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Examensarbeit, 2015
59 Seiten, Note: 3,0
1. Einleitung
2. Definitionen und Aspekte der Inklusion
2.1 Heterogenität
2.2 Subjektivität
2.3 Individualität
3. Theoretische Grundlagen
3.1 Gesellschaftspolitische Bedeutung der Inklusion
3.2 Pädagogische Bedeutung der Inklusion
3.3 Juristische Bedeutung der Inklusion
4. Inklusion und die Menschenrechtsdebatte
5. Bedeutung der Inklusion für die Schule
5.1 Auswirkungen auf die Schüler
5.2 Auswirkungen auf die Lehrer
5. 3 Auswirkungen auf die Institution Schule am Beispiel der Schulform des Gymnasiums
6. Auswertung und Diskussion
Literaturverzeichnis
Jeder einzelne Mensch auf unserer Erde unterscheidet sich stets vom Rest der Erdbürger. Diese Unterschiede können aus den Bedingungen herrühren in denen der Mensch aufgewachsen ist bzw. in denen er lebt. So haben Menschen unterschiedliche Religionen, Mentalitäten oder auch ökonomisch-soziale Bedingungen. Darüber hinaus können Menschen sich auch nach den Bedingungen ihres Körpers und ihrer intellektuell-kognitiven Begabungen voneinander unterscheiden. Hier wird zumeist von Behinderungen gesprochen, während Definitionen bezüglich unterschiedlich gelagerter Begabungen sinnvoller sind. Gesamtgesellschaftlich betrachtet stellt die Vereinbarkeit dieser Unterschiede von Menschen für eine Gesellschaft eine große Herausforderung dar. Vor diesem Hintergrund spielen in den letzten Jahrzehnten die Begriffe der Integration und Inklusion eine Rolle, da sie Entwürfe und Praxen für ein mögliches gemeinsames Miteinander von heterogenen Gesellschaften darstellen. Der aus dem Lateinischen stammende Begriff der Integration bezeichnet ursprünglich „wiederherstellen“ oder „wieder zu einem Ganzen herstellen“. In den letzten Jahren ist der Begriff der Integration vor allem in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung immer wieder in die Kritik geraten. Um Ungenauigkeiten zu vermeiden, plädieren viele für eine Ablösung des Begriffs der Integration durch den der Inklusion. Dies betrifft dabei nicht nur die wissenschaftliche Diskussion um die Integration von Migranten, sondern ebenfalls die begriffliche Diskussion um die Integration oder Inklusion von Behinderten in das Bildungssystem.1
Die Probleme um die Begrifflichkeiten des Themenfeldes Integration, drehen sich um die Frage, wie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einer Gesellschaft zu beschreiben ist. Dabei geht es selbstverständlich eben auch um die Frage, welche Konsequenzen sich aus einer Zugehörigkeit oder einer Nicht-Zugehörigkeit ergeben.2 Auch das Begriffspaar Inklusion und Exklusion dreht sich um diese Fragen. Rudolf Stichweh hat festgehalten, dass sich diese Begriffe innerhalb der Sozialwissenschaften innerhalb weniger Jahre durchgesetzt hätten. Ihren eigentlichen Ursprung hätten sie dabei in der Systemtheorie.3 Talcott Parsons beschrieb mit Inklusion „the pattern of action in question, or complex of such patterns, and the individuals and/or such groups who act in accord to that pattern coming to be accepted in a status of more or less full membership in a wider solidary social system.”4
Er bezeichnete mit der Inklusion eine quasi evolutionäre Entwicklung moderner Gesellschaften, die dahin führe, dass immer mehr Teilbereiche der Gesellschaft einer wachsenden Anzahl von Menschen zur Verfügung stünden. Mit Niklas Luhmann wurde schließlich das Begriffspaar Inklusion/ Exklusion gebildet und die weitere Forschung stärker auf die Mechanismen der Exklusion gerichtet. Nach Bango habe Luhmann seinen Blickpunkt auf Formen der Exklusion gerichtet, nachdem er die brasilianischen Favellas gesehen hatte und dort feststellen musste, dass in dem dort vorherrschenden Milieu, welches durch Armut, Elend und Gewalt bestimmt werde, keine Menschen, sondern nur „Körper“ lebten. Hier seien ihm die Ungerechtigkeiten moderner Gesellschaften bewusst geworden und er habe die Einsicht gewonnen, dass es eben auch außerhalb der sozialen Systeme Menschen gebe, die von diesen ausgeschlossen seien.5
In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der Inklusion zwar in seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung erklärt, dargestellt und begründet, jedoch entsprechend der in Deutschland deutlichen Gewichtung des Terminus in den pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Bereichen einer Untersuchung unterstellt. Die folgenden Kapitel gehen dabei zuerst interdisziplinär breit auf die Definitionen und theoretische Grundlagen und schließlich die gesellschaftliche Relevanz des Terminus der Inklusion ein, instrumentalisieren dieses Verständnis jedoch im vorletzten Kapitel dieser Arbeit dazu, die Fragestellestellung nach der Bedeutung, Umsetzung und den Folgen der Inklusion für das deutsche Schulwesen, hier insbesondere für den Schultyp des Gymnasiums zu beantworten.
