Examensarbeit, 2012
76 Seiten, Note: 1,0
Einleitung
1. Zu den Bildungsbe(nach)teiligungen von Migrantenkindern
1.1 Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem
1.2 Einige wichtige Befunde
1.3 Vermeintliche Ursachen für die ungleiche Bildungsbeteiligung
1.3.1 Der familiäre Einfluss - Gestützt auf die Kapitaltheorie
1.3.2 Der bildungspolitische Aspekt
1.3.3 Die Rolle der Sprachkenntnisse für den Bildungserfolg
2. Welchen wichtigen Einfluss die Sprache auf Mathematik hat
2.1 Zusammenhänge zwischen dem Sprach- und Mathematiklernen
2.2 Mathematische Begriffe in Alltags- und Fachsprache
2.3 Aufbau mathematischen Wissens mit der Sprache
2.4 Zwei Ansätze zum Denken und Sprechen
2.5 Kinder mit Migrationshintergrund und Mathematiklernen
2.5.1 Sprachen im Mathematikunterricht
2.5.2 Mathematiklernen von Migrantenkindern
2.5.3 Bedeutung der Erstsprache
2.5.4 Sprachliche Besonderheiten mathematischer Aufgabenstellungen
3. Die Entwicklung des numerischen Verständnisses
3.1 Bildung der türkischen und deutschen Zahlwörter
3.1.1 Bildung der deutschen Zahlwörter
3.1.2 Bildung der türkischen Zahlwörter
3.2 Zählen - Was kann das sein?
3.3 Wie sich die Zählkompetenz bei Vorschulkindern entwickelt
3.3.1 Die Prinzipien-Vorher-Theorie
3.3.2 Die Prinzipien-Nachher-Theorie
3.3.3 Phasen der prozeduralen Sicherheit
3.4 Zählstrategien
3.5 Wie sich der Zahlbegriff bei Vorschulkindern entwickelt
3.5.1 Zahlaspekte
3.5.2 Piagets Theorie zum Zahlbegriffserwerb
4. Beschreibung des OTZ
5. Anliegen der Untersuchung
6. Methodische Beschreibung der Durchführung
6.1 Anwendung des OTZ
6.2 Die Auswahl der beiden Kindergärten
6.3 Darstellung der einzelnen Aufgaben
7. Ergebnisse der Untersuchung
7.1 Interpretation der einzelnen Ergebnisse
7.2 Gesamtbetrachtung der Ergebnisse
7.3 Gesamtbetrachtung nach dem Schwierigkeitsgrad
8. Vergleich mit den Ergebnissen von Hasemann
9. Fazit
10. Literaturverzeichnis
11. Anhang
Richtige und falsche Lösungen
In Deutschland leben Menschen mit einer Vielzahl verschiedener Sprachen, Kulturen und Ethnien. Die größte Gruppe bilden dabei Personen mit einem türkischen Migrationshintergrund. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund spiegelt sich dementsprechend sowohl im Kindergarten als auch in der Schülerschaft wider. Obwohl die meisten in Deutschland geboren sind und ihre gesamte Schullaufbahn in Deutschland absolviert haben, weisen sie geringere Bildungserfolge als Kinder ohne Migrationshintergrund auf. Dieser Sachverhalt bestätigt sich in zahlreichen Studien (vgl. PISA 2000 & 2003, IGLU 2003), unter anderem auch in einer Untersuchung über „ Socio- economic diversity and mathematical competences“ (vgl. Thiel 2010). Die Ergebnisse der von Thiel in Berlin durchgeführten Untersuchung zeigen, dass überproportional viele Kindergartenkinder, insbesondere diejenigen mit einem türkischen Migrationshintergrund, schlechtere Leistungen im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund aufweisen. Ähnliche Defizite zeigen sich für die numerischen Kompetenzen. Erwiesen wurde in dieser Untersuchung außerdem, dass die sozioökonomischen Unterschiede schon im Vorschulalter Auswirkungen auf die mathematischen Kompetenzen der Kinder haben. Zudem zeigte sich ein Zusammenhang zwischen mangelnden Sprachkenntnissen und niedrigen mathematischen Kompetenzen.
Anknüpfend daran ist das Anliegen meiner Untersuchung herauszufinden, ob die Ergebnisse anderes ausfallen, wenn Kinder mit türkischem Migrationshintergrund in ihrer Erstsprache getestet werden. Dementsprechend werde ich diesen Kindern pränumerische und numerische Aufgaben auf Türkisch stellen. Ob auch diese Kinder den Zahlbegriff erworben haben, jedoch ihr mathematisches Wissen aufgrund mangelnder Kenntnisse der deutschen Sprache nicht äußern können, soll durch diese methodische Vorgehensweise überprüft werden. Die ausgewählten Aufgaben basieren auf dem Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung (vgl. van Luit, van de Rijt, Hasemann 2001). Zum Vergleich werden die gleichen Aufgaben Kindern ohne Migrationshintergrund gestellt. Falls die Ergebnisse dieser zwei Gruppen relativ gleich ausfallen sollten, würde zur Frage stehen, ob nicht das Sprachverstehen das Hauptproblem türkischer Kinder darstellt. Wenn die Ergebnisse allerdings trotz der Aufgabenstellungen auf Türkisch ähnliche Defizite offenbaren, würde der niedrige sozioökonomische Status der Familie als Einflussfaktor in Betracht kommen, sofern dieser eine ungenügende Förderung der Kinder nach sich zieht. Der erste Teil dieser Arbeit bezieht sich zunächst auf die Situation der Kinder mit türkischem Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem. Anknüpfend daran werden unter verschiedenen Perspektiven mögliche Ursachen für die ungleichen Bildungsbeteiligungen aufgezeigt.
Der zweite Teil verbindet die Bedeutung der Sprachkompetenz mit Mathematik, denn ohne die Sprache ist Mathematiklernen und -lehren unvorstellbar.
