Nebenklageanschluss nach § 395 Abs. 3 StPO ist. Sodann werden der Anschluss und die Rechte des Nebenklägers beschrieben und auf die Besonderheiten in Wirtschaftsstrafverfahren hingewiesen. Zum Schluss der Arbeit erfolgt ein Vergleich der Nebenklage mit dem Adhäsionsverfahren, wobei auch die Frage erörtert wird, ob neben dem Adhäsionsverfahren überhaupt ein Bedarf für die Nebenklage in Wirtschaftsstrafverfahren besteht.
Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Wirtschaftsstrafrecht“ soll hier nicht erfolgen. Soweit von Wirtschaftsstrafrecht bzw. wirtschaftsstrafrechtlichen Delikten gesprochen wird, sind diejenigen Tatbestände gemeint, die gem. § 74c GVG der Wirtschaftstrafkammer zugewiesen sind.
Die Nebenklage wurde durch die Reichprozessordnung von 1877 erschaffen. Danach wurde demjenigen, der mit seinem Antrag auf Klageerzwingung erfolgreich war, und dem Privatkläger nach der Übernahme der Klage durch die Staatsanwaltschaft das Nebenklagerecht eingeräumt.[4] Nach einer ersten Erweiterung im Jahre 1921 wurden die Opferrechte im Dritten Reich wieder beschnitten, in dem das Klageerzwingungsverfahren abgeschafft und das Privatklageverfahren geschwächt wurde.[5] Diese Änderungen wurden durch das Vereinheitlichungsgesetz von 1950 fast komplett wieder rückgängig gemacht, wobei das im Dritten Reich eingeführte Adhäsionsverfahren beibehalten wurde.[6]
In den siebziger Jahren begann eine Entwicklung, die sich zunehmend auf das Opfer orientierte und zu einer Reihe von Reformen führte, die eine Stärkung des Opferschutzes zum Ziel hatten.[7] Nachdem sich der 55. Deutsche Juristentag 1984 mit der Stellung des Opfers im Strafverfahren befasst hatte,[8] wurde 1986 das Recht der Nebenklage durch das Opferschutzgesetz[9] umfassend reformiert. Dabei wurde die Nebenklage vom Privatklageverfahren abgekoppelt und erstmals ein eigenständiges Nebenklagerecht geschaffen, wodurch der Kreis der zur Nebenklage Berechtigten eine Neubestimmung erfuhr. 1990 wurde mit dem Produktpirateriegesetz[10] der Katalog der Nebenklagedelikte um Delikte gegen den gewerblichen Rechtsschutz und das Urheberrecht erweitert. Im Jahr 2004 wurden durch das Opferrechtsrahmengesetz (1. ORRG)[11] weitere Nebenklagedelikte hinzugefügt.
Mit dem am 01.10.2009 in Kraft getretenen Zweiten Opferrechtsrahmengesetz (2. ORRG)[12] wurde der Straftatenkatalog des § 395 Abs. 1 StPO weiter ausgeweitet und in § 395 Abs. 3 StPO ein Auffangtatbestand geschaffen, auf den im Weiteren noch näher eingegangen wird. Daneben wurden die Vorschriften den anwaltlichen Beistand des Nebenklägers betreffend (§§ 397 Abs. 2, 397a StPO) geändert.
Der Nebenklage werden verschiedene Funktionen und Zielrichtungen zugeschrieben, die auch in Wirtschaftsstrafverfahren ihre Wirkung entfalten.
Der Nebenkläger erhält durch seinen Anschluss die prozessrechtliche Stellung eines Verfahrensbeteiligten mit besonderen Rechten. Dadurch wird das Opfer Subjekt des Strafverfahrens, wohingegen es in seiner Rolle als (Opfer-)Zeuge nur bloßes Objekt des Verfahrens ist.[13] Das Opfer erhält daneben die Gelegenheit über seine Zeugenaussage hinaus, seine Sicht der Dinge in das Verfahren mit einzubringen.
