Bachelorarbeit, 2014
64 Seiten, Note: 2,7
Zusammenfassung
Abstract
1. Einleitung
2. Theorie und Forschungsstand
2.1 Anatomie und Verhalten
2.2 Fragestellung und Hypothesen
3. Methode
3.1 Forschungsdesign
3.3 Stichprobe
3.3 Apparatur
3.4 Durchführung
3.5 Datenanalyse
4. Ergebnisse
4.1 Ergebnisse zur Fragestellung und den Hypothesen
4.2 Weitere Befunde
5. Diskussion
6. Literatur
7. Anhang
Asymmetrisch organisierte Hirnfunktionen haben ihren Ursprung in der komplexen Wechselwirkung zwischen genetischen und epigenetischen Faktoren. Die Abschirmung des linken Auges vom durch die semitransluzente Eierschale einfallenden Licht durch den eigenen Körper verursacht bei normal ausgebrüteten Küken eine asymmetrische lichtbedingte Stimulation der Retina und führt zu einer lateralisierten Organisation des visuellen Systems. Dies äußert sich in messbaren Unterschieden in der Performanz zwischen den Hemisphären des lateralisierten Gehirns sowie in einer Dominanz der stärker stimulierten linken Gehirnhälfte. In dieser Studie wurden zwei Gruppen von Versuchstieren in mono- und binokularer Bedingung getestet, die sich zusammensetzten aus Tauben (Columba livia), die entweder normal ausgebrütet oder lichtdepriviert künstlich inkubiert worden waren und somit keine asymmetrische Lichtstimulation erfahren hatten. Beide Gruppen absolvierten zwei unterschiedliche Arten von visuellen Suchaufgaben, die entweder ein höheres oder ein niedrigeres Ausmaß an visueller Diskriminationsfähigkeit erforderten. Entgegen den auf vorherigen Studien beruhenden Erwartungen zeigte die Gruppe der normal ausgebrüteten Tauben keinen Unterschied zwischen links- und rechtsäugiger Testbedingung. Auch ein Linksbias in einer der Aufgaben konnte nicht beobachtet werden. Allerdings kam es in der Gruppe der dunkel inkubierten Versuchstiere zu einem umgekehrten Effekt; sie zeigten eine Abweichung in der Pickintensität zur rechten Seite. Weiterhin erzielten sie in binokularer Testbedingung bessere Resultate in der komplexeren der Suchaufgaben als die Vergleichsgruppe.
Asymmetrically organized brain functions have their origin in the complex interactions between genetic and ontogenetic factors. The invariant position of the embryo in the egg leads to an asymmetrical photic stimulation due to the semitranslucent eggshell. While the left eye is covered by wing and body and therefore visually deprived, the right eye is near the eggshell and receives a retinal stimulation which causes a cascade of neuronal processes. The result is a functionally lateralized visual system and a dominant left hemisphere, which suppresses the right hemisphere in a higher degree than vice versa. In this study two groups of pigeons (Columba livia) which were either normally hatched or incubated in the dark and therefore received no asymmetrical photic input were tested in two different discrimination tasks, which required either a higher or a lower level of detail discrimination ability. All pigeons were tested bi- and monocular in both tasks. Against prior expectations, there was no hint of a left bias in the normally hatched animals like there has been in previous experiments. There was also no measurable difference between the pecking activity or performance between the left and the right side. The dark incubated pigeons showed however a reversed effect; their pecking intensity was higher on the right side in one of the discrimination tasks. Furthermore they were more successful in the binocular testing condition in the other task than the normal pigeons.
Seit der französische Arzt, Anatom und Anthropologe Paul Broca im Jahr 1861 vor der Société d’anthropologique de Paris sein Konzept der asymmetrischen Lokalisation von Gehirnfunktionen vorstellte, hat sich die wissenschaftliche Meinung, die das Gehirn bis dahin noch weitgehend als einheitliche Masse verstand, grundlegend gewandelt. Die von Broca erforschte Lokalisation der Sprache ist nur eine von vielen zerebralen Leistungen, die seitdem empirisch untersucht wurden. Schon wenige Jahre nach Brocas Vortrag stellte der britische Neurologe John Hughlings Jackson die Theorie auf, dass die Hemisphären nicht wie bisher angenommen bilateral identisch in ihrem Führungsanspruch seien, sondern dass es eine dominante Seite geben müsse. Es entstand die Vorstellung, die linke beherberge den Willen, die rechte sei die automatische Seite, was dazu führte, dass man sich in der Forschung vermehrt auf die linke Hälfte des Gehirns konzentrierte. Erst viel später wandte sie sich auch der rechten Hemisphäre und ihren spezifischen Funktionen zu.
Es kann zum Beispiel gezeigt werden, dass Personen sich in neurologischen Tests wie dem „Cancellation Task“[1] eher Objekten zuwenden, die sich auf der linken Seite ihres Gesichtsfelds befinden. Dieses Phänomen wird als „Pseudoneglect“ bezeichnet, in Anlehnung an das neuropathologische Krankheitsbild des Neglects, welches bei Patienten mit parietalen oder parietookzipetalen Schäden der rechten Hemisphäre auftritt und eine Vernachlässigung des linken Gesichtsfelds nach sich zieht, da dieses durch Kreuzung der neuronalen Verbindungen hauptsächlich von der rechten Hemisphäre verarbeitet wird, wie auch Körperfunktionen von der kontralateral gelegenen Hemisphäre kontrolliert werden (Springer & Deutsch, 1998). Es wird angenommen, dass diese Ungleichheit von einer Überlegenheit der rechten Hemisphäre bezüglich der Kontrolle der räumlichen Aufmerksamkeit herrührt (Diekamp et al., 2005). Unter anderem für sprachbezogene Reize zeigt sich dagegen meist eine Dominanz der linken Gehirnhälfte, die das nach Paul Broca benannte expressive Sprachzentrum sowie das rezeptive Wernicke- Areal beinhaltet (Springer & Deutsch, 1998). Manche Wissenschaftler vermuteten daher, die Lateralisation des Gehirns sei eine Folge der Sprachentwicklung und daher ein spezifisches Phänomen beim Menschen (Springer & Deutsch, 1998; Manns & Güntürkün, 2009).
