Diplomarbeit, 1981
149 Seiten, Note: 3,0
1. Einleitung
2. Theoretischer Beitrag zur Therapiemethode
2.1 Zum Begriff der Selbstkontrolle und der Selbststeuerung
2.2 Theoretische Hintergründe und Aufbau des Selbstmodifikationsprogramms für Kinder
2.3 Generalisationseffekte bei der Selbstkontrolle
3. Fragestellung und Hypothesen der Untersuchung
4. Verhaltensanalyse der Versuchsperson
4.1 Angaben zur Versuchsperson
4.2 Analyse des symptomatischen Verhaltens
4.2.1 Extreme soziale Unsicherheit
4.2.2 Enuresis diurna
4.2.3 Zusammenhänge zwischen den Symptomen
4.3 Umwandlung der Problemverhaltensweisen in Beobachtungskategorien
4.4 Operationalisierung der Hypothesen
5. Geplante Durchführung der Untersuchung
5.1 Interventions-Planung
5.2 Kontrollmessungen
5.3 Untersuchungsplan und Überprüfung der Hypothesen
5.3.1 Untersuchungsplan
5.3.2 Überprüfung der Hypothesen
5.3.3 Vorgesehene Auswertungsverfahren
6. Durchführung der Untersuchung
6.1 Darstellung des Untersuchungsablaufes
6.1.1 Durchführung der Fremdbeobachtung
6.1.2 Durchführung der Selbstmodifikation
6.2 Das Auswertungsverfahren
7. Darstellung der Ergebnisse
7.1 Allgemeine Darstellung
7.2 Darstellung der Ergebnisse der einzelnen Prozeßverlaufe
7.2.1 Darstellung der Ergebnisse des Prozeßverlaufs 'Blickkontakt'
7.2.2 Darstellung der Ergebnisse des Prozeßverlaufs 'Melden'
7.2.3 Darstellung der Ergebnisse des Prozeßverlaufs 'Lautstärke'
7.2.4 Darstellung der Ergebnisse des Prozeßverlaufs 'Initiative zeigen'
7.2.5 Darstellung der Ergebnisse des Prozeßverlaufs 'Enuresis diurna'
7.2.6 Darstellung der Ergebnisse der Zusatzbeobachtungen
8. DiskussionderErgebnisse
8.1 Diskussion zur Hypothese 1
8.2 Diskussion zur Hypothese 2
8.3 Diskussion zur Hypothese 3
9. Zusammenfassung und Schlußbemerkung
Literaturhinweis
Anhang
Durch Einsatz eines Selbstkontrollprogramms sehen einige Autoren (vgl. u. a. GROEGER 1979; REINECKER 1978; HARTIG 1975 ; MEICHENBAUM 1975 ; BANDURA 1974) Generalisationseffekte, die als Präventiv-Maßnahmen bei Verhaltensstörungen erwünscht sind, weil sie die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls der abgebauten Störung einschränken.
Ob die Durchführung eines Seibstmodifikationsprogramms nicht nur bei den behandelten Verhaltensweisen eine Häufigkeitsveränderung in erwünschter Richtung sondern auch bei den nicht behandelten Verhaltensweisen bewirkt, das ist Gegenstand dieser Untersuchung.
"Einzelfall-Untersuchung zur Generalisierung von Therapieerfolgen bei einem Selbstmodifikationsprogramm für Kinder."
In der vorliegenden Einzelfalluntersuchung werden mit Hilfe des Selbstmodifikations-Programms von FIEDLER/ PIEPER/TEEGEN (1979) einem siebenjährigen Mädchen mit verschiedenen Problemverha1tensweisen die wichtigsten verhaltenstheoretisehen Grundlagen und Änderungsprinzipien vermittelt und zur Verhaltensanalyse, zur Selbstbeobachtung sowie zu einer selbstgesteuerten und selbstkontrollierten Verhaltensmodifikation angeleitet.
Durch therapiebegleitende Beobachtungen sollen unmittelbare und Generalisations-Effekte auf der Ebene beobachtbaren Verhaltens überprüft werden.
Unter dem Begriff der Verhaltenstherapie wird eine Reihe von therapeutischen Ansätzen zusammengefaßt, die bei der Beseitigung von Verhaltensstörungen und beim Aufbau fehlender Verhaltensweisen systematisch von den Prinzipien der modernen Lerntheorie Gebrauch machen. Der Begriff der Verhaltensmodifikation wird als Oberbegriff verstanden, wobei der Begriff der Verhaltenstherapie nur für das therapeutische Geschehen steht (REINECKER 1978, HARTIG 1975).
Während in den Gründerjahren der Verhaltenstheorie vorwiegend Techniken der Modifikation des Verhaltens durch äußere Kontrol1instanzen, Umweltbedingungen und andere äußere Faktoren im Mittelpunkt standen, zeigt sich in den letzten Jahren mehr und mehr die Tendenz, den Klienten als aktiven Teilnehmer, sozusagen als Kotherapeuten in den therapeutischen Plan einzubeziehen. Unter Anleitung eines Therapeuten übernimmt der Klient dabei wichtige Funktionen bei der Beobachtung, Protokollierung, Analyse und gezielten Modifikation seines eigenen Verhaltens: kurz, er praktiziert Selbstkontrolle (HARTIG 1975, KANFER/ PHILLIPS 1970).
In der Verhaltenstherapie werden zwei Hauptkriterien übereinstimmend konstitutiv für Selbstkontrolle angegeben (vgl. HARTIG 1975; THORESEN/MAHONEY 1974). GROEGER (1979, S. 1 f.) definiert diese wie folgt:
1. "Selbstkontrolle impliziert einen Konf1ikt in Bezug auf ein bestimmtes Verhalten, der daraus resultiert, daß das Verhalten unter multipler Kontingenzkontrolle steht, d. h. sowohl von positiven als auch von negativen Konsequenzen gefolgt wird. Das Individuum schwankt zwischen Annäherung an und Vermeidung von einem Ziel (approach-avoidance-conflict) aufgrund einer von zwei möglichen Konfliktkonstellationen,
a) unmittelbar positive und langfristige negative Konsequenz,
b) unmittelbar negative und langfristige positive Konsequenz."
2. "Selbstkontrolle impliziert außerdem, daß das Individuum in der Konfliktsituation durch eigenständiges Einleiten einer alternativen, kontrollierenden Verhaltensweise die Auftretenswahrscheinlichkeit des konflikthaften Verhaltens ändert.
Entsprechend der zwei möglichen Konfliktkonstellationen lassen sich dabei zwei Änderungsrichtlinien unterscheiden:
a) bei unmittelbar positiven und langfristig negativen Konsequenzen wird eine relativ hohe Auftrittswahrscheinlichkeit herabzusetzen sein ("einer
Versuchung widerstehen"),
b) bei unmittelbar negativen und langfristig positiven Konsequenzen wird eine relativ niedrige Auftrittswahrscheinlichkeit zu erhöhen sein ("etwas
Unangenehmes auf sich nehmen")."
