Examensarbeit, 2016
39 Seiten
1. Einleitung
2. Theorie zum Thema Hochsensibilität - Entstehung des Begriffs
2.1. Ivan Pawlow (1849 – 1936)
2.2. Carl Gustav Jung (1875 – 1961)
2.3. Alice Miller (1923 – 2010)
2.4. Jerome Kagan (1929 – heute)
2.5. Max Wolf
2.6. Elaine Aron (1945 – heute)
2.7. Arthur Aron (1945 – heute)
2.8. Gemeinsame Erkenntnisse der Grundlagenforschung
3. Das Konstrukt – Hochsensibilität
3.1. Begriffserklärung Hochsensibilität bzw. Hochsensitivität
3.2. Abgrenzung zu ADS / ADHS
3.3. Abgrenzung zu Autismus und Asperger
3.4. Wesentliche Aspekte der Hochsensibilität
3.5. Empathie und Intuition
3.6. Indikatoren zur Feststellung von Hochsensibilität
3.7. Selbsterkenntnis
4. Sozialpädagogische Relevanz
4.1. Sozialpädagogische Kompetenzen
4.2. Hochsensibilität und Schule
4.3. Kognition vs. Emotion
4.4. Alltagssituationen
5. Resümee
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Ich erkläre eidesstattlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den benutzten Quellen entnommenen Stellen als solche gekennzeichnet habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt.
Ort, Monat Jahr Unterschrift
Diese Arbeit befasst sich mit dem Wissen über Hochsensibilität und setzt es in Bezug zur sozialpädagogischen Arbeit. Es wird das Konstrukt der Hochsensibilität erklärt und anhand von Beispielen aufgezeigt, wie das Wissen darüber, in der sozialpädagogischen Arbeit hilfreich sein kann. Ziel ist die Sensibilisierung von sozialpädagogischen Fachkräften bezüglich dieses Wesenszugs, um einen adäquaten Umgang mit hochsensiblen Menschen zu ermöglichen. Dies schließt bestimmte sozialpädagogische Haltungen und Kompetenzen mit ein, sowie das Achten auf ein ausgewogenes Reizniveau.
Ziel dieser Arbeit ist es, einen Einblick in das Thema der Hochsensibilität zu geben, mit Fokus auf den Umgang mit hochsensiblen Menschen im Kontext der sozialpädagogischen Arbeit. Auch soll diese Arbeit ein Beitrag sein, eventuell vorhandene gesellschaftliche Benachteiligung abzubauen und die Aufmerksamkeit in Richtung gesellschaftliche Inklusion zu lenken. Aufgrund der Komplexität und des Umfangs dieser Thematik können hier nur Teilaspekte behandelt werden. Der Großteil der Bevölkerung scheint keine Kenntnis davon zu haben, dass es eine Vielzahl an Personen gibt, die den Merkmalen von hochsensiblen Menschen entsprechen. Umgekehrt wissen hochsensible Menschen meist nicht, dass ihr Verhalten und ihre Art zu denken, dem Muster und den Merkmalen den von Eliane Arons erforschten Erkenntnissen entsprechen, die sich für diese Personengruppe im Alltagsleben und in der Interaktion, sowie Kommunikation mit den nicht so sensiblen Zeitgenossen als hilfreich erweisen (vgl. Felten-Leidel 2014, S. 10; vgl. Aron 2013, S. 15ff; vgl. Dueck 2007, S. 297ff).
Wenn die professionelle Sozialpädagogik, wie aus einem Dokument des Europäischen Büros der internationalen Vereinigung für Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen hervorgeht, basierend auf demokratischen und humanistischen Werten, Gleichstellung, Respekt gegenüber allen Personen, Beachtung individueller Bedürfnisse von Menschen, Autonomie, Solidarität für benachteiligte Gruppen, soziale Gerechtigkeit und Verbesserung der Lebensqualität generieren soll (vgl. Aieji 2005, S. 32), ergibt sich daraus folgende Fragestellung:
- Wie trägt das Wissen über Hochsensibilität dazu bei, die Aufgaben in der sozialpädagogischen Arbeit zu erfüllen?
In den nachfolgenden Kapiteln erfolgt sukzessive die Klärung dieser Fragestellung.
Das zweite Kapitel beleuchtet in chronologischer Reihenfolge die Entstehung des Begriffs ‚Hochsensibilität‘, dessen Wurzeln bereits unter anderem aus Erkenntnissen von Ivan Pawlow und Carl Gustav Jung, Alice Miller sowie Jerome Kagan stammen und beantwortet die Frage, ob Hochsensibilität ein neues Phänomen darstellt. Der aktuelle wissenschaftliche Stand der Forschung wird miteinbezogen.