Eine schwache oder fehlende Lateralisation zerebraler Funktionen sowie interhemisphärischer Informationsaustausch wird heute in Zusammenhang mit verschiedenen neurologischen Erkrankungen gebracht, wie z.B. Dyslexie, Schizophrenie, Autismus (Rogers, 2014) und stottern (Manns, 1998) . Auch eine Prädisposition für psychotische Symptome steht in Verdacht, durch eine schwächere Lateralisation der Sprachfunktionen bedingt zu werden (Sommer & Kahn, 2009), welche außerdem mit schweren Halluzinationen einherzugehen scheint (Sommer et al., 2001).
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Abbildung 1: Die Verarbeitung verbaler Informationen beschränkt sich auf den Menschen, andere Hemisphärenspezialisierungen können auch bei Tieren gezeigt werden.
Vermehrte Forschung auf dem Gebiet der zerebralen Asymmetrien bei Tieren lieferte in Opposition zu den ausschließlich auf den Menschen beschränkten Theorien zur Gehirnlateralisation Hinweise auf eine funktionale Lateralisation bei vielen Wirbeltieren und sogar Insekten wie Bienen und Fruchtfliegen (Manns & Güntürkün, 2009). Eine der ersten Asymmetrien bei Tieren wurde von Fernando Nottebohm und seinen Mitarbeitern entdeckt, die sich mit der Gesangsproduktion von Singvögeln beschäftigten (Springer & Deutsch, 1998). Sie fanden heraus, dass sich der Gesang durch das Durchtrennen des linken Nervus Hypoglossus deutlich veränderte, beim Durchtrennen des rechten Hypoglossus waren die Folgen für die Gesangsproduktion nur minimal (Manns, 1998). Bei nachfolgenden Experimenten stellte sich außerdem heraus, dass der rechte Nervus Hypoglossus bis zu einem gewissen Grad die Aufgabe seines linken Gegenstücks übernehmen kann; wenn das Durchtrennen desselben innerhalb der ersten zwei Wochen nach dem Schlüpfen erfolgt sogar in vollem Umfang, was auf ein gewisses Maß an Plastizität der verantwortlichen zerebralen Asymmetrien hindeutet (Springer & Deutsch, 1998). Vögel sind als Versuchstiere zur Erforschung der funktionalen Hirnlateralisation besonders geeignet, da der Sehnerv über das optische Chiasma fast vollständig in die kontralaterale Hemisphäre projiziert. Sie verfügen über kein Corpus callosum, welches beim Menschen die beiden Hemisphären miteinander verbindet und so einen Informationsaustausch zwischen den beiden Gehirnhälften ermöglicht. Jede Hemisphäre wird also beinahe ausschließlich vom gegenüberliegenden Sehnerv mit Informationen versorgt (Springer & Deutsch, 1998).
Dies geschieht über zwei Hauptbahnen, das thalamofugale System und das tectofugale System, die sich bis ins Vorderhirn erstrecken. Die thalamofugale Sehbahn projiziert von der Retina in einen thalamischen Kernkomplex, den Nucleus geniculatus lateralis, pars dorsalis und von dort sowohl ipsilateral als auch in geringerem Maße kontralateral in den visuellen Wulst des Vorderhirns. Das thalamofugale System ist für die Verarbeitung des monokularen lateralen Gesichtsfelds zuständig und vermutlich rechtshemisphärisch dominant (Manns, 1998, Roberts et al., 1996).
Die Fasern der aufsteigenden tectofugalen Projektionsbahn, die das frontale Sehen und damit höchstwahrscheinlich visuo-motorisches Verhalten dominiert (Güntürkün & Manns, 2009), ziehen von der Retina in das kontralaterale Tectum opticum des Mittelhirn und von dort hauptsächlich ipsilateral zum Nucleus rotundus des Zwischenhirn und weiter zum Entopallium. Einige Fasern kreuzen jedoch auch zum gegenüberliegenden Nucleus rotundus; bei der Taube zeigt sich hier eine Asymmetrie der kontralateralen Projektionsausbildung (Güntürkün & Manns, 2009). Die Anzahl der vom rechten Tectum opticum in den linken Nucleus rotundus ziehenden Nervenfasern ist mehr als doppelt so hoch wie die vom linken Tectum in den rechten Nucleus rotundus projizierenden.
Weitere Asymmetrien finden sich in der Somagröße der vom gegenüberliegenden Auge kontralateral innervierten Neuronen im Tectum opticum sowie in retinorezipienten rotundalen Zellen, welche links teilweise deutlich größer sind als rechts (Manns, 1998, Manns et al. 2008).
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Abbildung 2: Asymmetrien der tectofugalen bottom-up- und top-down Projektionsbahnen und der Somagröße im optischen Tectum bei Tauben. Während weniger aufsteigende Nervenbahnen vom linken Tectum in den rechten Nucleus rotundus projizieren als andersherum (links), wird das rechte Tectum zusätzlich stärker durch absteigende neuronale Verbindungen, die ihren Ursprung im visuellen Wulst haben, gehemmt (rechts).
Diese bottom-up-Prozesse der tectofugalen Sehbahn werden moduliert von absteigenden top-down-Projektionen, die ihren Ursprung im visuellen Wulst haben und von dort über den Tractus septomesencephalicus ins ipsilaterale Tectum opticum ziehen. Auch hier finden sich intertectale Asymmetrien in den Kommissuren, von denen mehr vom linken ins rechte Tectum als andersherum projizieren (Folta et al., 2004).
Diese sind jedoch hemmender Natur: Die Aktivität der linken Hemisphäre geht also stärker einher mit einer Verringerung der Aktivität der rechten Hemisphäre als andersherum (Güntürkün & Manns, 2009, Valencia-Alfonso et al., 2009).
Ursachen für die asymmetrische Lateralisation des Gehirns können auf unterschiedliche Entwicklungsprozesse zurückgeführt werden. Phylogenetische Prozesse bezeichnen die Evolution von Merkmalen und Eigenschaften verschiedener Arten; demgegenüber steht die Ontogenese für die Entwicklung des Einzelorganismus. Betrachtet man die Entstehung der Lateralisation des visuellen Systems der Taube, so spielen hier beide Arten von Prozessen eine Rolle (Manns, 1998).
