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Bachelorarbeit, 2016
59 Seiten, Note: 1,0
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Eine konzeptionelle Annäherung an Multiple Streams
2.1. Policy-Cycle und Garbage-Can als Basis des Multiple-Streams-Ansatzes
2.2. Der Multiple-Streams-Ansatz
3. Multiple Streams und der politische Wandel in der deutschen Verteidigungspolitik
3.1. Die Wehrpflicht – Eine unendliche Geschichte
3.2. Problemstrom – Zeichen der Zeit
3.3. Politics-Strom – Paradigmatischer Wandel in der deutschen Verteidigungspolitik
3.4. Policy-Strom – Ideen einer neuen Streitkraft
3.5. Politische Akteure im Kontext der Wehrpflicht
3.6. Vom Möglichkeitsfenster zum Politikwandel
4. Die Aussetzung der Wehrpflicht in Retrospektive
4.1. Das politische Ende der Wehrpflicht
4.2. Deutschland ohne Grundwehrdienst – (k)eine Erfolgsgeschichte?
5. Literaturverzeichnis
Monographien, Sammelbände, Aufsätze:
Internetquellen:
6. Abbildungsverzeichnis
7. Anhang
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im März 2011 reihte sich Deutschland in die stetig wachsende Zahl europäischer Nationen ein, welche die allgemeine Wehrpflicht zugunsten einer Freiwilligenarmee abschafften oder aussetzten. Der Prozess wurde von einer emotionalen, öffentlichen und politischen Debatte um die Sinnhaftigkeit des Grundwehrdiensts begleitet. Insbesondere die konservativen Parteien sahen einen ihrer traditionellen Markenkerne bedroht. Umso interessanter ist es, dass der Vorstoß von einem konservativen Verteidigungsminister, Karl-Theodor zu Guttenberg, der sich selbst als den „wohl glühendsten Verfechter[] der Wehrpflicht“ (CDU 2010: 131) bezeichnete, angeführt und schließlich auch von einer konservativen Regierung umgesetzt wurde. Die Aussetzung der Wehrpflicht stellt eine Zäsur in der deutschen Verteidigungspolitik und der Parteilinie von CDU/CSU dar. Ersetzt hat den Grundwehrdienst ein Freiwilliger Wehrdienst, wodurch die Bundeswehr zu einer reinen Berufsarmee wurde. Die deutschen Streitkräfte unterlagen seit dem Ende des kalten Krieges einer Vielzahl von Reformen und Reformversuchen. Die von Guttenberg eingeleiteten Veränderungen stellen bisherige Versuche jedoch in den Schatten. Die Neuausrichtung ist die umfassendste Reform der Bundeswehr seit ihrem Bestehen. Doch warum konnte 2010/2011 umgesetzt werden, was zuvor unvorstellbar oder unabdingbar war? Warum war die Zeit der Idee des Freiwilligen Wehrdienstes und das Endes der Wehrpflicht gekommen? Um diese Fragen zu beantworten soll eine Politikfeldanalyse die politischen Rahmenbedingungen, Akteure und Probleme nachzeichnen, die zur Aussetzung der Wehrpflicht geführt haben. Als Framework soll hierfür der Multiple-Streams-Ansatz (MSA) dienen, mithilfe dessen versucht wird, „an idea whose time has come“ (Kingdon 1995: 1) auf ihrem Weg zur Implementierung zu begleiten. Nachdem die theoretischen Grundlagen gelegt wurden, werden die einzelnen Ströme, mit denen der MSA politischen Wandel zu erklären versucht, in Bezug auf die Aussetzung der Wehrpflicht analysiert. Anschließend soll einen politischer Entrepreneur (PE) identifiziert werden, mithilfe dessen das Möglichkeitsfenster für den Freiwilligen Wehrdienst genutzt wurde. Im letzten Kapitel soll der Policy-Cycle analytisch geschlossen werden, indem die politische Implementierung und die Evaluierung der Policy in den Focus gerückt werden.
„Man kann der Invasion einer Armee widerstehen, doch nicht einer Idee, deren Zeit gekommen ist.“ 1
— Victor Hugo
Die Politikfeldanalyse als eigenständige Disziplin der Politikwissenschaft hat insbesondere in Europa eine vergleichsweise kurze Geschichte. Ab den 1980er-Jahren wurde in Deutschland versucht inhaltliche Dimensionen von Politik als Gegenstand politwissenschaftlicher Analysen zu etablieren. Somit folgte die deutsche Politikwissenschaft einer Entwicklung, die im angelsächsischen Raum schon nach dem zweiten Weltkrieg einsetzte (vgl. Bandelow/Schubert 2009: 12f.). Die Politikfeldanalyse fragt danach, was politische Akteure tun, warum sie es tun und was sie letztendlich bewirken (vgl. ebd.: 4). Der Multiple-Streams-Ansatz, ursprünglich 1984 in Amerika entwickelt, versucht diese Fragen mithilfe einer anderen zu beantworten: „How Does an Idea's Time Come?“(Kingdon 1995: 1). Das folgende Kapitel soll den theoretischen Hintergrund zu eben jener Frage nachzuvollziehen. Hierzu soll das theoretische Konzept des MSA nachgezeichnet werden, um die Basis für eine Anwendung auf den Wandel der deutschen Verteidigungspolitik zu legen.
