Masterarbeit
107 Seiten, Note: 1,3
1 Einleitung
1.1 Motivation
1.2 Zielsetzung und Gliederung der Arbeit
2. Familienerziehung und professionelle Erziehung
2.1 Erziehung in der Familie – wie wird Familie heute gesehen und welche Bedeutung hat sie?
2.1.1 Die sozialisatorische Triade als Modell von Familie
2.1.2 Funktionen von Familie
2.1.3 Umgangsformen: Verhandlungshaushalt und autoritativer Erziehungsstil
2.2 Streit über Familie
2.2.1 Familie und demografischer Wandel
2.2.2 Familien unter Druck
2.2.3 Flüssige Moderne – Erosion von Institutionen und Beschleunigung
2.2.4 Wenn Familie zum Projekt wird – Tücken der Optimierungsideologie
2.3 Familie und professionelle Erziehung
3. Heimerziehung
3.1 Hintergründe einer Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung
3.2 Was Heimerziehung bewirken möchte
3.3 Auswirkungen einer Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen im Heim
4. Familiäre Loyalitätsbindung
4.1 Die Bedeutung familiärer Loyalitätsbindungen
4.2 Auswirkungen von Loyalitätskonflikten während der Fremdunterbringung
5. Elternarbeit in der Heimerziehung
5.1 Geschichtliche Entwicklung der Elternarbeit
5.1.1 Historische Rollenbilder professioneller Erzieher
5.1.2 Fünf Typen sozialpädagogischer Praxis von Elternarbeit
5.2 Eine Beschreibung systematischer Elternarbeit in der Heimerziehung heute
5.2.1 Hindernisse für systematische Elternarbeit
5.3 Wie systematische Elternarbeit in der Heimerziehung professionell gestaltet werden kann
5.3.1 Kooperation
5.3.2 Balance zwischen Elternarbeit und der Arbeit mit dem Kind
5.3.3 Elternarbeit ohne Eltern
5.3.4 Alternative Konzepte
5.3.5 Systemische Haltung als Möglichkeit
6. Begründung von Elternarbeit in der Heimerziehung
7. Zusammenfassung der Ergebnisse
8. Kritische Reflexion
Literaturverzeichnis
Elternarbeit in der Heimerziehung. Zusammengefasst ist dies Thema meiner Arbeit. Ursprünglich galt meine Aufmerksamkeit den Loyalitätskonflikten der Kinder, welche sich nicht selten leidvoll während einer Unterbringung im Heim äußern. Die Kinder werden aus ihren Familien herausgerissen und in einer ihnen fremden Umgebung untergebracht. Dies hat seine Gründe und ist zum Wohle der Kinder gedacht. Jedoch werden die Kinder dies oftmals nicht verstehen, selbst dann nicht, wenn sie zu Hause noch so schlimme Dinge erlebt haben. Sie spüren vielleicht, dass es ihnen im Heim gut, gar besser geht als zu Hause. Dennoch: ihre Loyalität gilt der Herkunftsfamilie und das kann zu Konflikten während einer Fremdunterbringung führen. Denn wie soll sich ein Kind wohl fühlen und freuen, dass es ihm gut geht, dass es an einem sicheren Ort schützende und sorgende Beziehungen erlebt, gefördert und unterstützt wird, wenn es dadurch seine Familie verrät? Denn wenn es dem Kind im Heim gut geht, heißt das nicht auch, dass das Heim besser ist als seine Familie? Der Weg Loyalitätskonflikten in der Heimerziehung zu begegnen ist nicht ohne die Familie zu gehen. Loyalitätskonflikte können nur dann aufgelöst werden, wenn die strukturelle Konkurrenz zwischen Heimmitarbeitern und Eltern gemildert wird und die Kinder und Jugendlichen (von ihren Eltern) die Erlaubnis bekommen sich im Heim wohl zu fühlen. Zusätzlich ist es hilfreich wenn die Mitarbeiter den Eltern glaubhaft machen können, dass sie diese nicht verurteilen, selbst nicht alles besser können und lediglich einen vorübergehenden Schutzraum bieten wollen ohne die Eltern ihrer Verantwortung und ihrer Sorge berauben zu wollen.
Wichtig ist mir die Begründung der Elternarbeit in der Heimerziehung. Dass Elternarbeit stattfindet und stattfinden muss steht außer Frage. Die Frage wie dies geschehen soll spielt eine Rolle. Wichtiger noch ist jedoch welche Haltung dieser Elternarbeit zugrunde liegt. Also die Frage nach der Bereitschaft der Mitarbeiter mit den Eltern der untergebrachten Kinder und Jugendlichen arbeiten zu wollen. Wichtig ist hier die Übereinkunft gemeinsam ein Ziel erreichen zu wollen: das gute Aufwachsen und das Wohl der Kinder.
Diese Arbeit befasst sich mit einer Begründung der Elternarbeit im Hinblick auf die aktuelle Situation der Familie in Deutschland und im Hinblick auf mögliche leidvolle Loyalitätskonflikte der Kinder und Jugendlichen in der Heimerziehung.
Familienskeptiker behaupten, Familie gehe im Chaos der Liebe unter. Gar von Auflösung der Familienbilder ist die Rede. (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1990; zit. n. Winkler 2007, 197) Oder vom Untergang der Familie die sich am Gebrauchswert in Marktgesellschaften orientiert. (vgl. Honig 2006; zit. n. Winkler 2006, 197) Individualisierungsprozesse, wie sie heute in Gesellschaft vorherrschen, zielen auf die ausschließliche Selbsterhaltung des Individuums und erlauben Familiengründung nur als Abweichung von einer Norm, für die man sich entscheiden und teuer mit Opportunitätskosten bezahlen muss. Familie wird zur Privatangelegenheit. Kinder gelten als Luxus, gar als Investition. Auf der anderen Seite gilt es die Lebensform Familie zu verteidigen, da dieser bis heute ein erhebliches Gewicht in der Daseinsgestaltung und Fürsorge zukommt. Zudem hat Familie für Heranwachsende eine enorme Ordnungsfunktion und legt Autonomiepotenziale frei, wie kaum ein anderes sozialisatorisch relevantes Setting. (vgl. Winkler 2007, 199ff)
Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit agieren zweideutig. Einerseits loben sie die Familie hoch, andererseits missachten sie diese notorisch. So sind strukturelle Benachteiligungen in allen Bereichen sozialpolitischen Handelns zu beobachten. In ihrer Leistungsfähigkeit wird Familie für Sorge- als auch für Sozialisationsleistungen instrumentalisiert. In Zeiten des demographischen Wandels gilt das Interesse einem Mehr an Familien. Die bestehenden Familien brechen allerdings nicht selten unter der ihnen aufgebürdeten ökonomischen, sozialen und kulturellen Last zusammen. Logisch wäre eine Kultur der Sorge, Unterstützung und Befähigung von Familie, die es erleichtert diese Lebensform nach eigenem Entwurf zu leben, aber das Gegenteil ist der Fall. Familien werden verurteilt: sie schaffen ihre Aufgaben nicht, sind unfähig ihren Nachwuchs zu erziehen oder lassen sich erst gar nicht auf Kinder ein. Familienpädagogik steht als systematische Erziehung der angeblich pädagogisch Unfähigen im Vordergrund. Sie richten sich an ungebildete und damit untaugliche Eltern. Begründung ist, dass Familie als Erbringer des Humankapitals überwacht und zur richtigen Erziehung angehalten und trainiert werden muss. (vgl. Winkler 2007, 199ff)
Jugendhilfe unterstützt dies durch Programme der Familienaktivierung und Familienförderung. Familie wird hier als Lernsituation interpretiert, in der sich Eltern durch den Umgang mit den Kindern Fertigkeiten aneignen, die über den Anlass hinaus auch gesellschaftliche wie wirtschaftliche Relevanz haben. (vgl. Schmidt-Wenzel 2005; zit. n. Winkler 2007, 202) Die Einsicht, dass Familie gefährdet ist wird nicht an den Lebensbedingungen von Familie, sondern an ihr selbst festgemacht. Mit Ratgebern und professioneller Erziehung soll sie sich retten. Gelingt dies nicht, drohen Kontrolle und Disziplinierung. Viele Familien bewältigen die Situation noch, aber es gibt eine kleine steigende Zahl, die dem Druck nicht standhält und überfordert scheitert, weil ihre Umstände besonders belastend sind und ihnen kulturelle Hintergründe fehlen. (vgl. Winkler 2007, 203)
Dies kann dann die Schnittstelle sein, an der Kinder und Jugendliche ins Heim kommen und an professionelle Erzieher abgegeben werden, damit hier Erziehung gewährleistet werden kann. Begründungen gibt es viele. Die wichtigste sollte das Wohl der Kinder sein. Doch ob sie es tatsächlich immer ist bleibt an dieser Stelle offen.