Kapitel drei erklärt, was unter Hochsensibilität zu verstehen ist, und versinnbildlicht beispielhaft relevante Eigenschaften dieses Persönlichkeitsmerkmals. Auch Abgrenzungen zu anderen Phänomenen wie ADS, ADHS, Autismus und Asperger werden beleuchtet und es wird die Frage beantwortet, ob die Selbsterkenntnis bezüglich dieses Wesensmerkmals bei hochsensiblen Menschen hilfreich ist.
Inwiefern die Kenntnis über Hochsensibilität in der sozialpädagogischen Arbeit relevant ist, sowie wesentliche sozialpädagogische Kompetenzen werden im vierten Kapitel erörtert und durch praxisnahe Beispiele untermauert.
Kapitel fünf fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen und beantwortet die einleitend aufgeworfene Fragestellung.
Da das Thema ‚Hochsensibilität‘ im sozialpädagogischen Kontext kaum Erwähnung findet, wurde dieses Thema gewählt. Im sozialpädagogischen Bereich begegnet man sehr wahrscheinlich auch hochsensiblen Kindern und Jugendlichen, die auf Grund von Verwechslung oder mangelnder Kenntnis fälschlicherweise die Modediagnose ADS bzw. ADHS erhalten, und tut ihnen damit unrecht (vgl. Aron 2014b, S. 270).
Aufgrund der Neuheit dieser Thematik ist die zur Verfügung stehende wissenschaftlich fundierte Fachliteratur überschaubar, weshalb ebenfalls aus populärwissenschaftlichen Quellen zu diesem Thema zitiert wurde. Teile dieser Arbeit finden sich bereits an der Fachhochschule Linz in eigenen Seminararbeiten wieder.
Manche Menschen assoziieren mit dem Begriff Hochsensibilität oftmals Schüchternheit, Ängstlichkeit, Furchtsamkeit, Introvertiertheit (vgl. Parlow 2003, S. 51). Gehemmtheit, Verklemmtheit, die Eigenschaften neurotisch oder sogar krankhaft (vgl. Aron 2014a, S. 13). Somit stellt sich die Frage, was unter dem Begriff Hochsensibilität zu verstehen ist. Damit diese Frage beantwortet werden kann, ist es notwendig, einen Blick in die Grundlagenforschung zu werfen. Dazu werden in diesem Kapitel in zeitlicher Reihenfolge wesentliche Erkenntnisse zusammengetragen und es wird versucht, diese Fragmente am Ende des Kapitels zusammenzuführen, außerdem wird die Frage beantwortet, ob Hochsensibilität ein neues Phänomen darstellt.
Ivan Petrowitsch Pawlow war ein bekannter russischer Physiologe, Mediziner und Nobelpreisträger, der sich mit der menschlichen Empfindsamkeit und mit Verhaltensforschung beschäftigte. Der bedingte Reflex im Zusammenhang mit dem Pawlow‘schen Hund (Gudjons 2012, S. 221) ist diesbezüglich ein Begriff. In Experimenten, in denen Pawlow seine Versuchspersonen extremem Lärm aussetzte, fand er heraus, dass ca. 15 – 20 Prozent der Versuchspersonen viel schneller an ihre Grenzen der Belastbarkeit kamen. Er bezeichnete diese hochempfindlichen Menschen als ‚besonderen Menschenschlag‘, fand sie sehr bemerkenswert und kam zur Überzeugung, dass ihre Veranlagung, sehr schnell in den Zustand der transmarginalen Hemmung zu kommen, vererbt wird. Unter transmarginaler Hemmung ist eine Schutzfunktion des Nervensystems zu verstehen, die den Körper vor Überstimulation bewahrt (vgl. Parlow 2003, S. 53ff).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Transmarginale Hemmung nach Parlow (2003, S. 53)
Seiner Meinung nach funktioniert das Nervensystem solcher Menschen ganz anders (vgl. Aron 2013, S. 31). Interessanterweise konnte ganz klar zwischen beiden Gruppen unterschieden werden, da es keinen nahtlosen Übergang gibt (siehe Abb. 1).
Carl Gustav Jung war ein Schweizer Psychoanalytiker, Freuds Schüler und der einzige Tiefenpsychologe, der ausdrücklich auf Sensibilität einging. Jung war im Gegensatz zu Freud der Meinung, dass der elementare Unterschied zwischen Menschen nicht durch negative sexuelle Erfahrungen entsteht, sondern durch ererbte ausgeprägte Sensibilität (vgl. Ebd., S. 71).