Der Begriff der Integration hat seinen „gesellschaftstheoretischen Bezug“ verloren, schließlich bediene sich der Begriff der Vorstellung einer idealen Gesellschaft, in die jedwede Form des Unangepasstseins oder Abweichens wieder eingegliedert werden müsse. Diese Ansicht halte der sozialen Realität jedoch nicht mehr stand, da unklar sei, ob moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften noch über eine „Mitte“ verfügten, in die am Rand stehende Personen oder Personengruppen integriert werden könnten.6
„Inklusion dagegen geht nicht mehr von der Aufnahme bestimmter „Anderer“ aus, sondern vom selbstverständlichen Vorhandensein aller, die gleich und unterschiedlich sind und die einen Anspruch haben, als Gleichgestellte partizipieren zu können und anerkannt zu werden. Hier ist eine fixierte allgemeine Normalität nicht mehr vorhanden.“7
Gleichzeitig zu einer allgemeinen Anerkennung der Inklusion, als der Methode zur Vereinbarkeit von Unterschieden in einer Gesellschaft vertieft sich dieser Begriff und konzentriert in seiner Anwendung zunehmend auf einzelne Felder, wie im Falle der vorliegenden Arbeit auf den Bereich der Pädagogik.
„Der Terminus “Full Inclusion” stammt aus der radikalen amerikanischen Integrationsdiskussion, der zufolge alle Kinder voll in die Regelschulen integriert werden sollen und die Sonderpädagogik pauschal abzuschaffen ist.“8
Bereits während der letzten Dekade konzentrierte sich die Inklusion in Deutschland vor allem auf ihre Umsetzung im Bereich der Sonderpädagogik, die im deutschen Bildungssytem weitverbreitet und tief verankert war.
„Auch die Sektion Sonderpädagogik (2001) der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften nennt sich auf internationaler Ebene seit dem Jahr 2000 „special Education and Inclusion“.9
In der Bundesrepublik Deutschland ist das Förderschulsystem, wie das Schulsystem im Ganzen, Ländersache. Das bedeutet, die Förderschulsysteme können von Bundesland zu Bundesland verschieden sein. Ziel ist es also, die Schüler möglichst in eine allgemeine Schule rückschulen zu können oder sie zumindest so weit zu schulen, dass sie ausreichende Kompetenzen im Lern-, Leistungs- und Sozialverhalten zum Ende der Schulpflicht entwickelt haben.10
„Statt von „Integration behinderter Kinder“ sollte seiner Meinung nach zukünftig besser von der „Einbeziehung von Kindern mit speziellem Erziehungs- und Bildungsbedarf“ gesprochen und die „integrativen Schulen“ sollten als „einbeziehende Schulen“ bezeichnet werden. Der Terminus „Einbeziehung“ scheint sich in Wort und Schrift allerdings bei uns nicht durchzusetzen. Von Kritikern wird er sogar vehement abgelehnt, da er mit der Vision einer inklusiven Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen ist und zum Ausdruck bringt, dass es nach wie vor noch Außenstehende gibt, die weiterhin ´in etwas hinein zu ziehen´ sind“11
Die terminologische Abgrenzung des Begriffes der Inklusion von der Exklusion und der Integration muss durch eine weitere deutlich breitere Sinnbedeutung abgegrenzt werden. Nach der Aussage von Hinz ist die Inklusion, als pädagogisch verwendeter Begriff, spätestens seit dem letzten Jahrzehnt überstrapaziert worden. Die Verknüpfung des Inklusionsgedankens, bzw. der Inklusionsidee tritt, so Hinz, zunehmend pauschal in sämtlichen Zusammenhängen zu Modernisierung der Schulen und des Schulunterrichts auf.12 Das bedeutet,