Die Basis für den Multiple-Streams-Ansatz bietet der einflussreichste Orientierungsrahmen in der Politikfeldanalyse, der Policy-Cycle (PC), welcher erstmals von Harold Dwight Lasswell (1956) formuliert wurde. Dieses Phasenmodell soll Auskunft darüber geben, wie sich politische Prozesse sinnvoll untersuchen und analysieren lassen (vgl. Blum/Schubert 2011: 104). Der PC ist ein heuristisches Modell, man versucht also mit begrenztem Wissen, mithilfe von Schlussfolgerungen und Annahmen, Aussagen über das System zu treffen, um zwar keine optimale, jedoch eine hilfreiche Erkenntnis für behandelte Probleme zu erlangen (vgl. ebd.: 104). Der PC ermöglicht es zielgerichtete, systematische Einsichten über einzelne politische Prozesse zu gewinnen und an einem idealtypischen Phasenmodell zu messen, wobei sich diese Stadien in der politischen Praxis nicht klar voneinander abtrennen lassen, vielmehr kommt es zu Überlappungen oder dem Wegfall einzelner Phasen (vgl. ebd.: 104).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Policy-Cycle.
Quelle: Eigene Darstellung.
Zu Beginn des Zyklus steht in der Regel ein spezifisches, politisches Problem oder Defizit (1). Politische oder gesellschaftliche Akteure suchen dann ihren jeweiligen Interessen entsprechend das Problem zu thematisieren und auf die politische Agenda zu setzen (2). Um das Problem zu lösen, müssen konkrete Policies formuliert werden (3). Ob diese dann auch umgesetzt werden, hängt von politischen Entscheidungen und der Implementierung ab (4) (vgl. ebd.: 105). Im MSA sind vor allem die Phasen Problemdefinition, Agenda-Setting und Politikformulierung im Zentrum der Analyse. Zahariadis (2007: 65) weist darauf hin, dass der MSA auch auf den kompletten Politikzyklus übertragen werden könnte, erläutert diese Möglichkeit jedoch nicht weiter. In dieser Arbeit soll in Kapitel 4 eine Perspektive auf die Implementierung und Evaluierung der Policy gegeben werden und somit das gesamte Policy Making mit einschließen.
Was Kingdons Modell von anderen abhebt, ist jedoch nicht die Frage nach den Einflussfaktoren auf den Agenda-Status eines Themas, sondern die Suche nach den Prozessen, die zu einer Änderung der Agenda führen (vgl. Herweg 2013: 324). Hierzu bedient Kingdon sich einiger fundamentaler Elemente des Garbage-Can-Models von Cohen, March und Olsen (1972), welches versucht Entscheidungsverhalten von Organisationen zu erklären. Das Modell beschreibt Entscheidungssituationen als „Mülleimer“, in dem Probleme, Lösungen und Entscheider mehr oder weniger zufällig aufeinander treffen. Ähnlich wie in einem Papierkorb treffen die Blätter, also die Akteure, Entscheidungsgelegenheiten, Probleme und Lösungen, eher zufällig, aber nicht völlig regungslos aufeinander. An dieser Stelle spricht man von einer organisierten Anarchie (vgl. Bogumil/Schmid 2001: 48). Entscheidend ist nicht die sachliche Erfordernis einer Problemlösung, sondern der Kontext des Entscheidungsprozesses, also welche Entscheidungsgelegenheiten mit welchen Problemen, Lösungen und Akteuren zusammentreffen. Die Konzeptualisierung des (politischen) Systems als organisierte Anarchie (i), das Denken in verschiedenen Strömen und die Abhängigkeit von Policy-Outcomes von der Verbindung der Ströme (iii), stellen die Basis von Kingdons Annahmen über den politischen Entscheidungsprozess dar und werden im Multiple-Streams-Ansatz weiterentwickelt (vgl. Herweg 2013: 324).
