Diplomarbeit, 2010
210 Seiten, Note: Sehr gut
1. Einleitung
2. Begriffsdefinitionen
2.1 Sexualität
2.2 Sexualpädagogik
2.2.1 Die traditionell-repressive Sexualpädagogik
2.2.2 Die politisch-emanzipatorische Sexualpädagogik
2.2.3 Die affirmative oder vermittelnd-liberale Sexualpädagogik
2.2.4 Die individuell-emanzipatorische Sexualpädagogik
2.3 Zum Verständnis von „Behinderung“
2.3.1 Die Definition der Weltgesundheitsorganisation
2.3.2 SGB IX
2.3.3 Soziale Erklärungsansätze
2.4 Der Begriff „Geistige Behinderung“
2.4.1 Schwierigkeiten einer Begriffsdefinition
2.4.2 Fachspezifische Sichtweisen
2.5 Eigene Arbeitsdefinition
3. Identität
3.1 Begriffliche Annäherung
3.2 Identitätskonzept
3.2.1 Stigma, Stigmatisierung und Stigma-Identitätsthese
3.2.2 Identitätsmodell nach Frey
3.2.3 Bedeutung von Freys Modell für die Persönlichkeitsentwicklung
3.2.4 Entstigmatisierungstechniken und Stigmamangement
3.2.5 Zwischenfazit
3.3 Sexuelle Identität
3.3.1 Geschlechtsidentität
3.3.2 Sexuelle Orientierung
3.3.3 Zwischenfazit zur sexuellen Identität
4. Sexualität allgemein
4.1 Sexualtheorien
4.1.1 Freud
4.1.2 Kinsey
4.1.3 Focault
4.1.4 Kentler
4.2 Sexualentwicklung
4.2.1 Kindheit
4.2.2 Jugendalter
4.3 Familie als Ort der Sozialisation
4.3.1 Die Familie als ökologisches System nach Bronfenbrenner
4.3.2 Sozialisation in der Familie nach Hurrelmann
4.3.3 Sexuelle Sozialisation in der Familie
4.4 Bedeutung der Sexualität für erwachsene Menschen
4.5 Sexualität – ein Grundrecht
5. Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung
5.1 Sexualität und sogenannte geistige Behinderung nach Sporken
5.2 Unterschiede und mögliche Problematiken in der Sexualentwicklung
5.2.1 Kindheit
5.2.2 Jugendalter
5.3 Sexualität im Erwachsenenalter
5.4 Sexualassistenz und Sexualbegleitung als Möglichkeit sexuellen Erlebens
5.5 Vorurteile zur Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung
6. Synthese
7. Leitkonzepte der Rehabilitationspädagogik
7.1 Normalisierungsprinzip
7.2 Selbstbestimmung
7.3 Empowerment
8. Wohnheim und Sexualität
8.1 Exkurs I: Die Bedeutung des Wohnens für den Menschen
8.2 Gegenwärtige Wohnsituationen
8.3 Wohnformen
8.3.1 Vollstationäre Wohnformen
8.3.2 Teilstationäre Wohnformen
8.3.3 Ambulante Wohnformen
8.3.4 Zwischenfazit
8.4 Einschränkungen der Sexualität durch strukturelle Bedingungen
8.5 Studien zur Selbstbestimmung und Sexualität im Wohnheim
8.5.1 Sonnenberg (2004)
8.5.2 Walter und Hoyler-Herrmann (1987)
8.5.3 Seefeld (1997)
8.5.4 Fegert et al. (2006)
9. Zwischenfazit
10. Exkurs II: Community Living in Schweden
11. Unterstützung der Selbstbestimmung und sexualpädagogische Leitlinien
11.1 Unterstützung der Selbstbestimmung
11.2 Sexualpädagogische Leitlinien
11.2.1 Allgemeine Voraussetzungen auf der Institutionsebene
11.2.2 Grundlegender Leitgedanke
11.2.3 Verständnis von Sexualität
11.2.4 Sexualpädagogische Ziele
11.2.5 Sexualpädagogische Förderung und Begleitung
11.2.6 Gestaltung des Wohnraumes
11.2.7 Sexualpädagogisches Handeln der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
11.2.8 Elternarbeit
11.2.9 Sexualpädagogische Themenbereiche
12. Ausblick
Bibliographie
Abbildungen
A.1 Das bio-psycho-soziale Modell der ICF
A.2 Interaktionales Modell der Genese und der Prozess geistiger Behinderung
A.3 Die Stigma-Identitäts-These
A.4 Modifiziertes Identitätsmodell nach Frey
Das Thema „Sexualität und sogenannte geistige Behinderung“ scheint in unserer Gesellschaft, in einer Zeit, wo die Genetik und die Pränataldiagnostik sich stets weiterentwickeln und es sich zur Aufgabe gemacht haben, nach ihrer Sichtweise „gesundes“ und „leistungsfähiges“ Leben zu produzieren, eine besondere Brisanz in sich zu bergen. Man bekommt das Gefühl, dass hierdurch wieder verstärkt abwehrende Haltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen entstehen und neue Barrieren im Umgang aufgebaut werden, die nur schwer überwunden werden können. Betrachtet man die breite Öffentlichkeit, erscheint es so, als würden sich insbesondere Sexualität und Behinderung diametral gegenüber stehen, da hierbei gleich zwei von der Gesellschaft tabuisierte Themen in einen Kontext gestellt werden.
Mein persönliches Interesse an diesem Themengebiet ist insbesondere durch Gespräche mit Dritten im Alltag entstanden. Eine Bekannte berichtete mir von ihrer erwachsenen Mitbewohnerin, die sehnlichst ein Kind habe wolle und auf Wunsch ihrer Eltern regelmäßig ein Kontrazeptiva einnehme, mit der Begründung, dass sie davon schwanger werden würde. In diesem Fall blieb der Frau eine Aufklärung über Verhütung verwehrt, und eine selbstbestimmte Entscheidung wurde unterdrückt. Durch ein vertrauliches Gespräch mit einer Angestellten in einem Wohnheim für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung erfuhr ich, dass dies kein seltener Fall sei und Sexualität auch in ihrer Einrichtung negiert werden würde. Über diese und weiteren Erfahrungsberichte habe ich Bereiche ausgemacht, in denen die Sexualität dieser Menschen meiner Ansicht nach eine „Sonderbehandlung“ erfahren kann. Zum einen kann dies in der Familie, zum anderen in Wohnheimen der Fall sein.
Angeregt durch die Betrachtungen auf gesellschaftlicher Ebene habe ich damit begonnen, den pädagogischen Fachdiskurs bezüglich der Materie „Sexualität und sogenannte geistige Behinderung“ zu betrachten, welcher sich völlig anders darstellte. Innerhalb der Rehabilitationspädagogik hat sich mittlerweile ein Paradigmenwechsel vollzogen, der sich von einer Defizitorientierung abwendet und dem es darum geht, die Stärken des Individuums in allen Lebensbereichen zu fördern – dies impliziert auch den Lebensbereich Sexualität.
Der öffentliche Fachdiskurs behandelt die Thematik „Sexualität und sogenannte geistige Behinderung“ in der Fachliteratur, auf Tagungen und Kongressen. In der Fachliteratur herrscht allgemein Konsens darüber, dass Sexualität auch für Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, ein selbstverständliches Grundbedürfnis und Grundrecht ist (Walter 2005). Es wird hier explizit die Selbstbestimmung im Lebensbereich Sexualität für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung gefordert. In den gegenwärtigen, insbesondere sexualpädagogischen, Diskursen geht es nicht mehr um eine Anerkennung der sexuellen Bedürfnisse für den betreffenden Personenkreis, sondern um weiterführende Themenfelder wie die Umsetzung von ethischen Rechten, Sexualassistenz und Sexualbegleitung, Elternschaft und sexualisierte Gewalt (vgl. Specht 2008, S. 295). Problematiken werden hier weniger in einer Diskrepanz zwischen Sexual- und Intelligenzalter wahrgenommen als in einer Verhinderung der Sexualität durch äußere Faktoren.
Dennoch gestaltet sich die Umsetzung des theoretischen Diskurses in die Praxis als schwierig. Dies hat sich mir unter anderem an meinen Recherchen bezüglich der vorliegenden Arbeit gezeigt. Um vertiefende Einblicke in die sexualpädagogische Arbeit von Institutionen zu bekommen, bat ich verschiedenen Einrichtungen um ihre sexualpädagogischen Konzeptionen. Die Rückmeldungen waren niederschmetternd, die meisten meiner Anfragen wurden mit ausschweifenden Begründungen wie „unser Klientel ist zu schwer behindert“, „wir brauchen keine Konzeptionen, wir machen das so“ und „wir haben keine, uns sitzt der katholische Bischof im Nacken“ abgelehnt.
Dieses Konglomerat aus persönlichen Erfahrungen und Recherchen, die unterschiedliche Wahrnehmung der Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung in der Gesellschaft und im pädagogischen Fachdiskurs sowie die anscheinend bestehende Kluft zwischen sexualpädagogischer Theorie und der Praxis in Wohnheimen waren ausschlaggebend für das Forschungsanliegen dieser Arbeit.
