Bachelorarbeit, 2016
37 Seiten, Note: 2,0
1 Einleitung
2 Theoretische Begriffsbestimmung
2.1 Das Konzept der embedded democracy
2.1.1 Teilregime A: Wahlregime
2.1.2 Teilregime B: Politische Teilhaberechte (öffentliche Arena)
2.1.3 Teilregime C: Bürgerliche Freiheitsrechte
2.1.4 Teilregime D: Horizontale Gewaltenkontrolle
2.1.5 Teilregime E: Effektive Regierungsgewalt
2.2 Defekte Demokratien und ihre Abgrenzung
2.2.1 Teilregime A: Defizite im Wahlregime
2.2.2 Teilregime B: Einschränkungen in den politischen Teilhaberechten
2.2.3 Teilregime C: Verletzungen der Bürgerlichen Freiheitsrechte
2.2.4 Teilregime D: Eingeschränkte Gewaltenkontrolle
2.2.5 Teilregime E: Defizite der Effektiven Regierungsgewalt
2.2.6 Zusammenführung und Typenbildung
2.3 Grenzen des Konzepts
3 Ungarn zwischen 2010 und
3.1 Das ungarische Wahlregime
3.2 Politische Teilhaberechte in Ungarn
3.3 Bürgerliche Freiheitsrechte in Ungarn
3.4 Ungarns horizontale Gewaltenteilung
3.5 Effektive Regierungsgewalt in Ungarn
4 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Die transformatorische Entwicklung Ungarns galt nach der Auflösung der Sowjetunion und der damit einhergehenden Aufhebung des Warschauer Vertrags im Juli 1991 als vorbildlich (vgl. Müller 2013: 14). Somit wurde Ungarn im Jahr 2003 von vielen Transformationsforschern wie Merkel et al. (2003: 147) als konsolidierte und rechtsstaatliche Demokratie bezeichnet und am 1. Mai 2004 als Mitgliedsstaat in die EU aufgenommen.
Zwei wesentliche Indizien aus der jüngeren Vergangenheit werfen jedoch die Frage auf, ob sich der Status einer rechtsstaatlichen Demokratie in Ungarn im Jahr 2015 halten lässt. Zum einen hat sich bei den ungarischen Wahlen im Jahr 2010 eine neue Regierungskonstellation herausgestellt, die unter Viktor Orbán mit seinem rechts-konservativen Parteienbündnis der FIDESZ-KDNP die Zweidrittelmehrheit im Parlament stellen konnte und sich somit die Möglichkeit bot, im Jahr 2011 ohne das Mitwirken der Oppositionsparteien eine neue Verfassung zu bearbeiten und zu verabschieden. Die Ankündigung einer neuen Verfassung brachte als Reaktion zehntausende Demonstranten auf die Straße (vgl. Becker 2012: 928). Diese trat im Januar 2012 in Kraft. Zahlreiche Änderungen zur vorherigen Verfassung, wie beispielsweise das Wahlgesetz und insbesondere die Wahl der Verfassungsrichter, lassen sich feststellen. Besonders letztere lässt auf Defizite in der Gewaltenteilung schließen, da die Zweidrittelmehrheit der Orbán-Administration – ohne Einbindung der Opposition – die Richter nach eigener Fasson ernennen konnte. Zum anderen verabschiedete die Regierung Orbán zwischen 2010 und 2015 umstrittene Gesetze, wie das Mediengesetz, aber vollzog auch Maßnahmen gegen Nichtregierungsorganisationen und betrieb Vetternwirtschaft. Folglich machen sich bei Länderuntersuchungen von Freedom House und des Bertelsmann Transformationsindexes hinsichtlich Ungarn in diesem Zeitraum negative Tendenzen bemerkbar.