Ein allgemein anerkannter Aspekt dieser Definition ist das eigenständige Einleiten der kontrollierenden Reaktion. Jedoch für den anderen Aspekt - der Konfliktbewältigung - bestehen Tendenzen zur Definitionserweiterung.
So genügt es nicht, daß man sich darauf beschränkt, daß der Klient sein Verhalten so verändert, daß er nicht mehr unter dessen störender Anwesenheit (oder Abwesenheit) leidet, sondern der Klient soll ein Problemlösungsverhalten trainieren (s. D'ZURILLA/GOLDFRIED 1971), das ihm ermöglicht, nicht nur das zur Lösung anstehende Problem in den Griff zu bekommen, sondern er auch in Zukunft imstande sein wird, ähnliche Schwierigkeiten selbst zu lösen.
GROEGER (1979) faßt diese vorhandenen Tendenzen der Selbstkontrolle und des Problemlösens, "die dem Individuum Fähigkeiten zu planvollem, zielgerichtetem Handeln und aktivem, bewußtem Problemlosen zusprechen, und zwar nicht nur in Konfliktsituationen, sondern prinzipiell jederzeit" (GROEGER 1979, S. 2), unter der Bezeichnung SELBSTSTEUERUNG zusammen.
Der Vorgang der Selbststeuerung setzt aber ein "reflektierendes Subjekt" voraus, das sich Wissen über seine Umwelt aneignet, dieses Wissen überprüft und zu planvoll intentionalem Verhalten einsetzt ( "epistemologisches Subjektmodell", GROEBEN/SCHEELE 1977).
Damit aber wird deutlich, daß dieser komplexe Vorgang der Selbststeuerung nicht nur als eine weitere Technik im "Methodenarsenal" der Verhaltenstherapie betrachtet werden darf. Vielmehr kommt der Selbststeuerung ein besonderes Gewicht zu, das KANFER (1973, S. V) im Geleitwort zu HARTIGs Monographie benennt: "Das Endziel der psychiatrischen Behandlung besteht darin, dem Patienten zu helfen, Unabhängigkeit von der therapeutischen Umgebung zu erlangen und die Kontrolle des eigenen Verhaltens selbst zu übernehmen." Das aber bedeutet, daß die Selbststeuerung das eigentliche Ziel jeder Therapie sein sollte.
GROEGER (1979, S. 3 f.) faßt die Vorteile der Selbststeuerung gegenüber der Fremdkontrolle wie folgt zusammen:
- Der Bereich therapeutisch modifizierbaren Verhaltens wird vergrößert, und zwar um diejenigen Reaktionen, die nicht oder nur schwer beobachtbar sind. Z.
B. Gedanken, Vorstellungen, Phantasien, Selbstbewertungen und -instruktionen; selten auftretende Verhaltensweisen und solche, die nicht in der
Therapiesituation zu erfassen sind, besonders Verhaltensweisen aus dem privaten Lebensbereich.
- Der Transfer therapeutisch erreichter Modifikation auf die alltäglichen Lebensbedingungen wird durch Selbststeuerung erleichtert und damit die Gefahr
von Rückschlägen eingeschränkt. Das aber bedeutet, daß Selbststeuerung einen Beitrag zur Prävention künftiger Störung leisten kann.
- Die Zeit, die der Therapeut für einen Klienten aufwendet, kann verkürzt werden, da wesentliche Teile der Therapie außerhalb der therapeutischen Situation
stattfinden.
- Die Verantwortung für Therapieverlauf und -erfolg übernimmt der Klient. Damit steht der Therapeut nicht unter Therapieerfolgszwang und kann sich
intensiv mit dem Klienten beschäftigen. Dazu gehört aber auch, daß der Therapeut den Klienten an den gesamten therapeutischen Vorgängen aktiv teilnehmen
läßt und Ziele, Methoden und Dauer der Therapie mit dem Klienten erarbeitet.
Bei diesem letzten Punkt der Eigenverantwortlichkeit des Klienten wird allerdings die Begrenztheit der Einsatzmöglichkeit der Selbststeuerung deutlich, da nur Personen Selbststeuerung erlernen und durchführen können, die ein vertretbares Niveau der Intelligenz und der Motivation in die therapeutische Situation miteinbringen. D. h. der Klient muß fähig sein, den Vorgang der Selbststeuerung gedanklich zu begreifen und über seine Verhaltensweisen und die erwünschten Veränderungen kommunizieren zu können .
Unter dem nachfolgenden Punkt werden einige Techniken der Selbststeuerung anhand eines SeibstmodifikationsProgramms für Kinder dargestellt.
In dieser Diplomarbeit wird das Selbstmodifikationsprogramm für Kinder "Wie werden wir das nur los?" von TEEGEN/PIEPER/FIEDLER (1977) eingesetzt. Dieses Programm ist für Kinder im Alter von 10 bis 13 Jahren konzipiert, die in gewisser Weise lesen und schreiben können und deren Intelligenz im Normbereich liegt.
Die Autoren haben mit ihrem Programm angezielt, Kindern ebenfalls die Möglichkeit zu geben - ebenso wie den Erwachsenen - ihre Empfindungen und Verhaltensweisen systematisch zu erforschen und nach ihren Zielvorstellungen mit Selbstkontrolltechniken zu modifizieren.
Dabei soll das Programm zunächst im Bereich der Primärprävention eingesetzt werden, so daß die Kinder lernen, kleine Alltagsschwierigkeiten und Ängste selbst bewältigen zu können (vgl. TEEGEN/PIEPER/FIEDLER 1977).
Der Einsatz dieses Selbstmodifikationsprogramms sollte aufgrund seines komplexen Aufbaus und seiner Intention - die Selbststeuerung - nicht als eine Selbstkontrol1technik verstanden werden, sondern als eine Anleitung zum "eigenen selbstgesteuerten Therapeuten". In diesem Sinne wird das Programm in dieser Einzelfalltherapie eingesetzt.
Sieht man Selbststeuerung als ein generelles Therapieziel, so sind neben der Vermittlung der hier zur Anwendung gekommenen technischen Fertigkeiten - wie der Selbstverstärkung, der Stimuluskontrolle und der Erstellung eines sozialen Kontraktes - zwei Hauptaufgaben zu bewältigen (vgl. GROEGER 1979, S. 37):
a) Die Therapiesituation sollte so beschaffen sein, daß die äußeren Bedingungen einen Aufbau und die Aufrechterhaltung eines selbststeuernden Verhaltens
zulassen. Darunter sind all die Maßnahmen zu verstehen, die unter der Bezeichnung "Einüben in Verhaltensanalyse" zusammengefaßt sind (vgl. hierzu
GOLDIAMOND 1973; KANFER/ PHILLIPS 1973).
b) Der Klient muß eine Reihe von Verhaltensweisen erlernen, die Voraussetzung und notwendiger Bestandteil von Selbststeuerung sind. Hier sind diejenigen
Verhaltensweisen zu nennen, die allgemein unter dem Stichwort "Selbstkontrolle und -protokollierung" behandelt werden (vgl. REINECKER 1978, S. 191 - 229;
HAYNES 1978, 292 - 311).