Genetisch bedingt ist die Lage des Kükens in ovo; in den letzten drei Tagen vor dem Schlupf nimmt das Küken eine Position im Ei ein, die das rechte Auge nahe der Schale dem einfallenden Licht exponiert. Das linke Auge dagegen ist der Schale abgewandt und wird vom eigenen Körper und Flügel abgeschirmt; es ist dadurch gegenüber dem rechten Auge lichtdepriviert, wohingegen die Netzhaut des rechten Auges eine stärkere Stimulation durch das Licht erfährt. Dadurch werden neurotrophische Prozesse in Gang gesetzt, bei denen der Botenstoff BDNF (brain derived neurotrophic factor) eine Schlüsselrolle spielt. Er kontrolliert maßgeblich das Einsprießen und die Verzweigung der Axodendriten im tectofugalen System und sorgt so dafür, dass Prozesse, die durch den asymmetrischen Lichteinfall initiiert wurden, auch noch nach Beendigung des Lichteinfalls durch die Verfügbarkeit des ausgeschütteten BDNF weiter wirken (Güntürkün & Manns, 2009, Manns et al., 2008).
Bei Hühnern konnte durch die Injektion von fluoreszierenden Tracern in den visuellen Wulst gezeigt werden, dass es zu einer erhöhten Anzahl visueller Projektionen über den vom rechten Auge innervierten linken Thalamus in den kontralateralen Wulst kommt als andersherum. Ähnliche Asymmetrien der tectofugalen Sehbahn wurden auch bei Tauben festgestellt (Chiandetti, 2011).
Beim Menschen führen solche invarianten pränatalen Lageasymmetrien möglicherweise zur Lateralisation der akustischen und vestibulären Sinnessysteme welche die Ausgangsbedingung für asymmetrische neuronale Verschaltungsmuster bilden könnten (Manns, 1998).
Im Falle des Kükens ist es möglich, in die ontogenetische Entwicklung einzugreifen, indem man sie in einem dunklen Brutkasten inkubiert und damit dafür sorgt, dass weder das rechte noch das linke Auge eine höhere Lichtstimulation erfährt. Im Dunkeln ausgebrütete sowie vor dem Schlupf bilateral lichtexponierte Tauben zeigen keine Anzeichen einer Lateralisation visueller Funktionen des Nervensystems. Auch kurz nach dem Schlupf des Kükens kann der Prozess der Lateralisation noch umgekehrt werden, was bedeutet, dass Lateralisationsmuster auch dann noch eine Zeit lang plastisch bleiben (Güntürkün & Manns, 2009). Asymmetrien werden also bereits in ovo initiiert, müssen sich aber nach dem Schlupf, wenn beide Augen gleich viel Licht ausgesetzt sind, noch stabilisieren, bis sie beim adulten Tier ihre endgültige Ausprägung erreichen.
In Verhaltensexperimenten zeigte sich, dass hell inkubierte Hühner (Gallus gallus) als Versuchstiere in visuellen Suchaufgaben ähnlich dem Cancellation Task einen vergleichbaren Pseudoneglect aufweisen wie Menschen, ihre Aufmerksamkeit also eher der linken Seite des Gesichtsfeldes zuwenden, was sich in verstärkter Pickaktivität auf dieser Seite äußert. Bei der dunkel inkubierten Vergleichsgruppe gab es keinen solchen Effekt. In einem weiteren Versuch mussten die Tiere ein Hindernis umgehen um an eine Futterquelle zu gelangen. Hier wiederum umgingen die dunkel ausgebrüteten Hühner das Hindernis häufiger auf der linken Seite, im Gegensatz zu den hell ausgebrüteten Hühnern. Bei ihnen gab es keine Asymmetrie, was sich vermutlich auf Unterschiede in der Aufmerksamkeitskontrolle zurückführen lässt. Haben normale Versuchstiere das Hindernis wahrgenommen, sind sie in der Lage es zu ignorieren, während dunkel inkubierte Tiere es weiterhin mit dem rechten Auge betrachten, während sie es umgehen (Chiandetti, 2013).
Experimente mit Tauben zeigten, dass Läsionen im linken Rotundus eine stärkere Beeinträchtigung der Detaildiskriminationsleistung nach sich zogen als im rechten (Güntürkün & Hahmann, 1999) und bessere Leistungen in Diskriminationsaufgaben mit dem rechten Auge zustande kommen (Güntürkün & Kesch, 1987).
Der epigenetische Faktor des Lichteinfalls im sensiblen Zeitraum vor und kurz nach dem Schlupf des Kükens wirkt sich also förderlich auf die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit der stimulierten linken Gehirnhälfte aus und unterdrückt visuo-motorische Fähigkeiten in der rechten Gehirnhälfte (Güntürkün & Manns, 2009). Das führt dazu, dass in visuellen Suchaufgaben, bei denen Körner aus einem ähnlich aussehenden Kiesgemisch gepickt werden sollen, monokular getestete normal ausgebrütete Tiere deutlich bessere Leistungen mit dem rechten Auge erzielen (Skiba et al., 2000). Beim Transfer von Informationen, die monokular, also nur von einer Hemisphäre gelernt wurden, kam es bei lichtdeprivierten Tauben sogar zu einer Umkehrung der Lateralisationsmuster, die bei gewöhnlichen Tauben zu beobachten sind. Im Gegensatz zu hell ausgebrüteten Versuchstieren zeigte sich eine bessere Repräsentation von ipsilateral gelernter Information sowie eine bessere Diskriminationsfähigkeit in der rechten Hemisphäre (Letzner et al., 2014).
Offensichtlich hängt die Leistungsfähigkeit des lateralisierten Gehirns also entscheidend von der Art der Aufgabenstellung ab und welche Hemisphäre diese bearbeitet (s. Abb. 1). Die Spezialisierung der rechten Hemisphäre erstreckt sich nach bisherigen Erkenntnissen auf Prozesse der räumlichen Orientierung, instinktbasierter Verhaltensweisen wie Angriffs-, Flucht- und Angstreaktionen und Sexualverhalten sowie der Verarbeitung neuartiger Reize (Letzner et al., 2014).