Heimerziehung wirkt in vielfältiger Weise auf die Familien, auf Eltern, Kinder und Jugendliche. Belastungen und Chancen die eine Fremdunterbringung bereitstellen gilt es abzuwägen. Fremdunterbringung ist zum Wohle des Kindes manchmal angemessen. Und Heimerziehung kann angemessene Hilfe bieten, solange die Rahmenbedingungen hierfür gegeben sind. Ich möchte den Blick sowohl auf die Gründe für eine Fremdunterbringung als auch darauf richten, was eine Fremdunterbringung bei den Familien erreichen soll und was sie tatsächlich bewirkt.
Davon ausgehend gehe ich auf die Bedeutung der Loyalitätsbindung und die daraus resultierenden Konflikte während einer Heimunterbringung ein. Kinder und Jugendliche sind in ihrer Loyalität an die eigene Herkunftsfamilie gebunden. Und selbst wenn es den Kindern im Heim erst einmal besser geht, verraten sie damit ihre Familien und werden schnell in alte Handlungsmuster zurückfallen, um nicht die Eltern als die schlechteren Erzieher dastehen zu lassen. Damit gilt es professionell umzugehen. Ein Kind kann sich nicht frei entfalten wenn es durch Loyalitätskonflikte eingeschränkt ist und so gilt es mit diesen umzugehen, um das Wohl des Kindes auch im Heim zu ermöglichen.
Der Weg mit Loyalitätskonflikten umzugehen verläuft im Heim über eine systematische Elternarbeit. So ist es logisch, dass ich an dieser Stelle auf die Elternarbeit in der Heimerziehung eingehe. Es ist wichtig dass die Mitarbeiter in den Heimen den Standpunkt von Familie in der heutigen Gesellschaft kennen, um mit ihr arbeiten zu können ohne die gleichen Fehler zu machen und Familie zu stigmatisieren und zu verurteilen. Vielmehr sollten die Mitarbeiter in den Heimen die Gefühle der Eltern und die Konflikte der Kinder ernst nehmen. Heim kommt an der Institution Herkunftsfamilie nicht vorbei.
Nach einem Blick auf die geschichtliche Entwicklung der Elternarbeit in Deutschland beschreibe ich den Stand einer professionellen Elternarbeit in Deutschland. „Wie findet sie statt? Wer führt sie durch? Was sind ihre Ziele?
Anschließend bündele ich ohne ein konkretes Konzept zu beschreiben wünschenswerte Standards professioneller Elternarbeit in der Heimerziehung. Unter anderem geht es hier darum, wie Kooperation mit den Eltern gestaltet sein sollte und wie eine Balance zwischen Elternarbeit und der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen gewährleistet werden kann. Auch Elternarbeit ohne real anwesende Eltern wird hier thematisiert. Zudem möchte ich einige alternative Methoden gelingender Elternarbeit sowie die Möglichkeit einer systemischen Grundhaltung kurz aufzeigen.
Nicht nur den Kindern und Jugendlichen, sondern auch den Eltern gilt es zu helfen, was eine konsequente, planvolle und systematische Elternarbeit erfordert. Dazu müssen kompetente Mitarbeiter vorhanden und Elternarbeit konzeptionell verankert sein. (vgl. Taube 2000; zit. n. Schulze-Krüdener 2007, 99)
Solange die Eltern der untergebrachten Kinder real vorhanden sind, findet Elternarbeit in der Heimerziehung beinahe automatisch statt. Die Frage stellt sich weniger danach, ob Elternarbeit generell implementiert sein sollte, als vielmehr nach ihren Zielen und insbesondere ihrer Begründung. Im letzten Teil der Arbeit möchte ich somit auf diesen wichtigen Aspekt eingehen. Es geht hier um Fragen wie: „Warum führen die Mitarbeiter in den Heimen Elternarbeit durch?“ „Wie wird der Eingriff Professioneller in die Familie gerechtfertigt?“
Abschließend noch einige formelle Hinweise. In dieser Arbeit werden unterschiedlichste Berufsbezeichnungen verwendet. Größtenteils wird von Mitarbeitern in der Heimerziehung gesprochen, da dieser Begriff ermöglicht, verschiedenste (heil-) pädagogische, sozialarbeiterische und erzieherische Ausbildungen und Abschlüsse einzuschließen. Die Verwendung der männlichen Schreibweise sagt nichts über das tatsächliche Geschlecht aus. Gemeint sind sowohl männliche als auch weibliche Mitarbeiter. Da kaum entwicklungspädagogische Spezifika beschrieben werden, schließe ich Jugendliche ein wenn von Kindern die Rede ist.
Der Begriff Familie ist Ausdruck für eine soziale Praxis, welche in vielfältigen Formen realisiert wird. Die Beteiligten selbst geben dem Begriff ihren moralischen Wert. (vgl. Lange/Lüscher 2000; zit. n. Winkler 2007, 197) Das Konzept der Autonomie familiärer Lebenspraxis besagt, dass Familie von den Akteuren selbst ausgestaltet wird, in erster Linie und vor allem legitimerweise von ihnen selbst. Andere sollen und dürfen sich nur dann einmischen, wenn sie es gut begründen können. (vgl. Winkler 2012, 7)
Manche verbinden Familie mit traumatischen Erinnerungen, doch die Mehrheit sieht sie als wichtigen und harmonischen Lebenszusammenhang. Es geht ihnen bei Familie um Bindungen, um Sicherheit, um Vertrauen und um Verpflichtungen denen man sich nicht entziehen kann, welche man aber gerne erfüllt. Familien bestehen dann, wenn die an Familie Beteiligten ihre Praxis als Familie gestalten und eine Vorstellung von Familie allgemein und von dieser ihrer Familie haben. In öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten, gerade in der Pädagogik ist eine Skepsis gegenüber Familie weit verbreitet. Gewachsen ist dagegen die Toleranz gegenüber der Formenvielfalt von Familie. (Winkler 2012, 11ff)
Es gilt den Blick von sozialen und kulturellen Normen weg auf die pädagogischen Funktionen des Familienlebens zu richten und „andere“ Entwürfe von Familie nicht zu diskriminieren. Zentrale pädagogische Elemente von Familie sind, das als Familie zu fassen, was die Beteiligten darunter verstehen. Familiengeschichten sind wichtig für Identitätsstiftung und Zugehörigkeitsgefühl. Auch abwesende Personen werden durch sie symbolisch vergegenwärtigt. Alle Arbeit mit Familien muss auf diese Erzählungen hören und sie anerkennen. Ethnographisch verstanden muss man Familien aufsuchen wie einen fremden Stamm, sich auf ihre Erzählungen und Regeln einlassen, ehe Veränderung in Gang gebracht werden kann. (Winkler 2012, 14ff)
Familiensystem meint einen Zusammenhang zwischen allen objektiv beteiligten Familienmitgliedern. Geschehnisse und Handlungen berühren somit jeden Einzelnen, aber auch immer das gesamte System. Aus diesem System kann niemand ausbrechen, aber es ist möglich es von außen zu beeinflussen und Positionen umzustellen.