In meiner Diplomarbeit werde ich die Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung unter Fokussierung der Lebenssituation im Wohnheim untersuchen. Es handelt sich hierbei um eine theoriegeleitete Arbeit, mit dem Ziel, sexualpädagogische Leitlinien für das pädagogische Handeln im Wohnheim zu erstellen, welche das Leben einer selbstbestimmten Sexualität für die dort lebenden Menschen ermöglichen und unterstützen sollen. Im Rahmen dieses Vorhabens soll die Fragestellung „Welche Bedeutung hat Sexualität für die menschliche Entwicklung und für die Persönlichkeitsentwicklung für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung insbesondere?“ bearbeitet werden, da diese die Basis für die Entwicklung der Leitlinien darstellen wird. Des Weiteren ist die Fragestellung insofern von Bedeutung, als das die Sexualität von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, in unserer Gesellschaft mit Vorurteilen behaftet ist und eine Sonderstellung einnimmt. Ein weiteres Ziel dieser Arbeit soll es deswegen sein, deutlich zu machen, dass Sexualität für die Entwicklung und Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen wesentlich ist, ganz gleich, ob „behindert“ oder „nicht behindert“. Hierbei sollen Faktoren, die die Persönlichkeitsentwicklung und somit auch die Entfaltung der Sexualität eines Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung erschweren, aufgezeigt werden. Insgesamt soll diese Arbeit zu einer weiteren Enttabuisierung der Sexualität des betreffenden Personenkreises beitragen und ihr Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität im Wohnheim stärken.
Im Folgenden möchte ich die Vorgehensweise in Bezug auf die Fragestellung erläutern. Um die zentrale Fragestellung adäquat untersuchen zu können, erfolgt in Kapitel zwei eine Definition der wesentlichen Begriffe „Sexualität“, „Sexualpädagogik“, „Behinderung“ und „Geistige Behinderung“. Da diese Begrifflichkeiten die Basis dieser Arbeit darstellen, werden sie vorgestellt und die relevanten Definitionen bestimmt. Der Fokus liegt hierbei auf dem Begriff „Geistige Behinderung“, da er die in dieser Arbeit zu untersuchende Personengruppe beschreibt. Es wird anhand der Betrachtung der Schwierigkeit einer Begriffsdefinition und fachspezifischer Sichtweisen hinsichtlich „geistiger Behinderung“ aufgezeigt werden, dass es zu diesem Begriff keinen allgemeingültigen Konsens gibt. Abschluss des Kapitels bildet eine eigene Arbeitsdefinition der Begriffe „Geistige Behinderung“ und „Behinderung“, in der ich insbesondere mein Verständnis von Behinderung wiedergeben werde. Zudem begründe ich, warum ich mich dafür entschieden habe, für die betreffende Personengruppe die Bezeichnungen „Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung“ und „Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden“ zu verwenden.
Daran anschließend werde ich mich in Kapitel drei intensiv mit dem Begriff Identität auseinandersetzen. Nach einer begrifflichen Annäherung, in der unterschiedliche definitorische Zugänge aufgezeigt werden, werde ich auf auf die Begriffe Stigma, Stigmatisierung und Stigma-Identitätsthese eingehen. In diesem Kapitel wird gezeigt werden, welchen negativen Zuschreibungsprozessen seitens der Gesellschaft Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung bezüglich ihrer Identität im Allgemeinen und im Hinblick auf ihre Sexualität im Besonderen, entgegentreten müssen. Zudem ist hiermit die Basis für das darauf folgende soziologische Identitätsmodell von Frey geschaffen. Dieses Identitätskonzept fokussiert die Interaktion des Individuums mit der Umwelt. Eine solche Betrachtungsweise von Identität ist für die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung von Bedeutung, da es die gesellschaftliche Komponente der Identitätsbildung miteinbezieht. Es wird deutlich werden, dass Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, sich in Bezug auf die stetige Ausbildung ihrer Identität und der Entwicklung einer sexuellen Identität im Spannungsfeld zwischen persönlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Normen und Anforderungen befinden. Nur durch die Darstellung der Wechselseitigkeit von Identität und Gesellschaft kann die Situation von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung akkurat und mehrdimensional abgebildet werden.
Dass Stigmatisierungsprozesse jedoch keine negativen Auswirkungen auf Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung haben müssen, wird im Kapitel „Entstigmatisierungstechniken und Stigmatechniken“ dargestellt werden. Mit einem Zwischenfazit, welches die Bedeutung des Identitätskonzeptes von Frey bezugnehmend auf die Sexualität und die Persönlichkeitsentwicklung dieser Menschen erläutert, schließt das Kapitel und leitet in die sexuelle Identität des Menschen über. Mit dieser spezifizierten Sichtweise von Identität und deren Verortung in der menschlichen Persönlichkeit schließt das Kapitel.
Im Anschluss daran folgt Kapitel vier, welches die Sexualität im Allgemeinen behandelt. Zuerst wird auf unterschiedliche Sexualtheorien eingegangen werden, um deutlich zu machen, aus wie vielen unterschiedlichen Perspektiven das Konzept der Sexualität betrachtet werden kann. Die Darstellung verschiedener sexualtheoretischer Ansätze verortet Sexualität in unterschiedlichen Diskursen und zeigt auf, dass Sexualität auf vielfältige Art und Weise bereits über Jahre mit dem Menschsein verbunden ist. Diese Betrachtung ist für die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit einer sogenannten Behinderung insofern notwendig, als dass – je nach sexualtheoretischer Perspektive – auch die Sexualität dieser Menschen anders wahrgenommen wird, was sich im täglichen Umgang in der pädagogischen Praxis auswirken kann. Darauf folgt die Betrachtung der Sexualentwicklung des Menschen in der Kindheit und im Jugendalter, da sich hier bedeutende sexuelle Entwicklungsschritte vollziehen, welche die Basis für das spätere sexuelle Erleben im Erwachsenenalter bilden. Eine Analyse der sexuellen Entwicklung ist somit für die menschliche Entwicklung und die Persönlichkeitsentwicklung unausweichlich.
Da sich diese Lebensphasen in der Regel in der Familie vollziehen, wird anschließend die Familie als Sozialisationsinstanz, unter besonderer Berücksichtigung der sexuellen Sozialisation, betrachtet werden. Hierbei soll herausgestellt werden, wie sich diese idealtypisch in der Familie vollziehen kann. Im Anschluss daran wird auf die Sexualität im Erwachsenenalter eingegangen werden, denn auch in dieser Lebensphase gestaltet sich die Sexualität eines Menschen noch aus. Das Kapitel schließt mit der Betrachtung von Sexualität als Grundrecht. Dieser Teil der Arbeit bietet die Grundlage zur Untersuchung der Sexualität von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden. Mit diesem Grundverständnis der Sexualität im regulären gesellschaftlichen Kontext können mögliche Unterschiede im Hinblick auf die zu betrachtende Personengruppe aufgezeigt werden.
In Kapitel fünf wird die Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung analysiert werden. Begonnen wird mit dem Verständnis von Sexualität nach Paul Sporken, da dieses in Bezug auf die Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung einen hohen Bekanntheitsgrad aufweist. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden Unterschiede und mögliche Problematiken aufgezeigt werden, welche in der Sexualentwicklung im Kindes- und Jugendalter des betreffenden Personenkreises entstehen können. Hierbei soll ebenfalls die Bedeutung der Familie erläutert werden; fokussiert werden insbesondere äußere Störfaktoren, die die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen, der als geistig behindert bezeichnet wird, und eine positive Entwicklung von Sexualität einschränken und verhindern. Dies gilt ebenfalls für die anschließende Sexualität im Erwachsenenalter. Darauf folgt die Vorstellung der Sexualassistenz und Sexualbegleitung, welche beide Möglichkeiten des selbstbestimmten sexuellen Erlebens für erwachsene Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung darstellen. Das Kapitel schließt mit dem Aufzeigen von Vorurteilen gegenüber der Sexualität des betreffenden Personenkreises, da diese in Bezug auf die pädagogische Praxis und in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld und Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung Barrieren darstellen.
Im Anschluss folgt in Kapitel sechs eine Synthese, die deutlich macht, welche Bedeutung die bisherigen Kapitel für die Fragestellung dieser Arbeit nach der Bedeutung der menschlichen Entwicklung und die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung insbesondere haben. Das darauf folgende Kapitel sieben behandelt Leitkonzepte der Rehabilitationspädagogik. Hierzu gehören Normalisierung, Selbstbestimmung und Empowerment. Diese Prinzipien sollen vorgestellt werden, da sie für die Verwirklichung einer selbstbestimmten Sexualität für Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, wesentlich sind.
In Kapitel acht komme ich zu der Analyse der Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Wohnheim. Nach einem Exkurs, der auf die Bedeutung des Wohnens für den Menschen eingeht, beschreibe ich anhand aktueller Zahlen die gegenwärtigen Wohnsituationen dieser Menschen mit Fokussierung auf Wohnheime. Im Anschluss daran erfolgt ein Überblick über die derzeit bestehenden Wohnformen, um im direkten Vergleich besser deutlich zu machen, welche Charakteristika für Wohnheime spezifisch sind. Detailliert sollen strukturelle Gegebenheiten aufgezeigt werden, welche die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung einschränken und einer selbstbestimmten Sexualität diametral entgegenstehen. Mit Hilfe der empirischen Studien von Sonnenberg (2004), Walter und Hoyler-Herrmann (1987), Seefeld (1997) und Fegert et al. (2006) werde ich aufzeigen, dass das Leben von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, dort stark fremdbestimmt ist und eine freie Persönlichkeitsentwicklung verhindert. Der Fokus liegt hierbei selbstverständlich auf dem Lebensbereich der Sexualität.
Anschließend wird in Kapitel neun ein Zwischenfazit gezogen, welches die wichtigsten Erkenntnisse der Studien zur Selbstbestimmung und Sexualität, sowie ihrer Einschränkungen in Wohnheimen herausstellt. Ebenso wird ein Überblick über die tatsächliche Anwendung der Leitkonzepte der Rehabilitationspädagogik gegeben werden. Mit dem Exkurs in Kapitel zehn wird mit dem Modell des Community Living in Schweden eine Alternative zu traditionellen Wohnsystemen der Behindertenhilfe vorgestellt werden. Es wird aufgezeigt, dass die Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung dort in allen Lebensbereichen voll am gesellschaftlichen Leben teilhaben, was sich positiv auf die menschliche Entwicklung/Persönlichkeitsentwicklung auswirkt.
