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Bachelorarbeit, 2016
60 Seiten, Note: 1,3
Abstract
1 Einleitung
2 Theoretische und empirische Grundlagen
2.1 Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
2.1.1 Definition und Klassifikation
2.1.2 Symptomatik
2.1.3 Epidemiologie
2.1.4 Ätiologie
2.1.5 Diagnostik
2.1.6 Therapie
2.2 ADH-S-G
3 Fragestellung
4 Methodik
4.1 Forschungsstrategie und Datenerhebungsmethode
4.2 Entwicklung des Fragebogens
5 Ergebnisse
6 Diskussion und Ausblick
6.1 Diskussion
6.2 Ausblick
7 Quellenverzeichnis
8 Abbildungsverzeichnis
Anhang
Die vorliegende Arbeit baut auf einem Forschungsprojekt der ProfessorInnen und Diplom-PsychologInnen Wirtz, Schleider und Krause auf. Sie entwickelten 2006 an der Pädagogischen Hochschule Freiburg gemeinsam ein Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsscreening für die Grundschule, welches als ADH-S-G abgekürzt wird. Es dient als rasch-skalierbares Instrument zur schulischen Früherkennung von ADHS-Symptomen durch pädagogische Lehrkräfte. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gehört zu den meist verbreitetsten psychiatrischen Störungen des Kindes- und Jugendalters.
Nachdem das Instrument entwickelt worden war, kamen noch einige Fragen auf, die durch weitere Forschungen untersucht werden sollten. Herausgestellt hat sich nämlich, dass die Lehrpersonen einen entscheidenden Einfluss auf die Diagnose der ADHS-Symptome ausüben. Aus diesem Grund muss die Validität des Lehrerurteils genauer betrachtet werden, was mit dieser Arbeit herausgearbeitet werden soll. Die Fragestellung lautet: Welche Faktoren beeinflussen die Bewertung von ADHS-Symptomen durch pädagogische Fachkräfte? Faktoren, die es zu untersuchen gibt, sind beispielsweise Fortbildungen über ADHS oder das Dienstalter. Bevor die Faktoren untersucht werden, wird in dieser Arbeit ein Überblick über das Störungsbild ADHS gegeben. Mit Hilfe eines Fragebogens, der entwickelt worden ist, wurden zehn pädagogische Fachkräfte zu verschiedenen Einflussfaktoren befragt. Gemeinsam wurde das Instrument dann untersucht und beurteilt.
Aufgefallen ist bei den Befragungen, dass aus dem Studium kaum ein Wissen über ADHS vorhanden ist und Fortbildungen zu diesem Thema nur selten bis gar nicht besucht werden. Das Interesse besteht jedoch durchaus, da der Kontakt zu Kindern mit ADHS alltäglich stattfindet. Betont wird mehrfach, dass die Lehrkräfte sich mehr Unterstützung und Austausch wünschen. Nachdem die Fragebögen ausgefüllt worden waren, wurden sie auf ihre Qualität überprüft. Kritisiert wurden einige Fragen und Antwortmöglichkeiten, die nun durch weitere Studien modifiziert werden können. Insgesamt wurde das Instrument jedoch als passend und hilfreich bestätigt. Da der Fragebogen durch einen Pretest validiert wurde, kann er nun für weitere Studien angepasst werden.
ADHS – jeder kennt den Begriff, jeder kann ihn mit etwas in Verbindung bringen, aber nicht jeder weiß, was dahinter steckt. Gibt man ADHS bei der Suchmaschine Google ein, findet man 480.000 Ergebnisse in 0,3 Sekunden. Manche sehen die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung als Modekrankheit mit einer widersprüchlichen Diagnose, wohingegen andere die Konsequenzen der psychischen Erkrankung an ihrem eigenen Leib spüren müssen. Fest steht, dass ADHS die meist verbreitetste psychische Störung des Kindes- und Jugendalters ist. Aus diesem Grund haben Forschungen und Untersuchungen in diesem Themengebiet für die Praxis eine hohe Relevanz. Insbesondere der Kontext Schule darf nicht außer Acht gelassen werden.