Die Entwicklung des numerischen Verständnisses ist der dritte Teil dieser Arbeit und beschäftigt sich zum einen mit der Entwicklung der Zählkompetenz und zum anderen mit der Entwicklung des Zahlbegriffs.
Ausgehend von den erarbeiteten Grundlagen und im Anschluss zur Erläuterung des Osnabrücker Tests zur Zahlbegriffsentwicklung wird im darauffolgenden Teil meine eigene, auf Teile des Osnabrücker Tests gestützte, Untersuchung vorgestellt, in welcher die Zahlbegriffsentwicklung in ihrer ganzen Breite erfasst wird.
Nachfolgend werden die Ergebnisse der einzelnen Aufgaben präsentiert, die Leistungen und Lösungswege der Kinder mit und ohne Migrationshintergrund verglichen, eine Gesamtauswertung durchgeführt und die Ergebnisse mit denen von Hasemann verglichen.
Abschließend wird im letzten Teil ein Fazit gezogen.
Migration, ein Phänomen, das auch als grenzüberschreitende Wanderung bezeichnet wird, besitzt große gesellschaftspolitische Bedeutung. Aufgrund des Arbeitsmangels in der Bundesrepublik der 1960er Jahre wurden angeworbene Migranten vor allem aus Süd- und Südosteuropa unter Annahme eines vorübergehenden Aufenthalts aufgenommen. Die Rückkehr in das Heimatland fand jedoch häufig nicht statt, dagegen etablierte sich der dauerhafte Verbleib in Deutschland (vgl. Herwartz-Emden 2003, S. 661ff).
Um den aktuellsten Datenstand der Bevölkerung des Bundeslandes Baden-Württemberg zu ermitteln, wurden vom Statistischen Landesamt im Mikrozensus 2009 Bevölkerungszahlen erhoben: Der Zahl der Gesamtpersonen an der Bevölkerung Baden- Württembergs beträgt demnach 10,7 Millionen Menschen, wobei 2,8 Millionen also 26%, einen Migrationshintergrund aufweisen. Den größten Anteil davon nehmen Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund mit 430 000 Einwohnern ein. Von ihnen sind 14 000 Personen zwischen fünf bis zehn Jahre alt und besuchen entweder den Kindergarten oder die Grundschule (vgl. Mikrozensus 2009, Statistisches Landesamt Baden- Württemberg).1 Obwohl aber auch diese Kinder in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, scheinen sie weniger konkurrenzfähig als Kinder ohne Migrationshintergrund zu sein:
„ Die starke Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft trifft diese Kinder [mit Migrationshintergrund] in besonderem Maße. Obwohl die Beteiligungsquote von Migrantenkindern in den Kindergärten zunimmt und sie in Vorschulenüberproportional vertreten sind, gelingt es weder den Kindertageseinrichtungen noch dem Schul- und Ausbildungssystem, diese Kinder und Jugendlichen - trotz nachgewiesener hoher Bildungsmotivation - adäquat zu fördern “ (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005, S. 37 in Schütte 2009, S. 35; Kursivsetzung von mir).
Die Ausgangslage, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund deutlich schlechtere Bildungschancen haben und sich auch hinsichtlich ihrer Leistungen gegenüber ihren monolingual aufwachsenden Mitschülern unterscheiden, bestätigen internationale Vergleichsstudien wie z.B. PISA, bei der am Ende der Sekundarstufe getestet wurde, IGLU, die die Leistungen am Ende der Grundschulzeit überprüfte und auch die Untersuchung „Socio-economic diversity and mathematical competences“ (vgl. Thiel 2010), welche vor der Einschulung durchführt wurde. Zu den Befunden soll nachfolgend kurz eingegangen werden.
Seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) aus dem Jahr 2000, ist der Zusammenhang zum einen zwischen der sozialen und kulturellen Herkunft und zum anderen der mangelnden Leistungsfähigkeit der Schüler ins öffentliche Bewusstsein gerückt (Baumert; Schümer, 2001). Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg wurde in PISA 2000 nachgewiesen: wenn der familiäre Bildungsgrad der Jugendlichen hoch ist, fallen die Fachleistungsergebnisse dementsprechend besser aus. Zudem zeigen die PISA-Befunde, „dass Schüler ohne Migrationshintergrund […] vor allem in Realschulen und am Gymnasium anzutreffen sind, dagegen aber Schüler mit mindestens einem Elternteil aus der Türkei […] Haupt- oder Realschulen besuchen“ (Ceri 2000, S. 21). In PISA 2006 wurden die Leistungsdifferenzen zwischen Jugendlichen aus bildungsfernen und bildungsnahen Elternhäusern zwar geringer, allerdings bestand nach wie vor eine Diskrepanz (vgl. Baumert; Schümer 2001).
Dagegen hat das deutsche Schulsystem an der Internationalen Grundschul-Lese- Untersuchung (IGLU) im Vergleich zur PISA-Studie etwas besser abgeschnitten, allerdings ist die enge Kopplung von Kompetenzniveau und sozialer Herkunft unverändert geblieben. In IGLU 2003 erzielten jedoch Kinder mit einem Migrationshintergrund um etwa ein Drittel schlechtere Leistungen als Kinder ohne Migrationshintergrund. Die Unterschiede bestehen auch in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen (vgl. IGLU 2003, S. 285 in Schmitman gen. Pothmann 2007, S. 41). Die Ergebnisse der IGLU- Studie lassen auf eine elementare Bedeutung der deutschen Sprache schließen. Diese Bedeutung wird in IGLU 2003 folgendermaßen unterstrichen: „Da in Deutschland der Unterricht in den Grundschulen in der Regel in Deutsch abgehalten wird, ist es für Kinder mit Migrationshintergrund bedeutsam, diese Majoritätssprache auf angemessenem Niveau zu erlernen“ (ebd., S. 277). Die Befunde aus PISA und IGLU betonen insgesamt die Bedeutung der sozialen Herkunft und des Sprachgebrauchs für die Kompetenzunterschiede.