Darauf folgt in Kapitel elf zunächst eine Zusammenfassung der bisher wichtigsten Ergebnisse bezüglich der Fragestellung. Es werden Handlungsansätze für die Unterstützung der Selbstbestimmung im Allgemeinen aufgezeigt, da diese die Basis für eine sexuelle Selbstbestimmung bildet. Im Anschluss daran erfolgen sexualpädagogische Leitlinien für die soziale Arbeit im Wohnheim. Zum Abschluss erfolgt in Kapitel zwölf ein Ausblick in dem die wichtigsten Erkenntnisse und Ergebnisse dieser Arbeit hinsichtlich der Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung festgehalten werden. Neben dem Aufzeigen von Problemfeldern wird darauf eingegangen, durch welche Maßnahmen eine selbstbestimmte Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung unterstützt werden kann.
Im Appendix I finden sich schematische Darstellungen einiger in der Arbeit genauer vorgestellter Modelle, auf diese wird im Verlauf gesondert hingewiesen werden. Appendix II verzeichnet die verwendete Literatur sowie eine Liste einiger der für diese Arbeit relevanten Gesetze.
Um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik der Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung zu ermöglichen, werde ich im Folgenden grundlegende Begriffe dieser Arbeit erläutern. In diesem Zusammenhang findet eine Vorstellung und Eingrenzung der zentralen Begriffe „Sexualität“, „Sexualpädagogik“, „Behinderung“ und „Geistige Behinderung“ statt. Eine Abgrenzung der Begrifflichkeiten und eine Verständigung über die zugrunde liegenden Kategoriedefinitionen sind wichtig, um die Arbeit in den bestehenden Diskurs einzugliedern und das zu diskutierende Forschungsfeld zu bestimmen.
Bevor Sexualität im Zusammenhang mit sogenannter geistiger Behinderung behandelt werden kann, muss der Begriff der Sexualität näher bestimmt werden. Die aktuelle sexualwissenschaftliche und pädagogische Literatur betont, dass sich Sexualität durch ihre Vielfalt kennzeichnet (vgl. Ortland 2008, S. 16). Anders als im 19. Jahrhundert, als der Begriff erstmals im Bezug auf den Menschen angewandt wurde und sich ausschließlich auf den Koitus zum Zwecke der Fortpflanzung bezog (vgl. Raithel, Dollinger & Hörmann 2009, S. 281), ist der Begriff der „Sexualität“ in der heutigen Zeit nicht mehr derart eingegrenzt. Dies wird unter anderem an der Definition der amerikanischen Sexualtherapeutin Offit deutlich:
Sexualität ist, was wir daraus machen: eine teure oder billige Ware, Mittel der Fortpflanzung, Abwehr der Einsamkeit, eine Kommunikationsform, eine Waffe der Aggression (Herrschaft, Macht, Strafe, Unterwerfung) , ein Sport, Liebe, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse, das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, ein Ausdruck der Zuneigung (mütterlicher, väterlicher, brüderlicher, oder schlicht menschlicher Verbundenheit), eine Art der Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem All, mystische Ekstase, indirekter Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Art, menschliches Neuland zu erkunden, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Krankheit oder Gesundheit, oder einfach eine sinnliche Erfahrung. (Offit 1984, S. 16).
Sexualität kann also weitaus mehr umfassen als bloße Genitalsexualität. Entscheidend ist, was beispielsweise das Individuum, ein bestimmter Kulturkreis oder unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen als „Bedeutungskern“ für sich definieren (vgl. Sielert 2005, S. 38). Sexualität erfüllt in der Gegenwart für den Menschen also mehrere Funktionen. Aus sexualwissenschaftlichen Konzeptionen lassen sich vier Sinnkomponenten von Sexualität bestimmen, welche miteinander in Verbindung stehen und sich wechselseitig bedingen: der Identitätsaspekt, der Beziehungsaspekt, der Lustaspekt und der Fruchtbarkeitsaspekt. Ebenso spielt der Kommunikationsaspekt eine Rolle. Neben diesen eher als positiv zu bewertenden Aspekten, kann Sexualität auch negative Dimensionen wie Macht und Last enthalten (zum Beispiel bei sexueller Hörigkeit oder Gewalt) (vgl. Raithel et al. 2009, S. 281). Frey liefert eine Definition von Sexualität, die die Gesichtspunkte Identität, Beziehung, Lust und Fruchtbarkeit enthält:
Sexualität ist eine Lebensenergie, die Menschen von der Geburt bis zum Tod begleitet. In unterschiedlichen Lebensphasen stehen dabei unterschiedliche Bedürfnisse und Ausdrucksweisen im Vordergrund. Geschlechtsidentität als Mädchen oder Junge, Mann oder Frau, die eigene Körperlichkeit, Kontaktund Beziehungsgestaltung (in hetero- wie in homosexuelle Beziehungen), Lusterfahrung und der Umgang mit Fruchtbarkeit sind Grundthemen. Gelebte Sexualität ist immer auch bestimmt von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der individuell erfahrenen Sozialisation und Biographie, etwa bezüglich Geschlechterrollen, Werten und Normen, oder auch dem Zugang zu Information usw. (Frey 2002, S. 103f.)
Diese Definition hebt die Selbstfindungsfunktion von Sexualität für den Menschen hervor. Zudem wird hier der Integrationsaspekt von Sexualität in die Persönlichkeit des Menschen deutlich. Es wird ersichtlich, dass die Sexualität ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen ist und dass sie alle Bereiche des Lebens prägt. Ebenso ist Sexualität ein wesentliches Element bei der „Ausbildung der Identität und der Entwicklung der Persönlichkeit“ eines Menschen (Haeberle 2005, S. 1).
Die Definition von Frey zeigt weiter auf, dass Sexualität ein immerwährender Bestandteil im Leben eines Menschen ist. Die Lebenshilfe Salzburg hat dieses Faktum in ihren sexualpädagogischen Leitgedanken treffend formuliert: „Sexualität ist ein Wesensmerkmal des Menschen; ohne Sexualität gibt es kein Menschsein!“ (Plaute 2006, S. 507). An der Definition von Frey fällt auf, dass das Ausleben und Erleben von Sexualität von äußeren Rahmenbedingungen abhängt. Somit ist Sexualität eine lebenslange Entwicklungsaufgabe, welche sich im Spannungsfeld individueller Vorlieben und Bedürfnisse und gesellschaftlichen Anforderungen zu befinden scheint. Aufgabe des Individuums ist es, in diesem Spannungsfeld seine sexuelle Identität auszubilden (vgl. Ortland 2008, S. 17). Raithel et al. äußern sich bezüglich dieser Thematik folgendermaßen:
Der Sexualität kommt als personal verantwortete, menschliche Grundbefindlichkeit ein Eigenwert zu, und sie bedarf der Integration in die Gesamtheit der Person. Obwohl es sich hier scheinbar um ein ganz individuelles Phänomen handelt, ist sie nicht rein privater Natur, sondern auch in gesellschaftliche Zusammenhänge verflochten. (Raithel et al. 2009, S. 281)
Die folgende Arbeit baut auf Freys Definition von Sexualität auf, da es ihr gelingt, die für das Individuum wesentlichen Kernthemen von Sexualität in ihrer Definition zu vereinen. Sie zeigt auf, dass Sexualität mehr umfasst als einen Koitus mit dem Ziel der Fortpflanzung. In ihrer Betrachtung von Sexualität weist sie ebenso auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hin, welche sich, insbesondere für Menschen die als geistig behindert bezeichnet werden, als ein einflussreicher Faktor bezüglich der eigenen Sexualität erweisen. Welche Rolle gesellschaftliche Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung und somit auf die Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung spielen, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit deutlich werden. Zunächst gehe ich auf den Begriff der Sexualpädagogik ein, da dieser einen weiteren grundlegenden Begriff dieser Arbeit darstellt.
Ein Ziel dieser Arbeit ist es, sexualpädagogische Leitlinien für die soziale Arbeit im Wohnheim zu erstellen. Deswegen möchte ich im Folgenden erläutern, was unter dem Begriff der Sexualpädagogik zu verstehen ist. Sielert bezeichnet die Sexualpädagogik als „eine Aspektdisziplin der Pädagogik, welche sowohl die sexuelle Sozialisation als auch die intentionale erzieherische Einflussnahme auf die Sexualität von Menschen erforscht und wissenschaftlich reflektiert“ (Sielert 2008, S. 39). Sexualpädagogik setzt sich als Forschungs- und Anwendungsfeld also mit der unabsichtlichen und absichtlichen Einflussnahme auf die psychosexuelle Entwicklung des Menschen auseinander und fokussiert diesbezüglich alle Lebensphasen. Hierbei sind insbesondere Emanzipationsprozesse und Selbstbestimmung für die Sexualität des Individuums von enormer Wichtigkeit (vgl. Specht & Walter 2007, S. 309).
Der Begriff der Sexualpädagogik kann im Hinblick auf erwachsene und ältere Menschen als nicht ganz angemessen erscheinen, allerdings haben sich andere Begriffe wie Sexualandragogik oder Sexualgerontagogik laut Sielert aufgrund einer zu geringen Beachtung der sexuellen Entwicklung in diesen Lebensabschnitten und einer noch nicht ausgereiften Theorie bislang nicht durchgesetzt. Nach einem neueren Verständnis erstreckt sich die Pädagogik jedoch über alle Lebensbereiche, so dass die Sexualpädagogik durchaus auch auf erwachsene und ältere Menschen angewendet werden kann. Gegenstand der Sexualpädagogik ist der Mensch als ein auf Erziehung angewiesenes Sexualwesen (vgl. Sielert 2008, S. 39ff.). Ein wesentlicher Aufgabenbereich dieser Disziplin in der Gegenwart kann wie folgt zusammengefasst werden:
Sexualpädagogik leistet heute ihren Teil zur Herstellung einer sozialen Infrastruktur, die dem modernen Individuum den Erwerb von Dispositionen und Handlungskompetenzen ermöglicht, die es zur Entwicklung seiner sexuellen Identität notwendig braucht. (Sielert 2008, S. 45)
Das bedeutet, dass Individuen in der sexualpädagogischen Praxis auf ihrem Weg zu einer selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Sexualität umfassend unterstützt und begleitet werden. Als zentrale Themenfelder der Sexualpädagogik gelten unter anderem: Körper- und Sexualaufklärung, Beziehungen, Partnerschaft, Verhütung, Kinderwunsch, Sinnes- und Körperwahrnehmung sowie sexualisierte Gewalt (vgl. Specht & Walter 2007, S. 309).