„ dass inzwischen nahezu alles als Inklusion deklariert wird, was sich positiv und fortschrittlich darstellen möchte. Das ist logisch und gleichzeitig dramatisch, weil damit die inhaltliche Klarheit dessen, was Inklusion ursprünglich als Innovationsperspektive bedeutet, immer mehr verloren geht. Innerhalb dieser kurzen Spanne ist beim Thema Inklusion der Weg von der kompletten Unkenntnis zu immer stärkerer Unkenntlichkeit zurückgelegt. Nahezu alles was bisher unter Integration firmierte – und womöglich noch viel mehr –, wird inzwischen als Inklusion bezeichnet.“13
Die heutige Schülergemeinschaft, aber auch unsere Gesellschaft im Allgemeinen zeichnet sich durch ihre Heterogenität aus. Seit mehreren Jahrzehnten unterscheiden sich die Menschen in Deutschland verstärkt entsprechend ihrer unterschiedlichen ethnischen, kulturellen, aber auch religiösen Wurzel. Diese positive Entwicklung, die zur Vielfalt und Bereicherung unserer Gesellschaft führt, stellt aber z.B. im Bereich der Pädagogik, der hier zentral betrachtet wird, eine Herausforderung dar. Hier insbesondere im Schulsystem. Um ein Miteinander der Schüler zu erreichen, ist es wichtig, dass diese ein Grundverständnis des Gegenübers haben. Dabei geht es Alavi nicht allein um die sprachlichen Unterschiede, sondern die ethnische und kulturelle Andersartigkeit, die in einer Migrationsgesellschaft ganz normal ist.14 Daher gewinnt die Kategorie des Fremdverstehens an Bedeutung als „ein geistiger Prozess, in dem das Neue (Fremde, Befremdliche, vom Eigenen Abweichende) so weit wie möglich in den Zusammenhang mit Bekanntem gebracht und dieses gleichzeitig erweitert wird.“15
Die Wahrnehmung von Fremdheit bzw. Heterogenität des Anderen kann verschiedene Verläufe annehmen, die stark von unseren traditionellen Prägungen abhängen. So gibt es Beispiele für Konzepte der Integration aber auch Ausgrenzung, Stereotypiesierung oder Zentrismus, als Reaktionen auf den Zuzug von Fremden.16
„Die integrative Pädagogik hat mit diesem Homogenisierungswahn der traditionellen Schule radikal gebrochen. Sie ist in historischer Perspektive die Erfinderin des zieldifferenten Lernens. Bei Jakob Muth lautet das erste Gebot einer integrativen Pädagogik so: (Bild) „Jeder nach seinem Vermögen!“ Nahezu gleichlautend hat Joist Grolle, der ehemalige Schulsenator von Hamburg, formuliert: „Jeder nach seinen Möglichkeiten!“ Die Didaktik der integrativen Schule ist eine Didaktik der Vielfalt: Vielfalt der Ziele und Vielfalt der Inhalte. Und eine Vielfalt von gemeinsamen und individuellen Lernsituationen. Die Didaktik der Vielfalt will gleichermaßen der Verschiedenheit der Einzelnen gerecht werden als auch die Gemeinsamkeit der Verschiedenen fördern.“17
Abschließend lässt sich feststellen, dass gerade die Heterogenität der Schüler bzw. in der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung auf alle Bürger bezogen im Zuge der Inklusion als das Kernmerkmal herausgestellt werden sollte und ins Blickfeld rückt.