In der vorliegenden Thesis wird ein umfassender Überblick über das Störungsbild gegeben. Erheblich sind dafür zu Beginn vor allem die Definition und Klassifikation. Nur so kann die Störung richtig eingeordnet werden. Die Symptome, die auftreten können, werden benannt und dargestellt. Ein weiterer Punkt der Arbeit ist die Epidemiologie. Dabei wird die Häufigkeit des Auftretens der Störung, die sogenannte Prävalenz, erklärt. Außerdem gibt es viele charakteristische Unterscheidungen innerhalb des Patientenguts. Unter anderem sind die geschlechts- und altersspezifischen Unterschiede erstaunlich und werden an dieser Stelle präsentiert.
Zudem hat ADHS viele Subtypen, die es sich anzuschauen lohnt. Denn was häufig nicht bekannt ist, ist, dass neben einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung gleichzeitig noch weitere Erkrankungen vorherrschen oder Begleitprobleme auftreten können. Relevant sind des Weiteren die demographischen Variablen, die im darauffolgenden Abschnitt dargelegt werden. Nach Klärung der Epidemiologie, folgt die Ätiologie, bei der die Ursache der Erkankung konkretisiert wird. Daraus folgen die Antworten auf die Fragen: Wo liegt der Ursprung der Störung und was sind ihre auslösenden Faktoren? Zudem wurde ein multifaktorielles Erklärungsmodell zur Entstehung von ADHS ausgesucht und in einer eigenen Darstellung modifiziert. Mit Hilfe von diesem Modell kann nachvollzogen werden, wie die Störung hervorgerufen wird. Anschließend folgen Möglichkeiten der Diagnostik, wie z.B. Anamnese und Leistungstests. Therapieansätze werden bei dieser Gelegenheit ebenfalls aufgeführt. Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass multimodale Therapien am erfolgsversprechendsten sind.
Ein Zusammenspiel aus mehreren Behandlungsformen, wie Situationsanalyse, Elternberatung, Psychotherapie und Einsatz von Medikamenten, wird notwendig. Nähere Hintergründe werden im Verlauf der Arbeit erklärt. Nachdem alle theoretischen und empirischen Grundlagen betrachtet worden sind, wird das Screeninginstrument ADH-S-G vorgestellt, das für LehrerInnen an den Grundschulen entwickelt worden ist. Es soll den pädagogischen Fachkräften helfen, die ADHS-Symptome frühzeitig zu erkennen. Was das genau bedeutet und wie das Instrument funktioniert, wird genauer erläutert. Anschließend folgt der Kern der Bachelorarbeit, die Bearbeitung der persönlichen Fragestellung. Diese lautet wie folgt: Welche Faktoren beeinflussen die Beurteilung von ADHS-Symptomen durch pädagogische Fachkräfte?
Da Lehrpersonen häufig die Ersten sind, die eine Andeutung auf eine ADHS-Diagnose machen, haben diese in der Diagnosestellung eine primäre Rolle. Das Forschungsziel wird dabei sein, Variablen der LehrerInnen zusammenzufassen, die sich auf die Beurteilung von ADHS auswirken können. Beispiele hierfür sind Fortbildungen, Dienstalter oder Einstellungen zu dem Störungsbild. Diese und weitere Faktoren werden auf ihren Einfluss untersucht. Damit keine falschen Diagnosen gestellt werden, ist es erforderlich, dass die Lehrkräfte aufgeklärt sind, ein Wissen über die Symptome aufweisen und eine Unterstützung bekommen. Ob dies zutrifft, wird in der Studie geklärt.
Die dazugehörige Forschungsstrategie und die gewählte Datenerhebungsmethode werden im Verlauf der Arbeit beschrieben. Die Faktoren, die einen Einfluss ausüben können, werden dann im darauffolgenden Abschnitt in einen eigenen Fragebogen integriert. Begründet werden dann außerdem die einzelnen Items und die dazugehörigen Antwortmöglichkeiten, die für das Instrument gewählt wurden. Zum Schluss folgen dann die Ergebnisse der Datenerhebung, die letztendlich diskutiert und miteinander verglichen werden. Durch eine exakte Untersuchung der Wirkung von Lehrer-eigenschaften wird durch die Studie erhofft, dass den Einflüssen in Zukunft entgegengewirkt werden kann. Faktoren, die ermittelt wurden, können so hoffentlich weitere Studien zu ADHS stützen.