Somit wird die Frage aufgeworfen, ob der gegenwärtige Status Ungarns wegen der genannten Veränderungen nicht bereits den Status einer liberalen rechtsstaatlichen Demokratie verloren hat, ohne dabei zu einer Autokratie geworden zu sein. Diese Frage lässt sich mit dem Konzept der embedded democracy bearbeiten, da es hilft, Mischformen, nämlich defekte Demokratien im Spektrum politischer Systeme zu bestimmen. Dabei werden defekte Demokratien als „Herrschaftssysteme, die sich durch das Vorhandensein eines weitgehend funktionierenden demokratischen Wahlregimes zur Regelung des Herrschaftszugangs auszeichnen, aber durch Störungen in der Funktionslogik eines oder mehrerer der übrigen Teilregime die komplementären Stützen verlieren, die in einer funktionierenden Demokratie zur Sicherung von Freiheit, Gleichheit und Kontrolle unabdingbar sind“ (Merkel/Puhle et al. 2003: 66) definiert. Oder kürzer gefasst wird von einer nicht mehr intakten rechtsstaatlichen, also defekten Demokratie gesprochen, wenn in bereits einem Teilregime der embedded democracy signifikante Defekte vorliegen (vgl. ebd.: 73).
Die Veränderungen unter der Orbán-Administration lassen vermuten, dass Teilkomponenten einer intakten rechtsstaatlichen Demokratie signifikant verletzt wurden. Darum lautet meine These, dass sich Ungarn im Zeitraum von 2010 bis 2015 zu einer defekten Demokratie gewandelt hat.
Zum konzeptionellen Vorgehen der Überprüfung dieser Aussage wird in dem ersten Teil dieser Arbeit ein theoretisches Fundament erarbeitet, auf dem im zweiten Teil die Prüfung des politischen System Ungarns erfolgen kann.
Der Theorieteil soll im ersten Schritt dem Zweck der Herleitung und Erläuterung des Konzepts der embedded democracy dienen. Auf dieses Konzept stützt sich die darauffolgende Erarbeitung der Bedingungen für defekte Demokratien, sodass Indikatoren zur politischen Systemanalyse Ungarns definiert und festgelegt werden können. Dabei sollen unterschiedliche Typen defekter Demokratien erläutert werden, um beim Zutreffen der in dieser Arbeit aufgestellten These Ungarn entsprechend einordnen zu können. In einem vierten Schritt werden durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem zuvor erarbeiteten Konzept die Konzeptgrenzen aufgezeigt. Bei der Umsetzung des ersten Teils greife ich auf Literatur von Wolfgang Merkel, Robert A. Dahl, Michael Krennerich, Manfred G. Schmidt und weiterer Autoren zurück.
Im zweiten, dem empirischen Teil der Arbeit soll die Funktionsfähigkeit der Demokratieelemente auf zwei Ebenen geprüft werden. Einerseits anhand der ungarischen Verfassung von 2011 und weiteren verabschiedeten Gesetzen und andererseits mithilfe von Länderberichten und -daten, wie denen der Bertelsmann-Stiftung (BTI) und des Freedom House sowie Berichten von Amnesty International und aus politischen Fachzeitschriften. Somit erhoffe ich mir eine realistische und ausgewogene Bewertung des politischen Systems Ungarns vornehmen zu können.
Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, kann bei der Bewertung des politischen Systems Ungarns auf politisch-kulturelle oder sozioökonomische Aspekte nicht eingegangen werden.
Um die Frage nach dem politischen System Ungarns im Zeitraum 2010 bis 2015 genau analysieren zu können und um die These, dass sich Ungarn zu einer defekten Demokratie gewandelt hat, zu untersuchen, muss zunächst ein geeignetes Modell gefunden werden, das eine geeignete Demokratieanalyse zulässt.
Woran lässt sich also „messen“, ob und in welchen Bereichen sich die Qualität der ungarischen Demokratie verändert hat? Dazu muss ein geeignetes demokratietheoretisches Konzept vorliegen, welches eine umfassendere Analyse der relevanten demokratischen Aspekte zulässt (vgl. Merkel et al. 2003: 40).
Allgemeindefinitionen von Demokratien, wie etwa nach der Art der Demokratieformel des US-amerikanischen Präsidenten Lincoln von 1863, die die Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk verlangt, sind zu diffus geraten, als dass eine analytische Veränderung in einem politischen System hierdurch messbar gemacht würde (vgl. Schmidt 2010: 164).