Neben der Vielfalt, die sich aus der Heterogenität der Gesellschaft für die Idee der Inklusion ergibt, spielt die Subjektivität eine wichtige Rolle. Die Erklärung dieser Bedeutung lässt sich jedoch nicht so leicht aus der Lebensrealität und unserer Umgebung eindeutig herleiten, wie es im Falle der Heterogenität gewesen ist. Subjektivität als Aspekt der Inklusion stellt einen ideologischen Wert im Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft bzw. der Gemeinschaft dar. Folgerichtig muss an diesem Punkt auf ideentheoretische Grundlagen der Konstituierung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft eingegangen werden. Bei Gawlina findet sich im Verhältnis zwischen dem Subjektiven und dem Sittlichen eine Vertragsidee, die im weitesten Sinne der Idee des Leviathans bei Hobbes ähnlich ist. Es ist die Schutzfunktion der Sittlichkeit gegenüber subjektiven Bedürfnissen des Individuums. Auf der Ebene der Individuen kann es zu grundsätzlichen Interessenkonflikten kommen, die durch die Sittlichkeit und die daraus resultierende Objektivität vorgebeugt bzw. geschützt werden können. Insofern wird dadurch deutlich, dass der Staat mit seiner Schutzfunktion zwangsläufig als sittlich einzustufen sein muss, um sich über die Subjektivität der Einzelinteressen erheben zu können.18 Für die Subjektivität als Aspekt der Inklusion ergibt sich, dass grundsätzlich die steuernde Institution z.B. die Schulbehörde oder auch Schule die Inklusion nur dann erfolgreich einführen kann, wenn sie erstens überhaupt erst die konstituierende und anerkannte Macht dazu hat und zweitens auch die Einzelinteressen, d.h. Unterschiede und Bedürfnisse, an sie herangetragen, artikuliert und anerkannt werden.
Bezogen auf die Wechselwirkung von Mensch und Welt im Bildungsprozess bedeutet dies, dass der Mensch durch die Subjektivität der Sprache nicht nur Welt wiedergibt und Erfahrung mit der Welt sprachlich artikuliert, sondern durch die Äußerungen von Welt-Sichten Welt auch herstellt und konstituiert. Humboldt hat die Sprache deshalb als „Übergangspunkt von Subjektivität zur Objektivität“ bestimmt.19 Sprache lässt sich als „Herrschaft der Subjektivität“20 bezeichnen:
„In die Bildung und in den Gebrauch der Sprache geht aber notwendig die ganze Art der subjektiven Wahrnehmung der Gegenstände über“.21
Folgerichtig ergeben sich auf dem Aspekt der Subjektivität im Zusammenhang mit der Inklusion zwei grundsätzliche Problemfelder, die gleichsam im Rahmen dieser Arbeit noch eingehender an Beispielen verdeutlicht werden. Eines der Problemfelder betrifft die Kommunikation von heterogenen Interessenlagen. Hier werden jene Interessen deutlicher berücksichtigt, die durch Sprache kommunizierbar sind. Heterogene Prägungen die nicht artikulierbar sind unterliegen folgerichtig auch nicht den Prozessen der Inklusion. Ferner können hier Gewichtungen bezüglich des Kommunikationsumfangs die Gestaltung des Inklusionsprozesses beeinflussen, in dem bestimmte Unterschiede stärker als andere kommuniziert werden und so mehr Bedeutung gewinnen. Das zweite Problemfeld liegt in den Institutionen bzw. bei der Position des ideentheoretischen Leviathan. Auf dieser Ebene kommt die Subjektivität ganz besonders zum Tragen, da hier Befugnisse, Methoden und Praxen bestimmter gesellschaftlicher Prozesse entstehen und festgelegt werden. Das bedeutet aber auch, dass diese Instanzen die Prozesse entsprechend eigener Interesse beeinflussen können, so dass der Grad der Subjektivität bei der Relevanz der Ausgestaltung und Verwirklichung der Inklusion im starken Zusammenhang zu den administrativen und sonstigen Machtstrukturen zu sehen ist, was auch im Verlauf dieser Arbeit hinsichtlich der länderspezifischen und schulbehördlichen Umsetzung der Inklusion zu sehen sein wird.