Die Aufmersamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung wird auch als ADHS abgekürzt. Ludewig bezeichnet die ADHS als eine „schon im Kindesalter beginnende psychische Störung“ (2014, o.S.). Gekennzeichnet wird die Störung durch „Überaktivität, auffallende Schwierigkeiten beim Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit oder Impulsivität“ (Woolfolk, 2008, S.166). ADHS kann gleichermaßen als HKS (Hyperkinetische Störung) bezeichnet werden und ist die „häufigste psychiatrische Störung im Kindes- und Jugendalter“ (Neuhaus, 2009, S.28). Der Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/Hyperaktivität e.V. definiert ADHS ähnlich:
„ADHS liegt vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität ausgeprägt sind, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entsprechen und zu Störungen in mehreren sozialen Bezugssystemen, der Wahrnehmung und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führen. Die Symptome sollten länger als 6 Monate bestehen und bereits im Vorschulalter aufgetreten sein“ (BV-AH e.V., 2006, o.S.).
Trotzdem wird hinter ADHS oft eine Modediagnose vermutet, denn ADHS ist heute sehr „populär“ geworden (Schleider, 2009, S.30). Prof. Dr. phil. Karin Schleider beschreibt, dass die Krankheit dadurch oft „abgewertet und weniger ernst genommen“ werden würde (ebd.). Trotz allen Medienberichterstattungen stehe jedoch fest, dass ADHS keine Modekrankheit sei. Erste Beobachtungen über das Störungsbild gab es nämlich schon vor etwa 150 Jahren. Bereits der Psychiater Heinrich Hoffmann, der 1894 verstarb, beobachtete die psychische Störung und stellte sie in seinem Bilderbuch Struwwelpeter dar (Ludewig, 2014 & Schleider, 2009). Die Störung tritt nicht im Laufe des Lebens irgendwann auf, sondern schon frühzeitig, meist im Vorschulalter. Trotzdem kann sie bis in das Erwachsenenalter, jedoch in geringerer Ausprägung, ersichtlich sein. Untersuchungen haben gezeigt, „dass der Verlauf bis ins Adoleszenz- und Erwachsenenalter stark davon beeinflusst wird, ob Aggressivität, Delinquenz oder dissoziales Verhalten begleitend vorhanden sind oder nicht“ (Steinhausen, Rothenberger & Döpfner, 2010, S. 19).
Eingestuft wird die Störung im ICD-10, dem internationalen statistischen Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation. ICD steht für International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2016). Die Zahl Zehn steht für die zehnte Version des Klassifikationssystems. Ein weiteres Klassifikationssystem, das oft verwendet wird, ist das Diagnostic and Statstical Manual of Mental Disorders, kurz DSM, der American Psychiatric Association (DSM-5, APA, 2013). Der Unterschied zwischen den beiden Systemen ist, dass sich das ICD-10 auf psychische Störungen und Erkankungen aller Art spezialisiert hat, während das DSM-5 nur psychische Störungen auflistet. Außerdem ist das ICD-10 weltweit verfügbar und wird in den meisten Ländern benutzt. Im ICD-10 werden Hyperkinetische Störungen (Code F90) mit folgenden Merkmalen charakterisiert: „früher Beginn; Kombination von überaktivem, wenig moduliertem Verhalten mit deutlicher Unaufmerksamkeit und Mangel an Ausdauer bei Aufgabenstellungen und Unabhängigkeit dieser Verhaltenscharekteristika von spezifischen Situationen sowie Beständigkeit über längere Zeit“ (Steinhausen et al., 2010, S. 17). Die Störung wird:
„Meist in den ersten fünf Lebensjahren [auffällig]. [Außerdem sind] hyperkinetische Kinder […] oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich, Regeln verletzen. Ihre Beziehung zu Erwachsenen ist oft von einer Distanzstörung und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert sein“ (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2012).
Des Weiteren gibt es dann nochmals Einteilungen in „F90.0 einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“, „F90.1 hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“, „F90.8 andere hyperkinetische Störungen“ und „F90.9 nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störung“ (Steinhausen et al., 2010, S. 19). Im DSM-5 gibt es andere Einordnungen: Eine vorwiegende unaufmerksame Erscheinungsform, eine vorwiegend hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform und eine gemischte Erscheinungsform (vgl. Rösler & Retz, 2006).