Eine weitere Funktion der Nebenklage ist es, dem Opfer zu ermöglichen Schuldzuweisungen des Angeklagten abzuwehren.[14] Das Opfer kann sich vor ungerechtfertigten Angriffen schützen, wenn es im Verfahren unmittelbar darauf erwidern kann. Dies dient in erster Linie dazu Sekundärviktimi-sierungen zu verhindern, die durch die verfehlte Reaktion Dritter im Anschluss an eine Straftat entstehen können.[15]
Wichtig kann die Beteiligung des Opfers am Strafverfahren als Nebenkläger auch für die Sachverhaltsaufklärung sein.[16] Diese obliegt zwar gem. § 244 Abs. 2 StPO dem Gericht, doch kann der Nebenkläger (neben seiner etwaigen Rolle als Zeuge) durch sein Beweisantrags- und Fragerecht zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen. Nebenkläger verfügen teilweise über „beträchtliche Beweisreserven“[17]. Gerade wenn Wirtschaftsstraftaten aus dem Bereich eines Unternehmens heraus begangen werden, kann das betroffene Unternehmen nicht unwesentlich zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen. Oftmals führt das Unternehmen unmittelbar vor oder parallel zu den staatsanwaltlichen Ermittlungen eigene interne Untersuchungen durch, die nicht selten in enger Kooperation und Abstimmung mit den Behörden erfolgen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen können sodann in die Hauptverhandlung mit eingebracht werden, womit der Nebenklage auch eine Entlastungsfunktion zu kommt.[18]
Daneben ermöglicht die Nebenklage dem Opfer die Kontrolle darüber, ob der staatliche Strafanspruch ordnungsgemäß durchgesetzt wird.[19] Insbesondere in Fällen, in denen Gericht und Staatsanwaltschaft einem Verfahren eine eher geringe Bedeutung zumessen und bestrebt sind, dieses schnell zu beenden,[20] kann der Nebenkläger durch seine weitreichenden Rechte das Legalitätsprinzip aufrechterhalten. Korrespondierend damit kommt der Nebenklage der Zweck zu durch das Akteneinsichts- und Anwesenheitsrecht, die Entscheidung des Gerichts für das Opfer transparent zu machen.[21]
Umstritten ist, ob der Nebenklage die Funktion zukommt, dem Genugtuungsinteresse des Opfers zu dienen.[22] Dieser Zweck wurde noch in der Begründung für das 1. ORRG 2004[23] genannt, doch ist er mit der Gesetzessystematik nicht in Einklang zu bringen. Denn der Nebenkläger kann das Urteil gem. § 400 Abs. 1 Var. 1 StPO nicht mit dem Ziel anfechten, eine höhere Strafe gegen den Angeklagten zu erreichen. Ihm wird aber durch seine umfangreichen Beteiligungsrechte die Möglichkeit gegeben, an der Verurteilung und Bestrafung des Täters mitzuwirken. Demnach kann man eher von einer Mitwirkungs- als von einer Genugtuungsfunktion sprechen.
Die Nebenklage erfüllt jedoch nicht die Funktion zivilrechtliche Schadensersatzansprüche vorzubereiten, also dem Reparationsinteresse des Nebenklägers zu dienen.[24] Dies ist in nicht seltenen Fällen ein Motiv des Nebenklägers. Die Nebenklage aber hat nicht den Zweck eine bessere Position in Zivilprozessen zu erhalten, sondern soll die Position des Opfers im Strafverfahren stärken.
Die Funktionen und Zielsetzungen der Nebenklage überschneiden sich im Großen und Ganzen mit den Motiven, die eine Individualperson zu einem Anschluss als Nebenkläger veranlassen. Hier sind die Mitwirkung an der Verurteilung und Bestrafung des Täters, Transparenz des Verfahrens und Kontrolle der Strafverfolgung besonders zu nennen.
Interessanter ist die Frage, warum Unternehmen – zumal wenn sich das Verfahren gegen (ehemalige) Mitarbeiter richtet – ihren Anschluss als Nebenkläger erklären.
In Verfahren, in denen in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist, dass nicht eine Individualperson, sondern das Unternehmen auf der Anklagebank sitzt, kommt dem Nebenklageanschluss eine Signalwirkung zu. Durch den Anschluss als Nebenkläger wird der Öffentlichkeit vermittelt, dass das Unternehmen nicht Täter, sondern Opfer der angeklagten Straftat(en) ist. Auch wird demonstriert, dass das Unternehmen zur Aufklärung von Fehlverhalten bereit ist. Darüber hinaus verdeutlicht es den übrigen Mitarbeitern eine Null-Toleranz-Politik im Hinblick auf Rechtsverstöße.
Auch die weitreichenden Rechte, die der Nebenkläger erhält, stellen ein Motiv dar. Dadurch kann insbesondere verhindert werden, dass Aussagen der Angeklagten, die möglicherweise andere Mitarbeiter belasten oder dem Unternehmen Schuld zuweisen, unwidersprochen im Raum stehen bleiben und unmittelbar richtig gestellt werden können.