Individualität stellt einen der wichtigsten Werte einer freien Gesellschaft dar. Ihre Anerkennung und ihr Schutz sind gleichzusetzen mit einer generellen humanen Einstellung dem Menschen gegenüber. Sie stellt ein Wesensmerkmal des Verständnisses von Menschlichkeit und des zwischenmenschlichen Lebens dar. Würden wir in dem Gegenüber, wie auch in uns selbst kein eigenständiges Ich sehen und erkennen können, so könnten wir als Gesellschaft weder die eigenen, partiellen oder auch gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse wahrnehmen und erkennen. Erst durch die Wahrnehmung des Ich kann es überhaupt eine Wahrnehmung des Gegenübers, bzw. des Anderen geben. Ebenso gilt es auch für das Wir in einer Gruppe oder auch Schulgemeinschaft. Hier resultiert die Wahrnehmung zu allererst aus dem Ich.
Für die Individualität als Aspekt der Inklusion wird im Folgenden der normative Ansatz von Humboldt herangezogen, da dieser idealerweise den philosophischen aber auch den pädagogischen Charakter der Individualität in sich vereint. Ein normatives Menschenideal, das in der Vorstellung zum Ausdruck kommt, der einzelne Mensch habe sich in eine bestimmte Ordnung einzufügen, steht im Gegensatz zu Wilhelm von Humboldts Bild vom Menschen. Humboldt verwendet den Begriff „Mensch“ nicht bezogen auf die abstrakte Gattung Mensch, sondern im Fokus steht der einzelne Mensch, der als Individuum gesehen wird.22 Menschsein besteht für Humboldt darin, dass der Einzelne dieses bestimmte „Ich“ ist und damit etwas Einzigartiges darstellt.23 Dies impliziert, dass Menschsein nicht in dem Sinne verstanden wird, als solle sich der einzelne Mensch in vorgegebenen (zumeist religiös ausgerichteten) Ordnungen einfügen oder sich an von außen an ihn herangetragenen Verpflichtungen oder Bestimmungen orientieren. Vielmehr ist der einzelne Mensch Zweck an sich selbst. Deutlich grenzt sich Humboldt dabei vom Vernunftdenken der Aufklärung ab. Für ihn ist der Mensch
„von seinem ersten Odemzuge an Mensch, und sein ursprünglicher Charakter ist kein anderer als der Charakter seiner Persönlichkeit, von welcher dasjenige, was wir Vernunft nennen, nichts anderes als eine Form ist, []“.24
Der Mensch stellt also für Humboldt nicht primär ein vernunftbegabtes Wesen dar, sondern trägt a priori die Ausformung von Individualität in einer „vorrationalen, nicht mehr hinterfragbaren Sphäre“25 in sich. Dies bedeutet, dass der Mensch von einem inneren Prinzip her gedacht und eine wesenhafte Eigentümlichkeit in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt wird.26 Diese Individualität stellt ein anthropologisches Ideal dar, das für Humboldt Leit- und Vorbild des Menschen ist. Die Ausprägung dieser Individualität ist dabei ein Ideal im Sinne einer Vervollkommnung der im Menschen angelegten Anlagen – ein Ideal, das der Mensch aufgrund seiner endlichen Möglichkeiten niemals ganz erreichen wird.27 Da die Individualität als grundlegender Wesenszug lediglich als Keim einer noch zu entwickelnden Ausprägung im Menschen angelegt wird, verweist Humboldt auf den Begriff der Kraft, in der sich die Individualität äußert und auf Verwirklichung drängt.28
Die Individualität, die die Grundlage dieser Wechselwirkung bildet, ist dabei von Humboldt als auf die inneren Kräfte des einzelnen Menschen ausgerichtete Selbstwerdung konzipiert. Der sich bildende Mensch ist somit als autonomes Individuum zu denken, das zwar die Welt als wesentlichen Faktor der eigenen Bildung benötigt, aber stets autonomes Subjekt bleibt, das selbst über die Bedingungen der eigenen Wirklichkeit bestimmt. Das sich bildende Subjekt bleibt ein demnach selbstbestimmt handelnder freier Mensch, der den gesellschaftlichen Lebensbedingungen stets mit Blick auf die wesenhaft in ihm angelegte eigene Bestimmung entgegentritt und sich durch die von außen an ihn herangetragenen Einflüsse nicht von sich selbst entfremden lässt. Der Begriff „Entfremdung“ wird dabei zum einen als Entfremdung von sich selbst verstanden. Tenorth führt aus, dass Humboldts Bildungsverständnis als Gegenentwurf zu gesellschaftlichen Entfremdungsprozessen gesehen werden könne. Der Konzeption des auf die inneren Kräfte des Individuums angelegten Bildungsverständnisses liegt dabei die von Humboldt kritisierte Entfremdung des Menschen aufgrund der in der arbeitsteiligen Gesellschaft angelegten Spezialisierung des Menschen und einer verloren gegangenen Ganzheitlichkeit zugrunde. Humboldt beklagt, so Tenorth, die so entstandene Partikularisierung der Welt und der gesellschaftlich-kulturellen Lebensbedingungen.29
Zwar ist es zutreffend, Humboldts Bildungsverständnis auch als Kritik eines partikularen Bildungsverständnisses, wie es dem Bildungsbegriff der Aufklärung zugrunde lag, zu verstehen. Allerdings ist zu fragen, ob der von Humboldt selbst verwendete Begriff der Entfremdung nicht viel stärker auf die Wechselbeziehung, auf der der Bildungsprozess beruht, bezogen werden sollte. Die Wechselwirkung von Mensch und Welt impliziert ja gerade, dass sich der Mensch im Rahmen seiner Welterfahrung auch an den fremden Gegenstand Welt verliert. Der Prozess der Bildung ist ohne diesen Umstand nicht denkbar, da gerade erst die so vom Individuum erfahrene Entfremdung von sich selbst eine entsprechende Erweiterung der Persönlichkeit und damit eine Höher- und Weiterentwicklung ermöglicht. Diesen Prozess der Persönlichkeitserweiterung als Entwicklung zu einer höheren Form von sich selbst bringt Humboldt mit dem Begriff der Entfremdung in Verbindung.30 Gleichzeitig impliziert der Begriff „Entfremdung“ in diesem Zusammenhang die Fremdheit der Welterfahrung, der das Individuum in der Wechselwirkung gegenübersteht. Bildung ist dabei nur dann möglich, wenn die Welt als unbekannt und fremd wahrgenommen und erfahren wird. Die Welt ist also dem Individuum entgegengesetzt und eine unabhängige, selbständige Substanz, vermittels derer sich das Individuum über die aktuellen Erfahrungen hinaus, die es vor der Wechselwirkung mit der Welt gemacht hat, weiterentwickelt.31 Der Prozess der Höherentwicklung impliziert diese Fremdheit von etwas, an dem das Individuum über sich hinausgehen kann. Durch diesen Verweis auf das Unbekannte, wie er in dem Begriff der Entfremdung zum Ausdruck kommt, gelingt es Humboldt darzulegen, wie sich die wesentliche Konstituierung von Bildung über Entstehung und Verarbeitung neuer Erfahrung vollzieht, die dann als Dialektik von Entfremdung und Rückkehr aus der Entfremdung beschrieben werden kann.32 Die Konnotation von Entfremdung zeigt aber auch, wie essenziell der Bildungsprozess trotz der Wechselwirkung auf das Individuum bezogen bleibt. Trotz der Entfremdung darf sich das Individuum nicht an nur weltlichen Zwecken widmen in dem Sinne, dass Anforderungen und Zwecke der Welt wesentlich werden. Der Fokus des Bildungsprozesses bleibt immer auf das Individuum bezogen, wobei das Individuum stets zu sich selbst zurückfinden muss.33 Gleichzeitig bedeutet dies, dass der einzelne Mensch durch die Prozesse der Wechselwirkung mit der Welt gestärkt wird. Die Wirkung einer Auseinandersetzung ist dabei auch Ursache eines neuen Bildungsprozesses. Jede erneute Wechselwirkung ist Bestandteil eines weiteren Bildungsprozesses des Menschen.34
Letztlich verweist Humboldt mit dieser für die Bildung des Menschen wesentlichen Interaktion mit der Welt darauf, dass Bildung nicht solipsistisch ausgerichtet ist und nicht impliziert, dass das einzelne Individuum nur um sich selbst kreist. Individualität wendet sich auch gegen eine absolute Selbstermächtigung des Ichs gegenüber der Welt im Sinne einer Hierarchie von Ich und Welt. Die Bedeutung der Welt für den Menschen ist dabei für Humboldt essenziell und stellt eine wesentliche Bedingtheit und Notwendigkeit des Menschseins dar. Der Mensch wird erst Mensch in der Selbstverknüpfung mit und in der Welt.