Die zur "Einübung in Verhaltensanalyse" notwendigen Maßnahmen werden von dem Selbstmodifikationsprogramm geleitet. Im ersten Abschnitt werden mit dem Kind zunächst die wichtigsten verhaltenstherapeutisehen Grundannahmen und Änderungsprinzipien erarbeitet (vgl. TEEGEN/PIEPER/FIEDÂLER 1977, S. 4).
1. "Wie funktioniert Lernen?:
- das meiste Verhalten ist gelernt .
- auch Probleme sind selten angeboren
- Gelerntes kann wieder verlernt werden."
2. "Verhalten wird aufgebaut durch:
- positive Verstärker
- offene und verdeckte Seibstverstärkung
- shaping
- Model lernen
- trial and error
- Lernen von Hinweisreizen."
3. "Verhalten wird abgebaut durch:
- Löschung (Verlernen)
- negative Verstärkung."
4. "Verhalten wird aufrecht erhalten durch:
- Umwelt
- Seibstverstärkung."
Nachdem das Kind diese grundlegenden Kenntnisse verarbeitet hat, erfolgt der Aufbau eines Problembewußtseins und der Wunsch nach selbständiger Problembewältigung. Besonders durch das Training von Problemlösungsverhalten sehen D'ZURILLA/GOLDFRI ED (1971), REINECKER (1978), MEICHENBAUM (1974), THORESEN/HAHONEY (1974) den Präventivcharakter der Selbststeuerung gegeben, weil der Klient bei Ähnlichen Schwierigkeiten auf die erlernten Problemlösungsstrategien zurückgreifen könnte.
Ebenfalls erlernt das Kind als notwendige Maßnahmen das "Einüben in Verhaltensanalyse"
- sein Problemverhalten zu operationalisieren
- mit Hilfe des Therapeuten eine Verhaltensanalyse durchzuführen
- eine Verhaltensbeobachtung des ausgewählten Problemverhaltens durchzuführen
- einen Veränderungsplan zu erstellen mit genauer Zielformulierung
- seine Umwelt zu analysieren auf ihre verstärkende Wirkung
- einen Therapieplan zu erstellen
- einen Verstärkungsplan aufzustellen und korrekt einzuhalten.
Zum Aufbau des Alternativverhaltens lernt das Kind, bestimmte verhaltenstherapeutisehe Techniken einzusetzen, wie z. B. die Seibstverstärkung, die Selbstbeobachtung, die Stimuluskontrolle, das Selbstbehauptungstraining und den Abschluß eines sozialen Kontraktes mit sich selbst.
Durch eine kontinuierlich begleitende Selbstbeobachtung erfährt das Kind seine eigenen Veränderungserfolge und lernt diese Erfolge zu bewerten und zu kontrollieren. Um eine Abhängigkeit von erlernten Verstärkungsarten zu vermeiden, wird ein stabiles Seibstverstärkungssystem aufgebaut, das bedeutet, daß das Kind nicht nur materielle Verstärker in kurzen Zeitabständen erlangen will, sondern daß das Schwergewicht auf soziale Verstärker gelegt wird, wobei die Applikationsrate in immer größeren Zeiträumen erfolgen wird.
Zu Beginn der Durchführung des Selbstmodifikationsprogramms erfolgen Verhaltensanalysen, Erstellung des Therapieplanes und die Kontrolle der Veränderung gemeinsam mit dem Therapeuten, "wobei der Therapeut in erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe gibt" (s. GROEGER 1977, S. 38). Im Verlaufe der Behandlung werden die Hilfestellungen immer mehr reduziert und Planung, Durchführung und Evalvation immer mehr in die Eigenverantwortung des Kindes gegeben.
Als zweiter Hauptpunkt wurde unter Punkt b) "die Selbstbeobachtung und -protokollierung" als Voraussetzung und notwendiger Bestandteil der Selbststeuerung bezeichnet. Dies erscheint sinnvoll, da ohne eine genaue Protokollierung des Problemverhaltens eine planvolle, selbstgesteuerte Verhaltensmodifikation nicht durchführbar ist. Eine Anleitung zur Selbstbeobachtungstechnik ist daher unbedingt notwendig. (Vergleiche hierzu KANFER ( 1977), der verschiedene Schritte zum Aufbau von Selbstbeobachtungsverhalten vorschlägt.)
Zum Bereich des "Einübens in Verhaltensanalyse" gibt es keinen speziellen Theorieansatz und auch keine empirischen Untersuchungen (vgl. GROEGER 1979, S. 40). Jedoch zum Bereich der Selbstbeobachtung und -protokollierung gibt es zwei Theorieansätze und eine große Anzahl von empirischen Studien (vgl. u. a. KAZDIN 1974, HAYNES 1978, REINECKER 1978) (s. Näheres unter Punkt 2.3).
Die Evaluierung des durchgeführten Selbstmodifikationsprogramms erfolgte im Rahmen einer Diplomarbeit von FIEDLER/PIEPER (1975) in Hamburg an einer Schule. Es zeigte sich, daß die Schüler das Programm gut umsetzen konnten, denn 100% der Schüler, die durch einen Mediatoren durch das Programm begleitet wurden, und 67% der Kinder, die das Programm allein durchgearbeitet haben, begannen ein Problem zu verändern.
Davon gaben 77% (56%) an, sich positiv verändert zu haben und 71% (64%) vermuteten, daß sie anschließend auch andere Probleme besser bewältigen könnten (vgl. TEEGEN/ PIEPER/FIEDLER 1977, S. 16).
Unter Generalisation wird die Tatsache bezeichnet, daß Verhaltensweisen, die in einem Lernprozeß mit einer bestimmten Reizsituation gekoppelt wurden, nicht nur durch diese, sondern auch durch ähnliche Reizsituationen hervor gerufen werden können. Der Begriff wird häufig synonym mit "transfer" oder "Übungsübertragung" gleichgesetzt.
Wie schon unter Punkt 2.2 ausgeführt, haben sich einige Forscher besonders um das Phänomen der Reaktivität bei der Selbstbeobachtung bemüht.