Ein weiteres wichtiges Motiv für einen Anschluss ist die Informationsgewinnung. Nicht nur durch das Akteneinsichtsrecht, sondern insbesondere auch durch die in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse, erhalten die Unternehmen Informationen, welche in späteren Schadensersatzprozessen gegen die ehemaligen Mitarbeiter zur Substantiierung potentieller Ansprüche verwendet werden können. Auch kann versucht werden, die Sachverhaltsaufklärung in einer für einen Zivilprozess günstigen Weise zu beeinflussen. Obwohl diese Motivation nicht mit dem Sinn und Zweck der Nebenklage vereinbar ist, steht sie der Nebenklagebefugnis nicht entgegen, da die StPO keine gesetzliche Zweckbindung voraussetzt.[25] Soweit der Nebenkläger jedoch ausschließlich wirtschaftliche Motive für seinen Anschluss hat, sollte er prüfen, ob es zweckmäßiger wäre, ein Adhäsionsverfahren gem. § 403 ff. StPO zu betreiben.[26]
Ein zur Nebenklage berechtigtes Unternehmen sollte aber auch die optische Wirkung nicht unterschätzen, die entsteht, wenn die anwaltlichen Vertreter des Unternehmens im Gerichtssaal neben der Staatsanwaltschaft Platz nehmen. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass Mitarbeiter durch ihren Arbeitgeber ähnlich wie durch die Staatsgewalt verfolgt werden. Dies könnte bei der übrigen Belegschaft für Unmut sorgen. Auch dürfen die Kosten nicht unterschätzt werden, die durch die Beauftragung von – in Wirtschaftsstrafverfahren in der Regel nicht nach dem RVG abrechnenden – Rechtsanwälten entstehen.
Wenn ein Unternehmen die Möglichkeit hat, sich einem Strafverfahren als Nebenkläger anzuschließen, ist es im Endeffekt eine unternehmerische Entscheidung, ob ein Anschluss angestrebt werden sollte, bei der die obengenannten Vor- und Nachteile sorgfältig abgewogen werden müssen.
§ 395 Abs. 1 StPO enthält einen Katalog von Tatbeständen, die zum Anschluss als Nebenkläger berechtigen. Nach § 395 Abs. 1 Nr. 6 StPO sind bestimmte Verstöße gegen den gewerblichen Rechtsschutz und gegen das Urheberrecht unbeschränkt anschlussfähig. Diese Delikte sind - mit Ausnahme von §§ 51, 65 Geschmacksmustergesetz und § 33 des Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie - dem Wirtschaftsstrafrecht zuzuordnen, da sie in § 74c GVG genannt sind.
Der Entwurf zum 2. ORRG sah ursprünglich vor, diese vormals in § 395 Abs. 2 Nr. 2 StPO a. F. aufgeführten Delikte zu streichen, da sie keine schwerwiegenden Aggressionsdelikte gegen höchstpersönliche Rechtsgüter darstellten.[27] Erst im Rechtsausschuss wurde die Streichung aufgrund von „rechtspolitischen Erwägungen“[28] verworfen. Zu vermuten ist, dass bestimmte Lobbygruppen erfolgreich gegen die Entfernung der Vorschriften aus dem Katalog des § 395 StPO vorgegangen sind.[29]
Die Beibehaltung ist in der Literatur auf Kritik gestoßen: Durch die Nennung im Katalog des § 395 Abs. 1 StPO würden die Verstöße gegen den gewerblichen Rechtsschutz und das Urheberrecht „geradezu symbolisch aufgewertet“[30] und die Regelungen zur Nebenklage ließen nunmehr eine klare Konzeption vermissen.[31] Auch der BGH empfindet § 395 Abs. 1 Nr. 6 StPO als „systemfremd“[32].
Da es sich bei den in § 395 Abs. 1 Nr. 6 StPO genannten Straftatbeständen zumeist um Antragsdelikte handelt, ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass bei relativen Antragsdelikten der Nebenklageanschluss auch ohne Strafantrag des Verletzten gem. § 77 StGB möglich ist, wenn die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht.[33] Bei absoluten Antragsdelikten ist die Stellung eines Strafantrags notwendig, damit der Nebenkläger zum Anschluss berechtigt ist, da ansonsten ein Verfahrenshindernis besteht bzw. der Verletzte nicht als schutzwürdig angesehen werden kann.
§ 395 Abs. 3 StPO bestimmt, dass der Verletzte einer anderen rechtswidrigen Tat, insbesondere nach den §§ 185 bis 189, 229, 244 Abs. 1 Nr. 3, §§ 249 bis 255 und 316a StGB, sich einer erhobenen Klage mit der Nebenklage anschließen kann, wenn dies aus besonderen Gründen, insbesondere wegen der schweren Folgen der Tat, zur Wahrnehmung seiner Interessen geboten erscheint. Dieser Auffangtatbestand wird auch als „materielle Öffnungsklausel“[34] bezeichnet.