Die sozialisatorische Triade, ein Arbeitsmodell nach Lévy-Strauss und Parsons, ist für Zusammenhang und Funktion von Familie und von Kindererziehung von Bedeutung, besonders die Nichtlinearität und Nichtkausalität der Beziehungen. Familie ist ein Spannungsfeld, welches von Gemeinsamkeiten ebenso bestimmt wird wie von Ausschließungen, so wird zum Beispiel das Kind aus der Paarbeziehung ausgeschlossen. Diese so genannte Filiationsbeziehung steht hier für eine innere Schranke als Grenze zwischen den Generationen. (Stierlin 1978, 1980; zit. n. Winkler 2012, 21) Die Filiationsbeziehung zeigt sich zugleich als Abhängigkeit, welche auch ein großes Ausmaß an Verselbständigungsmöglichkeiten für das Kind birgt, indem es das Kind zur Identifikation mit den Eltern und schließlich zu einer Abgrenzung von diesen zwingt. Die enge Beziehung von Eltern und Kind ist konstitutiv für das gute Aufwachsen. Es entsteht eine Nicht-Austauschbarkeit beteiligter Personen. Was auch passiert, die Beziehungen bleiben bestehen. Das gibt ein Gefühl der Sicherheit und Selbstwirksamkeit. Von der Bindungsforschung werden enge Beziehungen als wesentlich für die Entstehung von Selbstbewusstsein, Identität und Handlungskompetenzen beschrieben. (vgl. Winkler 2012, 24ff)
Trotz der Dichte und Intensität der Beziehungen von Familienmitgliedern, trotz der immensen Intimität, bleibt eine Fremdheit bestehen. Daran zerbrechen Familien oder halten in Loyalität zusammen. Eltern müssen begreifen, dass Kinder ihren eigenen Weg gehen müssen oder einer eigenen individuellen psychischen und sozialen Dynamik erliegen. In der sie auszeichnenden pädagogischen Funktion der Abschließung und ihrer Möglichkeit der totalen Überwachung kann Familie Menschen zerstören. Handeln in der Familie ist nicht durch klassische reziproke Tauschbeziehungen ausgezeichnet. Handeln erfolgt ohne Gegenleistungen zu erwarten. Ihr Verhältnis richtet sich auf die normative Erwartung als gemeinsame Lebenspraxis fortgeführt zu werden. (vgl. Winkler 2012, 24ff) Das Ziel ist, den Kindern einen Rahmen für angemessenes Aufwachsen zu ermöglichen. (vgl. Hildenbrand 2009; zit. n. Winkler 2012, 26)
Familienerziehung passiert nebenbei, wenig intentional, geschieht vielmehr als Selbsterziehung der Kinder. Sie ereignet sich als ein Spannungsfeld in dem Strukturen mit Aushandlungsprozessen zusammentreffen. Gewissheit, Offenheit, Berechenbarkeit, Überraschung und Kontingenz sind Teil von Familienerziehung.
Selbstreferenz in der familiären Erziehung bedeutet, dass die Wirkung von Erziehung sich nicht in einer unmittelbaren Veränderung des Kindes zeigt, sondern darin, dass das Kind sich selbst anders wahrnimmt und aus dieser neuen Identität heraus seine Bezüge neu gestaltet. Das macht es leicht die eigenen Eltern zu enttäuschen, denn diese wollen, dass ihre Reden und Handeln bei den Kindern Gehör findet und diese verändert. Wirkungen von Familienerziehung sind so meist nur im Habitus zu erkennen. Bei dieser Nichtsteuerbarkeit des familiären Geschehens müssen Eltern dennoch durch ihr Handeln Familie als Struktur verwirklichen. Dass Eltern reagieren ist Qualitätsmerkmal von familiärer Erziehung. Sie tun dies meist intuitiv richtig. Derzeit ist jedoch eine Tendenz zu erkennen, dass überforderte Eltern immer weniger in der Lage sind intuitiv auf die zentralen Entwicklungsbedürfnisse ihrer Kinder zu reagieren und die eigenen Bedürfnisse und Interessen zurückzustellen.
Dass und wie Eltern erziehen hängt zum einen von den natürlichen Anforderungen und Bedürfnissen der Kinder ab und wird zum anderen durch soziale und kulturelle Normen bestimmt sowie durch mentale Muster die die Eltern selbst in ihren Bildungsgeschichten entwickelt haben. Eltern wünschen sich in der Regel bestmögliche Verhältnisse und eine gute Zukunft für ihre Kinder. (vgl. Winkler 2012 32ff) Von sich selbst möchten sie behaupten können, good parenting zu betreiben.
Good parenting hat vor allem mit der Qualität der familiären Binnenverhältnisse zu tun, also psychologischer Elternschaft und dem Wissen um das was wirklich wichtig ist. Die Qualität der Binnenverhältnisse hat damit zu tun, wie gut die Fähigkeit der Resonanz auf die Aktivitäten und Äußerungen der Kinder sind. Kinder steuern das Geschehen demnach faktisch selbst. Eltern gehen davon aus, dass sie Einfluss auf die Entwicklung der Kinder nehmen können und ihre Kinder physisch gut versorgt sind. Vernachlässigung ist an dieser Stelle oft Ausdruck eines Ressourcenmangels. Eltern erwarten dass ihre Kinder in einem sozialen und kulturellen Raum aufwachsen und darin teilhaben können. Durch gute Ausbildung wollen Eltern ihren Kindern tragfähige und nützliche Lebensperspektiven öffnen. Good parenting ist somit als Einstellung zu verstehen. Erziehung erfolgt demnach durch reflektierte Handlungen, wobei jedoch ein zuviel an Technik schadet. Wichtig sind stets ein geschützter Raum, sichere Beziehungen und Vertrauen. Außerdem verlangt eine gewünschte Diffusität der Verhältnisse, dass die Kinder sich selbst orientieren lernen. (vgl. Papousek/Papousek 1995; zit. n. Winkler 2012 34ff)
„Familie steuert sich durch Abgrenzung gegenüber der Außenwelt, sie bildet ein geradezu klassisches Beispiel dafür, dass Pädagogik mit Ortshandeln zu tun hat; Erziehung findet mithin als Bereitstellung, Umgrenzung und Rahmung eines sozialen Geschehens statt. (…) Wenn Entwicklungsprozesse schief laufen, dann hat dies häufig damit zu tun, dass die Kinder den Ort ihre Familie nicht identifiziert haben (…).“ (Winkler 2012, 27) „Diese Abgrenzung verschafft Kindern zum einen Schutz (…). Zum anderen gewährt Abgrenzung den Rahmen, in welchem die im Aufwachsen stets auftretende Devianz und Delinquenz aufgefangen werden können. (…) Eine dritte Funktion der Abgrenzung liegt darin, dass Familien eine Filterfunktion gegenüber äußeren Einflüssen wahrnehmen. Sie wirken als Zensor und Vermittler von Gesellschaft und Kultur.“ (Winkler 2012, 28) „Familien definieren sich, indem sie Nicht-Mitglieder ausschließen und sich beharrlich dagegen wehren, dass andere in sie eindringen. Familien beharren auf Exklusivität (…). Sie begreifen sich als privater Raum, der gegenüber einem Zugriff jeglicher Öffentlichkeit geschützt wird.“ (Winkler 2012, 28f) Exklusivität verlangt, dass man sich gegenseitig unbedingt und blind verpflichtet und sich als ausschließlich zugehörig empfindet. Sie bedeutet auch, dass man nicht ersetzt werden kann. (vgl. Winkler 2012, 29) „Eine gute Entwicklung der Kinder hängt maßgeblich davon ab, ob sie relevante erwachsene Bezugspersonen mit hoher Exklusivität finden, welche um die Qualität der familiären Beziehungen besorgt sind.“ (Winkler 2012, 29)
„Familie stabilisiert sich aus sich, bleibt dennoch immer auf den Zuspruch von außen angewiesen (…). Die andere Seite der Exklusivität besteht also darin, dass Familien Mitglieder aufnehmen, wenn diese bereit sind, im Spiel der Familie mitzuwirken.“ (Winkler 2012, 29)
Familie hat zudem eine wichtige Funktion als Bildungsort, aber Bildung sind nicht nur Wissen und Fähigkeiten, die in den Bildungsstudien erfragt werden, sondern auch Haltungen und Einstellungen, die in familiärer Erziehung entstehen. Bildung braucht die Grundlage von Interaktion in einem emotionalen und moralischen Milieu. Der familiäre Rahmen ist der Erfahrungszusammenhang, den das Kind, nicht nur als Modell, sondern mit seinem Fühlen, Denken und Handeln aufnimmt. Dieser Erfahrungszusammenhang ist wiederum eingebettet in kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge, die aktiv und passiv auf das Subjekt wirken. Durch die Familie wird das Kind also vergesellschaftet und zivilisiert in seiner unverwechselbaren Individualität. (Professionelle sollten demnach immer alle drei Dimensionen – Gesellschaft, Kultur und Familie – in den Blick nehmen, wenn sie mit Familie arbeiten.) Durch die Kooperation in der Familie übernimmt das Kind für Bildung entscheidende Verhaltensregularien und Alltagswissen auf. Genau das macht Bildung in Familie aus, und nicht die Bildung von human capital. So bildet sich auch der Habitus eines Menschen. Familie bietet den sozialen Zusammenhang, in dem das Selbstverständnis des Menschen angelegt ist, nämlich seine Identität und die Fähigkeit der Perspektivenübernahme. Identitätsbildung gelingt nur dem, der eine bedingungslose Anerkennung durch andere, affektiv und emotional besetzte Personen erfahren hat.