Im Folgenden sollen die vier Hauptrichtungen der Sexualpädagogik vorgestellt werden. Dabei soll deutlich gemacht werden, auf welcher dieser Richtungen die vorliegende Arbeit gründet. Es wird auf die ersten drei der folgenden Hauptansätze eingegangen werden, da diese unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Aktualität zum Teil noch die Handlungsbasis von pädagogischem Personal bilden. Diese Strömungen lassen sich wie folgt unterteilen:
- traditionell-repressiv
- affirmativ bzw. vermittelnd-liberal
- emanzipatorisch
- polititsch
- individuell
- skeptisch
Diese Positionen haben sich seit den 1950er-Jahren im deutschsprachigen Raum entwickelt und sollen im Folgenden schemenhaft nach Raithel et al. wiedergegeben werden. Die skeptische Sexualpädagogik bleibt in den meisten Überblicken unberücksichtigt (vgl. Raithel et al. 2009, S. 284) und soll hier auch nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden, da sie für diese Arbeit keine relevante Arbeitsgrundlage darstellt.
Hier finden vor allem traditionelle Werte und Normen von Sexualität ihre Anwendung. Diese werden von staatlicher und kirchlicher Seite gestützt. Sexualität dient in der traditionell-repressiven Sexualpädagogik primär der Fortpflanzung in der Ehe. Ziel dieser sexualpädagogischen Hauptrichtung ist die Kontrolle des Sexualtriebes durch eine auf Ehe- und Familienfähigkeit reduzierte Erziehung. Die Sexualität der Menschen wird hier als „endogentriebdeterminierend festgelegt und als ein biologisch bedingtes Fixum behandelt“ (Raithel et al. 2009, S. 285). Dies hat zur Folge, dass jegliche Form von lustbetonter Sexualität unterdrückt und abgewehrt wird. Kindern und Jugendlichen wird ihre Sexualität abgesprochen, und es wird versucht, eine Konfrontation mit Sexualität zu vermeiden. Frühkindliche sexuelle Spielereien sind untersagt, und Selbstbefriedigung wird massiv sanktioniert.
Charakteristisch für diese Form der Sexualpädagogik ist weiterhin die „Mystifizierung und Umschreibung sexueller Tatbestände“ sowie die „Unterstützung zur verantwortungsbewussten Liebes-, Ehe- und Familienfähigkeit“ (ebd., S. 285). Sexuelle Abstinenz wird ebenso wie die Erhaltung tradierter Geschlechtsstereotypen gefördert und unterstützt. Institutionalisierte Sexualerziehung wird von der traditionell-repressiven Sexualpädagogik strikt abgelehnt, da sie eine seelische Vergewaltigung von Kindern und Jugendlichen und/oder eine Stimulierung und Verlockung darstelle (ebd., S. 286).
Diese Hauptrichtung stellt sozusagen die Gegenposition zur traditionell-repressiven Sexualpädagogik dar. Sie ist in den 1960er-Jahren als Antwort auf die sexualfeindliche Sexualpädagogik entstanden. Diese politische Position der Sexualpädagogik fordert die Befreiung des Individuums aus jeglichen Formen gesellschaftlichen Zwangs und die Einbeziehung sexueller Emanzipation in gesellschaftliche Umwandlungsprozesse (vgl. Raithel et al. 2009, S. 286). Sexuelle sowie gesellschaftliche Emanzipation sind das primäre Ziel dieser sexualpädagogischen Hauptrichtung. Es gilt Unterdrückung, Bevormundung, Rollenstereotype und Zwänge abzubauen. Ebenso soll eine Entstigmatisierung von Randgruppen erreicht werden. Sexualität ist hier ein sozial bedingter Teil menschlichen Lebens. Sie wird als Ergebnis von Sozialisationsprozessen angesehen und somit als erlernbar bestimmt. Sexualität hat für den Lustgewinn und damit auch für soziale Beziehungen einen hohen Stellenwert. Diese sexualbejahende Form der Sexualpädagogik möchte erreichen, dass Jugendliche ihre Sexualität selbstbestimmt leben können. Bedingung hierfür ist ein angstfreies Klima, in dem untereinander offen über alle Facetten von Sexualität kommuniziert werden kann (ebd., S. 287f.).
Diese Richtung stellt sozusagen den Mittelweg der zuvor genannten beiden extremen sexualpädagogischen Ausrichtungen dar. Sexualität wird als triebbestimmter und zu kultivierender Verhaltensbereich definiert. Sie wird zwar als Ergebnis von Sozialisationsprozessen gesehen, gilt jedoch auch als durch genetische Anlagen vorgegeben. Liebe kann erst entstehen, wenn der Sexualtrieb kultiviert wurde und beherrscht wird. Somit sollte nicht das Lustprinzip im Zentrum des Lebens stehen. Sexualität wird nicht auf den Fortpflanzungsaspekt reduziert, jedoch wird sie restriktiv gehandhabt, indem sie auf Heterosexualität beschränkt ist und die Fortpflanzungsfunktion nur innerhalb einer Ehe vollzogen werden darf (vgl. Raithel et al. 2009, S. 288). Mit der Beschränkung auf
Heterosexualität wird die Zweigeschlechtlichkeit als anzustrebendes Ideal aufrechterhalten. Es werden traditionelle Geschlechterrollen tradiert, statt eine individuelle Entwicklung der Geschlechtsidentität zu unterstützen.
Diese Form der Sexualpädagogik wurzelt in der politisch-emanzipatorischen Ausrichtung. Der Fokus richtet sich hierbei auf das Individuum (vgl. Raithel et al. 2009, S. 289). Sie distanziert sich jedoch von einer Politisierung der Sexualerziehung und stellt die „Individualisierung sexueller Erfahrungswelten“ in den Mittelpunkt:
Sexualität wird als sinnvielfältige Lebensenergie bestimmt. Das bedeutet, dass Sexualität als eine Lebensenergie verstanden wird, welche in allen Lebensphasen körperlich, geistig-seelisch und sozial wirksam ist, als kulturell wie psychosozial bedingt gilt, nicht auf Geschlechter festgelegt ist und hetero-, homo- und bisexuelle Lebensformen umfasst. Sexualität wird als ein ambivalent besetzter Teil menschlichen Lebens begriffen. Sie ist einerseits schön, lustvoll-leidenschaftlich, sozial-fürsorglich, identitäts- und beziehungsfördernd, andererseits aber auch schmerzhaft, leidvoll, identitäts- und beziehungszerstörend. (Raithel et al. 2009, S. 290)
An dieser Definition wird deutlich, dass Sexualität durchaus auch „negative“ Komponenten enthält, die bei einer ganzheitlichen Betrachtung von Sexualität dazugehören und bei dieser Hauptrichtung von Sexualpädagogik berücksichtigt werden. Die sexuelle Identitätsentwicklung ist hier von grundlegender Wichtigkeit, es gilt sinnliche Körpererfahrungen zu sammeln und Selbstliebe zu erfahren, um ein positives Körper erleben und Selbstwertgefühl ausbilden zu können. Eventuell vorhandene Blockaden des Individuums sollen abgebaut werden, um „Sinnlichkeit, Zärtlichkeit und Emotionalität“ (ebd., S. 290) erleben und pflegen zu können.
Zentrale ethische Ausgangspositionen sind das Anrecht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, ebenso die „Achtung der eigenen Person, des Partners und des neuen Lebens“ (ebd., S. 290). Kennzeichnend für die individuell-emanzipatorische Sexualpädagogik ist unter anderem die Forderung nach einer geschlechtsspezifischen, emanzipatorischen, bedürfnis- und erfahrungsorientierten Jugendarbeit (ebd., S. 291). Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein wesentliches Moment dieser sexualpädagogischen Position.
Die vorliegende Arbeit gründet sich auf dem Verständnis der individuell-emanzipatorischen Sexualpädagogik, da diese die Anforderungen an einen modernen und zeitgemäßen Umgang mit Sexualität am ehesten erfüllt. Sie stellt das Individuum, die Entwicklung seiner Sexualität und die Ausbildung seiner sexuellen Identität in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Die in dieser Arbeit zu erstellenden sexualpädagogischen Leitlinien sollen insbesondere auf dieser sexualpädagogischen Hauptrichtung basieren.
Im Alltag werden die Begriffe „Behinderung“ und „Behinderter“ so selbstverständlich verwendet, als wäre die Gesellschaft sich darüber einig, „zu wissen, was ‚ein Behinderter‘ sei“ (Bleidick 1999, S. 11). Auch in der Wissenschaft ist Behinderung ein zentraler Begriff, dessen Anwendung jedoch kritisch zu betrachten ist. Der Begriff „Behinderung“ lässt die individuelle Komponente außer Acht, wie Fornefeld treffend formuliert: „Das heißt, es gibt nicht den Menschen mit Behinderung.“ (Fornefeld 2002, S. 45; Hervorhebung im Original). Wer von diesen spricht, vergisst dass die organische Schädigung sowie ihre geistig-seelischen und sozialen Folgen individuell verschieden sind (ebd., S. 45f.).