Stattdessen sollte der Fokus bei der Suche eines geeigneten Konzepts auf die Transformationsforschung gesetzt werden. Besonders durch die erste und zweite „Demokratisierungswelle“ (Huntington 1991) der 40er bis frühen 60er Jahre wurde das Konzept der „Polyarchien“– wörtlich „Vielherrschaft“ – von Robert Dahl (1971) bekannt. Ein wesentlicher Gewinn ist dabei die trennscharfe Unterscheidung vom Systemtypus der Autokratie und der Demokratie. Eine Demokratie nach Dahls Konzept erfordert das Vorliegen zweier verknüpfter Definitionsmerkmale: Zum einen den offenen Wettbewerb um die politischen Ämter und die Macht und zum anderen die gleichzeitige Möglichkeit der Bürger, sich partizipieren zu können (vgl. ebd.: 5). Zu letzterem gehört der Spielraum, eigene Präferenzen zu formulieren, die Präferenzen durch verschiedene Aktivitäten zu verdeutlichen und die Verpflichtung der Regierung, jede Präferenz – unabhängig von ihrem Autor und Inhalt – gleich zu bewerten (vgl. ebd.: 3).
Dabei umschreibt Dahl (1997: 95) sein Demokratiekonzept der Polyarchie als repräsentative Demokratie, in der Männer und Frauen ein gleiches Wahlrecht zugestanden bekommen.
Als Schwäche des Polyarchien-Modells kann die ausschließliche Konzentration der beiden wesentlichen Dimensionen auf die vertikale Herrschaftslegitimation und ‑kontrolle benannt werden (vgl. Merkel et al. 2003: 32), wodurch das Vorliegen der horizontalen Gewaltenteilung innerhalb des politischen Systems außer Acht gelassen wird. Dabei wird eine Polyarchie als real existierende Durchschnittsdemokratie, die lediglich die von Dahl genannten Minimalbedingungen zu erfüllen hat, bestimmt und erfasst folglich nicht gesondert „ideale Demokratien“. Eine liberale und rechtsstaatliche Demokratie ist jedoch, wie von O’Donell (1994: 61) verstanden, insbesondere von dieser institutionellen Gegebenheit der horizontalen Herrschaftslegitimation und -kontrolle gekennzeichnet, die durch die Funktion von checks and balances geprägt ist. Dieses Defizit brachte die Methodik der Polyarchie bei der „dritten Demokratisierungswelle“ (Huntington 1991), vor allem in Südosteuropa und Lateinamerika und der ergänzenden Demokratisierungswelle in Ost- und Mitteleuropa Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre an seine Grenzen.
Außerdem wird in Dahls Konzept nicht aufgelöst, welche Form des öffentlichen Wettbewerbs demokratieförderlicher ist. Dabei wird die Frage aufgeworfen, welche Art des Parteienwettbewerbs, beispielsweise eine Art des Vielparteiensystems oder die eines Zweiparteiensystems mit oder ohne das demokratische System ablehnender Parteien, die Qualität der Demokratie erhöht (vgl. Bühlmann et al. 117).
Folglich ist ein Konzept zu finden, dass eine weitere Unterteilung innerhalb der Demokratien und der Autokratien zulässt, um die Veränderung von Demokratieniveaus solide aufzeigen zu können und um auch die von Zinecker (2004: 244) aufgeworfene Frage zu klären, wann ein politisches System mit entsprechenden Defiziten als eine Ausprägung von Autokratie oder von Demokratie gilt.
Aus derselben Motivation heraus erweiterten Merkel/Croissant (2000: 5) die beiden von Dahl (1971) geforderten Dimensionen, die des offenen Wettbewerbs um die Ämter und die Macht und die Dimension der gleichen Teilhabemöglichkeit der Bürger am gesellschaftlichen und politischen Leben, um eine dritte Dimension, die die Bedingungen für eine rechtstaatliche und konstitutionelle Demokratie vervollständigen soll. So ergeben sich aus den drei Dimensionen sechs Merkmale[1], die dabei helfen sollen Demokratien und Autokratien in ihren verschiedenen Formen zu unterscheiden, nämlich der Herrschaftslegitimation[2], dem Herrschaftszugang[3], dem Herrschaftsmonopol[4], der Herrschaftsstruktur[5], dem Herrschaftsanspruch[6] und der Herrschaftsweise[7]. Entscheidend für die dritte Dimension sind die Herrschaftsstruktur und die Herrschaftsweise, die beide mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen nach der Gewaltenkontrolle, -begrenzung und -teilung fragen und somit ein weiteres Kriterium gesetzt wird, um insbesondere innerhalb der demokratischen Systeme eine weitere qualitative Unterteilung zuzulassen (vgl. Merkel/Croissant 2000: 6).