Kinder werden im familiären Kontext auch mit sozialen und kulturellen Aufgaben in Kontakt gebracht. Familie nimmt Inhalten die Eindeutigkeit, indem sie eine subjektive Dimension hinzufügt. Kinder gewinnen also in der Familie Weltwissen und Wissen darum, was den Menschen die ihnen selbst wichtig sind, wichtig ist. Bildungsprozesse benötigen diese Mehrdeutigkeit, die von Kindern erkannt und entschlüsselt werden kann, so gewinnen sie Selbständigkeit und Selbstsicherheit, denn in Familie darf noch mit dem Prinzip des Versuchs und Irrtums geübt werden. Familie ist der Ort, an dem man sich dem anderen nicht entziehen kann. Junge Menschen lernen unterschiedliche Botschaften zu erkennen und zu lesen, in dem Wissen dass die Gemeinschaft niemals aufgekündigt wird. (vgl. Winkler 2012, 69ff)
Erziehung in der Familie wird falsch verstanden, wenn man sie als absichtsvolles und methodisch durchgeführtes Handeln versteht. Pädagogisches Handeln hat stets mit der Inszenierung des Spiels mit Rollen zu tun. Erziehung in der Familie geschieht nebenbei. Absichtsvolle Gestaltung führt in Familie zu Irritationen, die besonderer Begründung bedürfen. Familienpädagogik ist Alltagspädagogik, die sich zuallererst auf die Sorge des leiblichen, seelischen und geistigen Wohlergehens bezieht und dann auf eine Einübung der dafür erforderlichen Fähigkeiten. Wie Eltern Erziehung realisieren, hängt von den Formen ab, die eine Gesellschaft und ihre Kultur historisch zur Verfügung stellt. (vgl. Winkler 2012, 69ff)
Flexibilität der Familie besteht intern und gegenüber den Anforderungen der Umwelt. Familien zerfallen nicht unter veränderten historischen Bedingungen, sondern stabilisieren sich eher noch in Belastungssituationen. Familien überleben natürliche Veränderungsprozesse, ermöglichen sie gar am Anfang und am Ende des Lebens und betten sie sozial und kulturell ein. Familien brauchen jedoch Zeit um Veränderung individuell zu realisieren. Kein anderer sozialer Zusammenhang, also keine Institution schafft es sich in dieser Weise stabil zu halten und sich mit den Beteiligten zu verändern. Eltern und Kinder bewältigen dies, indem sie die Belastungen durch eigene Regeln und Kooperation mildern. Familien leben ihre Praxis in zwei Dimensionen. Sie bilden einerseits Strukturen aus, sorgen für Stabilität und Grenzen, wirken konservativ und andererseits passen sie sich Anforderungen flexibel an und transportieren diese nach innen. Die flexible Stabilität von Familien erlaubt eine Bewältigung von Krisen ohne den sozialen Zusammenhang zu zerstören, der doch als Ressource dient. Familien zahlen jedoch einen hohen Preis für diese Wandlungsfähigkeit. (vgl. Winkler 2012, 77ff) Sie fügen sich des Überlebens Willens, was bedeuten kann, dass Krisen bei den eigenen Mitgliedern nicht wahrgenommen werden oder mitgetragen werden oder dass Familien in ihrer Flexibilität gesellschaftlich affirmativ werden und durch ihre Schwammfunktion alle Anforderungen aufsaugen, bis es sie in eine chaotische Situation führt. (vgl. Heinze et. al. 1988; Arnold/Schröer 1999 ; zit. n. Winkler 2012, 81)
Familien normalisieren Normalität. Gesellschaften und Kulturen stellen an ihre Mitglieder normative Anforderungen, die nach Normalitätsvorstellungen organisiert werden und versteckt sind in Mentalitätsmustern die auf langen Traditionen beruhen. Die von Traditionen bestimmten Vorstellungen sind heute von durch Medien vermittelten Interpretationsmustern überlagert, sie sind vielmehr nur noch gefühlte Vorstellungen. Normalitätsmuster kennenzulernen und einen Habitus zu entwickeln, welcher erlaubt, zwischen Normalität und Fremdheit zu entscheiden, steht im Zentrum familiärer Sozialisation. Familien sind hier schützende Räume, die Außenerwartungen filtern. Familien bringen Kindern den Umgang mit Differenzen bei und unterscheiden sich darin von pädagogischen Institutionen, welche mit differenzstiftenden Mustern agieren. Familie aber birgt Variationsmöglichkeiten im Handeln, so dass Kinder Verhaltensunterschiede kennenlernen und so situationsangemessenes Handeln entwickeln können. Der Bestand und die erzieherische Leistung einer Familie hängen davon ab, ob und wie sie über die eigenen Binnenverhältnisse verfügen und den familiären Raum gegen äußere Einflüsse abschirmen. Grenz- und Filterfunktion gehören also in Familien zusammen. Einflüsse von außen werden gefiltert und erzeugen so soziale und moralische Sinn- und Wertstrukturen, welche oft im Streit entstehen. Das Wissen um Werte ist wichtig genug, diesen in Kauf zu nehmen. Öffnungen hingegen erlauben das Eindringen, Kommentieren und Bewältigen von Erfahrungsmöglichkeiten, was wiederum der Entwicklung von Selbständigkeitspotenzialen dient. Wo die Dynamik der Schließung und Bindung, der Öffnung und Befreiung ausbleibt, drohen psychopathologische Beziehungen und Belastungen. Problematisch ist, dass diese Grenzziehung auch gegenüber professionellen Diensten notwendig ist, auf die Menschen andererseits jedoch auch angewiesen sind. (vgl. Winkler 2012, 83ff)
Eine zentrale pädagogische Funktion ist so auch die Herstellung von Grenzen zwischen dem Innen und Außen sowie der Regulierung von Passagen dadurch. Autonomieräume können so festgelegt und eingeübt werden. Der Begriff Grenze meint, dass sich Kinder einer sicheren Rahmung ihres Lebens sicher sein können, die ihnen Verhaltensmöglichkeiten eröffnet. Rahmungen bilden äußere Begrenzungen und haben eine innere, seelische Funktion, da sie Muster und Verhaltensregeln begründen. Grenzziehung und Verdeutlichung von Zugehörigkeit wird zuallererst gegenüber dem eigenen Verwandtschaftssystem vollzogen. Dies erlaubt Kindern, sich selbst zu behaupten und Verbündete zu finden. So können sie differenzierte Sozialmodelle entwickeln und Vorstellungen von größerer wie geringerer Nähe sowie Modelle von Vertrauen und Verhaltensabstufungen gewinnen. Mit wachsendem Alter öffnen sich den Kindern Aus- und Übergänge zwischen familiärer Binnenwelt und institutioneller Anforderungen der Außenwelt. Sie gestalten nun ihre Lebenssphären und die Zugehörigkeiten darin selbst. So gewinnen Kinder in der familiären Lebenspraxis Autonomie, welche sich jedoch nur beim Verlassen desselben Kontextes beweisen lässt. Für Eltern schaffen Aus- und Übergänge Belastungssituationen, weil sie nun mit ihren Kindern den Erwartungen der Außenwelt ausgesetzt sind. Die Forderung Handlungen erbringen zu müssen, bringt die Außenwelt auf subtile Art in die familiäre Binnenwelt. Die externen Erwartungen werden so nach innen transformiert und mit Macht ausgestattet. (vgl. Winkler 2012, 87ff)
Familiale Erziehung hat mit gemeinsamen Praktiken und Kooperation zu tun. Grundlage für eine solche Kooperation ist die Fähigkeit, Intentionen anderer wahrzunehmen und auch fremde Perspektiven einnehmen zu können und zudem die Möglichkeit des Zeigens und Folgens, in der auch alle Unterrichtsformen gründen. In Familien machen Eltern ihre Kinder auf Regeln, Gegenstände und Verhaltensweisen aufmerksam und üben diese ein. Unterrichten Eltern ihren Nachwuchs jedoch, zerstören sie die Unmittelbarkeit und Alltagsorientierung, welche Familie ausmachen, da sie dann eine professionelle Rolle übernehmen würden. (vgl. Winkler 2012, 89ff)