Theunissen gibt an, dass Behinderung sich stets am „Normalen“ orientiert (vgl. Theunissen 2005, S. 12). Das klingt absurd, da kein allgemeingültiger Konsens darüber besteht, was eigentlich „normal“ ist. So handelt es sich hierbei um Zuschreibungen Dritter, die „körperliche oder intellektuelle Funktionseinschränkungen“ anderer Menschen als behindert definieren (ebd., S. 12). Somit unterliegt das, was von den Menschen als „normal“ oder als „wirklich“ angesehen wird, immer einem gesellschaftlichen Wandel beziehungsweise einer bestimmten Perspektive. So haben beispielsweise unterschiedliche Kulturen oder Fachdisziplinen eine recht unterschiedliche Auffassung darüber, was als behindert angesehen wird. Laut Bleidick ist es somit nicht möglich, zu bestimmen, was eine Behinderung ist, „sondern nur, was von lebensweltlichen Überzeugungsmustern her für Behindertsein gehalten wird“ (Bleidick 1999, S. 21). Er versucht dennoch, den Begriff der Behinderung in eine allgemeingültige Definition zu fassen:
Als behindert gelten Personen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbare Lebensverrichtung oder ihre Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden. (Bleidick 1999, S. 15)
Die von Bleidick vorgenommene Einteilung von Behinderung in geistige, körperliche und seelische Beeinträchtigungen ist eine in der Gesellschaft übliche Form. Dennoch kann auch diese Definition nur relativ bleiben, da die Behinderung eines Menschen keine feststehende Eigenschaft ist und sie von der Lebenswelt und den sozialen Gegebenheiten eines Menschen abhängt (vgl. Fornefeld 2002, S. 46). Bleidick selbst merkt bezüglich seiner Begriffsbestimmung an:
Es sind vier begriffliche Bestandteile, die als Essentials angesehen werden können: 1. Die Definition beansprucht nur einen eingeschränkten Geltungsrahmen. 2. Behinderung wird als Folge einer organischen oder funktionellen Schädigung angesehen. 3. Behinderung hat eine individuelle Seite, die die unmittelbare Lebenswelt betrifft. 4. Behinderung ist eine soziale Dimension der Teilhabe am Leben der Gesellschaft. (Bleidick 1999, S. 15)
Hieran wird deutlich, dass Behinderung ein multifaktorielles Phänomen darstellt. Somit hat keine Definition von Behinderung einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, sie bleibt aufgrund dieser Tatsache immer relativ (vgl. Fornefeld 2002, S. 46; Cloerkes 2001, S. 8f.). Diese Relativität von Behinderung zeigt sich für Cloerkes an der zeitlichen Dimension, an der subjektiven Auseinandersetzung, an verschiedenen Lebensbereichen und Lebenssituationen und an der kulturspezifischen sozialen Reaktion (vgl. Cloerkes 2001, S. 8f.). Im Folgenden sollen drei unterschiedliche Herangehensweisen an das Konzept der Behinderung vorgestellt werden.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte in den siebziger Jahren die „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“ (ICIDH), welche 1980 veröffentlicht wurde (vgl. Waldschmidt 2003, S. 93). Sie entstand aufgrund starker Kritik am bis dahin vorherrschenden, ausschließlich defektorientierten medizinischen Erklärungsmodell von Behinderung (vgl. Arnade 2006, S. 211). Durch sie konnte endlich eine Einstellungsänderung bewirkt werden, es gelang, die bis dahin erfolgte „Gleichsetzung von Behinderung mit gesundheitlicher Schädigung oder als Synonym für chronische Krankheit und bleibenden Defekt zumindest zu relativieren“ (Waldschmidt 2003, S. 93). Die WHO nahm bezüglich der Klassifizierung von Behinderung eine Unterteilung in die drei aufeinander aufbauenden Komponenten „Impairment“, „Disability“ und „Handicap“ vor:
- Impairment: Schädigung oder Beeinträchtigung, Substanzverlust oder Veränderung einer psychischen, physischen oder anatomischen Struktur
- Disability: Fähigkeitsstörung oder Beeinträchtigung, welche aus der Schädigung entstanden ist
- Handicap: Behinderung beziehungsweise soziale Benachteiligung, die sich aus der Beeinträchtigung ergibt (vgl. Fornefeld 2002, S. 49)
Hierbei wurden die sozialen Folgeerscheinungen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen stärker hervorgehoben. Dennoch erntete diese Definition Kritik. Es wurde ihr vorgeworfen, dass letzten Endes eine defizitorientierte Sichtweise noch nicht überwunden sei. So beinhaltet dieses Modell zwar eine gesellschaftliche Dimension, doch wird diese als „bloße Auswirkung eines biologisch-organischen Schadens“ (Waldschmidt 2003, S. 94) gesehen und nicht in ihrer eigenen Dynamik wahrgenommen. Eine Behinderung wird demnach immer als direkte Folge einer medizinischen Pathologie angesehen (ebd., S. 94).
Die WHO nahm die Kritik an der ICIDH zur Kenntnis und begann in den neunziger Jahren mit der Überarbeitung des Klassifikationssystems. Nach etlichen Testphasen und Evaluationsstudien wurde das alte Modell im Jahr 2001 auf der 54. Vollversammlung der WHO von der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) abgelöst. Es entstand ein Modell, welches Multifaktorialität, -kausalität und -dimensionalität ermöglicht (vgl. Waldschmidt 2003, S. 94f.). In der ICF sind die Einheiten der Klassifikation keine Personen, sondern Situationen, dies bedeutet, dass die gesundheitliche Situation eines Menschen jetzt mit „Gesundheit zusammenhängenden Domänen“ beschrieben wird (Lindmeier 2007, S. 165). Bei der Beschreibung der Situation werden immer die Kontextfaktoren berücksichtigt, diese werden aufgeteilt in umwelt- und personenbezogene Faktoren. Somit werden die Funktionsfähigkeit und Behinderung einer Person immer als dynamische Interaktion zwischen dem gesundheitlichen Problem und den Kontextfaktoren gesehen.
Zu erkennen ist dieser Unterschied auch auf der sprachlichen Ebene. In der ICIDH wurde mit „Disability“ der Aspekt der Fähigkeitsstörung begrifflich gefasst, in der ICF dagegen wird der Begriff „Disability“ als Obergriff verwendet, welcher den Gesamtzusammenhang der negativen Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren bezeichnet. Es handelt sich nun eher um ein relationales Verständnis von Behinderung; hierbei wurde versucht, dass medizinische Modell und das soziale Modell, also zwei diametral zueinander stehende Modelle, zu vereinigen. Damit dies gelingt, beruft sich die WHO bei der ICF auf einen deutlich erweiterten „bio-psycho-sozialen“ Ansatz von Behinderung (vgl. Lindmeier 2007, S. 165). Es soll eine Synthese erreicht werden, die eine zusammenhängende Sicht der unterschiedlichen Anschauungsweisen von Gesundheit auf biologischer, individueller und sozialer Ebene ermöglicht (vgl. WHO 2005, S. 25).
Hierbei ist hervorzuheben, dass die Bestandteile der Funktionsfähigkeit und Behinderung auf eine doppelte Weise verwendet werden können. Laut Lindmeier kann ihre Verwendung zum einen für das Aufzeigen von Problemen erfolgen, wie etwa „Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität oder Beeinträchtigungen der Teilhabe, zusammengefasst unter dem Oberbegriff Behinderung “ (Lindmeier 2007, S. 166; Hervorhebung im Original). Zum anderen können sie auch verwendet werden, um „nichtproblematische (zum Beispiel neutrale) Aspekte des Gesundheitszustandes und der mit Gesundheit zusammenhängenden Zustände aufzuzeigen (zusammengefasst unter dem Oberbegriff Funktionsfähigkeit)“ (ebd., S. 166; Hervorhebung im Original).
Die ICIDH hat sich mit der ICF „ von einer Klassifikation der ‚Krankheitsfolgen‘ hin zu einer Klassifikation der ‚Komponenten der Gesundheit‘ weiterentwickelt“ (ebd., S. 166; Hervorhebung im Original). Zudem handelt es sich bei der ICD um eine defizit- und ressourcenorientierte Sichtweise von Behinderung (vgl. WHO 2005, S. 5). Hervorzuheben bei diesem Modell ist das Partizipationskonzept, hiermit wird anerkannt, dass „ die erschwerte Partizipation am Leben der Gesellschaft die ‚eigentliche Behinderung‘ darstellt“ (Lindmeier 2007, S. 166; Hervorhebung im Original) und das „Behinderungsproblem“ unter anderem in Deutschland vor allem ein soziales Exklusionsproblem ist (ebd., S. 166).
Abschließend muss angemerkt werden, dass die ICF in der pädagogischen Fachliteratur umstritten ist. Es wird unter anderem darüber diskutiert, inwiefern das neue Modell gegenüber der ICIDH wirklich einen verbesserten Ansatz darstellt und inwiefern es tatsächlich als ursprüngliches gesundheitsbezogenes medizinisches Erklärungsmodell für pädagogische Disziplinen nutzbar ist (vgl. Biewer 2002).
Eine weitere Auseinandersetzung mit dem Begriff „Behinderung“ liefert das neunte Sozialgesetzbuch „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“, das in seinen größten Teilen bereits am 1. Juli 2001 in Kraft getreten ist. Mit diesem Gesetz ist eine umfassende Reform in der Behindertenhilfe eingeleitet worden. Die gesetzliche Definition von „Behinderung“ wird in SGB IX, Paragraph 2, Absatz 1 gegeben:
Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Wesentlich hierbei ist, dass die Beeinträchtigungen länger als ein halbes Jahr andauern. Neben den medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigungen sind noch weitere Kriterien für die gesetzliche Bestimmung von Behinderung bedeutsam. Zum einen die Abweichung der von der Gesellschaft festgelegten Norm in Bezug auf das Lebensalter und die erschwerte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.