Dabei lassen sich drei wesentliche Dimensionen zur Unterscheidung politischer Systeme herausbilden: Das „Universelle Wahlrecht“, das „Effektive Regierungsmonopol“ der legitimierten Repräsentanten und der „liberale Rechts- und Verfassungsstaat“.
Auf Grundlage dieser drei Dimensionen zur Unterscheidung von politischen Systemen basiert das nachfolgend zu erläuternde Konzept der embedded democracy.
Das ‚eingebettete‘ Demokratiemodell wurde unter der Leitung von Wolfgang Merkel und Hans-Jürgen Puhle (2003) entwickelt. Es basiert auf einem modifizierten Konzept der Polyarchien von Dahls, dass versucht, das sich als Schwäche herausgestellte fehlende Stück der horizontalen Kontrolle zu schließen. Dadurch wird der Anspruch der embedded democracy höher gesetzt als der einer Polyarchie und geht von einer liberalen rechtsstaatlichen Demokratie aus. Auch geht das Konzept in seinen Anforderungen über die Erfüllung der sechs Kriterien der Herrschaftsmerkmale von Merkel/Croissant (2000) hinaus.
Dabei wird bei der embedded democracy davon ausgegangen, dass Demokratie nicht als eigenes ganzes Regime besteht, sondern aus vielen einzelnen Teilregimen, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen (vgl. Schmitter 1997: 243). Diese sind doppelt eingebettet: auf der einen Seite extern und andererseits intern.
Extern erfolgt die Einbettung, um die Demokratie gegen Destabilisierungstendenzen, von außen und innen zu schützen und die staatlichen und sozioökonomischen Funktionsbedingungen der Demokratie zu erfüllen (vgl. Merkel et al 2003: 57).
Dabei soll mit der Staatlichkeit der Geltungsraum der politischen Entscheidungen und Regeln gegeben sein und ein Territorium, was sich deutlich als Staatsgebiet abgrenzt (vgl. ebd.: 58).
Damit folgt das embedded democracy Konzept von Merkel et al. (ebd.: 60) mit seinen Anforderungen Juan J. Linz und Alfred Stepan (1996: 16ff.) und Jürgen Habermas (1998: 96ff.) nach einem nach innen und außen funktionierender Territorialstaat.
Bei den sozioökonomischen Faktoren müssen zwei Bedingungen für das Funktionieren einer rechtsstaatlichen Demokratie nach Merke et al. (2003: 60) erfüllt sein.
Erstens muss eine Marktwirtschaft vorliegen, die nicht komplett vom Staat kontrolliert wird. Sie muss sich innerhalb der kapitalistischen Ordnungen einfinden, muss jedoch in einem Maße reguliert sein, sodass Ungleichheiten bei den Lebenschancen der Bürger auf Kosten der Freiheit abgebaut werden. Das Prinzip der Privatautonomie und damit die Kernelemente Eigentumsrechte, Vertragsrechte, Geld– und Kreditsysteme müssen vorliegen.
Als zweites muss der Staat sich als neutraler Akteur gegenüber religiösen und weltanschaulichen Fragen positionieren und somit ein bestimmtes Mindestmaß an Pluralisierung und Säkularisierung der Politik und Gesellschaft, aber auch dem Recht ermöglichen. Nur so kann die Gleichbehandlung aller Bürger vor den Akteuren staatlicher Instanzen sichergestellt werden.
Die interne Einbettung der Demokratie erfolgt laut Merke et al. (2003: 60) so, dass einzelne Teilregime die nötige Autonomie erhalten, um ihrer Funktion gerecht werden zu können. Gleichzeitig sind sie auf das Wirken anderer Teilregime angewiesen. Dadurch muss der Grad der Selbstständigkeit so eingeschränkt sein, dass diese Abhängigkeiten bestehen bleiben.
Abbildung 1[8] zeigt das Konzept der embedded democracy. Es umfasst neben den staatlichen und sozioökonomischen Funktionsbedingungen fünf interne Teilregime, deren Funktionalität ausschlaggebend für eine rechtstaatliche liberale Demokratie ist (vgl. ebd.: 50 ff.).