Sprache ist wichtig für Familien, denn sie verfügen am Ende über einen gemeinsamen Ton, teilen Formulierungen und Weltsichten, so zeigt sich Zusammengehörigkeit. Auch die artikulierte Identität entsteht durch Sprache. Familien sind für die Einübung eines differenzierten Sprachgebrauchs wichtig. Spätestens in der Pubertät kommt es zum Streit über die richtige Sprechweise. Mit ihrer Sprachverwendung signalisieren Jugendliche ihre Zugehörigkeit zu einer eigenen Kultur und distanzieren sich so von den Eltern. Dies ist Element des Erwachsenwerdens. Im Sprechen verbinden sich familiale Lebenspraxis und die Zeigehaltung. Positiv sind vor allem Rituale die ein gemeinsames Sprechen über Dinge, Erfahrungen und auch andere Menschen ermöglichen, da diese Gemeinsamkeit entstehen lassen. Im gemeinsamen Sprechen kann man das Eindringen von außen, zum Beispiel durch die Medien, bewältigen. (vgl. Winkler 2012, 91ff)
In den letzten Jahrzehnten haben sich in Familien partizipative Umgangsformen etabliert, was Kindern und Jugendlichen zusätzliche Verantwortung bei alltäglichen Entscheidungen aufbürdet. Andererseits werden Kinder teilweise so stark von jeder Verantwortung entlastet, dass sie die Organisation des Alltags nicht mehr erlernen. Oder aber sie brechen unter der Sorge um Eltern oder Geschwister, über der Mitverantwortung für das Familieneinkommen zusammen. Das Verschwinden von Befehlsstrukturen führt zu einer erhöhten Kontrolldichte und verdichteten Beziehungen in der Familie. Ist das gesamte Umfeld familiär oder pädagogisch gestaltet, birgt dies Probleme für die Entwicklungsprozesse. Familiärer Umgang bietet heute zwar mehr Freiheiten, aber er belastet auch mit höherer Verantwortung. Ressourcen für den Aufbau von Autonomie fehlen oft. (vgl. Winkler 2012, 94ff) Gerade Familien mit unzureichendem sozialem und kulturellem Kapital und in ungünstigen Lebensumständen sind gefährdet ihre Kinder in Verselbständigungsfallen zu führen. (vgl. Ecarius/Grunert 1996; zit. n. Winkler 2012, 96) Verhandlungshaushalte mildern die strukturellen Differenzen zwischen Generationsverhältnissen, autoritäre Muster schmelzen ab und Muster normativer Verbindlichkeiten müssen neu inszeniert werden was oft zu Überforderung führt. Die Muster die Familien aneinander binden funktionieren nicht mehr, so dass schwierige Lebensphasen schwerer gemeinsam produktiv bewältigt werden können. Außerdem zerbricht der Schutzfilter zwischen Familie und den äußeren Instanzen, so zum Beispiel auch gegenüber der Jugendhilfe, welche heute vermehrt Einblick in die Familien hat. Problematisch wird diese Spannungssituation, wenn das Verhalten der Eltern inkonsequent und diffus wird.
Ein autoritativer Erziehungsstil ist vielleicht die Lösung. Er meint konsistentes, klares und nachvollziehbares Verhalten, dass der Familie Struktur gibt und so innere Klarheit und normative Verbindlichkeit entstehen lässt. Er eröffnet gute Entwicklungsbedingungen und übt ein Verhalten ein, welches als der Habitus des Umgangs mit Normen bezeichnet wird. Selbst wenn Kinder im äußeren Kontext abweichen oder gar sanktioniert werden, lernen sie, dass der familiäre Kontext ihnen die Position der Anerkennung bewahrt. (vgl. Winkler 2012, 96ff)
Familie dient als Projektionsfläche für Grundsatzdebatten, wie Gesellschaft geordnet werden soll. Familie gilt heute als überholtes und anstrengendes, kaum zu realisierendes Lebensmodell, dass gerade für die Mütter mit hohen Opportunitätskosten verbunden ist. (vgl. Winkler 2012, 38) „Die modernen Gesellschaften demonstrieren gegenüber Familien „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ und lassen mit ihren Individualisierungstrends die nötige Solidarität missen; sie gefährden (…) die Herstellung des Humanvermögens. Gleichzeitig klagen sie Familien als labil und störanfällig, als riskant an, nutzen jedoch stets ihr Potenzial zur Problemverarbeitung. Die Familien selbst nehmen das seltsam klaglos hin, obwohl sie in ihrer „Schwammfunktion“ offensichtlich dazu prädestiniert sind, sich dann doch notorisch zu überfordern.“ (Kaufmann 2005; zit. n. Winkler 2012, 39) Familie leistet soviel wie keine Institution leisten kann. Sei es in der Altenversorgung oder der Erziehung der Kinder. Heute wird die Auflösung der Familie schon als sozialer Tatbestand bezeichnet. (vgl. Winkler 2012, 39) „Im Chaos der Liebe fehle den hochindividualisierten Menschen jegliche Möglichkeit, sich auf Familie einzulassen, dauerhafte Verbindungen gelten als überholt, die lebenslang anhaltende Beziehung zu einem Kind als riskant und daher unerträglich.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1990; zit. n. Winkler 2012, 40)
Die Realität sieht nicht ganz so schlimm aus: viele Kinder wachsen in ihren Herkunftsfamilien auf, es gibt funktionierende Familien (auch dank Migration) die intergenerationale Unterstützung und Pflege umsetzen. Die Kinder- und Jugendberichte zeigen gar eine wachsende Bedeutung von Familie auf. (vgl. Winkler 2012, 40f)
Weder in der sozialwissenschaftlichen Forschung in Gender-Zeiten noch in der Politik findet Familie viel Erwähnung. Es geht hier um Bildungspolitik als beste Sozialpolitik. Da die Familie mit Bildung überfordert sei, wird diese Aufgabe Institutionen zugesprochen. Familie ist lediglich im Hinblick auf demographischen Wandel und im Verhältnis von Gesellschaft und Individualisierung soziologisch interessant. Auch Pflege und Versorgung werden vermehrt professionellen Diensten überlassen wird. (vgl. Winkler 2012, 42f) Die Auseinandersetzung mit dem Thema früher Bildung und Förderung geschieht beinahe ohne einen Blick auf Familie. Familie ist lediglich zur Betreuung, quasi ohne jeden pädagogischen Sinn vorhanden. Der Mangel einer erziehungswissenschaftlichen Theorie von Familie könnte darin begründet sein, dass es kein Bewusstsein von Familienerziehung als einem Handlungsfeld mit eigener Logik gibt. (vgl. Macha/Witzke 2009; zit. n. Winkler 2012, 44) Statt Analysen und Beschreibungen zum pädagogischen Handeln in Familie gibt es unzählige journalistische Veröffentlichungen und Erziehungsratgeber, welche den Streit über Familie fortführen, statt Eltern zu beruhigen. (vgl. Winkler 2012, 44)
Die heutige Privatisierung der Familie ist von der Politik gewollt. „Familie entsteht (…) als ein Milieu, in welchem eine umfassende Zivilisierung und Moralisierung der künftigen Person stattfindet, die in einer Gesellschaft agiert, welche eben nicht mehr eindeutig geregelt ist. Man muss für ein situationsangemessenes Betragen in zunehmend komplizierten Verhältnissen eines bürgerlich-gesellschaftlichen Lebens vorbereitet werden (…).“ (Winkler 2012, 47f) „Familie wird nun als ein pädagogischer, als ein bildender Ort und Lebenszusammenhang entworfen (…)“ (Winkler 2012, 48) „Familie wird (…) endgültig zum Transformationsmechanismus der Reproduktion von Gesellschaft überhaupt und der sozialen Unterschiede in dieser (…). Der Staat macht sich diese Reproduktionsfunktion der Familie zu Eigen, instrumentalisiert sie für sich (…). Im 20. Jahrhundert haben sich diese Reproduktionsprozesse normalisiert und (sic!) so subtil geworden (…).“ (Winkler 2012, 49) Es entsteht eine soziale und kulturelle Einschließung und Verhäuslichung von Familie abseits der Öffentlichkeit. (vgl. Winkler 2012, 49) „Kinder verlieren ihren ökonomischen Wert für die Eltern als Arbeitskraft in der Landwirtschaft und im Familienbetrieb, mit der Etablierung von Sozialversicherungssystemen als Ausfallbürgen und Altersversorgung werden Kinder nutzlos, eigentlich Konsumgüter.“ (Wintersberger 1998; zit. n. Winkler 2012, 49) „Nun dominiert die Liebe der Eltern zu den Kindern das Geschehen (…). Dem Zufall soll nichts überlassen werden. Familie verwandelt sich in einen allein emotional gesteuerten Zusammenhang. (…) Das Dilemma besteht darin: Wenn es keinen rationalen Grund mehr gibt, Kinder zu schonen, werden diese ausschließlich zum Objekt des Affekts.“ (Winkler 2012, 49)