Auffällig bei dieser Definition ist, dass, um als „behindert zu gelten“, der Gesundheitszustand einer Person von „dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen“ muss. Doch wie sieht ein für das Lebensalter typische Zustand aus? Wie wird dieser gemessen? Dies sind Fragen, die anhand dieser Begriffsbestimmung von Behinderung nicht beantwortet werden können. Das SGB IX, Paragraph 2, Absatz 2 bestimmt „schwerbehindert“ folgendermaßen:
Menschen sind im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des §73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.“ Die Einstufung des Behinderungsgrades erfolgt durch ein medizinisches Gutachten, was bedeutet, dass die medizinische Profession bestimmt, was unter „schwerbehindert“ zu verstehen ist. Diese Definition ist bedeutsam, da der zweite Pragraph SGB IX explizit auf die besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen eingeht. Trotz aller Unzulänglichkeiten ist das neunte Sozialgesetzbuch ein wichtiger Schritt für die „Betroffenen“, so zielt es in Paragraph 1 auf die „Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ ab.
Seit dem Jahre 1980 werden von internationalen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen mit Behinderungen soziale Erklärungsansätze als Gegenmodell für defizitorientierte medizinische Modelle entwickelt. In der Literatur finden sich mehrere soziale Modelle, die jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht einzeln vorgestellt werden können. Die Modelle unterscheiden sich in Detailfragen, dennoch verfügen sie über viele Gemeinsamkeiten. Mein Anliegen ist es, diese Gemeinsamkeiten, sozusagen die Grundgedanken der Modelle, an dieser Stelle wiederzugeben.
Die sozialen Erklärungsansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Hauptproblematik von Menschen, die als behindert bezeichnet werden, keineswegs in einer individuellen Beeinträchtigung, sondern in einer Behinderung von außen sehen. Ungünstige gesellschaftliche Bedingungen in Form von Vorurteilen und einem eingeschränkten Zugang zur öffentlichen Teilhabe sind die (Gründe für eine) Behinderung und nicht ein „menschliches Defizit“ (vgl. Priestley 2003, S. 26ff.). Das „Problem“ ist also in der Gesellschaft verankert und wird nicht dem/der Einzelnen zugeschrieben (vgl. Hermes 2006, S. 20). Ein weiterer Beleg für eine soziale Konstruktion sind die verschiedenen Bewertungen von Behinderung, die in unterschiedlichen Kulturen, Gesellschaften und in historischen Epochen vorzufinden sind. Priestleys Meinung nach gibt es keinen Kausalzusammenhang zwischen einer Beeinträchtigung und dem „Behindert-werden“. So ist es möglich, dass zwei Menschen, die ähnliche medizinische Diagnosen haben, ihre Beeinträchtigung signifikant voneinander abweichend erleben. Dies wiederum ist auf die jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Individuen zurückzuführen (vgl. Priestley 2003, S. 25f.). Um Priestleys Theorie zu verdeutlichen, wird an dieser Stelle ein Beispiel von Hermes herangezogen werden:
Stellen sie sich zwei Rollstuhlfahrerinnen vor, die die gleiche Art und das gleiche Ausmaß einer Behinderung, z. B. eine Querschnittslähmung haben. Beide benutzen einen Elektrorollstuhl. Die eine wohnt in einer Stadt, in der die Umwelt relativ barrierefrei gestaltet ist. Es gibt eine zugängliche U-Bahn mit Fahrstühlen, Läden mit Rampen oder ohne Stufen, abgesenkte Bordsteine, zugängliche Kinos und Theater. Die andere Rollstuhlfahrerin, mit den gleichen medizinischen Ausgangsbedingungen, wohnt auf dem Land. Dort sind die Bordsteine nicht abgesenkt, dort gibt es keinen Niederflurbus und nur Läden, die über Stufen erreichbar sind. Für die Frau auf dem Land endet die gesellschaftliche Teilhabe vor ihrem Haus. (Hermes 2006, S. 19)
Hieran wird deutlich, welchen massiven Einfluss die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Benachteiligung von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, haben können. Die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen sind laut der sozialen Erklärungsansätze der Grund für die Benachteiligungen, auf keinen Fall das Individuum. Dies ist auch der Grund dafür, warum sich diese Ansätze nicht auf das Individuum, sondern auf die ganze Gruppe beziehen (vgl. Hermes 2006, S. 19).
Da die vorliegende Arbeit auf die Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung eingeht, ist es sinnvoll, sich im Vorfeld mit dem Terminus „Geistige Behinderung“ auseinanderzusetzen. Eine Untersuchung der Bedeutung von Sexualität für die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung setzt eine Einigung über das Begriffsverständnis und den Untersuchungsgegenstand der „Geistigen Behinderung“ voraus. Nur wenn der Terminus im Vorfeld geklärt und die verschiedenen immanenten Implikationen verdeutlicht werden, kann das Ergebnis der Untersuchung wieder in den Diskurs zurückgeführt und mögliche Leitlinien im Umgang mit der betreffenden Personengruppe sinnvoll aufgestellt werden. Hierzu sollen nach einer Auseinandersetzung mit der generellen Schwierigkeit einer Begriffsdefinition fachspezifische Sichtweise vorgestellt werden, da der Begriff „Geistige Behinderung“ von unterschiedlichen Professionen angewandt wird.
Der Begriff „Geistige Behinderung“ wird bereits seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Von Greving und Gröschke wird er sogar als „der problematischste Grundbegriff der an Problembegriffen nicht eben armen, kategorial verfahrenden Heil- und Sonderpädagogik“ (Greving & Gröschke 2000, S. 7) beschrieben. Eingeführt wurde der Begriff 1958 von der Elternvereinigung der „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“ (vgl. Leue-Käding 2004, S. 25; Fornefeld 2002, S. 44). Absicht der Gründungsmitglieder war es, die mentalen und intellektuellen Beeinträchtigungen ihrer Kinder so zu beschreiben, dass es nicht zur Abwertung der ganzen Person kommt. Eine Orientierung lieferten dabei die im englischsprachigen Raum gebräuchlichen Begriffen „mental retardation“ und „mental handicap“ (vgl. Fornefeld 2002, S. 45). Die neue Begriffsbestimmung diente dazu, bis dahin übliche abwertende Formulierungen wie etwa „schwachsinnig“, „idiotisch“ oder „imbezil“ abzulösen (vgl. Biewer 2004, S. 294).
Allerdings wird diese Fokussierung auf die intellektuellen Beeinträchtigungen in der heutigen Zeit als einseitig befunden (vgl. Fornefeld 2002, S. 45). Mittlerweile wird versucht, die defizitorientierte Sichtweise mit Hilfe von zusätzlichen allgemeinen kategorischen Zuschreibungen zu minimieren, indem man dem Behinderungsbegriff Personengruppen voranstellt und beispielsweise von „Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung“ spricht (vgl. Neuhäuser & Steinhausen 2003, S. 11). Selbst der Terminus „Mensch mit geistiger Behinderung“ stellt semantisch ein Problem dar. Wählt man diese Begrifflichkeit, so setzt man laut Fornefeld „Intellekt“ und „Kognition“ mit „Geist“ gleich, und dies würde bedeuten, dass man den Geist des Menschen als behindert bezeichnet und ihm somit sein „Personsein“ abspricht (vgl. Fornefeld 2002, S. 50).
Der Zusatz „geistige Behinderung“ wird von den meisten der betreffenden Personen abgelehnt. Auf der Suche nach einer Alternative ist das „Netzwerk Mensch zuerst, People First Deutschland e.V.“ für sich bei der Begriffsbestimmung „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ angekommen (vgl. Niehoff & Hinz 2008, S. 113) und versucht diesen in die Öffentlichkeit zu transportieren (vgl. Biewer 2004, S. 295). Biewer merkt diesbezüglich an, dass „Lernschwierigkeit“ ein sehr weit gefasster Begriff sei, da er in Deutschland mit Menschen, die als lernbehindert eingestuft werden, in Verbindung gebracht wird, statt mit Menschen, die als geistig behindert klassifiziert werden (ebd., S. 295).
Auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit einer geistigen Behinderung e.V. diskutiert über den Begriff „Geistige Behinderung“, wie etwa auf dem „TeilhabeKongress 2003“ in Dortmund oder auf einer Mitgliederversammlung im September 2006 in Marburg. Doch für viele Mitglieder der Lebenshilfe hat der Begriff „Lernschwierigkeiten“ als mögliche Alternative nicht genug Trennschärfe in Bezug auf Menschen, die nicht behindert sind. Die Spezifik des Personenkreises würde verloren gehen. Hierbei könnte unter anderem die Gefahr bestehen, das unterstützende Ressourcen wegfallen würden und die Bereitschaft zur Solidarität geringer werden würde (vgl. Niehoff & Hinz 2008, S. 114). Mit der Umbenennung ihrer Fachzeitschrift „Geistige Behinderung“ in „Teilhabe“ im Januar 2009 hat die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. sich zumindest auf dieser Ebene von der umstrittenen Formulierung abgewandt (vgl. Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V. 2009a).
Speck sieht das Problem des Terminus „Geistige Behinderung“ weniger im Wortinhalt als in seiner sozialen Funktion. So besteht die Gefahr, dass der betreffende Personenkreis, dadurch dass man versucht für ihn eine eigene Definition zu finden, sozial abgewertet, benachteiligt und ausgeschlossen wird (vgl. Speck 2007, S. 136). Er sieht darin den Grund für die Kontroverse und führt an: „Um zusätzlich schädigende Stigmatisierungen zu vermeiden, wird heute verbreitet nach einem Ersatzbegriff gesucht.“ (Speck 2007, S. 136).