Dagegen weist die linke Hälfte des Gehirns eine Überlegenheit bei der Diskrimination von Detailreizen auf, was sich zum Beispiel zeigt, wenn Futterkörner aus einem Kiesgemisch gepickt werden sollen oder zu identifizierende optische Reize in immer kleinere Fragmente zerlegt werden. Auch beim memorieren und unterscheiden von künstlichen Objekten, optischen Täuschungen und Objektkategorien (z.B. „menschlich“ vs. „nicht-menschlich“) ist die linke Hemisphäre gegenüber der rechten im Vorteil (Manns & Güntürkün, 2009).
Welchen Einfluss hat nun der ontogenetische Faktor der Lichtstimulation im embryonalen Stadium auf die funktionale Lateralisation des Taubengehirns bezüglich der Performanz in visuellen Suchaufgaben, die entweder ein geringes oder ein hohes Maß an Detaildiskriminationsvermögen erfordern?
Betrachtet man bisherige Befunde bei Hühnern (Chiandetti, 2011) und Tauben (Diekamp et al., 2005), so sollte bei normal ausgebrüteten Versuchstieren im Gegensatz zu dunkel inkubierten Tieren bei einfachen Aufgaben ähnlich dem Cancellation Task ein Pseudoneglect auftreten, sie sollten sich also in einfachen Suchaufgaben ähnlich dem Cancellation Task mehr zur linken Seite ihres Gesichtsfelds hin orientieren. Versuchsbedingungen, die eher die Diskriminationsfähigkeit ansprechen, sollten in monokularer Bedingung bei ihnen bessere Resultate mit dem rechten Auge, also der kontralateralen linken Hemisphäre hervorbringen, da diese sich bei der Identifikation von Detailreizen in vorhergehenden Versuchen überlegen zeigte (Skiba et al., 2000, Güntürkün & Kesch, 1987).
Interessant ist nun, ob sich trotz der stärkeren Aktivierung der linken Hemisphäre in dieser Versuchsbedingung bei binokularer Testung der normal ausgebrüteten Tauben ein Linksbias zeigt oder nicht. Theoretisch sollte die erhöhte Aktivität der linken Gehirnhälfte die rechte insoweit hemmen, dass sich das Auftreten des Pseudoneglects abschwächt oder sogar umkehrt.
Bei dunkel inkubierten Tauben ist dagegen zu vermuten, dass kein Unterschied zwischen den Hemisphären oder auch ein umgekehrter Effekt auftritt, sie folglich linksäugig in Diskriminationsaufgaben bessere Leistungen erzielen (Letzner et al., 2014, Manns, 1998). Weiterhin sollte sich bei einer Adaption des Cancellation Task kein Linksbias vergleichbar mit dem der normal ausgebrüteten Vergleichsgruppe zeigen, wenn man von vorangehenden Untersuchungen ausgeht (Chiandetti, 2011).
Untersucht werden die drei Faktoren A: Gruppe mit den zwei Faktorstufen „hell“ und „dunkel“ inkubiert, B: Task mit den zwei Faktorstufen „Cancellation“ und „Grain-Grit“, die die Art der visuellen Suchaufgaben bezeichnen, die entweder ein hohes (Grain-Grit) oder niedriges (Cancellation) Maß an Detaildiskriminationsvermögen erfordern und Faktor C: Seite mit den zwei Faktorstufen „links“ und „rechts“ und D: Entfernung mit fünf Faktorstufen (Entfernung der vom Versuchstier ausgeführten Picks von der Mitte des Gesichtsfeldes 0-4). Es ergibt sich ein 2×2×2×5 Design mit den vier Faktoren als unabhängige Variablen und der Gesamtanzahl der Picks und der gewichteten ersten 25 Picks pro Kolonne als abhängige Variablen. Es ergeben sich vier Haupteffekte A, B, C, D und elf mögliche Interaktionseffekte A×B, A×C, A×D, B×C, B×D, C×D, A×B×C, B×C×D, A×C×D, A×B×D und A×B×C×D.
Weiterhin getestet wird der Faktor E: Versuchsbedingung mit den drei Faktorstufen „binokular“, „links sehend“ und „rechts sehend“. Hier ist entweder keines (binokular) oder eines (monokular) der Augen des Versuchstieres verdeckt. Abhängige Variablen sind die Anzahl der Picks sowie die Anzahl erfolgreicher Picks und die effektiv mit picken verbrachte Zeit. Hier ergeben sich mit den Faktoren A und B ein 2×2×3 Design mit dem zusätzlichen Haupteffekt E sowie nochmals drei möglichen Interaktionseffekten A×E, B×E und A×B×E. Interaktionseffekte mit den Faktoren C und D werden nicht getestet, da es nicht anders zu erwarten ist, als dass ein Versuchstier mehr zu einer Seite hin pickt, wenn das gegenüberliegende Auge verdeckt ist.
Die Gruppe der Versuchstiere setzte sich zusammen aus 35 Tauben (Columba livia), von denen zehn von lokalen Züchtern bezogen wurden und normal von den Elterntieren ausgebrütet worden waren („Helltiere“). Fünfundzwanzig entstammten eigener Zucht und waren unmittelbar nach dem Legen von den Elterntieren entfernt und durch ein Plastikei ersetzt worden („Dunkeltiere“). Im Anschluss wurden sie 14 Tage in einem dunklen Raum bei 38,5 °C und 65% Luftfeuchtigkeit künstlich inkubiert, wonach die Luftfeuchtigkeit auf 80% erhöht wurde bis zum Schlüpfen der Küken nach ca. 16 Tagen. Zum Zeitpunkt des Versuchs waren die Tauben zwischen drei und vier Jahre alt.
Der Versuchsaufbau befand sich in einem separaten Raum und bestand aus einem geschlossenen quadratischen Kasten mit den Abmessungen 30cm×30cm×30cm, in dem die Taube sich während des Experiments befand. Dieser wies auf der Vorderseite eine runde Öffnung auf, die ihr erlaubte den Kopf aus der Box zu stecken und nach links und rechts zu wenden sowie zu picken, nicht aber die Box zu verlassen. Mittig unter der Öffnung wurde ein 25cm×25cm großes Brett platziert, in dem sich gleichmäßig verteilt 10×13 ausgefräste Vertiefungen befanden; von diesen wurden die mittleren 9×9 Aussparungen unter dem Fenster der Box mit je einem Futterkorn befüllt (s. Abb. 3). Im Falle der Cancellation- Bedingung handelte es sich dabei um getrocknete Erbsen, in der Grain-Grit - Bedingung um Dari- Körner in einem in Form und Farbe ähnlich aussehenden Kiesgemisch. Der Versuch wurde von einer digitalen Videokamera auf einem Stativ dokumentiert.