„Obwohl häufig als das Zukunftsproblem schlechthin bezeichnet, darf man die demographische Frage nicht in den Vordergrund der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Debatte über Familie stellen. (…) Wer Demographie in den Mittelpunkt stellt, richtet (…) das Augenmerk auf die Menschenproduktion. (…) Die nun geforderte pädagogische Menschenproduktion vollzieht wohl den Übergang von extensiver zu intensiver Produktion; so erklären sich Familien-förderungsprogramme und Ausdehnung der öffentlichen Kinderbetreuung, wie auch die Dramatisierung von Kindesvernachlässigung. Eine demographiebasierte Familienpolitik erzeugt schlimmstenfalls selbst die Risikofamilien, welche wiederum professionell bearbeitet werden müssen. (Heinsohn/Knieper 1975; zit. n. Winkler 2012, 53)
Moderne Gesellschaften benötigen nicht so viele Menschen wie propagiert wird. Selbst wenn die Sozialversicherungssysteme gefährdet erscheinen, die Liquidität hängt von den beitragspflichtigen Beschäftigungszahlen und nicht von der Zahl derer ab die nicht produktiv sind. (vgl. Hondrich 2007; zit. n. Winkler 2012, 53) „Gesellschaften brauchen nicht mehr viele, aber gut ausgebildete Menschen, sowie dichte, intensive soziale Beziehungen. Es ist schon eher zynisch, eine Steigerung der Kinderzahlen zu fordern, wenn Kindern und Jugendlichen eine Kultur des Aufwachsen und insbesondere die Sicherheit fehlen, den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten sowie hinreichende Förderung zu er halten.“ (Winkler 2012, 53f) Politische Entscheidungen stehen vor dem Dilemma nichts richtig machen zu können. Sie können Geburtensteigerung kaum ermöglichen. Sie möchten Familien unterstützen, wirken aber kontraproduktiv, wenn sie den pädagogischen Fähigkeiten der Eltern nicht trauen. (vgl. Winkler 2012, 54)
Potenzielle Eltern wägen Chancen und Risiken gegeneinander ab. Trotz Kinderwunsch sind einige durch die Anforderungen verunsichert. Die für die Moderne prinzipiell bestehende Kündbarkeit von Verhältnissen setzt zudem bei den Kindern aus. (vgl. Winkler 2012, 54f) „Dennoch bedroht der Rückgang von Kinderzahlen keineswegs die Institution Familie. Vielmehr wächst die Intensität familiärer Beziehungen, Emotionalität und Affekte spielen ebenso eine größere Rolle wie die wechselseitige Sorge und die Ermöglichung von Bildungsangeboten; zugleich erweitern sich Familien offensichtlich zu größeren Kreisen von Verwandten und Bekannten. Generationsverhältnisse selbst differenzieren sich aus, so dass die Komplexität der Beziehungen zwischen den Generationen zunimmt; damit gewinnen die Austauschverhältnisse bei den indirekten wie direkten materiellen Leistungen wie bei der persönlich erbrachten Sorge und Pflege eine neue Qualität.“ (Winkler 2012, 55)
Augrund ökonomisch und politisch geforderter Selbständigkeit, Flexibilität und Eigeninitiative in der Absicherung der Lebensrisiken vereinzeln Familien. Sozial isoliert ist Familie dann doch gefährdet. Denn dann fehlen nachbarschaftliche Stützsysteme und verwandtschaftliche Hilfe, die im Alltag nützlich und in Krisen unabdingbar ist. Dann müssen öffentliche Settings diese Stützfunktion übernehmen. Zurückgehende Kinderzahlen sind für die Politik jedoch das Argument um diese teure Funktion einzuschränken. (vgl. Winkler 2012, 55f) Familien werden in der Gesellschaft isoliert und sozial erzwungen auf sich selbst reduziert. Dies birgt für Kinder und Jugendliche den Nachteil, dass die informelle Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen erschwert wird. Damit drohen wiederum Entwicklungsdefizite. Erwachsene gewinnen eine Übermacht, die eine fatale Dialektik der Aufmerksamkeitssteigerung auslöst. Familien gehören heute entweder zu einer kleinen Gruppe, die in Gefahr steht ihre Kinder zu vernachlässigen, oder zu einer deutlich größeren Gruppe, die es mit Förderung und Schutz übertreiben. In beiden Fällen wird die Autonomieentwicklung der Kinder behindert. Zudem kommt es zu enormen Verfrühungen, da Erwachsene die meisten Interaktionen leiten, was kindliche Eigenaktivität und Kreativität bei der Problem- und Lebensbewältigung schwächt. Kinder haben heute gute Chancen ihre Bedürfnisse durch Erwachsene befriedigt zu sehen, jedoch werden auch sie zur Befriedigung deren Bedürfnisse genutzt. Es entsteht ein kulturelles Klima der Nichtakzeptanz von Familie und Kindern. Berufs- oder Erlebnismilieus werden nicht selten dem Familienmilieu vorgezogen. Familiengründung wird als private Entscheidung ausgelegt, die es auch selbst zu verantworten gilt. Es ist bislang strittig, ob es gelingt, diese Möglichkeiten zu vereinen. (vgl. Winkler 2012, 56f) Familie zu gründen zieht ökonomische Belastungen und Verluste nach sich, Betreuungsleistungen müssen eingekauft werden. Zudem steigt der Druck die Erziehungsaufgabe angemessen wahrzunehmen. (vgl. Winkler 2012, 57f)
„Fantasie wird nötig, weil es sich bei diesen Binnenveränderungen (geographisch getrennte Räume der einzelnen Generationen, neue Betreuungsformen, zeitlich begrenzte Formen der Alleinerziehung) um einen säkularen Trend handelt, in dem ein erzwungener Einstellungswandel zum Tragen kommt.“ (Winkler 2012, 58)
„Familien leiden nicht nur unter dem Druck, mit welchem Gesellschaft und Kultur die Grenzen porös werden lassen. Vielmehr wird ihre Lebensform bei aller Verbreitung objektiv, material und symbolisch zur Residualität und Marginalität verurteilt. Familie wird zur Privatsache erklärt. Zu den Paradoxien des Geschehens gehört, dass ihr das entgegen kommt und von den Familien begrüßt wird: Privatisierung entspricht dem Wunsch nach Autonomie (…). Deswegen wehren sich Familien nicht, doch handelt es sich um eine ökonomisch induzierte Privatisierung, in der alle öffentliche Verantwortung dafür getilgt werden soll, dass Familie überhaupt gelebt werden kann. Wer Kinder hat, hat sich dafür frei entscheiden (…). Die Folgekosten muss er selbst übernehmen.“ (Winkler 2012, 102)
Staat und Gesellschaft ziehen sich zurück, obwohl es sinnvoll wäre die Verantwortung für das Aufwachsen zwischen Familien und öffentlich aufzuteilen. Das gesellschaftliche Anspruchsniveau gegenüber familiären Leistungen steigt jedoch. Familien sollen das kompensieren, was der öffentliche Sektor nicht mehr leistet. (vgl. Winkler 2012, 102f) Während die Familie bis zur Überforderung in Anspruch genommen wird, wird an ihrer Leistungsfähigkeit gezweifelt. Das Erziehungsrecht wird zur Pflicht und zudem überprüft und durch Professionelle begleitet. Die gesellschaftliche und kulturelle Lage richtet sich gegen Familien, weil sich die materiellen Rahmenbedingungen verschlechtern, während sich die sozialpolitischen Maßnahmen kontraproduktiv auswirken, denn sie erzeugen Kontrollmechanismen und Disziplinierungsdiskurse. (vgl. Winkler 2012, 105f)