„Why do some subjects become prominent on the policy agenda and others do not, and why are some alternatives for choice […] seriously considered while others are neglected?“ (Kingdon 1995: 3). Dies ist die fundamentale Frage, die Kingdons Ansatz zugrunde liegt. Das Konzept dient als Brille, mithilfe derer man zu verstehen versucht wie Policies von Nationalstaaten entstehen. Kingdon betrachtet das Regierungssystem als eine in sich konflikthafte Organisation und zieht deshalb aus der Organisationswissenschaft, im speziellen dem Garbage-Can-Model, die Annahme der organisierten Anarchie (i). Organisationen sind durch Zuständigkeiten, Regeln, Verfahren und zeitliche Prozessabläufe charakterisiert, die man auf das politische System übertragen kann, so der Gedanke Kingdons (vgl. Rüb 2009: 349f.). Drei Merkmale sind hier von besonderer Bedeutung: problematische Präferenzen (Problematic Preferences), unklare Technologien (Unclear Technology) und wechselnde Teilnehmer (Fluid Participation). Präferenzen sind dann problematisch, wenn sie sich erst in der Interaktion herausbilden. Die Definition des Problems und der Ziele sind oft unklar. Zahariadis führt als Beispiel Situationen an, in denen unter Zeitdruck entschieden werden muss, ohne vorher die eigenen Präferenzen auszubilden und zu formulieren (vgl. Zahariadis 2007: 67). Mit unklaren Technologien ist gemeint, dass Teilnehmer einer organisierten Anarchie zwar über ihre eigenen Verpflichtungen umfassend Bescheid wissen, aber nur rudimentäres Wissen darüber besitzen, wie sich ihr Teilbereich ins größere, organisatorische Beziehungsgeflecht einfügt (vgl. Herweg 2013: 325). Mit wechselnden Teilnehmern ist gemeint, dass Akteure und ihre Meinungen sich während des politischen Entscheidungsprozesses verändern können und sich der Teilnehmerkreis hinsichtlich der investierten Zeit und dem eingebrachten Engagement unterscheidet (vgl. ebd.: 325). Dieses bunte Gemisch an Handlungsabläufen kann von den Regeln der Organisation nicht kontrolliert werden, sie schafft nur den Rahmen. Kingdon fasst die Annahme der organisierten Anarchie passend zusammen: „It [the model] is structured in the same sense that a river is fluid, but its banks usually restrict its movement. The process cannot flow just anywhere. “ (Kingdon 1995: 223) Diese Denkweise hat den Vorteil, dass sie Staat und Regierung als Träger eines Gemeinwohls entmystifiziert und als einheitlich handelnde Akteure entzaubert und stattdessen als konfligierende Einheit beschreibt, in der Machtkämpfe toben. Der Staat ist zerrissen und unkoordiniert, seine organisationale Einheit muss in konflikthaften Prozessen immer wieder neu hergestellt werden, um Entscheidungen treffen zu können (vgl. Rüb 2009: 350).
Das Denken in Strömen (ii), ist der zweite Aspekt, den Kingdon aus dem Garbage-Can-Model übernommen hat. Er unterstellt Regierungen eine prozesshafte Struktur, die sich permanent auflöst und neu zusammensetzt. Das Bild der Ströme soll verdeutlichen, dass es sich um zeitlich ausgedehnte Prozesse handelt, die auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten fließen können, da mal mehr, mal weniger Zeit zur Verfügung steht, Zeit aber immer eine knappe Ressource bleibt (vgl. ebd.: 350). Darüber hinaus sind Organisationen nie regel- und strukturlos, verfügen aber über variable Strukturen, welche immer im Fluss sind. Verantwortliche über- oder unterschreiten ihre Kompetenzen und Zuständigkeiten sind ungenau definiert (vgl. ebd.: 351). Schließlich sind Organisationen mit der Logik der Unbestimmtheit konfrontiert. Über bestimmte Sachverhalte, Probleme und deren Lösungen kann man unterschiedlicher Ansicht sein, und Organisationen müssen sich damit beschäftigen diese Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen in Eindeutigkeiten zu transformieren, was immer mit Konflikten und Machtspielen verbunden ist (vgl. ebd.: 351). Der MSA ist ein Kontingenz-Modell des politischen Entscheidens. „Kontingenz ist all das, was ist und zugleich auch anders möglich sein kann. Und alles ist anders möglich, weil nichts einen notwendigen Existenzgrund hat und auch alles anders begründet werden kann“ (ebd.: 352). Diese ständige Bewegung, Ungewissheit, das Zerreißen, Aufeinanderprallen und Neuzusammenfügen verschiedener Ideen und Akteure, spiegeln das Bild der Ströme wider und geben Kingdons Konzept seinen Namen – Multiple Streams.