Die Untersuchung „Socio-economic diversity and mathematical competences“ (vgl. Thiel 2010) zeigt außerdem, dass verschiedene Indikatoren der sozialen Herkunft Einfluss auf die Leistungen der Kinder haben. Um die Disparitäten des sozioökonomischen Hintergrundes von Vorschulkindern mit und ohne Migrationshintergrund zu erkunden, wurden Daten bezüglich des Geburtslandes des Kindes, das der Eltern, der Sprachgebrauch in der Familie, die Sozialschicht und die Anzahl der im Haus lebenden Kinder erfragt. Die hieraus resultierenden Ergebnisse zeigen, dass Kinder, deren beide Elternteile im Ausland geboren sind, relativ unbefriedigende Leistungen aufweisen. Zudem unterscheiden sich die mathematischen Kompetenzen der Kinder mit Eltern der oberen Dienstklassen und derjenigen mit un- und angelernten Arbeitern als Eltern (vgl. ebd.).
Die schlechte Bildungsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die aus den oben genannten Studien hervorgeht, wirft die Frage nach dem Ausmaß unterschiedlicher Bildungschancen auf. Um darzustellen wie Bildungschancen zustande kommen, werden mögliche Ursachen für die Leistungsdifferenzen zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund gesucht. Diese Ursachen werden auf drei Kategorien aufgeteilt:
Beschrieben wird zunächst der familiäre Einfluss anhand der Kapitaltheorie Bourdieus. Nachfolgend werden die bildungspolitischen Aspekte dargestellt. Anschließend wird die Bedeutsamkeit der Sprachkenntnisse erläutert. Diese Bereiche überschneiden sich gegenseitig, werden jedoch im Folgenden zwecks Übersichtlichkeit getrennt behandelt.
Kinder verbringen die meiste Zeit in ihrer Familie. Daher zählt die Familie zur primären Sozialisationsinstanz. Zu dieser primären Sozialisation trägt maßgeblich das kulturelle Kapital innerhalb der Familie bei, wie dieses beispielsweise in der Sozialisationstheorie Bourdieus aufgefasst wird. „Er [Bourdieu] misst den Besitz dieses Gutes [des kulturellen Kapitals] an der Fähigkeit eines Menschen, durch bestimmte Kenntnisse, Kompetenzen und Handlungsdispositionen Einfluss auf die Gestaltung der sozialen Umwelt zu nehmen“ (Bourdieu in Hurrelmann, S. 216). Dieser Grundgedanke lässt sich insofern auf die hohen Misserfolge der Migrantenkinder übertragen, da ihre Eltern im Vergleich zu deutschen Eltern häufig ein geringeres Bildungsniveau aufweisen, welches sich wiederum negativ auf die Bildung der Kinder auswirkt (vgl. Ceri 2008, S. 49). Ein niedriges kulturelles Kapital führt auch dazu, dass in diesen Familien eine mangelnde Kommunikation über sozial- kulturelle Fragen herrscht (vgl. Schmitmann gen. Pothmann 2007, S. 43).
Eng verknüpft mit dem kulturellen Kapital ist der Begriff des sozialen Kapitals, das „[...] alle diejenigen Ressourcen [einschließt], auf die Akteure zurückgreifen können, sofern sie Mitglieder einer Gruppe sind und ein Netz von Beziehungen zu anderen Akteuren unterhalten“ (Bordieu in Koller 2008, S. 145).
Was die Investition in diese Kapitalsorten anbelangt lässt sich feststellen, dass sich Eltern mit und ohne Migrationshintergrund „[...] in ihren Möglichkeiten für den Bildungserwerb [ihrer Kinder] unterscheiden“ (Ceri 2008, S. 50). Wichtige Kriterien sind hierbei der eigene Bildungsabschluss der Eltern sowie ihre monatlichen Einkünfte (vgl. Diefenbach 2007, S. 101).
Wenn Eltern die Bildung ihrer Kinder als die höchste Priorität ansehen, investieren sie Geld und Ressourcen, die für den Bildungserfolg der Kinder beitragen. Laut Leibowitz sollte für die Bildung der Kinder Zeit, Aufmerksamkeit und Geld investiert werden. Je mehr von diesen familiären Ressourcen in die Bildung der Kinder investiert wird, umso besser fällt der Bildungserfolg in der Regel aus (vgl. Leibowitz 1974, S. 432-452 in Ceri 2008, S. 50f.). Familien mit einem Migrationshintergrund verfügen im Vergleich zu deutschen Familien über weniger Ressourcen, die sie in die Bildung der Kinder investieren, was eine Ursache für den geringen Erfolg der Migrantenkinder sein kann (vgl. Diefenbach 2002, S. 47 in Ceri 2008, S. 51). Wenn Eltern selbst eine weiterführende Schule besucht oder ein Studium absolviert haben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass auch ihre Kinder diesen Weg durchlaufen werden, da sie mehr Elternunterstützung bekommen. Der geringe Bildungserfolg von Migrantenkindern kann folglich dadurch erklärt werden, dass ihre Eltern im Vergleich zu deutschen Eltern häufig ein viel niedrigeres Bildungsniveau aufweisen (vgl Ceri 2008, S. 51). Eltern die also selbst einen höheren Bildungsabschluss haben, „[...] können ihren Kindern [...] eher kompetente Hilfe bei Hausaufgaben oder der Vorbereitung auf Klassenarbeiten bieten“ (Kristen; Granato, S. 27f. in Ceri). Es liegt eher in ihren Fähigkeiten „[...] auftretende Schwierigkeiten frühzeitig zu erkennen und auszuräumen“ (ebd.).
Wenn Eltern eine hohe und angesehene Positionen im Arbeitsleben haben, profitieren ihre Kinder dadurch über gesteigerte Ressourcen wie ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. Der soziale Status der Eltern spielt bei den Leistungen der Kinder eine entscheidende Rolle, denn oft werden „[...] berufliche Positionen von einer Generation zur nächsten 'vererbt' und es kommt nur in begrenztem Umfang zu sozialen Auf- und Abstiegen zwischen den Generationen“ (Statistisches Bundesamt 2006, S. 597 in Ceri 2008, S. 51).