Das Wahlregime hat die Aufgabe, gemeinsam mit den politischen Teil-haberechten des Teilre-gimes B, die vertikale Dimension der Herrschaftslegitimation und ‑kontrolle zu ermög-lichen (vgl. ebd.: 51). Dabei werden zur genaueren Bestimmung des jeweiligen politischen Systems von Merkel et al. (ebd.) Kriterien wie aktives oder passives Wahlrecht, ein universelles Wahlrecht, freie und faire Wahlen sowie die Gewährleistung und der Einsatz von gewählten Mandatsträgern zu Hilfe genommen. Dadurch soll ein offener und fairer Wettbewerb bezüglich der wesentlichen staatlichen Herrschaftspositionen durch die Wahlstimme des Bürgers erfolgen. Durch das Wahlrecht wird ihm die Möglichkeit geboten, die Aktivitäten bisheriger regierender Akteure abzuurteilen oder zu honorieren, aber auch zukünftige Politikgestaltung mitzubestimmen.
Daraus folgend wird dem Wahlregime im Konzept der embedded democracy die wichtigste Bedeutung für die Unterscheidung von Autokratie und Demokratie zugemessen, da so die vertikale, harte Herrschaftskontrolle durch regelmäßig stattfindende Wahlen bei den Bürgern liegt (vgl. ebd.).
Die öffentliche Arena, nämlich die politischen Partizipationsrechte, die über das Wahlrecht hinausgehen, vervollständigt nach Merkel et al. (ebd.: 51 f.) die vertikale Demokratiedimension. Unabhängig von der Stimmabgabe wird so dem Bürger ermöglicht auch zwischen den Legislaturperioden Einfluss auf das öffentliche Leben zu nehmen und seinen politischen Ansichten Ausdruck zu verleihen. Somit wird ihm das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit, der Assoziations-, Demonstrations- und Petitionsteilhabe eingeräumt. Zusätzlich soll es einem jeden Bürger ermöglicht sein, gesellschaftliche Interessenvertretungen zu gründen und sich in ihnen zu partizipieren. Private und öffentliche Medien dürfen keinen Einschränkungen durch politisch motivierte Ambitionen unterlegen.
Nur durch das wechselseitige Zusammenspiel von Teilregime A und der sogenannten leichten Kontrolle des Teilregime B lasse sich den Autoren nach die Funktionslogik demokratischer Wahlen erfüllen.
Die bürgerlichen Abwehr- und Freiheitsrechte ergänzen nach Merkel et al. (ebd. 52 f.) die Teilregime A und B als erstes Teilregime der Rechtsstaatsdimension. Sie ermöglichen dem Staatsbürger Schutz- und Individualrechte vor der Exekutiven und Legislativen, aber auch vor privaten Akteuren. Damit werden die Bürger vor Folter, Terror, Exil, Verhaftung oder unerlaubtem Eingreifen in das Privatleben geschützt und außerdem im selben Zug die Gleichbehandlung vor der Justiz und die Gleichheit ihres Zugangs gewährleistet. Das Staatshandeln folgt damit dem Prinzip, sich an geltendes Recht zu halten und grenzt seine Herrschaftsausübung ein. Somit gehört die Gewährleistung bürgerlicher Freiheitsrechte neben der Institutionalisierung der Gewaltenkontrolle mit zu den Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit.
Bei diesem vierten Teilregime wird der Anspruch, der sich in Robert Dahls (1971) Polyarchien-Modell zur Identifizierung von liberalen rechtsstaatlichen Demokratien nicht erfüllt sah, in das Konzept der embedded democracy eingebunden. Durch die horizontale Gewaltenteilung soll nach Merkel et al. (2003: 54) ein Kontroll- und Verantwortlichkeits-mechanismus institutionalisiert werden, der die Judikative, die Exekutive und die Legislative gegenseitig prägt, aber nicht so stark eingrenzt, dass die jeweilige Gewalt in ihrer autonomen Funktion handlungsunfähig wird. So sollen die Aktivitäten der ausführenden und gesetzesgebenden Gewalten auf ihre Rechtmäßigkeit durch die Judikative überprüft werden können, ohne gleichzeitig einen Funktionsbereich einer der erstgenannten zu dominieren. Auch die Medien als ‚Vierte Gewalt‘ spielen nach Merkel (2015: 19) als informeller Akteur eine Rolle.