Getestet wurde eine Adaption des Cancellation Task, in der leicht erkennbare Erbsen gleichmäßig auf neun Kolonnen mit je neun Feldern aufgeteilt wurden sowie eine Detaildiskriminationsaufgabe, in der Dari-Futterkörner zusammen mit einem ähnlich aussehenden Kiesgemisch (Grain-Grit Cancellation) ebenfalls auf neun Kolonnen zu neun Feldern verteilt wurden. Jedes Feld enthielt hierbei nur genau eine Erbse beziehungsweise ein Dari-Korn. Während die Gruppe der Helltiere in jeder der beiden Versuchsbedingungen getestet wurde, wurden die fünfundzwanzig Dunkeltiere auf die Bedingungen verteilt, es absolvierten dreizehn den Cancellation Task und zwölf die Grain-Grit Cancellation Bedingung. Dabei wurden in der Grain-Grit Bedingung eine hell inkubierte und zwei dunkel inkubierte Tauben nachträglich von der Auswertung ausgeschlossen, da sie keinen Versuch unternahmen, nach den Futterkörnern zu picken. Von der Cancellation- Bedingung wurden aus dem gleichen Grund ebenfalls fünf Tauben ausgeschlossen. Insgesamt ausgewertet wurden also in der Gruppe der Helltiere beim Cancellation Task n=10 Versuchstiere und in der Grain-Grit Cancellation n=9 Versuchstiere. Bei den Dunkeltieren waren es im Cancellation Task n=8 Versuchstiere, in der Grain-Grit Cancellation n=10. Die Verteilung war damit unbalanciert. Vor Versuchsbeginn wurden alle Tiere auf 80% ihres 100% Gewichts futterdepriviert. Jede der Tauben wurde dann dreimal binokular, also beidäugig sehend, und jeweils dreimal monokular getestet. Dabei wurde entweder das rechte oder das linke Auge mit einer Kappe verdeckt, die an einem ringförmigen, um das Auge geklebten Klettband befestigt wurde. Nachdem die Kamera eingeschaltet war und der Versuchsleiter den Raum verlassen hatte, hatten die Tauben fünf Minuten Zeit um nach den Futterkörnern zu picken, bis der Versuchsleiter erneut den Raum betrat und die Kamera ausschaltete. Die Auswertung erfolgte im Anschluss durch Analyse der Versuchsvideos, wobei die Gesamtanzahl der Picks und ihre Position, die Reihenfolge der ersten 25 Picks, die Anzahl der konsumierten Futterkörner und die Zeit, die das Versuchstier effektiv mit picken verbracht hatte, erhoben und der Mittelwert über die drei Testungen in mono- und binokularer Bedingung gebildet wurde. Die Picks 1-25 wurden gewichtet, indem ihnen Werte von 25 bis 1 zugeordnet wurden und in einer separaten Variable zusammengefasst, um die Position der von der Taube zuerst platzierten Picks zu erfassen.
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Abbildung 3: Versuchsaufbau im „Cancellation Task“
Nach Prüfung der Voraussetzungen für die Varianzanalyse mit dem Kolmogorov-Smirnov-Test, der in keinem Fall zur Ablehnung der Annahme der Normalverteilung der erhobenen Variablen führte, ergab eine multivariate ANOVA einen signifikanten Haupteffekt für den Faktor Task (F(2,296)=51.578, p<0.001) auf die Gesamtanzahl der Picks (Zwischensubjekteffekt: F(1,297)=103.420, p<0.001), die erfolgreichen Picks (Zwischensubjekteffekt: F(1,99)=5.280, p<0.05) und die mit picken verbrachte Zeit (Zwischensubjekteffekt: F(1,99)=54.240, p<0.001).
Sowohl die Gruppe der Helltiere (Cancellation: 116±54, Grain-Grit: 196±68, t55=-4.992, p<0.001, Cohens d=-1.377) als auch der Dunkeltiere (Cancellation: 115±49, Grain-Grit: 203±74; t52=-4.966, p<0.001, Cohens d=1.45) pickte insgesamt häufiger in der „Grain-Grit“-Bedingung, als in der Cancellation-Bedingung.
Der Effekt des Faktors Entfernung (F(6,594)=34.504, p<0.001) war sowohl auf die Gesamtanzahl der Picks als auch auf die gewichteten ersten 25 Picks signifikant, mit abnehmender Pickintensität bei zunehmender Entfernung der Futterkörner von der mittleren Kolonne (s. Abb.5).
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Abbildung 4: Während sich in beiden Gruppen im Cancellation Task kein Unterschied zwischen mono- und binokularer Testung zeigte (F(2,51)=0.290, p=0.749), pickten die Versuchstiere im Grain-Grit Cancellation Task in binokularer Testbedingung mehr Futterkörner erfolgreich auf als in monokularer Bedingung (F(2,54)=14.977, p<0.001)
Beide Gruppen pickten länger in der Grain-Grit-Bedingung (Helltiere: t55=-4.211, p<0.001, Cohens d=-1.136; Dunkeltiere: t52=-6.496, p<0.001, Cohens d=-1.802), als in der Cancellation-Bedingung.
Helltiere waren in der Cancellation-Bedingung in bi- und monokularer Testung insgesamt erfolgreicher (t55=2.249, p<0.05, Cohens d=0.607), pickten also mehr Futterkörner, als in der Grain-Grit-Bedingung.
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Abbildung 5: Verteilung der Anzahl der Picks (oben) und der gewichteten Picks (unten) im Cancellation Task (links) und im Grain-Grit Cancellation Task (rechts). Die mittlere Kolonne wurde in dieser Darstellung ausgespart, da sie keinen Erklärungsbeitrag liefert für die Links-Rechts-Verteilung der Picks.
Für Dunkeltiere ergab sich keine signifikante Diskrepanz zwischen den Aufgabenstellungen im Gesamtvergleich über bi- und monokulare Testungen hinweg bezüglich der erfolgreich gepickten Futterkörner (t52=0.632, p=0.530, Cohens d=0.175).