„ Selektiv, diskriminierend, undemokratisch - das deutsche Schulsystem bietet nicht allen Kindern die gleichen Chancen. [...] Dies betrifft insbesondere Migranten und sozial Schwache. Kinder aus Zuwandererfamilien werden systematisch benachteiligt. […] Jahrzehnte nach der Ankunft von Migranten müssten heute Tausende deutscher Kinder ausländischer Herkunft besser in das Bildungssystem [...] integriert worden sein, als es hier in Deutschland der Fall ist! “ (Muñoz 2006, Kursivsetzung von mir).
Der UN-Sonderberichterstatter kritisierte mit dieser Aussage das deutsche Bildungssystem. Er verwies auf die vielen Hürden, die das deutsche Schulsystem für Schüler mit Migrationshintergrund enthält.
Zumal werden insgesamt 12% der Kinder schon vor der Einschulung zurückgestellt, wovon überwiegend Migrantenkinder betroffen sind (vgl. Gogolin; Neumann; Roth 2003, S. 75). Außerdem fördert die frühe Verteilung auf die unterschiedlichen weiterführenden Schulformen am Ende der Grundschulzeit weitere Benachteiligungen. Aufgrund der Dreigliedrigkeit des weiteren Bildungsverlaufs werden vor allem Kinder und Jugendliche mit einem Migrationshintergrund stark benachteiligt. Dies bestätigt sich in den PISABefunden, denn Kinder mit Migrationshintergrund sind vorwiegend in der Hauptschule und Sonderschule anzutreffen. Durch die Sonderschulüberweisung wollen Lehrer/-innen überwiegend die (zeit)aufwendige Arbeit mit leistungsschwachen Schülern einsparen (vgl. Kornmann 2003, S. 81-94; Auernheimer 2001 S. 78-79 in Schmitman gen. Pothmann 2007, S. 24). Überdies wiederholen ausländische Schüler im Laufe ihrer Schulzeit öfter die Klasse als deutsche Schüler. Schon während der Grundschulzeit ist der Anteil der Nichtversetzung bei Migrantenkindern zwei- bis viermal höher als bei den Kindern ohne Migrationshintergrund (vgl. Gogolin; Neumann; Roth 2003, S. 18).
Außerdem ist von zentraler Bedeutung wie die Schule als Institution zu migrationsbedingten Problemen beiträgt. Gomolla und Radtke beleuchten diesen Aspekt unter dem Aspekt der Mechanismen institutioneller Diskriminierung in der Schule (vgl. Gomolla; Radtke 2002, S. 265ff.). Unter dem Begriff der institutionellen Diskriminierung verstehen die Autoren - im Gegensatz zum Vorurteilsansatz (vgl. Allport 1954 in Schmitman gen. Pothmann 2007, S. 47) - Rassismus oder Sexismus als Ergebnis sozialer Prozesse (vgl. Gomolla 2005, S. 98). Im Jahr 1990 führten Gomolla und Radtke in Bielefeld eine Studie zur institutionellen Diskriminierung durch, in der sie die zentralen Übergangsschwellen2 von der Grundschule zu weiterführenden Schulen untersuchten. Sie stellten folgende Hypothese auf: „Kinder mit Migrationshintergrund […] haben weniger Chancen am Bildungssystem teilzunehmen, da sie nicht der 'Normalitätserwartung' (bzgl. Schul- und Sprachfähigkeit), welche sich an deutschsprachigen Mittelschichtkindern orientiert, entsprechen“ (Gomolla 2005, S. 101). Gomolla und Radtke sind zu dem Fazit gekommen, dass „[...] Übergangsentscheidungen meist kein Spiegel des Lern- Leistungsvermögens der Kinder [sind], sondern Ergebnis kulturalistischer Zuschreibungen“ (ebd., S. 102). Fakt ist auch, dass die „[...] negative Bildungskarriere eines Kindes mit Migrationshintergrund häufig bereits beim Eintritt in die Schule beginnt, indem es erst gar nicht eingeschult wird“ (ebd., S. 101). Dabei differenzieren sie nach Feagin und Feagin (1986) zwischen Mechanismen der direkten und indirekten institutionellen Diskriminierung (vgl. Gomolla 2005, S. 98-99): Die direkte institutionelle Diskriminierung meint das regelmäßig, intentionale Handeln in Organisationen, das „hochformalisierte gesetzlich-administrative Regelungen“ (ebd., S. 90) oder aber informelle Praktiken umschließt, wie implizite Übereinkünfte oder ungeschriebene Regeln (vgl. ebd.). Zur direkten institutionellen Diskriminierung gehört beispielsweise die Zurückstellung von Kindergartenkindern wegen Sprachdefizite, obwohl der Kindergarten nicht gezielt die mangelnden Deutschkenntnisse solcher Migrantenkinder fördern kann. Trotz dieses Hintergrundwissens erfolgt keine Einschulung, weil Kinder aus Migrantenfamilien den Unterricht erschweren könnten (vgl. Gomolla 2006, S. 91). Des Weiteren können Selektionsmechanismen für den Übergang nach der Grundschulzeit ebenfalls mit der direkten institutionellen Diskriminierung gekoppelt sein: Häufig werden Kinder mit Migrationshintergrund mit der Begründung heruntergestuft, dass sie über unzureichende Deutschkenntnisse verfügen und daher in einer höheren Schulart mit vielerlei Schwierigkeiten in Berührung kommen würden (vgl. ebd., S. 91).
Die indirekte Diskriminierung basiert auf der „[...] gesamte[n] Bandbreite institutioneller Vorkehrungen [...]“ (ebd.), die bestimmte Gruppen überwiegend negativ betreffen (vgl. ebd.). Mechanismen indirekter Diskriminierung resultieren aus häufigem Fehlen der Migrantenkinder während der Kindergartenzeit oder durch diagnostische Verfahren wie Einschulungstests, die als Ergebnis die unzureichenden Deutschkenntnisse herausstellen und somit viele Migrantenkinder als schulunfähig einstufen (vgl. ebd.).