Kingdon reduziert die ursprünglich vier Ströme des Garbage-Can-Models auf drei, den Problem-Strom, den Politics-Strom und den Policy-Strom. „Der Problem-Strom enthält alle Zustände, die als Problem wahrgenommen prinzipiell veränderlich sind und (politisch) geändert werden sollen“ (Herweg 2013: 326). Ein Problem ist definiert als „[a] mismatch between the observed conditions and one’s conception of an ideal state“ (Kingdon 1995: 116). Probleme müssen beobachtbar sein, sie kommen von außen auf die Politik zu und müssen bei den politischen Akteuren Aufmerksamkeit hervorrufen, um relevant zu werden und nicht einfach weiterhin im Problemstrom ‚umherzuschwimmen‘. Indikatoren können die Veränderung, Existenz oder Intensität eines bestimmten Sachverhalts signalisieren. Diese komplexe Materie wird oft in einfachen Botschaften vermittelt und kann in der Öffentlichkeit zu einer gesteigerten, subjektiven Dringlichkeit eines Sachverhalts führen. Erhebungen, Quoten und Meinungsumfragen fallen unter diese Kategorie. Eine weitere Möglichkeit ein Problem schlagartig ins Bewusstsein zu rufen, ist ein focussing event, also Krisen (Flugzeugabsturz, Umweltkatastrophe o.ä.), die die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Problem lenken. Der 11. September oder die Reaktorkatastrophe in Fukushima sind hier geeignete Beispiele. Auch feedback, durch eine negative Evaluation früherer politischer Entscheidungen kann Bewusstsein steigern. Auch erfolgreiche Policies können zu spillover-Effekten führen, wobei eine erste Entscheidung weitere in dieselbe Richtung nach sich ziehen kann (vgl. Herweg 2013: 326; Rüb 2009:379f.). Zahariadis erweitert das Konzept Kingdons noch um den Aspekt der problemload, also „the number of difficult problems occupying the attention of policy makers“ (Zahariadis 2007: 72), da Aufmerksamkeit ein wichtiges Element im Problem-Strom ist und eine große Anzahl verschiedener Sachverhalte es unwahrscheinlicher macht, dass eine spezifische Problematik auf die politische Agenda kommt (vgl. ebd.: 72). Der Problemstrom drückt die Kontingenz moderner Gesellschaften aus. Es wird all das problematisiert, was bisher noch nicht verbindlich entschieden wurde oder neu entschieden werden soll. Die Auslösungsbedingung für politisches Handeln ist, dass zentrale Sachverhalte wahrgenommen und von politischen Akteuren zu ‚Problemen‘ gemacht werden.
Der Politics-Strom bezieht sich auf den prozessualen Aspekt des Politischen. Hier ist besonders die Meinung von Wählern, Parteien und Interessengruppen von Bedeutung. Die wichtigen Variablen sind hier die national mood, die öffentliche Meinung, die als „the notion that a fairly large number of individuals in a given country tend to think along common lines and that the mood swings from time to time“ (Kingdon 1995: 153) definiert ist. Hier ist vor allem der Zeitgeist der Gesellschaft wichtig, der es möglich macht, dass manche Policies leichter den Weg auf die politische Agenda finden als andere. Hinzu kommt die Machtverteilung der organisierten Interessen. Policies sind nach Kingdon erfolgreicher, wenn starke Interessen eine Entscheidung befürworten et vice versa. Der letzte Punkt im Politics-Strom ist die Regierung. Hier ist vor allem der „turnover of key personell“ (Rüb 2014: 382) wichtig. Da Wahlen permanente Unruhe in die Besetzung der Regierung bringen, verändern sich auch die Chancen verschiedener Policies. Zahariadis ersetzt diese Faktoren durch eine einzige konzeptionelle Variable, die Ideologie der Regierungspartei, um den MSA besser auf parlamentarische Regierungssysteme zuzuschneiden. Er argumentiert, dass die national mood stark von der Regierungspartei beeinflusst und zu großem Teil durch politische Kampagnen gesteuert wird. Darüber hinaus diagnostiziert er, dass in der parlamentarischen Gesetzgebung der meisten (europäischen) Länder, Parteien gegenüber Individuen dominant sind und somit nicht der turnover of key personell, sondern Regierungswechsel im Sinne von Parteienwechsel die zentrale Variable des Politics-Stroms ist. Die Machtverteilung der organisierten Interessen konzentriert sich laut Zahariadis stark auf die Regierungspartei und weniger auf die Verwaltung, weil zentrale Konflikte zwischen Regierung und Opposition ausgetragen werden und nicht zwischen dem Präsidenten und den beiden Häusern des Kongresses (vgl. ebd.: 383).