Auf der einen Seite stehen also gesellschaftliche Veränderungen die mit Desinteresse an Familien und dem Verlust an sozialer kultureller Selbstverständlichkeit einhergehen und auf der anderen Seite steht der neue Sozialstaat, der dies auslöst. Dieser verlangt Individualisierung und erzwingt die Abgabe der Kinder an Institutionen. Familien sind auf sich gestellt und werden doch enorm kontrolliert und an professionellen Standards gemessen. Institutionen und Professionelle werden zum Allheilmittel, welches jedoch dazu beiträgt, dass Familien ihre Kompetenz verlieren. Aufgrund einiger schrecklicher Vorfälle von Kindestötung und –missbrauch, wird Familien ihre pädagogische Eignung abgesprochen und eine Umsteuerung hinzu mehr Förderung und Beobachtung findet statt. Die Unterschiedlichkeit von Kindern wird nicht mehr gesehen. Entwicklung hat jedoch eine Eigengeschwindigkeit und Kinder lassen sich nicht beliebig optimieren. In der heutigen Gesellschaft werden Kinder als Produkte gesehen und ihre Herstellungsteams stehen auf dem Prüfstand. Wird nicht genug Leistung erbracht, wird nachjustiert oder das Kind einem anderen Betrieb übergeben. Das Argument hierfür mag das Wächteramt sein, aber rein faktisch geht es doch um das human capital und seine Bedeutung für die Zukunft der Gesellschaft. (vgl. Winkler 2012, 106ff)
Statt Druck und Kontrolle benötigen Familien stabile Lebensverhältnisse und soziale wie kulturelle Sicherheiten, denn sie selbst haben mit viel Unsicherheit zu tun, da Bildungs- und Erziehungsprozesse per se durch Instabilität gekennzeichnet sind. (vgl. Winkler 2012, 109) Das Armutsrisiko steigt und die Kluft zwischen vermögenden Haushalten und denen, die von Armut bedroht sind weitet sich. Vor allem die wachsende Ungleichheit ist hier das Problem, nicht die Armut selbst. (vgl. Wilkinson/Picket 2012; zit. n. Winkler 2012, 110) Die Familiengründung ist heute eines der größten ökonomischen Lebensrisiken überhaupt. In Armut kann lebendige Familienpraxis kaum gelebt werden und zieht massive Folgen für das Selbstbild, die Gesundheit, die Entwicklung und das Wohlbefinden von Kindern nach sich. Heute ist es die Regel, dass kinderreiche Familien beinahe ihr gesamtes Nettoeinkommen für die gestiegenen Lebenserhaltungskosten einsetzen müssen. Nur als Doppelverdiener kann man sich Kinder leisten, will man sie vor einem möglichen sozialen Abstieg beschützen. Armut und schlechte Lebensbedingungen bringen kulturellen Ausschluss mit sich und ohne öffentliche Institutionen haben diese jungen Menschen kaum eine Chance Bildungs- und Ausbildungsangebote wahrzunehmen. Leider werden immer mehr pädagogische Angebote privatwirtschaftlich erbracht und sind somit kostenpflichtig. (vgl. Winkler 2012, 110ff)
„Dass Familien einem massiven Armutsrisiko unterliegen, sagt noch nichts darüber aus, wie sie selbst ihre Situation verstehen und bewältigen, wie sie vor allem die pädagogischen Aufgaben gestalten.“ (Walper/Riedel 2011, 14) Familie ist und bleibt eigentümlich und so geht pädagogisches Handeln nicht in den Bedingungen auf, welche Familie ermöglichen oder verhindern. (vgl. Winkler 2012, 112)
Gesellschaft muss darauf achten, dass die Lebensform Familie gewählt und gelebt werden kann. Dafür müssen strukturelle Bedingungen gesichert sein. Soziale und kulturelle Bedingungen müssen gegeben sein und es gilt die Leistungsfähigkeit von Familie zu würdigen. Familienerziehung leidet demnach eher unter sozialen und kulturellen Überlastungen als unter einer ökonomischen und materiellen Not, vor allem dann, wenn psychische und pädagogische Ressourcen fehlen. Die gesellschaftlichen Veränderungen berühren inzwischen unmittelbar die Beziehungen und wirken so auf die Struktur der Sozialisation. Grundthese ist, dass Familien eigensinnig sind und ein Widerstandspotenzial haben, das allen sozialen Prozessen gegenüber zu immunisieren scheint. (Winkler 2012, 113ff)
Die flüssige Moderne zeichnet aus, dass Institutionen und institutionelle Regelungen in den Hintergrund treten, Strukturen weniger verbindlich werden. An ihre Stelle tritt Veränderung. Gesellschaften und Kulturen werden offener und mehrdeutiger, Traditionen scheinen ausgelöscht. Wer heute dran bleiben will, muss vergessen. Das ist gerade für pädagogische Prozesse tödlich. Mit der Emanzipation in Verhandlungshaushalten und mit dem Verlust der Befehlshaushalte gehen die Erinnerungen verloren. Pädagogisches Handeln verliert feste Punkte auf die man zeigen könnte. Es kommt zu einer Informalisierung der Lebenszusammenhänge. So entsteht ein voraussetzungsreicher Bedarf an Verständigung und Abstimmung. Eltern kommt eine neue Rolle zu, mit ihren Kindern in einer sie noch selbst verunsichernden Welt gemeinsam über angemessene Formen des Umgangs nachzudenken und diese zu erproben. (Winkler 2012, 113ff)
Dieser Verlust institutioneller Regelungen bedeutet nicht den Niedergang von Werten, sie gelten nur nicht mehr selbstverständlich, sondern müssen reflexiv erarbeitet werden. (vgl. Taylor 1995; zit. n. Winkler 2012, 116) Folge davon ist, dass Kinder früher erwachsen werden und reflexiv handeln können müssen. Alle Verhältnisse in der Familie werden politisch, also verhandlungsbedürftig. Eine soziale Ordnungsstruktur fehlt oftmals. Was die Außenverhältnisse von Familie anbetrifft, so kann sie sich nicht mehr auf ihre institutionalisierte soziale Bedeutung und Selbstverständlichkeit stützen. Modernisierung entbettet Familien. Familie wird sozial und kulturell fragwürdig, verliert ihre Legitimation und benötigt Begründungen. Potenzielle Eltern sind unsicher, ob sie sich auf die Lebensform der Familie einlassen und verlässlich mit klaren Rahmenbedingungen rechnen dürfen. Wenn Beschleunigung und Brüchigkeit Gesellschaft kennzeichnet, steigt der Aufwand eine Lebensform stabil zu halten. (Winkler 2012, 116ff) Das verlangt in der Familienerziehung die Entdeckung der Langsamkeit. (vgl. Keddi 2011; zit. n. Winkler 2012, 118) Diese kann jedoch nur selten entstehen, weil der soziale und kulturelle Veränderungsdruck das raum-zeitliche Gefüge familiärer Lebenspraxis sprengt, so ist zum Beispiel Flexibilisierung der Arbeitszeiten schwierig mit Kindererziehung zu vereinbaren. Familien müssen zum einen eine Gesellschaft erfinden, die Familie für wichtig hält und zum anderen die eigene Familie wollen und familiäre Praxis selbst gestalten. Da Familie mit enormer Veränderung zu tun hat, benötigt sie äußere Stabilität. In der Gesellschaft die Flexibilisierung und Individualisierung fordert, wächst der Organisationsaufwand für Familien. Entweder sie zerbrechen daran, oder halten rigoros zusammen. Entinstitutionalisierung öffnet Grenzen der Familien und schwächt so deren Möglichkeit der Grenzziehung nach außen. Gesellschaft kann ohne Distanz auf Familien wirken. Es kommt zu einer Entgrenzung von Leben, Lernen und Arbeiten und das wiederum hebt die lebensweltliche Erdung familiärer Lebenspraxis auf. Es scheitern wohl gerade diejenigen, die die Voraussetzung der Familie nicht selbst in den Blick nehmen und gestalten können. (Winkler 2012, 118ff)