Wie bereits einleitend angesprochen hat die Inklusionen eine herausragende gesamtgesellschaftliche Dimension, wie es besonders deutlich in der Haltung von Niklas Luhmann ersichtlich ist. Somit steht die Inklusion disziplinär in einer Einbindung in die Gesellschaftswissenschaften, wie der Politikwissenschaft und der Soziologie. Idealerweise aufgefasst wird die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Inklusion daher von dem Kerngedanken Luhmanns, der sich von allen vorherigen Soziologen unterscheidet durch die erstmalige Nichtbetrachtung des menschlichen Individuums im sozialen Raum und somit geradewegs die zentrale Verortung der Inklusion und ihres kommunikativen Bindungsgliedes vornimmt.
Die Welt ist, so Luhmann zu sehr komplex, dass sie durch soziale Systeme ihre Vereinfachung erfahren muss. Die Gesamtheit der in der Welt vorhandenen Ereignisse und Zustände ist ohne die Entstehung von Systemen nicht handelbar. Der Einzelne oder auch eine Gruppe von Individuen ist nicht in der Lage die Weltkomplexität zu lösen. Dazu braucht es Systeme, die durch ihre Funktionalität die Weltkomplexität reduzieren. Luhmann hält so die Systeme und nicht die Elemente, also Menschen, die darin enthalten sind, für die Lösung der Problematik der enormen Weltkomplexität. Die Systeme schränken und ordnen die enorme Weltkomplexität ein und schaffen die Mechanismen um konkrete Probleme in der Welt zu lösen.35
Auf die Frage was einzelne Bezugspunkte zu einem System werden lässt, verbindet, antwortet Luhmann mit der Funktion und Definition von Kommunikation.
[...]
1 Vgl. (Dallmann, 2002), S. 386
2 Vgl. (Dallmann, 2002), S. 386
3 Vgl. (Stichweh, Inklusion/Exklusion – funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, 1997), S. 123
4 (Luhmann), S. 150
5 Vgl. (Bango, 2005), S. 280
6 Vgl. (Bango, 2005), S. 278
7 (Boban & Hinz, Qualitätsentwicklung des Gemeinsamen Unterrichts durch den „Index für Inklusion", 2003), S. 7
8 (Markowetz), S. 5
9 (Markowetz), S. 6
10 Vgl. (Hessisches Kultusministerium, 2011)
11 (Markowetz), , S. 6
12 Vgl. (Hinz, Inklusion – von der Unkenntnis zur Unkenntlichkeit!? - Kritische Anmerkungen zu einem Jahrzehnt Diskurs über schulische Inklusion in Deutschland, 1/2013)
13 (Hinz, Inklusion – von der Unkenntnis zur Unkenntlichkeit!? - Kritische Anmerkungen zu einem Jahrzehnt Diskurs über schulische Inklusion in Deutschland, 1/2013)
14 Vgl. (Alavi, 2002), S. 18f
15 (Alavi, 2002), S. 18
16 Vgl. (Alavi, 2002), S. 19
17 (Wocken, Von der Integration zur Inklusion.Eine Hommage an Integration und ein Spickzettel für Inklusion), S. 3
18 Vgl. (Gawlina, 1997), S. 238
19 Vgl. (Flitner & Giel, 1964), S. 24
20 (Scharf, 1994), S. 192
21 (Flitner & Giel, 1964), S. 234
22 Vgl. (Menze, 1975), S. 145ff
23 Vgl. (Vallentin, 1999), S. 133
24 (Flitner & Giel, 1964), S. 481
25 (Kost, 2004), S. 134
26 Vgl. (Dippel, 1990), S. 133
27 Vgl. (Vallentin, 1999), S. 134
28 Vgl. (Kost, 2004), S. 131
29 Vgl. (Tenorth, 2006), S. 126
30 Vgl. (Flitner & Giel, 1964), S. 236f
31 Vgl. (Wagner, 1995), S. 30
32 Vgl. (Wagner, 1995), S. 30
33 Vgl. (Flitner & Giel, 1964), S. 237
34 Vgl. (Felden, 2003), S. 11
35 Vgl. (Luhmann, Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, 1972), S. 115f