Das dritte Teilregime deckt die Dimension der Agendakontrolle in der eingebetteten Demokratie von Merkel et al. (2003: 55 f.) ab. Es soll gewährleisten, dass in der Politikgestaltung lediglich gewählte Repräsentanten regieren. Häufig lässt sich in politischen Systemen erkennen, dass das Militär oder andere demokratisch nicht legitimierte Akteure, die entscheidende Vetokompetenz bei politischen Entscheidungen haben. Solche Einflussnahme auf Politikbereiche sind auch nicht dadurch zu rechtfertigen, dass aus einem historischen Hintergrund autokratischer Herrschaftsstrukturen eine Verfassungsverankerung für beispielsweise die Ermächtigung des Militärs eingeräumt wurde. Die „Effektive Regierungsgewalt“ wird als notwendige Bedingung für die embedded democracy gefordert.
Tabelle 1: Dimensionen, Teilregime und Kriterien der embedded democracy (Merkel/Puhle et al. 2003: 57)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In Tabelle 1 sind diese zuvor erläuterten Teilregime mit ihren Unterkriterien für die spätere Prüfung des politischen System Ungarns im Wesentlichen[9] zusammengefasst.
Da die Prüfungskriterien der drei Demokratiedimensionen erarbeitet wurden, ist in einem nächsten Schritt zu klären, inwieweit Defizite innerhalb der einzelnen Dimensionen Auswirkungen auf die Festlegung des Statuses des politischen Systems haben. Ganz konkret also die Fragen: Wann handelt es sich bei einem politischen System nicht mehr um eine liberale rechtsstaatliche Demokratie, wann um eine Autokratie? Gibt es Mischformen zwischen beiden Systemtypen und wenn ja, wie sind diese unterteilt?
Als eine Grauzone zwischen der rechtsstaatlichen liberalen Demokratie und der Autokratie lassen sich nach Merkel et al. (2003: 65 ff.) defekte Demokratien verorten, die mithilfe des Konzepts der embedded democracy identifiziert werden können. Diese werden von ihnen wie folgt definiert.
„Aus der Perspektive unseres Konzeptes sind defekte Demokratien solche Demokratien, in denen die wechselseitige Einbettung der Teilregime zerbrochen und die Gesamtlogik der rechtsstaatlichen Demokratie gestört ist“ (ebd.: 65).
Weiter ist eine Demokratie nach Merkel et al. (ebd.: 73) bereits dann keine liberale rechtsstaatliche Demokratie mehr, wenn wesentliche Einschränkungen in nur einem der Teilregime aufgezeigt werden können.
Dazu ergänzend wird andererseits gefordert, dass defekte Demokratien immer noch, um sie von den Autokratien abzugrenzen, ein Mindestmaß an Freiheit, Gleichheit und Kontrolle für die politische Selbstbestimmung der Bürger besitzen (vgl. ebd.: 75). Besonders die demokratische Regelung des Herrschaftszugangs und damit die weitgehende Funktionalität des Wahlregimes müssen als Mindestanforderung für eine defekte Demokratie gegeben sein (vgl. ebd.: 66).
Welche Merkmale werden aber konkret in den fünf Teilregimen gefordert, um den Systemstatus einer defekten Demokratie zu erfüllen, ohne dabei in ein autokratisches System abzudriften? Diese Frage soll die folgende Untersuchung nach Einschränkungen innerhalb der fünf Teilregimen leiten, um in dem darauffolgenden zweiten Teil dieser Arbeit eine trennscharfe Einteilung des politischen Systems Ungarns vornehmen zu können.
Das Teilregime A untersucht nach Merkel et al. (ebd.: 76 ff.) anhand der drei Kriterien „aktives und passives Wahlrecht“, „freie und faire Wahlen“ und „gewählte Mandatsträger“ den Zustand des politischen Systems. Jedes dieser drei Kriterien nimmt sich dabei jeweils zwei Indikatoren zur Hilfe, um Defizite festzustellen.