Als maßgebliches Kriterium für den geringen Bildungserfolg der Kinder mit Migrationshintergrund werden des Öfteren die mangelnden Sprachkenntnisse genannt. So zum Beispiel in der Zusammenfassung zentraler Befunde von PISA 2000: „Für Kinder aus Zuwandererfamilien ist die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in ihrer Bildungskarriere“ (Artelt; Baumert; Klieme u. a., 2001 in Ceri 2008, S. 32). Die geringen Sprachkenntnisse sind vorwiegend an die soziale Herkunft gekoppelt. Wenn beispielsweise beide Eltern eines Kindes im Ausland geboren sind, ist die gesprochene Sprache hauptsächlich die Herkunftssprache, aber wenn ein Elternteil in Deutschland geboren ist, wird zu Hause häufiger Deutsch gesprochen, wovon die Kinder profitieren (vgl. Thiel 2010, S. 15). Daher treten Kinder nicht-deutscher Herkunft mit unterschiedlichen sprachlichen Eingangsvoraussetzungen in die Schule ein. Sie verfügen über mehr oder weniger entwickelte Formen von Zweisprachigkeit (vgl. Heinrich-Böll- Stiftung, S. 216). Granato (2000) befragte in ihrer Untersuchung sechs bis dreizehnjährige Kinder mit einem türkischen Migrationshintergrund, wie sie ihre deutschen Sprachkenntnisse einschätzen. Ihrer persönlichen Meinung nach verstehen sie zu 90% die deutsche Sprache und sprechen zu 87 % gut Deutsch, was relativ gute Sprachkenntnisse voraussetzen würde. Im Vergleich dazu schätzen sie ihre türkischen Sprachkenntnisse geringer ein. So verstehen und sprechen der Selbsteinschätzung nach mindestens 70% der Befragten Türkisch deutlich schlechter als Deutsch. Wenn diese Kinder auf andere Kinder mit türkischer Herkunft treffen, kommunizieren sie vorwiegend abwechselnd auf Deutsch und Türkisch (vgl. Granato 2000). Dieses Phänomen wird in der Soziolinguistik häufig als 'Code-Switching' bezeichnet (vgl. Neuland 2008, S. 151).
Doch warum erzielen dann Schüler3 mit Migrationshintergrund vorwiegend geringere Leistungen, wenn sie die Einheitssprache ihres Erachtens nach derart gut beherrschen? In diesem Zusammenhang stellt Gogolin (2006) eine interessante Betrachtungsweise an: Nicht die deutsche Sprachbeherrschung an sich sei ein Problem, sondern eher das Deutsch als Schulsprache sei entscheidend für den geringen Bildungserfolg der Kinder mit Migrationshintergrund. Das Schuldeutsch kann die Eigenarten einer Fach- oder sogar auch einer Wissenschaftssprache aufweisen (vgl. Gogolin 2006, S. 39f.). Daher kann die schulische Kommunikation auch dann, wenn sie sich mündlich vollzieht, durch Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit geprägt sein. Situationsentbunden umfasst sie symbolische Mittel wie auch kohärenzbildende Redemittel, zu denen auch nichtssagende Funktionswörter wie Artikel, Pronomen oder andere Verweisformen gehören (vgl. Gogolin 2006, S. 40ff.). Es ergibt sich somit die Forderung, „[w]enn man also davon ausgehen kann, dass sich die deutsche Schulsprache mehr auf Regeln der Schriftsprache und weniger auf die Gesetzmäßigkeiten der alltäglichen Unterhaltung stützt, [...] diesen speziellen Sprachfähigkeiten mehr Beachtung geschenkt werden [sollte]“ (Norrenbrock 2008, S. 35). Die Aufgabe der Schule ist es, den Schülern diese Fähigkeit zu vermitteln. Demgegenüber haben Kinder, die aus einer „gehobenen Sozial- und Bildungsschicht“ (Gogolin 2006, S. 40) kommen erhebliche Vorteile, weil sie bessere Möglichkeiten haben, die schulische Fach- oder Wissenschaftssprache auch zu Hause zu lernen und zu üben. Spielt jedoch die Sprache in der Mathematik auch eine derart entscheidende Rolle, obwohl überwiegend „gerechnet“ wird? Um diese Fragestellung dreht sich der nächste Teil der Arbeit.
Die Ergebnisse der internationalen Schulvergleichsstudien PISA 2000, 2003 und IGLU 2003 zeigen, dass ein großer Zusammenhang zwischen der Sprache und dem (Mathematik-)Lernen im Unterricht besteht.
Da die Sprache ein zentrales „Medium des Lehrens und Lernens von Mathematik“ (Schmitman gen. Pothman 2007, S. 79) ist, soll nun diskutiert werden, wie Sprache, Lernen und Mathematik zusammenhängen.
Das Erlernen einer Sprache zählt zu den basalen Kompetenzen des Menschen. Bewundernswert ist, wie schnell Kinder - schon im relativ frühen Alter - mühelos und unbefangen die erlernte Sprache mit all den grammatikalischen Strukturen beherrschen. Noch erstaunlicher wirkt diese Leistung, wenn man sich vor Augen führt, welche Mühe es Erwachsene kostet, eine Sprache zu lernen. Sie benötigen viele Jahre und erlangen trotzdem nicht immer das höchste Maß an Sprachkompetenz. Kindern fällt es dagegen wesentlich leichter eine zweite Sprache ähnlich wie ihre Muttersprache zu erlernen (vgl. Maier; Schweiger 1999, S. 67). Der Wortschatz prägt sich im Laufe der Zeit durch die Kommunikation in der Sprachgemeinschaft aus.