Dies mag wohl daran liegen, daß bei der Selbstbeobachtung rückwirkende Effekte auf das zu beobachtende Verhalten auftraten (nicht in allen Fällen). Zur Erklärung dieses Phänomens - allgemein unter dem Stichwort REAKTIVITÄT behandelt - werden vor allem zwei Hypothesen herangezogen (vgl. GROEGER 1 979 , S. 41 ) :
Feedback-Model 1 :
Hier wird davon ausgegangen, daß durch den Beobachtungsvorgang eine Person Information über sich selbst erhält, die nicht als wertneutral gesehen werden kann, sondern immer in einen Bewertungsprozeß mündet, bei dem das beobachtete Verhalten mit den persönlichen Standards verglichen wird. Je nachdem, ob es eine oder keine Differenz zwischen der eingeholten Information und den Standards gibt, wird eine oder keine Anpassung an diese Standards erfolgen.
Operantes Model 1 :
Dieses Modell geht davon aus, daß mit der Selbstbeobachtung immer Verstärkungs- oder Bestrafungsprozesse verbunden sind (instrumentelles Konditionieren).
KAZDIN (1974) weist darauf hin, daß beide Hypothesen nicht als konkurrierend, sondern einander als ergänzend zu betrachten wären, wobei das Feedback-Modell umfassender ist und das operante Modell erklärt, auf welche Weise der Bewertungsprozeß zu einer Veränderung des offenen Verhaltens führen kann (vgl. Selbstregulationsmodell von KANFER 1973).
Einige Untersuchungen versuchen, die Effekte der Selbstbeobachtung auf nicht beobachtete Verhaltensweisen nachzuweisen.
So zeigten GOTTMAN & MC FALL (1970) in ihrer Untersuchung einen minimal statistisch gesicherten Generalisationseffekt auf nicht beobachtetes Verhalten. In ihrer Studie beobachteten Schüler ihre mündliche Beteiligung am Unterricht.
Daraufhin verbesserte sich die Benotung ihrer Schulleistung und das Kontaktverhalten zum Lehrer veränderte sich in der Form, daß die Schüler den Lehrer außerhalb der Klasse häufiger ansprachen als früher. Auch JOHNSON & WHITE (1971) weisen auf einen Generalisationseffekt der Selbstbeobachtung bei nicht beobachtetem Verhalten hin, sie belegen aber ihre Hypothese nicht.
Es zeigt sich in der Literatur, daß durch eine Vielzahl von Untersuchungen die unterschiedlichsten Variablen einer Therapiesituation experimentell überprüft wurden, mit mehr oder weniger statistisch bedeutsamen Erfolgen der unterschiedlichsten Interventionseffekte, z. B. bei
- Selbstbeobachtung und ihr Effekt auf das beobachtete Verhalten (MC FALL 1970)
- Selbstbeobachtung und ihr Effekt auf das nicht beobachtete Verhalten (GOTTMAN/MC FALL 1972)
- Selbstmodifikation und ihr Effekt auf das Verhalten des Interaktionspartners (MASTERS/JOHNSON 1970).
Studien, die sich jedoch mit dem Generalisationseffekt bei Selbstmodifikationsprogrammen beschäftigen und experimentell abprüfen, sind der Diplomandin z. Z. nicht bekannt (s. hierzu Punkt 3).
Das mag möglicherweise daran liegen, daß die therapeutische Situation der Selbststeuerung dermaßen komplex ist, daß die Generalisationseffekte der eingesetzten Maßnahmen (z. B. Selbstbeobachtung, Selbstverstärkung, Selbstbewertung, Problemlösen, Verhaltensanalyse, Therapeuten-Klienten-Gespräch, Therapeuten-Eltern-Gespräche, sozialer Kontakt) ineinander verschmelzen und nicht mehr statistisch einwandfrei vertretbar einzelnen Maßnahmen zugeordnet werden können, wobei noch zusätzlich Störvariablen (z. B. Therapeutenmerkmal, Klientenmerkmal, Zeit, Umwelteinflüsse, Kontrollbedingungen , Beobachtungsbedingungen) die zu messenden Effekte verändern können (HAYNES 1978, KIRCHNER/ KISSEL/PETERMANN/BÃTTGER 1977).
Selbstkontrolle wird in Anlehnung an REINECKER (1978) nicht als stabiler Persönlichkeitszug im Sinne der Trait-Theorie (vgl. hierzu die Diskussion bei MISCHEL 1971, 1973 a) aufgefaßt, sondern als die Summe einiger erlernbarer Verhaltensweisen (KANFER 1971). Das Drei Stufenmodell der Selbstkontrolle von KANFER (1971) stellt Selbstbeobachtung, Selbstbewertung und Selbstbelohnung als die wichtigsten Komponenten der Selbstkontrolle dar. Das bedeutet, daß das Individuum sein eigenes Verhalten und seine Umwelt beobachtet, bewertet, und durch Verstärkerpläne bestimmen und verändern kann (BANDURA 1974; MILLER/GALANTER/PRIBRAM 1960).
Wenn aber das Individuum gelernt hat, sein Verhalten zu beobachten, zu analysieren, zu kontrollieren und nach eigenen Plänen zu modifizieren, dann stellt sich die Frage:
Ob das Individuum die vermittelten Fertigkeiten nur auf eine, nämlich die behandelte Verhaltensweise beschränkt oder ob es diese Fertigkeiten auf weitere als problematisch empfundene Verhaltensweisen anwendet.
Diese Frage soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Empirische Untersuchungen, die dieser Fragestellung auf der Ebene beobachtbarer Verhaltensweisen nachgehen, liegen m. E. bisher nicht vor, obwohl in der Literatur häufig auf Generalisierungseffekte und präventive Einsatzmöglichkeiten der Selbstkontrollverfahren hingewiesen wird (vgl. REINECKER 1978; TEEGEN/PIEPER/FIEDLER 1977; HARTIG 1975).
So sehen D'ZURILLA/GOLDFRIED (1971) als wichtigstes Ziel der Selbstkontrolltherapien, daß Personen, die ein Selbstkontroll-Programm durchführen, in Zukunft selber effektive Problemlöser werden, d. h. ihre gelernten Fertigkeiten auf andere Problembereiche übertragen.
MEICHENBAUM (1975) sieht als zusätzliches Ergebnis seiner Selbstinstruktionstherapien, daß die erzielten Therapieeffekte leichter generalisiert werden können.