Die Neufassung der Vorschrift ist aufgrund ihrer weiten Fassung in der Literatur auf erhebliche Kritik gestoßen. So ist z. B. Bung der Ansicht, dass die Neuordnung zu einer „Entfesselung der Nebenklage“[35] geführt habe. Safferling sieht den Zweck der Nebenklage „ad absurdum geführt“[36]. Weigend vermisst die „Umsetzung eines stringenten gesetzgeberischen Konzepts“[37]. Herrmann nennt die Änderung eine „radikale Ausdehnung der Nebenklagebefugnis“[38]. Und Hilger bezeichnet den neu gestalteten § 395 Abs. 3 StPO als „uferlos“[39].
Der 5. Strafsenat des BGH[40] hat sich 2012 in einer Entscheidung mit § 395 Abs. 3 StPO n. F. befasst. Dieser Entscheidung lag ein Verfahren vor dem LG Göttingen zugrunde, in welchem der Angeklagte wegen des Vorwurfs der besonders schweren Untreue (§§ 266, 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StGB) angeklagt war. Ihm wurde vorgeworfen, dem Nebenkläger einen Vermögensschaden in Höhe von ca. 13 Mio. Euro zugefügt zu haben.[41] Der Nebenkläger trug in seiner Anschlusserklärung vor, durch die Tat des Angeklagten in einen „wirtschaftlichen Engpass“ geraten zu sein. Das Landgericht ließ den Nebenkläger gem. § 395 Abs. 3 StPO zu, wobei es die schwere Folge der Tat mit einem Vermögensverlust in großem Ausmaß gem. § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StGB gleichsetzte.[42] Gegen den Freispruch des Angeklagten wandte sich der Nebenkläger mit einer auf Beanstandung des formellen sowie des materiellen Rechts gestützten Revision. Diese wurde vom BGH gem. § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet verworfen.
Bemerkenswert an der Entscheidung ist, dass der BGH die Zulassung des Nebenklägers durch das Tatgericht gar nicht zu prüfen hatte, da dessen Entscheidung über die Zulassung gem. § 396 Abs. 2 S. 2 StPO auch das Revisionsgericht bindet. Dies stellt der 5. Strafsenat zunächst auch fest, prüft die Rechtmäßigkeit der Zulassung des Nebenklägers unmittelbar darauf trotzdem. Im Wege eines obiter dictum legt er den Untergerichten Grenzen für die Zulassung eines Nebenklägers auf. Die erfolgte Einschränkung des § 395 Abs. 3 StPO dürfte dabei auch von der Befürchtung geleitet worden sein, dass eine allzu weite Auslegung die knappen Ressourcen der Strafjustiz weiter belasten würde.[43]
Im Folgenden wird inhaltlich auf die Entscheidung des BGH weiter eingegangen, wenn die einzelnen Voraussetzungen der Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 3 StPO erläutert werden.
Zur Nebenklage berechtigt ist, wer Verletzter einer rechtswidrigen Tat ist. Der Begriff Verletzter wird in einer Vielzahl an Vorschriften in der StPO verwendet, wohingegen der in der Kriminologie gebräuchliche Begriff Opfer nicht gebraucht wird. Eine gesetzliche Definition erfährt der Verletztenbe-griff jedoch nicht. Vielmehr ist er nach dem Funktionszusammenhang der Vorschrift zu bestimmen.[44] Verletzter i. S. d. § 395 StPO ist derjenige, der durch die behauptete Tat in seinen eigenen Rechtsgütern unmittelbar beeinträchtigt ist.[45] Durch das Erfordernis der Unmittelbarkeit wird hier der sog. enge Verletztenbegriff angenommen, wie er z. B. auch für § 172 StPO und § 406d ff. StPO gilt.[46]
[...]
[1] Barton, StRR 2012, 343 (344).
[2] Barton, JA 2009, 753.
[3] BGH NJW 2012, 2601.
[4] Velten, in: SK-StPO, vor §§ 395 ff. 16 f.
[5] Ebenda, vor §§ 395 ff. Rn. 17.
[6] Ebenda, vor §§ 395 ff. Rn. 18.
[7] Vertiefend dazu: Bung, StV 2009, 430 (433) Schroth, NJW 2009, 2916 (2917) ; Safferling,
ZStW 2010, 87 (88 ff.);.
[8] Vgl. dazu insbesondere Rieß, Gutachten C für den 55. Deutschen Juristentag (1984).
[9] Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren vom
18.12.1986, BGBl. I, S. 2496 ff.