Für beide Gruppen zeigte sich in der Cancellation-Bedingung kein Unterschied zwischen bi- und monokularer Testung (F(2,51)=0.290, p=0.749), in der Grain-Grit-Bedingung waren jedoch beide Gruppen in binokularer Testung erfolgreicher als in monokularer Testung (F(2,54)=14.977, p<0.001, s. Abb.4). Dunkeltiere waren in der Grain-Grit Cancellation Bedingung binokular erfolgreicher als Helltiere (t17=-2.521, p<0.05, Cohens d=-1.223), während sich im Cancellation Task kein Unterschied zwischen den Gruppen in binokularer Testung zeigte (t16=-0.284, p=0.78, Cohens d=-0.142).
In monokularer Testbedingung unterschieden sich die Gruppen in keiner der Suchaufgaben signifikant voneinander (F(1,70)=0.387, p=0.536)
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Abbildung 6: Verteilung der Gesamtanzahl der Picks in Abhängigkeit von der Entfernung zur mittleren Kolonne
Weitere Haupteffekte zeigten sich für den Faktor Seite (F(2,296)=8.607, p<0.001) auf die Reihenfolge der ersten 25 Picks (F(1,297)=17.193, p<0.001). Der Interaktionseffekt für Gruppe×Seite (F(2,296)=10.860, p<0.001) auf die Platzierung der ersten 25 Picks (Zwischensubjekteffekt: F(1,297)=20.847, p<0.001) und Gruppe×Task×Seite (F(2,296)=5.889, p<0.05) ebenfalls auf die Platzierung der ersten 25 Picks (Zwischensubjekteffekt: F(1,297)=9.008, p<0.05) ergab, dass während in der Gruppe der Helltiere im Cancellation Task bei den ersten 25 Picks kein Unterschied zwischen der linken Seite und der rechten Seite zu erkennen war (t78=0.882, p=0.381, Cohens d=0.2), die Dunkeltiere sich dagegen anfangs häufiger für die rechte Seite entschieden (t62=-4.584, p<0.001, Cohens d=-1.164). Bei der Grain-Grit-Bedingung wurde in beiden Gruppen anfänglich keine der beiden Seiten signifikant vorgezogen, es ergab sich aber auch hier eine nicht signifikante Präferenz der Dunkeltiere für die rechte Seite (Helltiere: t70=-0.455, p=0.655, Cohens d=-0.109; Dunkeltiere: t78=-1.692, p=0.095, Cohens d=-0.383).
Ein Bias zur linken oder zur rechten Seite konnte jedoch bei Betrachtung der Gesamtanzahl der ungewichteten Picks weder bei den normal ausgebrüteten Tauben im Cancellation Task (Links: 50±26, Rechts: 49±26, t78=0.730, p=0.468, Cohens d=0.165) oder im Grain-Grit Cancellation Task (Links: 78±50, Rechts: 85±49, t70=-0.929, p=0.356, Cohens d=-0.222), noch bei den dunkel inkubierten Tieren im Cancellation Task (Links: 50±22, Rechts: 47±24, t62=0.833; p=0.408, Cohens d=0.212) oder im Grain-Grit Cancellation Task (Links: 83±43, Rechts: 83±63, t78=1.089, p=0.279, Cohens d=0.247) angenommen werden (s. Abb. 6).
Ein weiterer Interaktionseffekt ergab sich für Task×Entfernung (F(6,594)=2.766, p<0.05) auf die Gesamtanzahl der Picks (Zwischensubjekteffekt: F(3,297)=5.126, p<0.05) mit einer stärkeren Konzentration beider Gruppen auf die mittleren Felder im Grain-Grit Cancellation Task (s. Abb. 6).
Entgegen der aufgestellten Hypothese, zeigte sich in der Versuchsgruppe der normal ausgebrüteten Tauben kein Linksbias im Pickverhalten in der Versuchsbedingung des Cancellation Task, der auf einen Pseudoneglect hindeuten könnte.
Auch im Grain-Grit Cancellation Task konnte bei ihnen keine Abweichung zur linken oder rechten Seite beobachtet werden. Die Annahme, eine stärkere Aktivierung der linken Hemisphäre durch die höhere Schwierigkeit der Diskriminationsaufgabe führe bei ihnen zu verstärkter Pickaktivität auf der rechten Seite des Gesichtsfelds konnte hier also nicht bestätigt werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: In binokularer Bedingung von beiden Versuchsgruppen erfolgreich gepickte Futterkörner im Cancellation Task und im Grain-Grit Cancellation Task.
In der Gruppe der dunkel inkubierten Versuchstiere konnte dagegen eine stärkere Pickaktivität zu Beginn des Cancellation Task auf der rechten Seite gezeigt werden, sowie ein nicht signifikanter Rechtsbias im Grain-Grit Cancellation Task. Auch der nicht signifikante Effekt zeigte sich allerdings nur zu Beginn des Versuchs, wirkte sich also auf die gewichteten ersten 25 Picks aus, im späteren Verlauf war auch in der Gruppe der Dunkeltiere keine Präferenz für eine Seite mehr erkennbar, was deutlich wurde bei Betrachtung der ungewichteten Gesamtanzahl der Picks, die sich auch bei ihnen gleichmäßig auf der rechten und linken Seite verteilten.
Die monokulare Testung ergab ebenfalls keine Unterschiede zwischen links- und rechtssehender Versuchsbedingung innerhalb der beiden Versuchsgruppen. Allerdings zeigte sich bei der Betrachtung der erfolgreich gepickten Futterkörner über bi- und monokulare Testbedingungen hinweg, dass die Gruppe der Helltiere im Cancellation Task mehr Futterkörner pickte als im Grain-Grit Cancellation Task. In der Gruppe der Dunkeltiere gab es keinen Unterschied zwischen den Diskriminationsaufgaben, was sich darauf zurückführen lässt, dass sie in binokularer Bedingung im Grain-Grit Cancellation Task mehr Futterkörner erfolgreich aufpickten als die Versuchstiere der Vergleichsgruppe (s. Abb. 7). In monokularer Testbedingung unterschied sich die Gruppe der Dunkeltiere bezüglich der erfolgreichen Picks nicht von der Vergleichsgruppe. Auch die Hypothese, es gebe einen Unterschied in der Diskriminationsleistung zwischen links- und rechtssehender Bedingung konnte also nicht bestätigt werden.