Jung beschrieb seine Familie und sich selbst als hochempfindlich. Seiner Definition zufolge sind introvertierte Menschen primär am Subjekt interessiert, an den eigenen inneren Zuständen und an den von anderen, sowie an den Bedeutungen eines Objekts, zum Unterschied von extrovertierten Menschen, die am Objekt selbst interessiert sind. Daraus ergibt sich eine Art Isolation, wenn hochempfindliche Menschen an Objekten interessiert sind. Nach den Erkenntnissen Jungs stellen für den Introvertierten Objekte keine öffentliche Sache dar, sondern eine private. Am liebsten leben introvertierte Menschen laut Jung in einem Umfeld, das sie selbst kontrollieren können, um den sensorischen Input selbst zu regulieren und sensorische Überlastung zu vermeiden. Ebenfalls auf Jung zurückzuführen ist der Begriff des kollektiven Unbewussten, der verdeutlichte, dass hochempfindliche Menschen stärker und direkter mit dem Unbewussten in Verbindung standen, was ihnen eine Art prophetische Vorausschau ermöglichte. Er erkannte die Notwendigkeit, dass sich diese Menschen höher schützen müssen durch Dosierung von Stimuli und Rückzug (vgl. Parlow 2003, S. 51ff). Parlow zitiert Jungs folgende Aussage über hochsensible introvertierte Menschen: Sie seien „Erzieher und Förderer von Kultur, deren Leben die andere Möglichkeit lehrt, die des inneren Lebens, das in unserer Zivilisation so schmerzlich fehlt“ (Ebd., S. 52).
Alice Miller war Psychoanalytikerin, die sich im Speziellen mit der Thematik der Kindesmisshandlung und deren Folgen beschäftigte. In ihrem Buch aus den siebziger Jahren mit dem Titel ‚Das Drama des begabten Kindes‘ veranschaulichte sie, wie es durch Verdrängung eigener Wünsche, Gefühle und Impulse zu einem falschen Altruismus kommen kann, der sich generationsübergreifend auswirkt. Ihrer Beschreibung nach waren begabte, intelligente und feinfühlige Kinder dafür sehr empfänglich und sie bemühten sich im Besonderen, den elterlichen Erwartungen zu entsprechen. Als sie jedoch erwachsen waren, kristallisierte sich heraus, dass ihre eigenen Gefühle und Wünsche für sie nicht wichtig oder nicht erkennbar waren. Die Ängste, Bedürfnisse und Gefühle ihrer Eltern nahmen sie allerdings in der Kindheit und im Erwachsenenalter deutlich wahr. Das lässt den Schluss zu, dass die Eltern, anstatt sich um die Bedürfnisse ihres Kindes zu sorgen, sich ihr Kind um die Bedürfnisse und Sicherheit der Eltern kümmert und sich dieser Prozess umso leichter vollzieht, je sensibler das Kind ist (vgl. Ebd., S. 55).
Jerome Kagan war Psychologe an der Harvard Universität, der sich bei seinem Studium intensiv mit dem Thema Sensibilität beschäftigte (vgl. Aron 2013, S. 58).
Er setzte in seinen Forschungen Säuglinge unterschiedlichen Reizen aus, um deren Reaktionen zu testen. Zirka 20 Prozent der Säuglinge reagierten heftig auf die Reize. Diese empfindsame Gruppe benannte Kagan als ‚gehemmt‘, da sich die Säuglinge innerhalb weniger Jahre zu introvertierten und vorsichtigen Kindern entwickelten (vgl. Parlow 2003, S. 54). Kagan entdeckte auch die dafür verantwortlichen Details. Er fand bei den gehemmten Säuglingen heraus, dass die Stirnpartie der rechten Kopfseite kälter war. Dies deutet auf eine stärkere Hirnaktivität der rechten Gehirnhälfte hin, da das Blut von der äußeren Körperoberfläche nach innen zur angesprochenen Stelle gelenkt wird. Es konnte auch beobachtet werden, dass gehemmte Kinder im Säuglingsalter häufiger unter Schlaflosigkeit, Allergien, Verstopfung und Koliken litten. Bei erstmaligem Laborkontakt war bei den gehemmten Kleinkindern die Herzfrequenz deutlich höher und blieb selbst unter Stress unverändert. Untersuchungen der Körperflüssigkeiten (Blut, Speichel, Urin) zeigten einen hohen Gehalt des Neurotransmitters Noradrenalin besonders nach unterschiedlichen Stresssituationen, sowie eine außergewöhnliche Menge des Hormons Cortisol in Stresssituationen, aber auch in geborgenen, ruhigen Situationen. Noradrenalin wird als Gegenstück zu Adrenalin bezeichnet. Cortisol wird bei mehr oder weniger stetig erregten oder angespannten Nerven ausgeschüttet. Kagan kam zu dem Schluss, dass Menschen mit einem gehemmten oder empfindsamen Wesen ein besonderer Menschschlag sind (vgl. Aron 2013, S. 59ff). Seiner Meinung nach sind die Unterschiede genetisch deutlich ersichtlich, objektiv feststellbar, ererbt und unübersehbar für geschulte Augen (vgl. Parlow 2003, S. 58).