Dies würde bedeuten, daß die Klienten nicht nur gelernt haben, mit einer Situation angstfrei umzugehen, sondern daß die Problemlösungsstrategien auf andere Situationen übertragen werden können. Darüber hinaus werden Generalisierungseffekte auch auf zeitlicher Ebene erwartet, d. h. Erfolge mit Selbstinstruktionsprogrammen scheinen auch langfristig stabil zu bleiben. "These two features of self-instructional training, if borne out by future research, will provide further support for the notion that self-instructional training makes alterations in general cognitive strategy rather than effexting isolated changes in specific target behaviors." (CRAIGHEAD/KAZDIN/MAHONEY 1976, S. 149). Auch GROEGER (1979) weist auf den hohen Transfer therapeutischer Effekte bei der Selbststeuerung hin. "Selbststeuerung zielt von vornherein darauf ab, Veränderungen im normalen Lebensbereich des Klienten zu erreichen und diese Veränderungen unabhängig von externen Verstärkungsbedingungen zu etablieren. Damit werden nicht nur Rückfälle unwahrscheinlieher, sondern es wird darüber hinaus ein Beitrag zur Prävention künftiger Störungen geleistet." (GROEGER 1979, S. 3)
Das hier verwendete Selbstmodifikationsprogramm für Kinder von TEEGEN/PIEPER(FIEDLER 1977) hat zum Ziel, Kinder anzuleiten, "sich selbst, ihre Gefühle und Verhaltensweisen kennenzulernen und einfache Problemlösungsstrategien zu üben" (TEEGEN, PIEPER & FIEDLER, 1977, S. 1 f) 15
In der vorliegenden Einzelfalluntersuchung werden mit Hilfe des Selbstmodifikations-Programms von FIEDLER/PIEPER/ TEEGEN (1977) einem siebenjährigen Mädchen mit verschiedenen Problemverhaltensweisen die Grundlagen der Lerntheorie, der Verhaltensanalyse und der Selbstbeobachtung vermittelt. Gleichzeitig wird das Kind zu einer selbstgesteuerten und selbstkontrollierten Verhaltensmodifikation angeleitet.
Durch therapiebegleitende Beobachtungen - Mutter und Lehrerinnen beobachten das Kind während der gesamten Intervention - sollen unmittelbare und Generalisations-Effekte auf der Ebene beobachtbaren Verhaltens überprüft werden:
a) Welche Veränderungen bewirkt die Durchführung des Selbstmodifikationsprogramms bei den behandelten Verha1tensweisen?
b) Welche Veränderungen bewirkt die Durchführung des Selbstmodifikationsprogramms bei den (noch) nicht behandelten Verhaltensweisen?
Bei der Überprüfung dieser Fragestellungen wird von folgenden Hypothesen ausgegangen:
1. Die Durchführung des Selbstmodifikations-Programms bewirkt signifikante Veränderungen der Intensität oder der Rate der behandelten Verhaltensweisen in
die erwünschte Richtung.
2. Die Durchführung des Selbstmodifikations-Programms bewirkt signifikante Intensitäts- oder Häufigkeitsveränderungen auch bei den nicht behandelten
Verhaltensweisen in die erwünschte Richtung.
3. Intensitäts- oder Häufigkeitsveränderungen bei nicht behandelten Verhaltensweisen sind um so ausgeprägter, je ähnlicher sie den behandelten
Verhaltensweisen sind.
Die zur Therapieplanung notwendigen Daten werden durch freie Explorationsgespräche mit den Eltern und den Lehrerinnen des Kindes, der Stuttgarter-Explorations-Serie (CHRISTMANN) und einer vierwöchigen unsystematischen Beobachtung erhoben. Die Exploration des Kindes erfolgt während der Untersuchung im Rahmen des Selbstmodifikationsprogramms.
Die Versuchsperson, Sabine, 7 Jahre alt, geht in die erste Klasse einer katholischen Grundschule. Sabine lebt mit ihren Eltern allein in einer Eigentumswohnung am Stadtrand einer Großstadt in NRW. Der Vater, 35 Jahre, ist Programmierer in einem großen Unternehmen. Die Mutter, 32 Jahre, ist Grundschullehrerin ohne Anstellung. Sie ist seit dem zweiten Lebensjahr ihres Kindes Hausfrau. Der Familie geht es gesundheitlich und finanziell gut. Z. Z. der Untersuchung bestehen keine gravierenden Probleme zwischen Eltern und Kind und den Eltern untereinander.
Bei einem Lehrerfortbildungskurs hat die Diplomandin im Herbst 1979 die Mutter kennengelernt und von der Problematik des Kindes erfahren. In Absprache mit Dr. W. Groeger ist das Kind aufgrund seiner vielschichtigen Problemverhaltensweisen für diese Untersuchung ausgewählt worden.
Die Eltern sind über die Untersuchung aufgeklärt und haben ihr Einverständnis zur Veröffentlichung gegeben.
Nach der Exploration lassen sich bei Sabine folgende ProÂblembereiche unterscheiden:
- extreme soziale Unsicherheit
- Enuresis diurna.
Die 'extreme soziale Unsicherheit' läßt sich an vier konkreten Verhaltensweisen operationalisieren :
Vgl. hierzu Serber (1972) und Wolpe/Lazarus (1966), die ebenfalls soziales kompetentes Verhalten in die eher quantitativen Variablen wie Intensität des Augenkontaktes, Häufigkeit des "ich"-Gebrauchs , Länge der Bemerkungen oder ausreichende Lautstärke operationalisierten .
- Fehlender Blickkontakt
S. schaut ihr nicht vertrauten Personen (Besuch, Klassenkameraden, fremden Kindern, Lehrpersonal etc.) bei Sprechkontakten (Fragen, Antworten und während des Gesprächs) nicht in die Augen. D. h. S. hält den Kopf gesenkt oder der Blick wandert und weicht dem Gesprächspartner aus.
- Verminderte Lautstärke
S. spricht mit ihr nicht vertrauten Personen so leise und undeutlich, daß sie auf 1 Meter Distanz nicht verÂstanden werden kann. D. h. S. hält den Kopf gesenkt und spricht zu Boden, nuschelt vor sich hin oder haucht Wortfetzen.
- Fehlendes Melden in der Klasse
S. meldet sich nicht bei Fragen an die Klasse und weicht direkten Fragen an sie aus. D. h. S. beteiligt sich nicht aktiv am Unterrichtsgeschehen. Schriftliche Stillarbeit wird von ihr jedoch zur vollsten Zufriedenheit der Lehrerin geleistet.
- Fehlendes Kontaktverhalten
S. vermeidet Kontakt zu fremden Kindern und Erwachsenen. D. h. S. nimmt nicht am Spiel mit ihr nicht so vertrauten Kindern teil. Sie spricht keine fremden Personen an (Bäcker, Postbote etc.) und läuft weg, wenn sie angesprochen wird.
Alle vier Verhaltensweisen sollen hier (zunächst) als eine symptomatische Reaktion analysiert werden, da sie topographisch ähnlich sind und bei gleichen situativen Gegebenheiten auftreten.
Das Verhalten tritt immer auf, wenn sich ihr nicht vertraute Personen nähern. Mutter und Lehrerinnen berichten übereinstimmend, daß S., wenn sie mit ihr vertrauten Personen zusammen ist, ein sehr lustiges, lautes, manchmal sogar 'vorwitziges' Mädchen ist. Häufig übernimmt sie beim Spiel die Kommandos. Als motorische Reaktionen werden 'weinen', 'weglaufen wollen', 'nach unten blicken' und 'motorische Unruhe' bemerkt. Als physiologische Reaktionen werden 'erröten, schwitzen' bemerkt. Die Abklärung der Organismus-Variabie ergibt, daß keine organischen Befunde vorliegen. Die Lerngeschichte des Kindes zeigt, daß das Kind von kleinauf von der Mutter überbehütet und verantwortliches Handeln und Eigeninitiative dem Kind nicht zugemutet wurden. Selbstkontrollversuche sind nicht bekannt.