Der Policy-Strom ist eine Art Ursuppe, die policy primeval soup, in der Ideen und potentielle Lösungen, zum Teil auch völlig unabhängig von konkreten Problemen, umherschwimmen (vgl. Herweg 2013: 327). Kingdon formuliert dies wie folgt: „proposals are floated, come into contact with one another, are revised and combined with one another, and floated again“ (Kingdon 1995: 21). Der Austausch über diese Ideen findet in Policy-Communities statt, die aus Politikfeldspezialisten bestehen, die ein Interesse an dem Sachverhalt haben. Konkret sind hier vor allem Bürokraten, Wissenschaftler, Think Tanks, Ideologen, Stiftungen und Interessensvertreter wichtig, die auf Kongressen, Anhörungen, in Kommissionen, Paper und Zeitungen Stellung nehmen. Eine Idee, die man berücksichtigen kann, muss technisch machbar sein, normative Akzeptanz besitzen, finanzierbar sein, und Öffentlichkeit sowie Entscheidungsträger müssen empfänglich dafür sein – der Vorschlag muss also realistisch implementierbar sein (vgl. Herweg 2013: 327). Ideen werden im Policy-Strom oft ‚aufgekocht‘, indem sie beispielsweise in einer Rede erwähnt werden, um die Reaktion zu testen. Ob eine Policy den Sprung auf die Agenda schafft, ist vor allem abhängig von ihrer Fähigkeit zur Kombination mit bereits bestehenden Optionen und zum anderen von der Netzwerkstruktur des Policy-Feldes, die über Größe, Interaktionsmodus, Kapazität und Zugang charakterisiert werden kann (vgl. Rüb 2014: 381). Integrierte Netzwerke zeichnen sich durch geringe Größe, Konsensorientierung, eingeschränkten Zugang und hoher administrativer Kapazität aus. Nur Ideen, die mit anderen Policies kombiniert werden können und einen geringen Innovationsgrad aufweisen, sind erfolgreich. Unstrukturierte Netzwerke hingegen sind größer, konkurrenzorientierter, sie besitzen eher geringe administrative Kapazität und neue Teilnehmer finden einfacher Zugang. Ideologisch weiter auseinanderliegende Optionen sind möglich und die Chance für rapide Politikoptionen ist größer (vgl. ebd.: 381f.). Der Policy-Strom ist der Ausdruck der Möglichkeiten einer Gesellschaft und in ihm finden die zentralen Auseinandersetzungen einer pluralistischen Gesellschaft mit sich selbst statt.
Im Garbage-Can-Model sowie im MSA hängt der Policy-Outcome von der Zusammenführung der verschiedenen Ströme ab (iii). Die zentrale Rolle spielen hier nicht Institutionen, sondern Zeit und Personen, was den MSA von anderen Methoden der Policy-Analyse abhebt (vgl. ebd. 387). Zeit ist zentral für das Konzept der Multiple Streams. Sie fließt kontinuierlich in Minuten, Stunden, Tagen und Jahren, während Diskussionen über Probleme geführt werden, aber eine Realisierung einer Policy, beziehungsweise der Sprung auf die Agenda, nur in Verlauf mehrerer Jahre gelingt oder scheitert. Andererseits scheint Zeit auch zuweilen diskontinuierlich, wenn sie komprimiert wird und in wenigen Tagen, Wochen und Monaten realisierbar wird, was sonst nicht oder nur langsam möglich war. Diese Denkfigur ist das window of opportunity, welches sich überraschend und nur unter bestimmten Bedingungen öffnet. Kingdon definiert sie als „opportunit[ies] for advocates of proposals to push their pet solutions, or to push attention to their special problems” (Kingdon 1995: 165). Diese Fenster bleiben nur kurze Zeit geöffnet und wenn Akteure die Gelegenheit nicht nutzen oder nutzen können, müssen sie abwarten bis sich das nächste Policy-Fenster öffnet, um ihre Ideen auf die Agenda zu setzen. Zeitfenster öffnen sich oder werden aktiv geöffnet. Sie können sich durch Ereignisse im Politics-Strom, wie etwa einem Regierungswechsel, öffnen. Aber auch im Problem-Strom können focussing events, wie der Reaktorunfall in Fukushima, öffentliche und politische Aufmerksamkeit neu strukturieren, um schließlich Ideen den Sprung auf die Agenda zu ermöglichen, wie im Fall des deutschen Atomausstiegs geschehen. Die Zeitfenster sind von unterschiedlicher Dauer, werden von Medienaufmerksamkeit, der Ereignisintensität und der Öffentlichkeitswahrnehmung wechselseitig beeinflusst (vgl. Nagel 2008: 98).