Max Wolf ist Evolutions- und Verhaltensbiologe am Leibnitz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin und gilt als einer der Vorreiter unter den Biologen und Biologinnen, die feststellten, dass es in etlichen Tierpopulationen Minderheiten gibt, die stärker auf Umweltreize reagieren und Informationen erhalten, die den übrigen Artgenossen verborgen bleiben. Max Wolf kann durchaus Verbindungen zwischen Elaine Arons und seiner Theorie erkennen (vgl. Streitbörger 2012, S. 37).
Die amerikanische, staatlich zugelassene Psychologin und Psychotherapeutin Elaine Aron gilt als Urheberin des Begriffs ‚High Sensitive Person‘, zu Deutsch hochsensible Person (HSP) oder hochsensible Menschen (HSM). Sie ist in der Forschung tätig, beschreibt sich selbst als hochsensibel und ist Mutter eines hochsensiblen Kindes (vgl. Aron 2014a, S. 12). Ihren eigenen Studien und Untersuchungen sowie vieler anderer zufolge ist das Merkmal bei ca. 20 Prozent der Erdbevölkerung, also bei Menschen wie auch bei über 100 Tierarten geschlechterunabhängig zu beobachten (vgl. Aron 2014b, S. 7f). Erst Elaine Aron vereinte all die gewonnenen Erkenntnisse mit den heutigen universitären zeitgenössischen Forschungen zu einem Begriff - Hochsensibilität (vgl. Parlow 2003, S. 50). Sie schreibt:
Ich habe lange und intensiv darüber nachgedacht, wie ich diese Eigenschaft eigentlich nennen könnte. Ich wollte nicht den Fehler wiederholen, sie mit Introvertiertheit, Schüchternheit, Gehemmtsein oder einer Menge anderer fälschlicher Bezeichnungen zu verwechseln, die andere Psychologen uns auferlegt haben. Keiner der Begriffe drückt nämlich den neutralen und erst recht nicht den positiven Aspekt dieser Eigenschaft aus. Der Begriff ‚Sensibilität‘ macht auf neutrale Weise die größere Empfänglichkeit gegenüber Reizen deutlich. Es schien mir an der Zeit, mit der Voreingenommenheit gegenüber HSM abzurechnen, indem eine Bezeichnung gewählt wurde, die uns gerecht wird. (Aron 2013, S. 12)
Zurzeit existieren bereits einige empirische Forschungen zu dieser Thematik, sowie Erkenntnisse aus bildgebenden Verfahren (vgl. Streitbörger 2012, S. 37). Dennoch ist das Wissen der Allgemeinheit über die Normalität und Vorzüge dieser Eigenschaft aufgrund der noch wenig bekannten Literatur dürftig (vgl. Aron 2014b, S. 10). Besonders durch Aron wird die Forschung in Amerika vorangetrieben und in führenden Fachzeitschriften veröffentlicht (vgl. Aron 2014a, S. 13).