Die gesammelten Informationen sprechen dafür, daß die Reaktion 'extreme soziale Unsicherheit' respondent ist, das Verhalten aber z. Z. überwiegend operant aufrecht erhalten wird.
a) Für ein respondentes Verhalten spricht, daß die extreme soziale Unsicherheit durch physiologische und motorische Reaktionen begleitet wird.
b) Ebenfalls spricht für ein respondentes Verhalten, daß die extreme soziale Unsicherheit immer unmittelbar in den kritischen Situationen auftritt. Sabine
zeigt nur ihre Unsicherheit, wenn fremde Personen auf sie zugehen oder sie ansprechen.
c) Für ein operantes Verhalten spricht, daß die nachfolgenden Reize das Problemverhalten 'extreme soziale Unsicherheit' verstärken.
Aufgrund dieser Überlegungen läßt sich folgendes funktionales Bedingungsmodell erstellen.
[Dies ist eine Leseprobe. Abbildungen und Grafiken werden nicht dargestellt.]
Als weitere Reaktionen des Kindes wird beobachtet: weggucken, weglaufen, sich hinter der Mutter verstecken, unverständlich sprechen, weinen, schweigen, sich nicht von der Stelle bewegen.
Alle diese Reaktionen des Kindes werden durch das positiv verstärkende Verhalten der Mutter und anderer Personen aufrechterhalten. Die nachfolgenden Konsequenzen sind: Fremder tröstet Sabine; alle bemühen sich, besonders nett zu Sabine zu sein; Mutter erklärt und hilft Sabine; Mutter tröstet Sabine; Mutter entschuldigt Sabines Verhalten, mit Sabines Schüchternheit.
Nur in ganz seltenen Fällen hat die Mutter mit Sabine geschimpft.
Ein eindeutiger Erklärungsansatz zur Entstehung des respondenten Verhaltens kann nicht ermittelt werden. Es ist aber aufgrund der starken physiologischen und motorischen Reaktionen des Kindes eine klassische Konditionierung anzunehmen. Die Genese zeigt aber deutlich auf, daß die Mutter durch ihr Verhalten das problematische Verhalten 'extrem soziale Unsicherheit' verstärkt und damit aufrecht erhält. Ebenfalls ist dem Kind aufgrund des beschützenden Verhaltens der Mutter nicht möglich, ein adäquates Verhalten zu Fremden aufzubauen. Es kann bei Sabine somit auch von einem Verhaltensdefizit gesprochen werden. Die Exploration des Mutterverhaltens zeigt auf, daß
- die Großmutter ihrer Tochter ebenfalls alle Probleme abgenommen hat und sich nur auf ihre Kinder konzentriert hat.
- die Mutter sich unterfordert fühlt, weil sie ihren Beruf als Lehrerin nicht ausüben kann. So konzentriert sie ihre ganze Kraft und Aktivität auf Sabine.
Sie organisiert Kinderfeste, Treffen mit Nachbarschaftskindern und die Freizeitgestaltung von Sabine.
- Der Vater des Kindes unterstützt das Verhalten der Mutter, indem er es geradezu erwartet und sich darauf verläßt, daß die Mutter sich ausschließlich um
das Kind kümmert.
Schlußfolgerung:
Die Information der Genese und deren funktionale Erklärung bestätigen die Hypothese, daß die Reaktion 'extreme soziale Unsicherheit' als operant betrachtet werden kann.
Als möglicher Änderungsansatz läßt sich aus dem funktionalen Bedingungsmodell eine Unterbrechung der R-C-Verbindung ableiten, sowie eine Modifikation von R (Kind) und eine Modifikation von C (Mutterverhalten). Dieser Änderungsansatz liegt dem Selbstmodifikationsprogramm für Kinder zugrunde.
Die Reaktion Enuresis diurna tritt in unterschiedlieher Oszillation und Frequenz auf. Eine direkte Beziehung zwischen Situation und Intensität des Einnässens läßt sich nicht ausmachen. Es besteht allerdings der natürliche Zusammenhang, je mehr das Kind getrunken hat, um so größer ist die Möglichkeit, daß die Intensität des Einnässens zunimmt.
Das Einnässen geschieht:
- nur tagsüber
- nur während der Schulzeit
- in Spielsituationen
a) zu Hause
b) bei Freunden
c) auf der Straße
- unterwegs
a) auf Reisen
b) bei Besuchen
c) bei Einkäufen
- wenn das Kind wütend auf die Mutter oder den Vater ist.
Das Einnässen geschieht nicht:
- nachts
- während des Unterrichts in der Schule
- in Zeiten, in denen das Kind nicht in die Schule muß
a) in den Ferien
b) krank sein
c) am Wochenende, an Feiertagen.
Physiologische Reaktionen sind keine bekannt.
Die Abklärung der Organismusvariable ergibt, daß die Eltern ihr Kind gründlich von Fachärzten der Urologie untersuchen ließen. Die Untersuchungen sind ohne Befund.
Das Kind leidet häufig an Blasenentzündungen, da es nicht sofort nach dem Einnässen die Hose wechselt und sich somit leicht erkälten kann.
Selbstkontrollversuche sind von seiten des Kindes nicht bekannt.
Die Eltern haben Versuche unternommen, das Kind tagsüber trocken werden zu lassen. Die Versuche sind gescheitert (Klingel an die Unterhose, die klingelt, wenn die Hose feucht wird; Kontrolle des Toilettenbesuchs). Die Eltern haben ihre Versuche abgebrochen, weil sie sich nicht sicher waren, ob sie richtig an ihrem Kind handelten.
Die gesammelten und hier nicht im einzelnen aufgeführten Informationen sprechen dafür, daß die Reaktion Enuresis diurna klassisch konditioniert ist, und jetzt vorwiegend operant aufrecht erhalten wird.
Das Einnässen als solches ist im Säuglingsalter eine physiologische Reaktion. Im Laufe der Reinlichkeitserziehung erlernt das Kind, diese Reaktion willentlich zu kontrollieren.
Nach einer erfolgreichen Reinlichkeitserziehung kann das Einnässen als motorische Reaktion bezeichnet werden. Da Sabine seit ihrem dritten Lebensjahr konstant tagsüber einnäßt, aber seit dem vierten Lebensjahr nachts trocken ist, ist anzunehmen, daß bei Sabines Einnässen von einer motorischen Reaktion ausgegangen werden kann. Weitere physiologischen Reaktionen sind nicht bekannt. Aus diesem Grunde wird hier ein respondentes Verhalten angenommen, das z. Z. hauptsächlich operant aufrecht erhalten wird.