Zeitfenster können aber auch von Akteuren geöffnet werden. An dieser Stelle wird vom Political Entrepreneur gesprochen, dessen Aufgabe es ist, die verschiedenen Ströme miteinander zu verkoppeln (coupling), genauer gesagt, das Material der Ströme, welche durch das politische System fließen, zu verbinden. Diese Form des politischen Handelns umfasst mehrere Tätigkeitsfelder, Ressourcen und Zugang. Auch der politische Mut und das Geschick einzelner Akteure sind relevant. Durch Framing geben PE einer anfangs mehrdeutigen Ausgangssituation eine dominierende Interpretation. Weder Informationen noch die Interpretation von Zahlen sind neutral. Die Kunst des PE ist es, diese in einem spezifischen Kontext zu zeichnen, den Fakten eine Interpretation zu geben und diese gegen andere durchzusetzen (vgl. Rüb 2014: 389). Akteure haben Macht, wenn sie einem mehrdeutigen Sachverhalt eine eindeutige Interpretation aufzwingen können. Eng verbunden damit ist die Symbolisierung, mit der die Reduktion hochkomplexer Sachverhalte auf ein Symbol gemeint ist. Durch geschickte Präsentation der eigenen Position kann man ungewünschte Optionen schwächen und die eigene stärken. „The presentation of an option as a loss relative to the status quo tends to bias choice. People are generally loss averse in the sense that losses loom larger than gains“ (Zahariadis 2007: 77). Symbole und Emotionen können ein nützliches Mittel sein, um Positionen Gewicht zu verleihen (vgl. ebd.: 77). Auch die Mobilisierung von Ängsten mit Symbolen wie ‚das Boot ist voll‘ oder ‚eine Flut an Flüchtlingen‘ helfen politische Entscheidungen als alternativlos zu begründen (vgl. Rüb 2014: 389). Darüber hinaus ist das Management der Zeit von großer Bedeutung. Zahariadis spricht hier von salami tactics (Zahariadis 2007: 78). Damit ist gemeint, dass ein politischer Unternehmer zu jeder Zeit genau wissen muss, wann er Koalitionen und Kompromisse bilden muss, wann er kompromisslos agiert oder wann er mehr auf Argumente, als auf Macht setzen sollte. Strategische Manipulation des Entscheidungsprozesses macht Policies erfolgreich.
„Entrepreneurs are assumed to have a grand design of the desired outcome. However, because they are reasonably certain their desired solution will not be adopted because it’s too risky, they cut the process into distinct stages which are presented sequentially to policy makers. Doing so promotes agreement in steps” (Zahariadis 2007: 78).
Eine weitere Möglichkeit Ideen auf die Agenda zu helfen ist affect priming, also die strategische Beeinflussung von Informationen (vgl. Rüb 2014: 390). Emotionale Dimensionen haben großen Einfluss auf politische Prozesse. Negative Stimmungen und Kontexte führen zur Überschätzung und Überbetonung negativer Folgen von Handlungen anderer und tragen zur Polarisierung bei (vgl. ebd: 390). Wenn es dem PE gelingt, ein Policy-Fenster zu nutzen, dann findet die favorisierte Policy Eingang auf die Regierungsagenda, der „list of subjects that are getting attention“ (Kingdon 1995: 4), und auf die Entscheidungsagenda, also der „list of subjects within the governmental agenda that are up for an active decision“ (Kingdon 1995: 4). Aus dem Multiple-Streams-Ansatz lassen sich also folgende falsifizierbare Annahmen ableiten (vgl. Herweg 2013: 333f.; Zahariadis 2007: 78):
1. Problem-Strom
a. Das Auftreten einer politikfeldspezifischen Krise oder Katastrophe erhöht die Wahrscheinlichkeit für einen Wandel.
b. Je stärker politikfeldspezifische Indikatoren sich verschlechtern, desto wahrscheinlicher wird ein Wandel.
c. Je stärker das Feedback auf Abweichungen des Ist-Zustandes von einem erwünschten Soll-Zustand hinweist, desto wahrscheinlicher wird ein Wandel.
d. Eine geringe problemload der politischen Agenda erhöht die Wahrscheinlichkeit für einen Wandel
2. Politics-Strom
a. Politischer turnover, insbesondere der Regierungspartei, macht Wandel wahrscheinlicher.
b. Die Machtverteilung der organisierten Interessen bestimmt die Wahrscheinlichkeit für einen politischen Wandel.
c. Die Veränderung der öffentlichen Stimmung kann den Wandel beschleunigen.