Eine Sprache wird dadurch gelernt, dass „[...] Parameter [...] in einem angeborenen Sprachmodul [...]“ (ebd., S. 68) gesetzt werden. Wenn eine weitere Sprache erlernt wird, kommt es zur Neusetzung dieser Parameter (vgl. Flynn 1988 in ebd., S. 68). Erfolgt das Lernen von Mathematik jedoch ähnlich wie der Erwerb der Muttersprache, bei dem bestimmte Fähigkeiten angeboren sind?
Nach Maier; Schweiger (1999) lernen Kinder „[...] grundlegende Fähigkeiten wie Zählen, Klassifizieren, Ordnen […]“ (ebd., S. 68) ohne direkte Unterweisung. Eine gezielte Hilfestellung ist allerdings beim Rechnen - sowie auch bei den Kulturtechniken Lesen und Schreiben - notwendig (vgl. ebd).
Zu der Frage, ob gewisse mathematische Fähigkeiten angeboren sind, herrschen verschiedene Ansichten vor (siehe in 3.3.1 vs. 3.3.2). Nach Maier und Schweiger wäre jedenfalls noch zu prüfen, ob sich anhand des Erwerbs der Erstsprache ein angeborenes Lernen von Mathematik erklären lässt. (vgl. ebd.)
Für den Erwerb einer Sprache muss allerdings „[...] eine Fähigkeit angeboren sein [...]“ (ebd., S. 69), damit grammatikalische Strukturen durchdrungen werden können. Diese angeborene Fähigkeit umfasst aber nur die Syntax der natürlichen Sprachen, wovon sich jedoch die Syntax des „mathematische[n] Symbolismus“ (ebd.) größtenteils unterscheidet.
Wie aus dem Sprachlernen sinnvolle Übertragungen für das Lernen von Mathematik gezogen werden können, stellen Maier und Schweiger unter Bezugnahme auf Robinson (1990) dar. Darauf soll nun kurz eingegangen werden (vgl. Maier; Schweiger 1999, S. 70):
Kinder sollen die Bedeutung bzw. Einbettung sowohl der Sprache als auch der Mathematik für den Alltag erfassen.
Außerdem soll durch Hinweisen die sinnhafte Verwendung von Mathematik und Sprache betont werden.
Wichtig ist der Aufbau von positiven Erwartungen gegenüber dem Lernen von Mathematik und Sprache. Kindern sollen Erfolgserlebnisse in Mathematik wie mit dem Erlernen der Sprache gewährt werden.
Verantwortung können Kinder insofern übernehmen, indem sie eigene mathematische Lösungswege finden. Ein Bezug zur Sprache lässt sich hier dadurch erstellen, dass auch Sprache teils eigenständig erlernt wird.
Kindern sollte die Angst vor Fehlern genommen werden und so das Vertrauen in ihre Fähigkeiten gefördert werden. Durch Annäherungen an richtige Lösungswege können auch falsche Antworten korrigiert werden.
Rückmeldungen sollten wie auch beim Spracherwerb konstruktiv formuliert werden und so Kinder in ihrer Mitarbeit bestärkt werden.
Der Unterricht läuft durch permanente Interaktion zwischen dem Lehrer und der Schüler ab. Interessant für den Mathematikunterricht ist daher, wie neue mathematische Begriffe von der Lehrperson eingeführt und dabei sprachlich thematisiert werden. Aufgrund ihrer abstrakten Natur sind mathematische Begriffe schwer mit den Sinnen erfassbar. Die Begriffe der Mathematik lassen sich demzufolge „[...] nahezu ausschließlich auf sprachlich-symbolischer Ebene darstellen und bearbeiten [...]“ (Maier 1986 in Schütte 2009, S. 56). Die Fachsprache der Mathematik besitzt insofern einen großen Stellenwert, weil es in diesem Schulfach nicht nur um das Lernen mathematischer Inhalte geht, sondern auch um den Erwerb dieser Fachsprache, die Ähnlichkeiten mit der Alltagssprache aufweist (vgl. Schweiger 1996 in Schütte 2009, S. 56). Maier und Schweiger (1999) differenzieren den Gebrauch mathematischer Fachausdrücke nach unterschiedlichen Klassen:
Es gibt Wörter, die in der Alltagssprache nicht existieren, wie beispielsweise „Hypotenuse“. Außerdem werden Wörter verwendet, die in der Alltagssprache die gleiche oderähnliche Bedeutung haben, wie z.B. „Quadrat“.
Dann gibt es wiederum Wörter, die in der Alltagssprache vorkommen, aber in der mathematischen Fachsprache auf eine Art verwendet werden. Diese sind allerdings auf dieselbe Herkunft zurückführbar. Beispielsweise wird in der mathematischen Fachsprache als „Produkt“ das Ergebnis einer Multiplikation oder einer algebraischen Konstruktion bezeichnet. In der Alltagssprache hingegen steht das „Produkt“ meist für erzeugte Ware oder Dienstleistung (vgl. Maier; Schweiger 1999, S. 29f.).
Auf Wortebene lassen sich mathematische Fachbegriffe außerdem nach unterschiedlichen Wortarten ordnen: Substantive (für mathematische Objekte), Adjektive (für mathematische Eigenschaften), Verben (für mathematische Operationen), Zahlwörter, Konjunktionen, Präpositionen (vgl. ebd., S. 30ff.). Insofern besitzen die Wortarten in der Fachsprache der Mathematik eine jeweils spezifische Bedeutung.