Sabine näßt immer während der Schulzeit ein, d. h., sobald Sabine nicht in die Schule muß, hört das tagsüber Einnässen auf. Es kann aber kein diskriminativer Stimulus, auf den das Einnässen unmittelbar folgt, gefunden werden, so daß aus diesem Grunde auf ein operant aufrechterhaltenes Verhalten geschlossen werden muß.
Unmittelbar auf die Reaktion 'Einnässen' folgende Konsequenzen sind selten, da die Mutter meistens erst abends die nasse Hose von Sabine findet. Wenn das Einnässen direkt in Anwesenheit der Mutter erfolgt, so geschieht dies in Kaufhäusern oder auswärts, so daß die Mutter Sabines Verhalten aus Scham vertuscht.
Da die unmittelbare Verstärkung des Einnässens selten erfolgt, muß ein respondentes Verhalten angenommen werden. Allerdings sind die nachfolgenden Reaktionen der Mutter, wenn sie das Einnässen entdeckt, häufig so stark positiv, daß vermutet wird, daß das Verhalten doch über die verÂstärkende Reaktion der Mutter aufrechterhalten wird.
Aufgrund dieser Überlegungen wird auf die Darstellung eines funktionalen Bedingungsmodells verzichtet.
Wichtiger scheint es, das von der Mutter gezeigte Verhalten darzustellen, wenn sie Sabines Einnässen entdeckt.
Sehr häufig ignoriert die Mutter das Verhalten von Sabine, oder sie vertuscht Sabines Einnässen vor Vater, Freunden und fremden Personen, da sie sich mitschuldig fühlt. Manchmal tröstet sie Sabine und widmet ihr besonders viel Zeit. Selten reagiert sie negativ auf Sabines Verhalten, indem sie Sabine ins Zimmer schickt, sie nicht auf den Schoß nimmt (Liebesentzug) oder sie "anbrüllt".
Die Genese erbringt einen Hinweis, daß das Verhalten 'tagsüber einnässen' in den Kindheitstagen klassisch konditioniert wurde; inzwischen wird es jedoch operant aufrecht erhalten.
Die Mutter berichtet, daß S. als Dreijährige für 5 Tage im Krankenhaus war (Entfernung der Polypen). Sie war zu dieser Zeit tagsüber und nachts trocken. Der Aufenthalt wurde von den Eltern als sehr schlimm erlebt, da das Kind ständig schrie und weinte, am Bettchen festgeschnallt werden mußte und die Mutter nicht im Krankenhaus bei dem Kind bleiben konnte.
Nach dem Krankenhausaufenthalt näßte Sabine wieder tagsüber und nachts ein. Nach einem Jahr wurde Sabine wieder nachts trocken. Jedoch das Einnässen tagsüber blieb als Reaktion konstant bis zum heutigen Untersuchungszeitpunkt. Dieses traumatische Erlebnis wiederholte sich nicht mehr und es kann davon ausgegangen werden, daß die klassisch konditionierte Angstreaktion nicht mehr verstärkt wurde.
Es ist anzunehmen, daß sich das Einnässen tagsüber als Reaktion verfestigt hat, um von der Mutter nicht getrennt zu sein und ihre Aufmerksamkeit zu erhalten.
Diese Erklärung läßt dann auch verständlicher erscheinen, warum das Kind nur während der Schulzeit einnäßt und nicht in den Ferien.
Durch Exploration des Mutterverhaltens während der Schul- und Ferienzeit stellt sich heraus, daß die Mutter
a) in den Ferien sich ganz dem Kind widmet und Sabine tun und lassen kann was sie will (kein Konflikt mit der Mutter).
b) in der Schulzeit besonders stark das Hausaufgabenverhalten von Sabine überprüft und ihre Freizeit stark einschränkt. Zum Spielen mit der Mutter bleibt
wenig Zeit (viele Konflikte mit der Mutter).
Schlußfolgerung:
Die Überlegungen zur Erstellung des funktionalen Bedingungsmodells, die Genese und die Exploration des Mutterverhaltens bestätigen, daß die Reaktion 'Enuresis diurna' klassisch konditioniert ist und jetzt ausschließlich operant aufrechterhalten wird. Als möglicher Änderungsansatz wird die R-C-Verbindung angesehen. Die Reaktion des Kindes (R) und insbesondere auch das Verhalten der Mutter (C) sind therapeutische Ansatzpunkte. Das Selbstmodifikationsprogramm für Kinder greift diese Änderungsansätze auf, wobei es möglicherweise erforderlich sein wird, wehrend der Untersuchung zusätzliche therapeutische Maßnahmen einzusetzen.
Der wichtigste Zusammenhang zwischen den beiden Symptomen 'extreme soziale Unsicherheit' und 'enuresis diurna', die zum Untersuchungszeitpunkt überwiegend operant aufrecht erhalten werden, ist der gleiche Operant. Das bedeutet, daß die Mutter durch erhöhte Aufmerksamkeit das Auftreten beider Symptome verstärkt, z. B. durch häufiges Beschützen oder Probleme aus dem Wege räumen ('extreme soziale Unsicherheit') oder bei dem Symptom 'enuresis diurna', indem sich die Mutter besonders intensiv um das Kind bemüht oder sich krampfhaft nicht um das Kind kümmern will (Liebesentzug), aber trotzdem das Kind Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ist.
Aus diesem Grunde wird das verstärkende Verhalten der Mutter zusätzlicher therapeutischer Angriffspunkt sein.
Eine gegenseitige Bedingung der beiden Symptome kann ausgeschlossen werden, da das Kind nur zu bestimmten Zeiten - nämlich nur während der Schulzeit - einnässt, aber die extreme soziale Unsicherheit über das ganze Jahr - unabhängig von der Schulzeit und den Ferien - auftritt.
Es scheint eher ein genetischer Zusammenhang zwischen den beiden Symptomen gegeben zu sein. Der Diplomand vermutet aufgrund der Verhaltensanalyse, daß das Symptom 'extreme soziale Unsicherheit' als Folge des Symptoms 'enuresis diurna' ausgebildet wurde und sich inzwischen verselbständigt hat.
So mag die erlebte Angst um ihr Kind während des Krankenhausaufenthaltes die Mutter dazu gebracht haben, sich noch intensiver um ihr Kind zu kümmern, es zu beschützen und zu behüten. Damit aber hat die Mutter die soziale Unsicherheit des Kindes gefördert und dem Kind die Möglichkeit genommen, ein stabiles soziales Verhalten im Umgang mit nicht vertrauten Personen aufzubauen.
Obwohl das Einnässen das genetisch frühere Symptom ist, wird mit der extremen sozialen Unsicherheit bei der Selbstontrollbehandlung begonnen, weil
- das Kind bei früheren Versuchen, das Einnässen abzubauen, negative Erfahrungen gesammelt hat.