3. Policy-Strom
a. Falls eine ausgearbeitete Alternative technisch machbar, finanzierbar, normativ akzeptiert und die Öffentlichkeit empfänglich für die Idee ist, ist ein Wandel wahrscheinlich.
b. Je stärker Policy-Communities fragmentiert sind, desto leichter können sich neue Ideen entfalten und desto stärker kann ein Wandel ausfallen.
4. Policy-Entrepreneure
a. Je größer der Anspruch von Policy Entrepreneuren ist, angehört zu werden und umso beharrlicher ihr Auftreten ist, desto wahrscheinlicher kommt es zu einem Wandel.
b. Je besser Policy Entrepreneure in der Lage sind Symbolisierung, Framing, affect priming und Salami tactics einzusetzen, umso wahrscheinlicher ist ein Wandel
c. Die Präferenz des erfolgreichen Policy Entrepreneurs spiegelt sich in der verabschiedeten Policy wider.
5. Policy-Window
a. Treffen je mindestens eine Annahme zu, ist ein Agendawandel und Policy-Output wahrscheinlich.
Mithilfe des Multiple-Streams-Ansatzes soll die politische Situation, in der die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen wurde aufgegliedert und untersucht werden. Zuerst soll ein Abriss der Geschichte der Wehrpflicht den nötigen Hintergrund liefern, um heutige Entwicklungen besser zu verstehen. Anschließend wird die politische Realität der Bundeswehrreform in die drei Ströme des MSA übersetzt. Auch wenn die Ströme in Wirklichkeit nie vollständig voneinander zu lösen sind, bietet dies ein analytisches Werkzeug, um die Entwicklungen des Grundwehrdiensts besser zu verstehen. Anschließend wird versucht einen politischen Entrepreneur zu identifizieren, der das Zeitfenster genutzt hat und der Policy half auf die Agenda zu gelangen.
Die allgemeine deutsche Wehrpflicht fand ihre Wurzeln in den französischen Revolutionskriegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Die militärischen Erfolge Napoleons wurden unter anderem als Folge der in Frankreich eingeführten Wehrpflicht gewertet (vgl. Händel 1962: 67f.). 1814 wurde die allgemeine Wehrpflicht im königlichen Preußen gesetzlich verankert, um die militärischen Strukturen zu reformieren und zu modernisieren, aber auch um den Bedingungen des franko-preußischen Diktatfriedens zu umgehen (vgl. ebd.: 39f.). Preußischer Militarismus durchdrang Gesellschaft und Politik des Kaiserreichs nahezu vollkommen. Die Wehrpflicht trieb als mengenmäßig größte Gruppe alle militärischen und kriegerischen Maßnahmen des ersten Weltkriegs an (vgl. Herz 2003: 101-103). In der Weimarer Republik wurde das Militär durch die Friedensbedingungen des Versailler Vertrags stark begrenzt und die Wehrpflicht abgeschafft, Militarismus blieb jedoch ein prägendes Merkmal der deutschen Gesellschaftsstruktur (vgl. ebd.: 129-131). Der Nationalsozialismus strebte sofort nach der Machtübernahme die maximale Steigerung der Wehrkraft und die Wiedereinführung der Wehrpflicht (1935) an, da die größtmögliche Volkskraftausschöpfung eine unabdingbare innen- sowie außenpolitische Voraussetzung für die kriegerischen und ideologischen Absichten des dritten Reichs war (vgl. ebd.: 178f.). Nach den dramatischen Erfahrungen des Krieges war die Bereitschaft jemals wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen so gering wie niemals zuvor in Deutschland. Mit den Pariser Verträgen hatte Westdeutschland seine Souveränität und die Möglichkeit zur Wiederbewaffnung zu großen Teilen wiedererlangt. Die Einführung der Wehrpflicht 1955 wurde durch die Bündnisverpflichtungen gegenüber der NATO, vor allem im Hinblick auf den Warschauer Pakt, gerechtfertigt (vgl. ebd. 207f.). Die DDR wollte als ‚wahrhaft freiheitlicher Staat‘ gelten und lehnte die Wehrpflicht zunächst öffentlich ab. 1962 kam es jedoch auch in Ostdeutschland zur Wiedereinführung, die nach außen als notwendige Reaktion auf die Aufrüstung des Klassenfeinds begründet wurde (vgl. ebd.: 286f.). Der Fall der Mauer in Berlin im November 1989 steht symbolisch für den Niedergang des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kalten Krieges. Am 3. Oktober 1990 kommt es schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands. An der Wehrpflicht sollte festgehalten werden. Am 12. September 1990 konnte im Zwei-plus-Vier-Vertrag Deutschland