Dass ich der breiten Öffentlichkeit die Informationen zugänglich machte, die sie brauchte, ließ mir wenig Zeit, meine Forschung voranzutreiben oder an Konferenzen teilzunehmen, auf der ich sie hätte diskutieren können. Das wiederum hätte zu weiteren Studien anderer Wissenschaftler geführt, die dann irgendwann die erforderliche kritische Anzahl erreicht hätten, die eine Idee in akademischen Kreisen bekannt macht. So kommt es, dass manche Fachleute Hochsensibilität vielleicht noch immer nicht als ernsthaftes Thema innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie ansehen. (Aron 2014b S. 14)
Arthur Aron ist Psychologieprofessor an der Stony Brook Universität in New York und betreut etliche Forschungsarbeiten zum Thema Hochsensibilität. Seine Doktorandinnen konnten mit Hilfe von bildgebenden Verfahren feststellen, dass bei hochsensiblen Menschen andere zeitliche Abläufe im Gehirn bei Reizen stattfinden und andere Hirnregionen aktivieren als bei der Bevölkerungsmehrheit. Erkennbar war, dass die Amygdala sowie andere Hirnareale, die für die Furchtreaktionen zuständig sind, stets eine untergeordnete Rolle spielten, was bedeutet, dass es weder um Angst, Gehemmtheit noch um einen negativen Affekt geht (vgl. Streitbörger 2012, S. 37). „Die Amygdala nimmt nach übereinstimmender Auffassung neben Hypothalamus und mesolimbischem System die zentrale Rolle bei der Entstehung und Steuerung von Emotionen ein“ (Schilling 2013, S. 190).
Laut Ivan Pawlow, Jerome Kagan und Elaine Arons Studie stellen ca. 20 Prozent der Weltbevölkerung hochsensible Menschen dar, die unter anderem als besonderer und bemerkenswerter Menschenschlag bezeichnet wurden und laut Gustav Jung stärker und direkter mit dem Unbewussten in Verbindung stehen. Nach Ivan Pawlows und Jerome Kagans Forschungsergebnissen funktionierten das Nervensystem und die Hirnaktivität hochempfindlicher bzw. gehemmter Personen ganz anders. Diese Annahmen konnten mit Hilfe heutiger bildgebender Verfahren bestätigt werden, denn laut Arthur Aron finden bei Reizen andere zeitliche Abläufe im Gehirn hochsensibler Menschen statt und es werden andere Hirnregionen angesprochen als bei der Bevölkerungsmehrheit. Nach Ivan Pawlow, Jerome Kagan und Gustav Jung war die Gruppe hochsensibler bzw. gehemmter Menschen deutlich zu unterscheiden und die Merkmale von Geburt an genetisch bedingt, deutlich ersichtlich, objektiv feststellbar und unübersehbar für geschulte Augen. Elaine Aron ergänzt dieses Wissen, indem sie herausfand, dass Hochsensibilität im gleichen Prozentsatz geschlechterunabhängig und auch in der Tierwelt beobachtbar ist. Laut Kagan entwickelten sich die von Geburt an gehemmten Säuglinge zu vorsichtigen und eher introvertierten Kindern. Gustav Jung beschrieb als Merkmale hochsensibler Menschen beispielsweise, dass introvertierte Menschen ein Umfeld benötigen, das sie selbst kontrollieren können und das Rückzugsmöglichkeiten bietet, um den sensorischen Input regulieren und Überlastung vermeiden zu können. Alice Miller ergänzt dies, indem sie beschreibt, dass speziell feinfühlige und sensible Kinder anfällig seien, eigene Gefühle und Wünsche zurückzustellen, um den Erwartungen anderer zu entsprechen, da sie im Stande sind, besonders schnell die Ängste, Bedürfnisse und Gefühle anderer wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Dies birgt die Gefahr in sich, dass sie Verantwortung für andere übernehmen, die sie selbst nicht tragen sollten. Da bereits Ivan Pawlow und Carl Gustav Jung im 19. und 20. Jahrhundert Kenntnisse über hochempfindliche Menschen sammelten und diese Wesensart durch Jerome Kagan, Eliane Aron und Arthur Aron bis heute ins 21. Jahrhundert nachgewiesen werden konnte, kann diesbezüglich keinesfalls von einem neuen Phänomen die Rede sein (vgl. Parlow 2003, S. 50).
Aufgrund der mangelnden Kenntnis der Bevölkerung, aber auch vieler Fachleute, bezüglich der Wesensart von hochsensiblen Menschen und der relativ großen Anzahl der Betroffenen, lässt dies den Schluss zu, dass dieser Thematik bisher wenig Beachtung geschenkt wurde. Die Sozialpsychologin Birgit Trappmann-Korr ist der Meinung, dass sich Hochsensibilität „in und mit dem betroffenen Menschen entwickelt“ (Trappmann-Korr 2012, S. 19) hat und dass es dieses Phänomen im Verlauf der Menschheitsgeschichte schon immer gab, doch heute aufgrund der sich veränderten Umweltbedingungen der letzten hundert Jahre deutlicher in Erscheinung tritt, wo Reizüberflutungen die Menschen, besonders hochsensible Menschen, regelrecht überschwemmen. Außerdem war in der Vergangenheit weder der Forschungsstand der menschlichen Psyche so weit, noch standen geeignete Mittel zur Verfügung, um dieses Phänomen angemessen darlegen zu können, und in der Natur des hochsensiblen Menschen liegt es nicht, sich gegen die Mehrheit durchzusetzen (vgl. Trappmann-Korr 2012, S. 19ff).