- das Kind zu Beginn der Selbstkontrollbehandlung kein Bedürfnis hat, sein Verhalten zu ändern.
- die Selbstkontrolltechnik an einer Verhaltensweise vermittelt werden sollte, die noch nicht Gegenstand einer Verhaltensänderung gewesen ist und somit
keine unkalkulierbaren Faktoren aufgrund der gemachten Erfahrungen den Lernablauf der Selbststeuerung behindern.
Die vier operationalisierten Problemverhaltensweisen der Reaktion 'extreme soziale Unsicherheit' werden allen Beobachtern in Beobachtungskategorien vorgegeben. Die Beobachtungskategorien sind positiv formuliert, so daß ein Anstieg der Verhaltens rate erfaßt werden kann. Damit kann die Selbstbeobachtung für das Kind als Verstärker eingesetzt werden (HARTIG 1975, KANFER 1975, PREMACK 1975).
Kategorie 1: Blickkontakt
S. hält Blickkontakt mit der ihr nicht so vertrauten Person während des Gesprächs. D. h. S. hält ihren Kopf erhoben und ihre Augen blicken in das Gesicht und in die Augen des Gesprächspartners.
Kategorie 2: Melden
Sabine meldet sich bei einer Frage an die Klasse und weicht nicht aus, wenn sie aufgerufen wird.
Kategorie 3: Lautstärke
Sabine spricht so laut mit einem ihr nicht vertrauten Gesprächspartner, daß sie in einem Meter Abstand verstanden werden kann.
Kategorie 4: Initiative zeigen
Sabine weicht fremden Personen nicht mehr aus und antwortet auf Fragen. Sie spielt mit ihr nicht so vertrauten Kindern und fordert diese Kinder zum Mitspielen auf.
Auf die Durchführung der Beobachtung wird unter Punkt 'Kontrollmessungen' (5.2) eingegangen.
Das Problemverhalten Enuresis diurna ist quantitativ relativ einfach zu erfassen. So wird die Auftretenshäufigkeit des Einnässens durch die Feststellung, ob die Hose trocken oder naß ist, festgehalten (MOWRER/MOWRER 1938).
Die aus der Untersuchungsfrage
a) Welche Veränderungen bewirkt die Durchführung des Seibstmodifikationsprogramms bei den behandelten Verhaltensweisen?
und
b) Welche Veränderungen bewirkt die Durchführung des Selbstmodifikationsprogramms bei den (noch) nicht behandelten Verhaltensweisen?
entwickelten Hypothesen werden, wie folgt operationalisiert:
HYPOTHESE 1
(Die Durchführung des Selbstmodifikationsprogramms bewirkt signifikante Veränderungen der Intensität oder der Rate der behandelten Verhaltensweisen in die gewünschte Richtung.)
Die Selbstkontroll-Therapie der Verhaltensweisen 'Blickkontakt' (V1), 'Melden' (V2), 'Lautstärke' (V3), 'Initiative zeigen' (V4) führt zu einer Erhöhung der Verhaltensraten und im Falle der 'enuresis diurna' (VX) zu einer Reduktion der Verhaltensrate oder der Intensität.
Die durchgeführte Selbstkontrolltherapie ist über den Therapiezeitraum als erfolgreich anzusehen, wenn für jede modifizierte Verhaltensweise in den nachfolgenden Phasen ein signifikanter Trend- und/oder Niveau-Unterschied im Vergleich zur Baseline gegeben ist.
Die vorformulierte Hypothese 2:
Die Durchführung des Selbstmodifikations-Programms bewirkt signifikante Intensitäts- oder Häufigkeitsveränderungen auch bei den nicht behandelten Verhaltensweisen in die erwünschte Richtung und Hypothese 3:
Intensitäts- oder Häufigkeitsveränderungen bei nicht behandelten Verhaltensweisen sind um so ausgeprägter, je ähnlicher sie den behandelten Verhaltensweisen sind werden operationalisiert in der Form:
HYPOTHESE 2
Die Selbstkontrol1-Behandlung von 'Blickkontakt' (V1) und 'Melden' (V2) wirkt sich auf die dieser Verhaltens gruppe nahestehenden Verhaltensweisen 'Lautstärke' (V3) und 'Initiative zeigen' (V4) in der Form aus, daß sich signifikante Steigerungen in der Auftretenshäufigkeit von V3 und V4 bereits vor Einsatz einer Seibstkontrollbehandlung dieser Symptome ergeben.
HYPOTHESE 3
Die Seibstkontrollbehandlung 'Blickkontakt' (V1) und 'Melden' (V2), eventuell auch von 'Lautstärke' (V3) und 'Initiative zeigen' (V4) wirkt sich auf das dieser Verhaltensgruppe entfernt stehende Verhalten 'enuresis diurna' (VX) in der Form aus, daß sich eine signifikante Reduktion in der Auftretenshäufigkeit des tagsüber Einnässens bereits vor Beginn der Seibstkontrollbehandlung dieses Symptoms ergibt.
Es ist angezielt, mit Hilfe des Selbstmodifikationsprogramms für Kinder (FIEDLER/PIEPER/TEEGEN 1977) dem Kind und der Mutter die Grundlagen einer selbstgesteuerten Verhaltensveränderung
- Problembewußtsein
- Selbstbeobachtung
- Selbstbewertung
- Selbstverstärkung
- Verhaltensverträge
exemplarisch zu vermitteln. Da das Kind erst 7 Jahre alt ist und von sich aus wenig Interesse an einer Veränderung des Verhaltens hat, wird die Mutter im ersten Untersuchungsabschnitt, Phase B - Selbstbeobachtung und Phase C - Selbstmodifikation eines Problemverhaltens (s. Übersicht 1 S. 37) einbezogen. Die Mutter soll - genau wie das Kind - ein eigenes Verhalten analysieren und modifizieren. Damit wird bezweckt, der Mutter bestimmte Wirkungen ihres Verhaltens auf das Kind bewußt zu machen und einige Verhaltensweisen abzubauen.
Als Zielverhalten des Kindes dienen zur Erkennung der Selbststeuerung die Verhaltensweisen 'Blickkontakt' und 'Melden'. Diese beiden Verhaltensweisen sind vom Kind leicht zu beobachten und damit die Techniken zur Selbstmodifikation im Rahmen des Selbstmodifikationsprogramms für Kinder leicht zu vermitteln. Hat das Kind diese Verhaltensweisen erfolgreich verändert, so wird erwartet, daß es die erlernten Seibstkontrolltechniken in der darauffolgenden Interventionsphase auf die nächsten zwei Verhaltensweisen 'Lautstärke' und 'Initiative zeigen' anwendet, d. h. von sich aus Veränderungen einleitet oder in schnelleren Schritten vollzieht.
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