seine 1945 verlorene Souveränität endgültig wieder zurück gewinnen. Die BRD musste weder neutral bleiben und konnte an der Wehrpflicht festhalten (vgl. ebd.: 289). Doch die Akzeptanz in der Bevölkerung insbesondere der Wehrpflichtigen steht im wiedervereinigten Deutschland dem preußischem Militarismus und Werteverständnis diametral gegenüber. Die Kriegsdienstverweigerungsraten explodierten aufgrund fehlender Bedrohungsszenarien und zunehmender Out-of-area-Debatten. Zwischen 1990 und 1991 verdoppelten sich die Verweigerungsraten von 74.309 auf 150.722 und pendelten sich auch auf diesem hohen Niveau ein. (vgl. ebd.: 292). Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde auch das Ende der Wehrpflicht eingeleitet. Dies war jedoch zuerst nicht so klar ersichtlich, wie es aus heutiger Perspektive scheint. Zunächst wurden durch diverse Reformen und die Reduzierung der Dauer des Dienstes versucht die Wehrpflicht mit ins 21. Jahrhundert zu tragen. Der bis 1990 15-monatige Grundwehrdienst (GWD) wurde Mitte der 90er von 12 auf 10 Monate, 2002 auf 9 Monate und schließlich 2010 auf 6 Monate reduziert. Am 15. Dezember 2010 folgte die Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 durch das Bundeskabinett (vgl. bundeswehr.de 2013a). Die Anzahl der Wehrdienstleistenden sank kontinuierlich von 188.697 im Jahr 1990 bis auf 68.304 in 2009 (vgl. Abbildung 2) Auf diese Reformen soll im nächsten Kapitel näher eingegangen werden, um das Feedback auf die bisherigen Entscheidungen zu untersuchen. Es ist wichtig, die Veränderungen bezüglich der Wehrpflicht auch vor dem Hintergrund der sich wandelnden Militarisierung und dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu verstehen, die sowohl die sicherheitspolitische Relevanz als auch die gesellschaftliche Akzeptanz grundlegend beeinflussten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Anzahl der einberufenen Grundwehrdienstleistenden und freiwillig länger Wehrdienstleistenden.
Quelle: Eigene Darstellung nach Bundeswehr.de 2013a
Im folgenden Abschnitt soll ein kurzer Abriss der wichtigsten Ereignisse eine Vorstellung des Zeitrahmens, in dem die Entscheidung zur Bundeswehrreform getroffen wurde, aufgezeigt werden. Dies bietet einen starken Kontrast zu den Entwicklungen und zeitlichen Rahmen, in denen Reformentscheidungen bisher getroffen wurden. Am 28. Oktober 2009 wurde Guttenberg zum Bundesverteidigungsminister ernannt (vgl. BMVg 2013). Am 13. April 2010 setzte der Minister eine Strukturkommission ein, die bis Ende des Jahres Vorschläge für eine straffer organisierte Bundeswehr machen sollte. Noch bevor der Bericht am 26. Oktober 2010 veröffentlicht wurde, deutete der ehemalige Verteidigungsminister in einer vielbeachteten Rede vor der Führungsakademie der Bundeswehr am 26. Mai 2010 sowie in Äußerungen zur Kabinetts-Sparklausur am 7. Juni 2010 an, ein Ende der Wehrpflicht zu verfolgen (vgl. Meyer 2010: 19). Ebenso scheint die Entscheidung auch innerparteilich sehr früh gefallen zu sein, da die Präsidien von CDU und CSU schon am 26./27. September 2010, also einen Monat vor der Veröffentlichung der Strukturkommission, eine gemeinsame Erklärung zur Reform der Bundeswehr beschlossen hatten, in der festgehalten wurde, „dass eine sicherheitspolitische Notwendigkeit für die allgemeine Wehrpflicht nicht mehr gegeben ist“ (CDU/CSU 2010: 3). Am 29. Oktober 2010 wurde dann auch auf dem Parteitag der CSU und am 15. November 2010 auf dem Parteitag der CDU der Präsidiumsbeschluss ohne jegliche Änderung beschlossen (vgl. Meyer 2010: 20). Die Union stimmte also für eine Aussetzung der Wehrpflicht und öffnete damit den Weg für das Wehrrechtsänderungsgesetz (17/4821), welches am 24. März 2011 die allgemeine Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 Jahres aussetzte (vgl. Bundestag.de 2011). Von der Einsetzung der Strukturkommission bis zum Beschluss des Gesetzes vergingen also 11 Monate. Zwischen der Rede vor der Führungsakademie bis zum Präsidiumsbeschluss von CDU/CSU vergingen nur 4 Monate.
[...]
1 Dieses Zitat wird Victor Hugo zugeschrieben und lautet im Original: „On résiste à l'invasion des armées; on ne résiste pas à l'invasion des idées.“ (Hugo 1877: 600)