Sowohl die Gruppe der Hell- als auch die Gruppe der Dunkeltiere verbrachte mehr Zeit mit picken und pickte häufiger im Grain-Grit Cancellation Task. Zwischen den Gruppen gab es jedoch keinen Unterschied.
Beide Gruppen zeigten außerdem eine abnehmende Pickintensität bei zunehmender Entfernung der Zielkolonne von der Mitte, weiterhin pickten die Versuchstiere beider Gruppen im Grain-Grit Cancellation Task verstärkt in mittig gelegene Kolonnen. Im Cancellation Task war dieser Effekt weniger ausgeprägt.
Es zeigen in sich der vorliegenden experimentellen Untersuchung eindeutig Unterschiede im Pickverhalten der Gruppe der dunkel inkubierten Tauben und der normal ausgebrüteten Vergleichsgruppe. Jedoch trat entgegen der Forschungshypothese ein Linksbias in binokularer Bedingung weder im Cancellation Task noch im Grain-Grit Cancellation Task bei der Gruppe der Helltiere auf. Stattdessen konnte zumindest zu Beginn der Pickaktivität ein Rechtsbias bei der Gruppe der dunkel inkubierten Versuchstiere beobachtet werden. In der visuellen Suchaufgabe, die ein höheres Maß an Diskriminationsvermögen erforderte, gab es keinen signifikanten Unterschied mehr zwischen der Pickaktivität auf der linken und rechten Seite. Während also in der Vergleichsgruppe kein Unterschied in der Pickaktivität auf einer der beiden Seiten auftrat, gibt es bei dunkel inkubierten Tauben eine Verzerrung in Anhängigkeit von der Art der visuellen Suchaufgabe. Allerdings ist die linke Hemisphäre bei ihnen offenbar stärker beteiligt in der Versuchsbedingung (Cancellation Task), die ein geringeres Ausmaß an Diskriminationsvermögen erfordert.
Im Grain-Grit Cancellation Task kommt es bei ihnen dagegen zu einer Verlagerung der Aufmerksamkeit zur linken Seite und der Rechtsbias verschwindet. Möglicherweise ist die rechte Gehirnhälfte hier in stärkerem Maße involviert und hemmt somit die linke Hemisphäre in ihrer Aktivität. Allerdings zeigen sich die vorhandenen Asymmetrien ausschließlich zu Versuchsbeginn, bezeichnen also lediglich, zu welcher Seite die Taube ihre Aufmerksamkeit zuerst wendet. Weiterhin konnte keine Überlegenheit der linken Hemisphäre bei Detaildiskriminationsleistungen in monokularer Bedingung festgestellt werden. Die Versuchstiere beider Gruppen pickten mit dem linken Auge sehend genauso häufig und erfolgreich wie mit dem rechten Auge und das ohne Unterschied über beide Suchaufgaben hinweg. Es handelt sich also bei dem beobachteten Phänomen in der Gruppe der dunkel inkubierten Tiere möglicherweise um einen Prozess der Aufmerksamkeitssteuerung. Es wurde bereits gezeigt, dass normal ausgebrütete Hühner keine Präferenz beim Umgehen eines Hindernisses zeigen, wohingegen die dunkel inkubierte Vergleichsgruppe das Hindernis häufiger auf der linken Seite umgeht. Dabei wird das Hindernis mit dem rechten Auge weiter beobachtet, wohingegen normale Versuchstiere in der Lage sind es zu ignorieren während sie es umgehen (Chiandetti, 2013). Ein ähnlicher Effekt könnte auch hier vorliegen.
Es wurde in früheren Untersuchungen außerdem eine Dominanz des linken Auges im lateralen Gesichtsfeld beschrieben (Roberts et al., 1996), zumindest soweit es die erste monokulare Anvisierung betrifft (Goodale, 1983, Manns, 1998). Beide Gruppen pickten im Cancellation Task in weiter von der Mitte entfernt liegende Felder und konzentrierten sich im Grain-Grit Cancellation Task eher auf mittig gelegene Kolonnen. Wenn im Cancellation Task die rechte Hemisphäre durch die Aufgabenanforderung, die eher auf räumliche Orientierung abzielt, stärker aktiviert ist, zieht das möglicherweise auch eine stärkere Konzentration auf weiter außen gelegene, seitliche Felder nach sich, ausgelöst durch die Überlegenheit des linken Auges beim ersten Anvisieren im lateralen Gesichtsfeld. Andererseits verschwindet der visuelle Stimulus im Cancellation Task, sobald die Taube ein Futterkorn erfolgreich aufgepickt hat. In weiter außen gelegenen Feldern am Rand befinden sich jedoch immer noch Futterkörner, die die Taube nicht oder nur schwer erreicht, aber immer noch aufzupicken versucht.
Im Grain-Grit Cancellation Task bleibt der Stimulus in gewisser Weise auch nach dem erfolgreichen Aufpicken des Futterkorns erhalten und provoziert dadurch weitere Picks. Allerdings könnte das Versuchstier auch in der Cancellation Bedingung nach verbleibenden Futterkörnern im frontal vor ihm gelegenen Bereich picken, da auch dort einige Körner nicht erreicht werden können, statt sich für seitlich gelegene Felder zu entscheiden.
Es bleibt also die Möglichkeit, dass es sich hierbei um eine Folge der unterschiedlichen Hemisphärenspezialisierung handelt, allerdings eine, die bei Hell- und Dunkeltieren gleichermaßen auftritt und damit von der lichtbedingten Asymmetrie des visuellen Systems ausgenommen ist. Vielleicht betrifft dieser Effekt das thalamofugale System, welches vor allem das monokulare laterale Gesichtsfeld verarbeitet (während das tectofugale System das binokulare frontale Sehen steuert) und möglicherweise eine rechtshemisphärische Dominanz aufweist (Manns, 1998). Bei Tauben werden Informationen nur vom thalamofugalen ins tectofugale System übertragen, aber nicht umgekehrt (Jiménez Ortega et al., 2004). Wenn nun im Grain-Grit Cancellation Task die linke Gehirnhälfte stärker aktiviert ist, und die im thalamofugalen System überlegene rechte Hemisphäre entsprechend in ihrer Aktivität hemmt, könnte sich das auch in einer schwächeren Beteiligung des thalamofugalen Systems äußern und damit ein einer verstärkten Pickaktivität im frontalen Sehbereich, der vom tectofugalen System gesteuert wird (Roberts et al., 1996).