Beim aktiven und passiven Wahlrecht wird als erster Indikator für Indizien eines Defekts nach dem Ausschluss von Staatsbürgern gesucht, die willkürlich und anhand von Persönlichkeitsmerkmalen, wie beispielsweise der Ethnie, dem Geschlecht, des Alters oder des Eigentums kein Wahlrecht erhalten. Zudem können für Nicht-Staatsbürger unzumutbaren Hindernisse bei dem Wunsch zur Einbürgerung in den Weg gestellt werden. Als zweiter Indikator wird nach Verwehrungen des Wahlrechts von Stimmberechtigten durch physische oder strukturelle Gewalt gesucht. Letztere strebt danach, Angehörige bestimmter Gesellschaftsteile von dem Wahlrecht auszuschließen. Damit kommen Merkel et al. (ebd.: 78) zu dem Schluss, dass das universelle Wahlrecht dann als defekt gilt, wenn große Bevölkerungsteile, zumindest unter Duldung der politischen Repräsentanten, ausgeschlossen werden.
Das Kriterium der fairen und freien Wahlen untersucht das Wahlregime nach Einschränkungen in den offenen und kompetitiven Wahlprozessen (vgl. ebd.: 78). Dabei können demokratische Parteien oder Kandidaten verboten sein. Auch die Chancengleichheit der Kandidaten und Parteien während des Wahlkampfes können in dem jeweiligen politischen System nicht gegeben sein. Als zweiter Indikator dient die Untersuchung des Wahlablaufs auf seine Korrektheit (vgl. ebd.). Wenn die Störungsfreiheit des Wahlablaufs und die Neutralität einer Wahlaufsicht nicht gewährleistet sind, so sind das weitere Indizien für Defekte in dem Wahlregime, da diese Einschränkungen den Status von fairen und freien Wahlen nicht erfüllen.
Ein weiteres Merkmal für Defizite besteht, wenn gewählte Mandatsträger, vor allem der Legislativen und der ersten Reihe der Exekutiven nicht oder nicht nur durch direkte oder indirekte Wahlen in ihr Amt berufen worden sind (vgl. ebd.). Als zweite Bedingung für Verletzungen des Wahlregimes ernennen Akteure ohne nachvollziehbare demokratische Legitimationskette Mandatsträger und auch die Ernennungskompetenzen werden in der Hand einer Autorität gebündelt werden (vgl. ebd.: 79).
Wo liegen also in diesem Teilregime die Grenzen zwischen autoritärem und defekt-demokratischen Charakter? Sobald das aktive und passive Wahlrecht eingeschränkt ist, muss von einer Autokratie gesprochen werden, wenn die Ursache der Willkür politischer Autoritäten entstammt, die nicht personenunabhängigen und überparteilich gesetzten Maßstäben folgen (vgl. ebd.). Bei den freien und fairen Wahlen ist die Grenze zur Autokratie überschritten, wenn Manipulationen der Wahlen stattfinden, um Herrschaftspositionen dem Willen des Volkes vorzuenthalten (vgl. ebd.: 80). Im Bereich der gewählten Mandatsträger muss von einer Autokratie gesprochen werden, wenn die überwiegende herrschaftsrelevante Anzahl von Repräsentanten sich nicht auf die demokratische Legitimationskette stützen kann (vgl. ebd.).
[...]
[1] Alle sechs Merkmale finden sich in den Teilregimen der embedded democracy unter anderen Bezeichnungen wieder. Aus diesem Grund wird an dieser Stelle auf eine ausführliche Erläuterung der Herrschaftskriterien von Merkel/Croissant (2000: 5) verzichtet, um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen.
[2] Vgl. Vertikale Dimension der Herrschaftslegitimation der embedded democracy
[3] Vgl. Vertikale Dimension der Herrschaftslegitimation der embedded democracy
[4] Vgl. Dimension der Agendakontrolle der embedded democracy
[5] Vgl. Dimension des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates der embedded democracy
[6] Vgl. ebd.
[7] Vgl. ebd.
[8] Um die Prüfkriterien aus Tabelle 1 mit der alphabetischen Beschriftung der Teilregime C und E aus Abbildung 1 zu vereinheitlichen und Verwirrungen zu vermeiden, wurde deren Positionierung von mir, abweichend zum Original (Merkel et al. 2003: 50), getauscht und an die Tabelle 1 angeglichen.
[9] Eine weitere Ausdifferenzierung anhand weiterer Indikatoren erfolgt im folgenden Kapitel 2.2
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