Nach heutigem Wissenstand wird die Persönlichkeit zu über fünfzig Prozent durch angeborene Temperamentsunterschiede wie z.B. Hochsensibilität geprägt, der Rest geht auf Erfahrung oder die Umwelt zurück. Einst neigte die Wissenschaft zur Annahme, ruhige Menschen seien scheu, kontaktscheu, ängstlich und gehemmt. Erst seit der Kenntnis des Wesenszugs als Hochsensibilität wurde die Grundlage zur Verhaltensanalyse solcher Personen geschaffen. Die Wesensmerkmale und Reaktionen lassen eine Art von Verletzlichkeit erkennen, die auf bedeutend Grundlegenderes zurückgeht, nämlich auf Sensibilität. Bei nicht hochsensiblen Menschen sind sie auf schlechte Erfahrungen zurückzuführen und nicht genetischen Ursprungs (vgl. Aron 2014a, S. 34ff).
Elaine Aron vereinte bisherige wissenschaftliche Erkenntnisse und schuf das Konstrukt der Hochsensibilität. Damit beschäftigt sich folgendes Kapitel.
Das Konstrukt Hochsensibilität stellt sich umfangreicher dar als die bereits angeführten wesentlichen Erkenntnisse. Dieses Kapitel wird das Konstrukt mit weiteren Details ergänzen. Zunächst ist es wichtig, zu verstehen, was der Begriff Hochsensibilität meint.
Unter dem Begriff Hochsensibilität oder Hochsensitivität (‚High Sensory Processing Sensitivity‘) wird ein angeborenes Wesensmerkmal in der Sinnesverarbeitung verstanden. Das betrifft einerseits die Feinheiten-Wahrnehmung von Reizen unterschiedlichster Art, Qualität, Intensität und andererseits das Potenzial von Überwältigung zu starker Reize (vgl. Aron 2014b, S. 20).
Anzumerken ist, dass sich bei der Übersetzung ins Deutsche fälschlicherweise der Begriff Hochsensibilität eingebürgert hat, anstatt Hochsensitivität. Da jedoch Sensitivität weit mehr beinhaltet, als lediglich empfindsam und sensibel zu sein entspricht das so nicht dem theoretischen Konzept von Arons High Sensory Processing Sensitivity. In den meisten Publikationen sowie in dieser Arbeit werden beide Begriffe akzeptiert und verwendet, jedoch stets im Sinne des Begriffs Hochsensitivität (vgl. Trappmann-Korr 2012, S. 27).
Wenn Sie also von Hochsensibilität hören, dann ist dies in den meisten Fällen identisch mit der hier beschriebenen Hochsensitivität. Sensitivität leitet sich von dem lateinischen Begriff sentire ab, und dies bedeutet so viel wie ‚empfinden‘ oder ‚fühlen‘. Hier wird deutlich, dass Sensitivität über den Begriff der Sensibilität hinausgeht, denn aus wahrnehmungspsychologischer Sicht wird die Komponente der Gefühle mit einbezogen. Sensibel zu sein, heißt nämlich nicht automatisch auch ‚sensibel‘ wahrzunehmen. Sensitive Wahrnehmung lässt sich nicht immer rein rational über die klassischen Sinneswege erklären, denn Phänomene wie feinstoffliche Wahrnehmung oder Empfindung, Intuition, Empathie, die ‚Gabe des Gesichts‘ und Psi-Fähigkeiten sind ein wesentlicher Bestandteil der Hochsensitivität. Es besteht also ein großer Unterschied zwischen sensibel und sensitiv, und streng genommen ist ein hochsensitiver Mensch (HSM) zwar immer sensibel, aber ein hochsensibler Mensch nicht immer auch hochsensitiv! (Ebd.)
Diese herausragende Wahrnehmungsfähigkeit hochsensibler Menschen und Tiere liegt nicht den Sinnesorganen zugrunde, sondern dem Gehirn, das als Eigenheit im Vergleich zu anderen ihrer Gattung die besonders gründliche Informationsverarbeitung als Strategie an den Tag legt, bevor sie handeln (vgl. Aron 2014b, S. 20).
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