In Bezug auf die Einführung mathematischer Fachbegriffe im Unterricht betont Maier (2004), dass die Fachsprache der Mathematik Überschneidungsbereiche mit der Alltagssprache der Schüler aufweist. Auf Grund dessen kommt der Verwendung von Sprache seitens der Lehrperson bei den neu einzuführenden mathematischen Begriffen eine zentrale Bedeutung zu. Was diese Lehrersprache angeht, so schwankt diese nach Maier zwischen einer fachsprachlichen „Hypertrophie“ (Maier 2004, S. 153) und einer fachsprachlichen „Hypotrophie“ (ebd.). Unter fachsprachlicher 'Hypertrophie' versteht Maier die von Fachsprache durchzogene Ausdrucksweise des Lehrers. Dagegen kennzeichnet die fachsprachliche 'Hypotrophie' eine nahezu fortlaufende Verwendung von Umgangssprache. Für ein angemessenes Maß an Fachsprache im Unterricht empfiehlt Maier den Lehrpersonen sich ausgewogen zwischen fachsprachlicher 'Hypertrophie' und 'Hypotrophie' zu bewegen. Dadurch kann der Lehrer die Entwicklung der mathematischen Fachsprache der Schüler stärken und ihnen einen Zugang zu Mathematik unter Verwendung ihrer eigenen Sprache gewährleisten (vgl. Maier 2004, S. 153 & S. 162f).
Die mathematischen Begriffe werden nach den Darstellungsformen Bruners vorwiegend in der Grundschule eingeführt. Bruner (1971) entwickelte für die Darstellung mathematischen Wissens drei Repräsentationsformen: die enaktive, die ikonische und die symbolische Darstellungsform. Die enaktive Repräsentation stellt die konkreten Handlungen dar. In der ikonischen Repräsentation wird der Sachverhalt durch Bilder oder Zeichnungen dargestellt. Der symbolischen Darstellungsform schreibt Bruner die Sprache in ihrer verbalen und schriftlichen Form zu, welche beide die mathematische Symbolsprache mit einbeziehen (vgl. Maier; Schweiger 1999, S. 77).
Basierend auf diesen drei Darstellungsformen beschreibt Bauersfeld (1972) einen „intermodalen Transfer“. Dieser intermodale Transfer beinhaltet die Umformung mathematischen Wissens seitens der Schüler von einer Repräsentationsform in eine andere (vgl. Schmitman gen. Potmann 2007, S. 85). Diese gedankliche Leistung ist für die Bearbeitung mathematischer Aufgabenstellungen häufig notwendig, beispielsweise wenn eine geometrische Figur von der symbolischen Darstellungsform (mündliche Beschreibung) in die ikonische Darstellungsform (Zeichnung) übertragen wird.
Zum Aufbau mathematischer Begriffe haben Dörfler (1988) und Peschke (1989) eine grundlegende Theorie aufgestellt, nach der die sprachliche Kommunikation im Mittelpunkt steht. Die beiden Autoren differenzieren dabei nach empirischen und theoretischen Begriffen:
Der empirische Begriff fasst die visuellen Merkmale verschiedener Gegenständen zusammen, die nach gemeinsamen Eigenschaften klassifiziert werden. Hierbei werden die Merkmale durch das Anschauen und Vergleichen der Objekte wahrgenommen (vgl. Maier; Schweiger 1999, S. 81).
Der theoretische Begriff wird hingegen aus Handlungen und Handlungsvorstellungen heraus entwickelt. Die Aufmerksamkeit der Lernenden wird auf eine Handlung gerichtet, wobei gleichzeitig die Handlungsschritte reflektiert werden (vgl. ebd.). Im Hinblick auf den Aufbau mathematischen Wissens lässt sich allerdings schließen, dass sich die empirischen Begriffe als relativ unzureichend erweisen, da bestimmte Eigenschaften meist nur ungenau wahrgenommen werden.
Dagegen sind theoretische Begriffe bzw. theoretisches Wissen für das Verstehen mathematischer Sachverhalte unabdinglich.
Durch verbale Kommunikation sollen Schüler letztendlich von empirischem Wissen zu theoretischem Wissen gelangen (vgl. ebd., S. 82f.).
Maier (2006) betont, dass im Mathematikunterricht - vor allem in der Grundschule - eine Begriffseinführung meistens durch enaktive oder ikonische Repräsentationsformen stattfindet. Hierzu weist Maier auf ein durch diese Formen der Begriffseinführung entstehendes Problem hin: Die Objekte der Mathematik sind laut Maier (1986) nicht realer Natur und können daher kaum über die Sinne wahrgenommen werden, wie dies bei der enaktiven oder ikonischen Visualisierung der Fall wäre.
Maier folgert daraus, dass dieses Problem nur auf sprachlich-symbolischer Ebene gehandhabt werden kann. Das heißt, bei neu einzuführenden mathematischen Begriffen sei deshalb eine intensive sprachliche Kommunikation notwendig. Diese beschreibt er anhand der folgenden drei Unterpunkte:
„ Zum Ersten lässt sich theoretisches Wissen auch ausüberlegt und gut gewählten Modellen 4 nicht unmittelbar ableiten. Modelle sind nicht selbstevident; vielmehr muss der einzelne Schüler das Wissen erst durch Interpretation aus ihnen gewinnen. Diese Interpretation aber bedarf des Anstoßes mit sprachlichen Mitteln .
Zum Zweiten sind anschauliche Modelle in aller Regel nicht eindeutig; sie lassen neben der von der Lehrperson gewünschten bzw. ihrer Modellkonstruktion zu Grunde gelegten auch andere, abweichende Deutungen zu. [ … ] Es bedarf eines an sprachliche Kommunikation gebundenen Gedankenaustausches. Zum Dritten können anschauliche Modelle das angestrebte Wissen zumeist nur ausschnitthaft oder ungenau repräsentieren. Daher lässt sich vielfach der Aufbau mathematischer Begriffssysteme nur explikativ, letztlich nurüber sprachliche Definition gewährleisten “ (Maier 2006, S. 15, Kursivsetzung und Hervorhebungen von mir).
Wichtig ist also, dass den Schülern die Möglichkeit gegeben wird, anschauliche Darstellungen in sprachliche Äußerungen zu überführen (vgl. Maier; Schweiger 1999, S. 87).