[10] Gesetz zur Stärkung des geistigen Eigentums und zur Bekämpfung der Produktpiraterie
vom 07.03.1990, BGBl. I, S. 422.
[11] Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzen in Strafverfahren vom 24.06.2004, BGBl. I, S. 1354.
[12] Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren vom 27.09.2009, BGBl. I 2280.
[13] Nelles/Oberlies, Reform der Nebenklage, S. 12; Velten, in: SK-StPO, vor § 395 ff. Rn. 8.
[14] BT-Drucks. 10/5305, S. 9; Meyer-Goßner /Schmitt, StPO, vor § 395 Rn. 1; Stöckel, in: KMR, vor § 395 Rn. 1; Kurth/Weißer, in: Heidelberger Kommentar, § 395 Rn. 2; Böttger, in: Anwaltkommentar StPO, vor § 395 Rn. 1; Weigend, in: FS Schöch, S. 947 (958).
[15] Velten, in: SK-StPO, vor §§ 395 ff. Rn. 10; Barton, JA 2009, 753; Volbert, in: Handbuch der Rechtspsychologie, S. 198 ff.
[16] Schulz, Beiträge zur Nebenklage, S. 179 f.
[17] Schulz, Beiträge zur Nebenklage, S. 180.
[18] Vgl. Fabricius, NStZ 1994, 257 (260); a. A.: Schulz, Beiträge zur Nebenklage, S. 181.
[19] Bringewat, GA 1971, S. 292 ff.; Schulz, Beiträge zur Nebenklage, S. 178 f; Velten, in: SK-StPO, vor §§ 395 ff. Rn 4.
[20] Beispiele vgl. Velten, in: SK-StPO, vor § 395 ff. Rn. 4.
[21] Velten, in: SK-StPO, vor §§ 395 ff. Rn. 9.
[22] So noch BGHSt 28, 272 (273); zustimmend: Barton, JA 2009, 753 (758); Dölling, in: FS Jung, S. 84; Meyer-Goßner /Schmitt, StPO, vor § 395 Rn. 1; Stöckel, in: KMR, vor § 395 Rn. 1; ablehnend: Altenhain, JZ 2001, 791 (796); Weigend, in: FS Schöch, S. 947 (959 f.); Kurth/Weißer, in: Heidelberger Kommentar, § 395 Rn. 2.
[23] BR-Drucks. 829/03, S. 30.
[24] Fabricius, NStZ 1994, 257 (260).
[25] Velten, in: SK-StPO, § 395 Rn. 19.
[26] Böttger, in: Anwaltkommentar StPO, vor § 395 ff. Rn. 11; siehe auch Kapitel G.
[27] BT-Drucks. 16/12098, S. 30.
[28] BT-Drucks. 16/13671, S. 22.
[29] Der Branchenverband BITKOM hatte im Gesetzgebungsverfahren eine ausführliche Stellungnahme zugunsten der Beibehaltung abgegeben. Vgl. dazu: Barton StRR 2009, 404 (405); Weigend, in: FS Schöch, S. 947 (955 f.); Kurth/Weißer in: Heidelberger Kommentar, § 395 Rn. 9, 24.
[30] Barton, JA 2009, 753 (755).
[31] Velten, in: SK-StPO, vor §§ 395 ff. Rn. 18; so auch Weigend, in: FS Schöch, S. 947 (956); Barton JA 2009, 753 (757).
[32] BGH NJW 2012, 2601.
[33] BGH NStZ 1992, 452; KG NStZ 1991, 148.
[34] Velten, in: SK-StPO, § 395 Rn. 1.
[35] Bung, StV 2009, 430 (434).
[36] Safferling, ZStW 2012, 87 (95).
[37] Weigend, in: FS Schöch, S. 947 (956).
[38] Hermann, ZIS 2010, 236 (241).
[39] Hilger, GA 2009, 657 (658).
[40] BGH NJW 2012, 2601.
[41] Zum Sachverhalt: Jahn/Bung, StV 2012, 754 (756).
[42] LG Göttingen, Beschluss vom 15.12.2009, 8 KLs 7/09 (unveröffentlicht).
[43] Barton, StRR 2012, 343 (344).
[44] BT-Drucks. 10/5305, S. 16, LG Koblenz StV 1988, 332.
[45] Stöckel, in: KMR, § 395 Rn. 3; Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, § 395 Rn. 3 .
[46] Meyer-Goßner/ Schmitt, § 172 Rn. 9; Stöckel, in: KMR, § 395 Rn. 3; Schmid, in: Karlsruher Kommentar, § 172 Rn. 18; Weiner, in: BeckOK-StPO, § 406d Rn. 1a.
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