Der Begriff „Geistige Behinderung“ enthält also Wertungen beziehungsweise Abwertungen für die betreffenden Personen, die heutige Betrachtungsweise dieses Terminus erfolgt zudem überwiegend aus einem defizitorientierten Blickwinkel. Dies wird ferner an der aus dem Jahre 1974 stammenden Definition des Deutschen Bildungsrates deutlich:
Als geistig behindert gilt, wer infolge einer organischen-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist, dass er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfe bedarf. Mit der kognitiven Beeinträchtigung gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen Entwicklung einher. (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 37)
Obwohl diese Begriffsbestimmung bereits sehr alt ist, wird sie gegenwärtig noch häufig angewandt. Sie stößt vor allem deswegen auf Kritik, weil sie „nur im Vergleich mit fiktiven Normvorstellungen Geltung beanspruchen kann“ (Ziemen 2002, S. 27). Hinsichtlich des Begriffes „Geistige Behinderung“ gibt es auch Vertreter radikalerer Positionen, die sich von jeglichen begrifflichen Bestimmungen abwenden. Feuser (1996) und Ziemen (2002) beispielsweise vertreten die These, dass es die „Geistige Behinderung“ nicht gibt, da sie sozial konstruiert (vgl. Ziemen 2002, S. 36) und durch einen phänomenologisch-klassifikatorischen Prozess zustande gekommen ist (vgl. Feuser 1996, S. 18).
Es existieren also zahlreiche Meinungen darüber, was eine „Geistige Behinderung“ auszeichnet und was nicht. Die vorzufindende Unschärfe bezüglich dieses Terminus hat auch Auswirkungen auf die Häufigkeitsangabe bezüglich Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung in der Bevölkerung. Der Anteil dieser Menschen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland beträgt nach Schätzungen zwischen 0,45% und 0,5%. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass in der BRD ca. 400.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene als geistig behindert klassifiziert werden. Spannend hierbei ist, dass die Anzahl von Schülern, die eine sogenannte Sonderschule besuchen schon seit geraumer Zeit bei 0,6% eines Jahrgangs liegt. Diese beiden Angaben divergieren, was an der Ungenauigkeit der Begrifflichkeit liegt (vgl. Kulig, Theunissen und Wüllenweber 2006, S. 126).
Abschließend kann festgehalten werden, dass „Geistige Behinderung“ ein komplexes Phänomen darstellt, was bedeutetet sie ist „vielfältig zusammengesetzt aus verschiedenen Bestandteilen und Komponenten, die noch dazu in jedem Individuum in eigener Weise miteinander verflochten sind“ (Speck 2005a, S. 48). Somit gibt es weder „die geistige Behinderung“ noch „ den Menschen mit einer geistigen Behinderung “ (Straßmeier 2000, S. 58; Hervorhebung im Original).
Da es keine allgemeingültige Definition von „Geistiger Behinderung“ gibt, soll der Begriff der „Geistigen Behinderung“ anhand fachspezifischer Sichtweisen vorgestellt werden, um zu verdeutlichen, was unterschiedliche Professionen darunter verstehen. Es wird aufgeführt, anhand welcher Merkmale Menschen jeweils als geistig behindert klassifiziert werden.
Im Folgenden wird auf die psychologische Sichtweise von geistiger Behinderung eingegangen, wobei insbesondere der Teilbereich der psychologischen Diagnostik vorgestellt wird. Die Aufgabe der psychologischen Diagnostik ist es, die Beeinträchtigungen und Störungen, die ein „beschädigtes Gehirn“ auf die kognitive, motorische, emotionale und soziale Entwicklung und das Lernen des Menschen haben kann, zu erfassen (vgl. Fornefeld 2002, S. 56). Geistige Behinderung wurde hier lange Zeit unter der Kategorie „psychischer Störungen“ primär als Intelligenzminderung begriffen. Nach dem Klassifikationsschema psychischer Störungen (ICD-10) versteht man hierunter:
Ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten; besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten. (Dilling & Freyberger 2008, S. 273)
Eine Intelligenzminderung lässt sich mit Hilfe einer Intelligenzdiagnostik erfassen. Anhand eines ermittelten Intelligenzquotienten wird festgestellt, ob eine Minderung der Intelligenz vorliegt oder nicht. Binet und Simon entwickelten im Jahre 1905 ein Intelligenz-Testverfahren (vgl. Speck 2005a, S. 56). Stern führte im Jahre 1912 das Maß für die intellektuelle Leistungsfähigkeit eines Menschen ein, den Intelligenzquotienten (IQ) (vgl. Dorsch, Häcker, Stapf & Becker-Carus 2009, S. 478). Als feste Bezugsgröße des IQ wurde der durchschnittliche Intelligenzwert bei 100 festgesetzt. In die Kategorie „geistig behindert“ wird man bei einem IQ von unter 70 eingestuft (vgl. Speck 2005a, S. 56).
Zur Veranschaulichung werde ich an dieser Stelle zwei Klassifikationsmodelle von „geistiger Behinderung“ aus intelligenzdiagnostischer Sicht wiedergeben. Darunter fällt zum einen das Modell der geistigen Behinderung nach der ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen der WHO):
- leichte Intelligenzminderung: IQ-Bereich von 50–69, mentales Alter: 9 bis unter 12 Jahren
- mittelgradige Intelligenzminderung: IQ-Bereich 35–49, mentales Alter: 6 bis unter 9 Jahre
- schwere Intelligenzminderung: IQ-Bereich 20–34, mentales Alter: 3 bis unter 6 Jahre
- schwerste Intelligenzminderung: IQ-Bereich unter 20, mentales Alter: unter 3 Jahren (vgl. Dilling und Freyberger 2008, S. 276)
sowie die AAMD-Klassifikation (American Association on Mental Deficiency) nach IQ-Werten:
- leichte (milde) geistige Behinderung: IQ-Bereich von 52–67
- mäßige (moderate) geistige Behinderung: IQ-Bereich von 36–51
- schwer (severe) geistige Behinderung: IQ-Bereich von 20–35
- schwerste (profound) geistige Behinderung: IQ-Bereich unter 20 (vgl. Speck 2005a, S. 59)
Speck merkt bezüglich dieser Verfahren an, dass diese lediglich Werte wiedergeben, die der Orientierung dienen (ebd., S. 56). Allein die Feststellung eines niedrigen IQ-Wertes kann also nicht genügen, um eine „Geistige Behinderung“ zu diagnostizieren. Beart, Hardy und Buchan beispielsweise beziehen das „Diagnostic and Stastical Manual of Mental Disorders“ der American Psychiatric Association (APA) in ihre Ausführungen mit ein. Hier kommen zu einem IQ-Wert von unter 70 noch Beeinträchtigungen adaptiver Funktionen aus mindestens zwei der folgenden Bereiche hinzu: Kommunikation, Selbstversorgung, Wohnen, soziale Fertigkeiten, Teilnahme am öffentlichen Leben, Selbstbestimmung, funktionale Kulturtechniken, Arbeit, Freizeit, Gesundheit und Sicherheit. Ein weiteres Kriterium ist das Andauern der Beeinträchtigungen in diesen Bereichen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr (vgl. Beart, Hardy & Buchan 2005, S. 48).
Prinzipiell handelt es sich hierbei um eine defizitorientierte psychologische Sichtweise, da sie sich ausschließlich auf das Fehlen kognitiver Leistungen bezieht. Problematisch ist hierbei bereits der Begriff „Intelligenz“, weil er schwierig zu definieren ist und keine eindeutige wissenschaftliche Definition vorliegt (vgl. Theunissen 2005, S. 21; Fornefeld 2002, S. 58). Dies wiederum hat zur Folge, dass Testverfahren unterschiedliche Auffassungen von Intelligenz zu Grunde liegen und ermittelte Intelligenzniveaus immer nur relativ bleiben können. Zudem hat sich herausgestellt, dass der Vergleich mit Normwerten – also einer Durchschnittsintelligenz – unzureichend ist. Schließlich entwickelt sich ein Mensch individuell, entsprechend seiner persönlichen Möglichkeiten und – wie bereits Beart et al. angemerkt haben – der Einflüsse seines sozialen und kulturellen Umfeldes (vgl. Fornefeld 2002, S. 58f.). Insgesamt stellt sich also die Frage nach der Effektivität und Anwendbarkeit von Intelligenztests bei Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung (Theunissen 2005, S. 21). Trotz der hier aufgezeigten Kritik führt Fornefeld an, dass sich innerhalb der psychologischen Diagnostik ein Wandel von der Selektions- zur Förderdiagnostik vollziehe. Demnach werde der Schwerpunkt nicht mehr ausschließlich auf die Defizite eines Menschen gelegt, sondern es werden verstärkt seine Fähigkeiten und Leistungsmöglichkeiten fokussiert und unter Berücksichtigung seines sozialen Umfeldes erfasst (vgl. Fornefeld 2002, S. 59).