Frühere Ansätze gingen von einer defizitären Sichtweise des kindlichen Denkens aus, d.h. dass dieses hauptsächlich über Defizite des Denkens im Vergleich zu den Erwachsenen definiert wurde. Piaget aber legte den Blickpunkt auf die kognitiven Fähigkeiten, „[...] was das Kind hat [...]“ (Wygotski 1964, S. 44), er beschrieb somit die „[...] qualitative Eigenart des kindlichen Denkens [...]“ (ebd.) (vgl. ebd.).
Piaget (1972) unterscheidet zwischen dem autistischen, egozentrischen und rationalen Denken:
Das autistische Denken (0 - 2./3. Lebensjahr) entspricht nicht der äußeren Wirklichkeit, „[...] sondern schafft sich selbst eine eingebildete oder eine Traumwirklichkeit [...]“ (Piaget 1972, S.50). Das autistische Denken ist rein bedürfnisbezogen ausgerichtet und kann vom Kind mittels Sprache nicht direkt verbalisiert werden (vgl. ebd.).
Auf das autistische Denken folgt das egozentrische Denken, das bis zum siebten bzw. achten Lebensjahr vorherrschend ist. Es ist hauptsächlich durch die Unfähigkeit gekennzeichnet die Perspektive einer anderen Person einzunehmen. Zum Beweis dieses Denkens führte Piaget den Drei-Berge-Versuch durch. In diesem sollen Kinder der entsprechenden Altersstufe verschiedene Blickwinkel einer Puppe auf einen Berg einnehmen und wiedergeben. Durch ihr egozentrisches Denken scheitern Kinder an dieser Aufgabe (vgl. Moser Opitz 2008, S. 44).
Da laut Piaget die Sprache vom Denken abhängig ist, entspricht dem egozentrischen Denken ihm zufolge eine egozentrische Sprache (vgl. Piaget 1972, S. 59): „Das Kind spricht so mit sich selbst, als ob es laut denkt“ (Piaget 1972 in Wygotski 1964, S. 56). Es folgt in der Entwicklung das rationale Denken, das auf Erfahrung basiert und einen sozialen und logischen Bezug aufweist. Dieses Denken entwickelt sich aufgrund einer Übernahme der Denkweise von Erwachsenen. Auf der Grundlage dieses Denkens wird laut Piaget dann eine „sozialisierte“ Sprache verwendet (vgl. Piaget 1972, S. 49f.). Während Piaget das Denken und Sprechen als individuelle Leistungen zu Beginn der Entwicklung charakterisiert, ist das Denken und Sprechen von Kindern nach dem sowjetischem Psychologen Wygotski bereits von Anfang an sozial ausgerichtet. Im Laufe der Entwicklung differenziert sich so nach Wygotski die soziale Sprache in eine egozentrische sowie eine kommunikative Sprache aus. Insofern beschreibt Wygotski einen entgegengesetzten Weg der Sprachentwicklung verglichen mit Piaget. Nach Wygotski ist die von ihm beschriebene egozentrische Sprache insofern entscheidend, als dass aus ihr eine „innere Sprache“ (Wygotski 1986, S. 42) hervorgeht. Diese Sprache des Kindes dient wiederum als Grundlage sowohl von autistischem als auch logischem Denken (vgl. ebd.). Außerdem stellt diese 'innere Sprache' eine Art Bindeglied zwischen Denken und Sprechen dar, mithilfe derer Gedanken in Worte und Worte in Gedanken übersetzt werden (vgl. ebd., S. 301).
Im Jahr 1974 fand in Nairobi ein u.a. von der UNESCO unterstütztes Symposium statt, das zum Ziel hatte, den Zusammenhang zwischen sprachlichem und mathematischem Lernen herauszufinden. Dabei wurde der Mathematikunterricht in vielen verschiedenen Ländern in den Blick genommen. In einigen Ländern wird der Unterricht durchgängig in der Nationalsprache gehalten, welche jeweils die Muttersprache des Großteils der Bevölkerung ist. In anderen Ländern besucht die Mehrzahl der Kinder hingegen einen Mathematikunterricht, der nicht ihrer Muttersprache entspricht. Das Symposium sprach hierzu eine Empfehlung für das Erlernen und die Förderung der jeweiligen Unterrichtssprache aus (vgl. Maier; Schweiger 1999, S. 72).
Deutschland gehört, abgesehen von den Bilingualen Schulen, überwiegend der erstgenannten Gruppe an. Die meisten Schüler lernen Mathematik in ihrer Muttersprache, allerdings trifft dies für Schüler mit einem Migrationshintergrund nicht zu. Meier und Schweiger urteilen daraus: „Eine sensible Betrachtung der daraus entstehenden Probleme ist daher pädagogisch geboten“ (ebd., S. 73). Dale und Cuevas (1987) ziehen aus ihrer Studie über das Lernen von Mathematik- mit Schülern in englischer Sprache, deren Muttersprache aber nicht Englisch ist - das Fazit, dass Mathematiklernen und sprachliche Förderung eng miteinander verzahnt sein sollten: „Die Schüler sollen im Unterricht nicht nur mittels Sprache Mathematik lernen, sondern auch mittels Mathematik sprachliche Förderung erfahren“ (ebd.).
[...]
1 Die Bevölkerungszahlen können durch Anfrage beim Statistischen Landesamt angefordert werden, E-Mail: Heidrun.Baldauf@stala.bwl.de
2 Als zentrale Übergangsschwellen bezeichnen sie: den Übergang von Elementar- zu Primarbereich (Einschulung), Überweisung an die Förderschulen und die Übergangsentscheidungen von der Grundschule zur weiterführenden Schule.
3 In dieser und allen folgenden Nennungen der Begriffe 'Schüler' und 'Vorschüler' ist die weibliche Form selbstverständlich stets eingeschlossen.
4 Als 'Modell' bezeichnet Maier (2006) „adäquate, manuelle zeichnerische oder mentale Handlungen“ (Maier 2006, S. 15), die der Lehrer auswählen muss, um „das Entdecken relevanter Beziehungen und Strukturen“ (ebd.) zu entwickeln.
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