Ein weiteres Resultat des vorliegenden Versuchs zeigt die Überlegenheit der lichtdepriviert ausgebrüteten Tauben hinsichtlich der aufgepickten Futterkörner in binokularer Bedingung im Grain-Grit Cancellation Task. In monokularer Bedingung dagegen schnitten beide Gruppen im Grain-Grit Cancellation Task gleichermaßen schlechter ab als im Cancellation Task, was möglicherweise mit der Art des visuellen Stimulus zusammenhängt. Im Vergleich zu den im Cancellation Task verwendeten Erbsen waren die Dari-Futterkörner im Grain-Grit Cancellation Task durch ihre geringere Größe schwerer zu treffen, insbesondere in monokularer Bedingung, da das stereoskopische Sehen und damit die Tiefenwahrnehmung durch das Verdecken des einen Auges ausgeschaltet wird (G. Jandó et al., 2012).
In vielerlei Hinsicht stellt das stärker lateralisierte Gehirn der normal ausgebrüteten Versuchstiere einen Vorteil dar, z.B. versetzt es diese in die Lage, zwei Aufgaben gleichzeitig besser auszuführen, was möglicherweise mit der erhöhten Speicherkapazität lateralisierter neuronaler Netzwerke zusammenhängt (Manns, 1998). Allerdings wurden in Verhaltensexperimenten auch schon bessere Ergebnisse von dunkel inkubierten Tieren erzielt, unter anderem im konkurrieren um eine Futterquelle (Rogers et al., 2004).
Da schon in vorangehenden Versuchen funktionale Asymmetrien bei dunkel inkubierten Tauben beobachtet werden konnten, die eine abweichende funktionale Lateralisation im Vergleich zu normal ausgebrüteten Versuchstieren nahe legen (Letzner et al., 2014, Manns, 1998), wäre es denkbar, dass dunkel inkubierte Tiere zumindest teilweise umgekehrte Lateralisationsmuster aufweisen. Dies würde den im Cancellation Task bei Dunkeltieren beobachteten Rechtsbias erklären, jedoch nicht das binokular bessere Abschneiden im Grain-Grit Cancellation Task.
In folgenden Experimenten wäre es möglicherweise hilfreich, nicht nur die Gesamtanzahl der erfolgreichen Pick, sondern auch ihre Position und Reihenfolge zu erheben, um Aufschluss darüber zu gewinnen, worauf sich die binokulare Überlegenheit der Dunkeltiere im Grain-Grit Cancellation Task des vorliegenden Versuchs begründet.
Das Verständnis dem beobachteten Verhalten zugrundeliegender Lateralisationsmuster bei Versuchstieren wie Tauben liefert ein notwendiges Ausgangswissen zur Erklärung der biologischen Ursprünge von zerebralen Asymmetrien auch beim Menschen. Gewisse Mechanismen wie funktionale Hemisphärenunterschiede, die Plastizität des unreifen lateralisierten Systems und morphologische Asymmetrien finden Parallelen im menschlichen Gehirn (Springer & Deutsch, 1998, Manns, 1998). Komplexe Kognitionsstörungen wie Schizophrenie und die Erkrankung der Depression gehen einher mit Anomalien der Gehirnstruktur, die eine Abweichung von normalen Lateralisationsmustern gesunder Vergleichspersonen zeigen (Springer & Deutsch, 1998, Sommer et al., 2001, Sommer & Kahn, 2009).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 8: Links das Gehirn eines Vogels, rechts das eines Menschen. (Quellen: partnersah.vet.cornell.edu, thebrainbank.org.uk )
Die Erforschung von Asymmetrien bei Tieren kann dazu beitragen, die Entstehung und Plastizität lateralisierter Hirnfunktionen besser zu beschreiben und zu verstehen. Dies kann wichtige Hinweise liefern auf die Genese normaler und auch pathologischer asymmetrisch organisierter Funktionen des menschlichen Gehirns und dazu beitragen, diese angemessener nachzuvollziehen und Behandlungsmethoden zu finden. So zeigte sich schon eine höhere Wirksamkeit rechtshemisphärisch eingesetzter einseitiger Elektroschocks zur Linderung von depressiven Erkrankungen (Springer & Deutsch).
Das Verständnis der Entstehung asymmetrisch organisierter Funktionen stellt eine Voraussetzung dar, Risikofaktoren für die Entwicklung des lateralisierten Gehirns in Zukunft frühzeitig zu identifizieren sowie Verhaltenskorrelate im klinischen und wissenschaftlichen Kontext richtig einzuordnen .
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Abb. Ia: Rohdaten Helltiere, Cancellation Ta sk
Abb. Ib: Rohdaten Helltiere, Grain-Grit Cancellation Task
Abb. Ic: Rohdaten Dunkeltiere, Cancellation Task
Abb. Id: Rohdaten Dunkeltiere, Grain-Grit Cancellation Task
Abb. II: Kolmogorov-Smirnov-Test auf Normalverteilung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. III: Deskriptive Statistiken
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. II: Kolmogorov-Smirnov-Test auf Normalverteilung
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Abb. III: Deskriptive Statistiken
Abb. IV: Multivariate Tests
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Abb. V: Tests der Zwischensubjekteffekte
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Abb.VI: Geschätzte Randmittel:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. VII: Post-hoc Tests:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
[1] Cancellation Tasks sind ein übliches Instrument zur Neglectdiagnose. Sie bestehen aus einer Anzahl von Items, welche gleichmäßig auf einem mittig vor der Versuchsperson platzierten Blatt Papier verteilt sind. Diese wird nun dazu aufgefordert, ein bestimmtes mehrfach vorkommendes Zielitem anzustreichen. Bei Neglectpatienten zeigt sich, dass sie häufiger Items auf der Seite übersehen, die der beeinträchtigten Hemisphäre gegenüberliegt (Albert, 1973).
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