Die frühe Unabhängigkeit durch Deinstitutionalisierung ist leider nicht gleichbedeutend mit Autonomie. Die jungen Menschen sind der gesellschaftlichen und kulturellen Welt und ihren Anforderungen unmittelbar ausgesetzt. Medien dringen in Familie ein und Familien verlieren ihre Grenzen die zwischen den jungen Menschen und der Außenwelt bestehen sollte. Familien werden gesellschaftlich zerstört, sind aber dringender nötig denn je. Ohne familiäre Praxis verlieren die jungen Menschen die Chance sich gegenüber äußeren Ansprüchen behaupten zu können. Junge Menschen sind daher darauf angewiesen, dass ihre Bildungsprozesse geschützt, inszeniert und pädagogisch organisiert werden und zwar als Bildung in einem diffusen Familienmilieu. Eltern müssen dafür die je eigene Entwicklungsgeschwindigkeit ihrer Kinder ernst nehmen und ihnen die Struktur des Konsumkapitalismus aufzeigen um einer unkontrollierten Herrschaft selbiger entgegenzuwirken. Erwachsene sind dazu aufgerufen, einen glaubwürdigen Gegenentwurf zu präsentieren. Dies stellt eine erhöhte pädagogische Verantwortung dar, welche die Intimwelt von Familie aufrechterhalten soll. Gerade Familien mit geringem sozialem Status verfügen kaum über das dazu notwendige sozialkulturelle Wissen. Die bürgerlichen Familien versuchen es mit Schließung, um sich von der Außenwelt abzuschotten. Was nicht gelingen kann, da sie dieselbe doch immer wieder überprüfen und somit hineinlassen. Oft urteilen Familien dann nicht mehr intuitiv, sondern nach Maßstäben heutiger Bildungsexperten. Eltern können den Erwartungen eine familiäre Lebenspraxis im Alltag zu gestalten, den Erwartungen ihren Kindern verpflichtet zu sein nicht entkommen. Sie beugen sich den Erwartungen der Gesellschaft, da sie selbst keine Lobby haben, während die Medien durch die Politik noch in ihren Ansprüchen gestützt werden. So wird beinahe jeder Lebenssachverhalt zur Familienangelegenheit: Gesundheit, Bildung und vieles mehr. (Winkler 2012, 118ff)
Kernproblem der Familienerziehung sind nicht Defizite in der Erziehungskompetenz, sondern eher ein Projektdenken und damit verbundener Optimierungsideologie. Kinder gelten heute vermehrt als Produkte, die es zu optimieren gilt und hierzu wird Familie instrumentalisiert und überidealisiert. Öffentliche Diskurse erzeugen einen Erwartungsdruck, der Familie scheitern lässt. Wenn Familien also am Projekt Kind scheitern, geben sie es damit auf und überlassen es sich selbst. Es wird kaum noch Rücksicht genommen auf die Eigenheiten, Bedürfnisse und Entwicklungs-geschwindigkeiten der Kinder. Eltern ist da kaum die Schuld zuzuschreiben, denn sie selbst sind den sozialen und kulturellen Anforderungen ausgesetzt und dürfen selbst auf ihre eigenen Intuitionen und Gefühle nicht achten, sondern sollen den Meinungen von Experten folgen. Immer weniger Eltern gelingt es, familiäre Alltagsverhältnisse unbefangen zu gestalten und zu leben, denn der Druck als Risiko für die eigenen Kinder zu gelten macht unselbständig und unterwirft gesellschaftlichen Erwartungszwängen. Mediale Darstellungen und Vorstellungen von Experten und der Politik vermischen sich. Junge Menschen sind zunehmend gefährdet, da Familie dann als Rückzugsort fehlt, wenn die äußeren Einflüsse bereits eingedrungen sind. Der Nachwuchs soll für die Zukunft produziert werden, dafür wird er überwacht und kontrolliert. Es scheint fast, als wäre Familie der einzige Bereich der durch die Politik noch steuerbar sei. Am Ende aber sind es doch die Eltern, die die Familien, sich selbst und ihren Nachwuchs schädigen. Warum dürfen Kinder und ihre Familien nicht selbst entscheiden wie sie aufwachsen wollen? Und warum vertraut man Familien so wenig und lässt sie einfach ihr Leben führen? Jene die ihre Kinder heutzutage nicht abschieben an Institutionen, die werden stigmatisiert. (Winkler 2012, 128ff)
Familie zerfällt nicht, sie verändert sich. Familien drohen höchstens an den wachsenden und widersprüchlichen Erwartungen zu zerbrechen, die unter anderem auch durch den gesellschaftlichen Individualisierungszwang verstärkt werden. (vgl. Winkler 2012, 62ff) Die Erziehungswissenschaften und die Pädagogik weichen dem Thema Erziehung in der Familie eher aus. (vgl. Winkler 2012, 61) Sozialpädagogik, fachlich zuständig für die Hilfen zu Erziehung, hat die Notwendigkeit von Kooperation erkannt, steht Familien aber dennoch meist skeptisch gegenüber. Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiter fühlen sich vorrangig dem Kindeswohl und damit unmittelbar den Kindern verpflichtet, sind aber in ihrer Praxis mit desaströsen Familienverhältnissen und dem Scheitern von Eltern konfrontiert. Sie tendieren daher zur Kontrolle von Familien und zur Verringerung möglicher Risiken für Kinder in diesen, statt zu einer sozialpolitischen Sicht, welche auf Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen familiärer Erziehung zielt. „Die Frage nach der Erziehung stellt sich erst zuletzt und nur noch beiläufig.“ (Winkler 2012, 62)
Eltern können sich sozialen und kulturellen Prozessen nicht entziehen, aber sie müssen versuchen besonnen mit diesen umzugehen. Heutzutage gilt Familie vorrangig als pädagogische Institution. Auf allen Ebenen wird sie für Erziehung in Anspruch genommen. Zudem reproduziert Familie soziale Ungleichheit. Darin kann man eine unvermeidliche Funktion oder einen Vorwurf sehen, der dadurch beseitigt wird, dass Kinder den Familien enteignet werden. Die Rolle der Familie besteht derzeit als Transformator zwischen Privatheit und Gesellschaft unter der Begründung von Bildung. Jedoch ist eben der Alltag als Alltag wichtig für das Aufwachsen junger Menschen und ihre Autonomie. (Winkler 2012, 133ff) Die Professionalisierung elterlichen Verhaltens soll dazu führen Kinder zu bilden, denn scheinbar taugen diese nur dann etwas. Wichtig für das Aufwachsen junger Menschen ist jedoch anderes: Die Diffusität familiären Binnenlebens, Alltäglichkeit und unbedingte emotional und affektiv gebundene Gemeinsamkeit. Durch Professionalisierung wird Unsicherheit geschürt, da es für alles wissenschaftliche Argumente gibt, aber die Entscheidungskraft wird nicht gestärkt. Eltern erkennen so nicht mehr intuitiv die Entwicklungsbedürfnisse ihrer Kinder. Der Druck Institutionen in Anspruch zu nehmen steigt gesellschaftlich und arbeitsmarktpolitisch. Bildung ist hier dem Spielen übergeordnet. Dass verrückte ist, dass Eltern sich freiwillig dieser Professionalisierung fügen, um Nachteile für ihre Kinder zu verhindern suchen. (vgl. Winkler 2012, 135f)
Nachfrage an institutioneller Betreuung steigt, weil die informellen Netzwerke selten werden. Mobilität, demographischer Wandel und längere Erwerbsarbeit der Großeltern sind der Grund. Familien sind jedoch darauf angewiesen andere Familien zu haben. Umzüge im Rahmen von Hartz IV führen zu Isolierung von Familien. Informelle Netzwerke bieten Unterstützung in Krisen.
[...]
Der GRIN Verlag hat sich seit 1998 auf die Veröffentlichung akademischer eBooks und Bücher spezialisiert. Der GRIN Verlag steht damit als erstes Unternehmen für User Generated Quality Content. Die Verlagsseiten GRIN.com, Hausarbeiten.de und Diplomarbeiten24 bieten für Hochschullehrer, Absolventen und Studenten die ideale Plattform, wissenschaftliche Texte wie Hausarbeiten, Referate, Bachelorarbeiten, Masterarbeiten, Diplomarbeiten, Dissertationen und wissenschaftliche Aufsätze einem breiten Publikum zu präsentieren.
Kostenfreie Veröffentlichung: Hausarbeit, Bachelorarbeit, Diplomarbeit, Dissertation, Masterarbeit, Interpretation oder Referat jetzt veröffentlichen!
Kommentare