Eine weitere Fachdisziplin, die sich mit „Geistigen Behinderungen“ auseinandersetzt, ist die Medizin. Sie geht von einer defizitorientierten Sichtweise aus. Ihr Ziel ist es, eine Funktionsstörung aufzudecken (vgl. Neuhäuser 2000, S. 32) und therapeutische Maßnahmen unter Einbezug der individuellen Lebenssituation zu entwickeln (vgl. Fornefeld 2002, S. 51). Ebenso gehört die Klassifikation zu ihren Aufgabenbereichen. Auf der Basis neuester Forschungserkenntnisse beschreibt die Medizin klinische Syndrome und kategorisiert diese. Bei der medizinischen Sichtweise ist die physische Basis grundlegend. Oftmals ist eine organische Schädigung vorzufinden, welche sich indirekt oder direkt auf das Gehirn auswirkt (ebd., S. 51). Die Schädigung des Gehirns ist von zentraler Bedeutung, da sie unterschiedliche psychophysische Funktionen in Mitleidenschaft ziehen kann (vgl. Speck 2005a, S. 53). Dadurch bedingt kann die gesamte Persönlichkeit des Menschen, sein Denken, seine Empfindungen, seine Wahrnehmungen, sein Handeln und sein Verhalten beeinflusst werden (vgl. Fornefeld 2002, S. 51). Somit können die organischen Schädigungen zu unterschiedlichen Störungsbildern (klinischen Syndromen) führen, welche prä-, per- oder postnatal auftreten können. Dazu zählen beispielsweise:
- pränatal: Fehlbildungen des Zentralnervensystems, Genmutationen, Chromosomenanomalien, exogene Verursachungen
- perinatal: Geburtstraumen, Erkrankungen des Neugeborenen
- postnatal: Entzündungen des Zentralnervensystems, Schädelhirntraumen, Hirnschädigungen (vgl. Meyer 2003, S. 5)
An diesem Auszug wird deutlich, dass eine „Geistige Behinderung“ sich beispielsweise in Folge einer Hirnschädigung auch im Verlauf des Lebens ereignen kann und nicht immer ein angeborenes Phänomen ist (vgl. Fornefeld 2002, S. 54). Studien bestätigen den Einfluss biologischer und genetischer Faktoren bei der Entstehung von „Geistiger Behinderung“, allerdings sind laut Zerbin-Rüdin lediglich 5-7% der auftretenden geistigen Behinderungen tatsächlich vererbt (meist aufgrund von Stoffwechseldefekten) (vgl. Zerbin-Rüdin 1990, zit. n. Speck 2005a, S. 54). Aus pädagogischer Sicht wird die Suche nach der Ursache häufig kritisiert:
Im medizinischen Modell bzw. Verständnis leidet das behinderte Kind als kranke Person an einem gestörten Prozess, was äußerlich zu sichtbaren Symptomen und Syndromen führt, die als wesensbedingte Anteile der Person diagnostiziert und kategorisiert werden. Behandlung und Therapie versuchen dann im Rahmen eines deterministischen Kausalitätsdenkens, über die Symptome zu den dahinter stehenden Ursachen vorzudringen und diese zu heilen bzw. zu beeinflussen. (Fischer 2008, S. 21)
Aus pädagogischen Gesichtspunkten ist unter anderem die Förderdiagnose wichtiger, um Stärken (und Schwächen) des Kindes zu eruieren. Neuhäuser stellt hier aus medizinischer Sicht zum einen das „Kausalitätsbedürfnis“ der Eltern heraus, für die die Ursache der geistigen Behinderung von enormer Wichtigkeit ist, zum anderen betont er die Wichtigkeit von Ätiologie und Pathogenese für spezielle Behandlungsmaßnahmen (vgl. Neuhäuser 2000, S. 36).
Diese sind für den pädagogischen Prozess zwar lediglich von sekundärer Bedeutung, allerdings sind sie hierbei insofern relevant, als dass das Wissen um die Ursachen der Schädigung und die daraus resultierenden Beeinträchtigungen eines Menschen, bedeutsam für die Erstellung geeigneter Förder- und Erziehungsmaßnahmen ist. Darüber hinaus spielen sie für alle Entscheidungen und Handlungen bezüglich der Integration des Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung eine wichtige Rolle (vgl. Fornefeld 2002, S. 55).
Vom soziologischen Standpunkt steht „der wechselseitige Zusammenhang von geistiger Behinderung und Gesellschaft“ (Fornefeld 2002, S. 23) im Vordergrund. Bedeutend sind hierbei vor allem die Einstellungen seitens der Gesellschaft gegenüber Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden. Es werden unterschiedliche Themen wie etwa Integration, Inklusion, Stigmatisierung oder die Rolle der Eltern und Geschwister behandelt (ebd., S. 23). Innerhalb der Soziologie ist die soziale Wirklichkeit von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung ein spezifischer Forschungsgegenstand der „Soziologie der Behinderten“ (vgl. Markowetz 2008, S. 238).
Für die Soziologie sind zwei Fragen in Hinblick auf ihre wissenschaftlichen Überlegungen wesentlich: „Was verstehen wir unter Behinderung und wer ist ein behinderter Mensch?“ (ebd., S. 240). Behinderung wird im soziologischen Kontext als „dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich“ (Cloerkes 2001, S. 7) definiert. Hinzu kommt ein negativer zugeschriebener Wert von außen. Ein Mensch ist nach der soziologischen Sichtweise behindert, „wenn erstens eine unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist“ (ebd., S. 7).
Speck stellt in seinem Werk „System Heilpädagogik“ unterschiedliche soziologische Theorien vor, die sich auf Behinderung beziehen. Zunächst geht er auf Dependenz-Theorien ein, bei denen man von einem relativ statischen Gesellschaftsmodell ausgeht. Hierbei sind die Behinderung und der Mensch mit einer Behinderung immer als eine einseitige abhängige Größe dargestellt. Aus dieser einseitigen Abhängigkeit ergeben sich Folgeerscheinungen wie soziale Distanz, soziale Insuffienz, Minoritäten und Disfunktionabilität (vgl. Speck 2003, S. 217). Der Mensch mit einer Behinderung ist „der Fremdling, der Unbekannte, der ganz Andere“ (Ferber 1972, zit. nach Speck 2003, S. 218). Ihm ist der öffentliche Zugang verwehrt, was bedeutet, dass er keinen Beitrag zum Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung leisten kann. Somit bringt er der Marktwirtschaft keinen Nutzen und trägt auch nicht zur Unterhaltung von Gruppenbeziehungen bei. Er kommt nicht in den Genuss von Einkommen, sozialem Rang und persönlicher Wertschätzung, der Mensch mit einer geistigen Behinderung befindet sich im Abseits der Gesellschaft (vgl. Speck 2003, S. 218).
Als zweite soziologische Variante, die mit dem Begriff Behinderung operiert, stellt Speck die Interaktionistischen Theorien vor. Diese beschäftigen sich mit der Zuschreibung von abweichendem Verhalten, der Stigma-Theorie, virtuellen Einschränkungen im sozialen Kontext und Behinderung als Sozialschicht (vgl. Speck 2003, S. 220ff.). Kennzeichen des interaktionistischen Theorems ist, dass Behinderung primär kein biologisch-medizinischer Zustand ist, sondern aus sozialen Erwartungshaltungen heraus dem Menschen zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung ist in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus „durch Vorurteile, Normen und Wertmaßstäbe an die Interaktion von Definierer und Definiertem gebunden und wird symbolisch-sprachlich ausgedrückt“ (Bleidick 1999, S. 36). Interaktionale Zuschreibungen vollziehen sich täglich im Leben. Sobald wir in der Interaktion mit einem Menschen an ihm eine unserer Norm nicht entsprechende Reaktion wahrnehmen, weicht dieser Mensch von unseren Normvorstellungen ab; er ist nun nicht mehr „normal“, sondern wird als „anders“ beziehungsweise „behindert“ von uns etikettiert (beispielsweise der Gehörlose, der auf unser Ansprechen nicht reagiert). In diesem Fall wird das „Behindert-sein“ nicht der Persönlichkeit unseres Gegenübers zugeschrieben, beispielsweise in Form einer festgemachten Eigenschaft, sondern als soziale Kategorie in der Interaktion verstanden (ebd., S. 33).
Der Etikettierungsansatz (auch „labeling approach“ genannt) spezifiziert den symbolischen Interaktionismus. Danach wird der abgewerteten Person symbolisch ein Etikett („label“) angehängt, was Typisierung, Stigmatisierung, die Zuweisung eines Zwangsstatus und die Asylierung in eine spezielle Institution nach sich ziehen kann. Bleidick führt als Hauptcharakteristikum negativer Zuschreibungen von Merkmalen des Menschen mit einer Behinderung die Devianz an. Er fasst darunter „die Abweichung von herrschenden Normen der Sitte, der Moral, der Leistung, des Aussehens sowie das daraus gefolgerte ‚abweichende Verhalten‘“ (ebd., S. 36).
Für die Soziologie ist Behinderung „das Ergebnis eines sozialen Abwertungsprozesses, das die sozialen Teilhabechancen behinderter Menschen negativ beeinflusst“ (Markowetz 2008, S. 240). Der Ausschnitt der in diesem Kapitel vorgestellten soziologischen Erklärungsansätze macht deutlich, dass insbesondere soziale Komponenten für das Zustandekommen von Behinderung und geistiger Behinderung in der Gesellschaft verantwortlich sind. Von hoher Bedeutung ist für Vertreter der soziologischen Perspektive die Integration von Menschen mit Behinderungen. In ihrem Selbstverständnis als „Partizipationswissenschaft“ arbeiten sie „sozialintegrativ-emanzipatorisch“ (vgl. Markowetz 2008, S. 241). Eine Rehabilitation für Menschen mit Behinderungen macht für sie nur Sinn, wenn sie sich umfassend und übergangslos als gesellschaftliche Integration vollzieht (ebd., S. 241).
An den bisher vorgestellten wissenschaftlichen Sichtweisen wird deutlich, um welches komplexes Phänomen es sich bei „geistigen Behinderungen“ handelt. Jede Disziplin fokussiert, wie dargestellt, einen anderen Aspekt. Die pädagogische Sichtweise erweitert den bisherigen Diskurs um die Heterogenität des Personenkreises von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung. Hierbei spielt die Individualität eines Menschen eine wesentliche Rolle (vgl. Schuppener 2005, S. 26; Straßmeier 2000, S. 58). Diese wird in einem multifaktoriellen Kontext betrachtet. Weitere Faktoren, wie zum Beispiel die medizinischen Syndrome und Beeinträchtigungen, Umweltfaktoren, äußere Einflüsse und subjektive Lernbedürfnisse, werden in die pädagogische Auseinandersetzung mit einbezogen (vgl. Schuppener 2005, S. 26). „Geistige Behinderung“ wird somit als eine „normale (übliche) Variante menschlicher Daseinsformen“ (Speck 2005a, S. 69) gesehen und nicht als psychische Störung oder Krankheit (vgl. Meyer 2003, S. 25). Somit ist sie nur eine menschliche Daseinsform unter vielen.
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