Um eine Diagnose stellen zu können, müssen verschiedene Symptomkriterien erfüllt sein, unter anderem müssen die Anzeichen länger als sechs Monate bestehen. Außerdem sollte das Verhalten des Kindes nicht alters- bzw. entwicklungsgemäß sein.
Zeitlich gesehen muss die Störung im ICD-10 vor dem siebten und im DSM-5 vor dem 13. Lebensjahr vorliegen.
Im Artikel des Monats der Kinderärztlichen Praxis heißt es: „Die unterschiedlichen Kriterien führen dazu, dass HKS nach ICD-10 enger definiert ist als ADHS nach DSM-5 und die Diagnose HKS eine Teilgruppe der Patienten mit ADHS definiert, die besonders stark betroffen sind“ (Banaschewski & Döpfner, 2014, S. 288).
Hauptkriterien der Aufmersamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung sind „laut ICD-10 verminderte Aufmerksamkeit, motorische Überaktivität, […], und erhöhte Impulsivität“ (Kahl, Puls, Schmid & Spiegler, 2012, S.4). Kinder, die betroffen sind, können sich nicht oder nur schwer auf Details konzentrieren oder sorgfältig an etwas arbeiten. Sie verlieren schnell die Lust an ihren Aktivitäten und verstehen oft nicht, was von ihnen gefordert wird. Ihre Organisation kann problematisch und das Durchhaltevermögen gering sein. Außerdem fällt ruhiges Sitzen oder Spielen in leiser Lautstärke schwer, da die Kinder überaus aktiv sind. Warten kann für die Betroffenen zur Zerreißprobe werden, die gerne mit Unterbrechen oder Stören kompensiert wird (vgl. Dilling, Mombour & Schmidt, 2013, zitiert nach Koentges & Schleider, 2016, S. 13f.). Die Kinder lassen sich leicht ablenken, wodurch schnell Flüchtigkeitsfehler entstehen können. Gerade Hausaufgaben oder Arbeiten für die Schule stellen häufig eine große Herausforderung dar. Sogar bei Spielen, die selbst ausgesucht werden, wird die Konzentrationsschwäche sichtbar (vgl. Döpfner, Frölich & Wolff Metternich, 2007, S. 11).
Impulsives Verhalten ist ebenfalls einer der drei Kernbereiche. „Sie platzen mit Antworten heraus, bevor Fragen zu Ende gestellt sind, sie unterbrechen andere häufig und können kaum abwarten, bis sie an der Reihe sind“ (ebd.). Der dritte Kernbereich ist die körperliche Unruhe. Volkstümlich wird ein Kind mit einer ADHS-Diagnose auch „Zappelphillip“ genannt (Alliance Healthcare Deutschland AG, 2010).
Normalerweise sind diese Auffälligkeiten in unterschiedlichen Lebensbereichen auffindbar, sowohl mit der Familie und mit Freunden in der Freizeit, als auch im Kindergarten bzw. in der Schule. Gerade im Unterricht wird eine Ausdauer erwartet, die den Kindern mit ADHS scheinbar schwer fällt aufzubringen (vgl. Döpfner et al., 2007, S. 12).
Die Ausprägungen der Störung sind unterschiedlich – sie können schwach bis stark auftreten. In der Neuropsychologie wird davon ausgegangen, dass ADHS-Symptomen eine „exekutive Dysfunktion in den Bereichen Aufmerksamkeit, Impulskontrolle einschließlich Vorbereitung, Auswahl und Durchführung motorischer Abläufe, Arbeitsgedächtnis, Verzögerungsaversion und Zeitdiskrimination zugrunde liegt“ (Häßler, Reis, Buchmann & Bohne-Suraj, 2008, S. 820). Die Beeinträchtigungen sind enorm und treten, wie schon zuvor erwähnt, im familiären oder schulischen Kontext auf. Dadurch entsteht ein hohes Entwicklungsrisiko (vgl. Neuhaus, 2005, S.65). Die Diplom-Psychologin Neuhaus weist darauf hin, dass sich eine „starke emotionale kognitive und soziale Beeinträchtigung, die von der Störung ausgeht und die Einleitung einer angemessenen Therapie und Förderung unabdingbar macht“ (Koentges & Schleider, 2016, S.15).
Des Weiteren können Folgeprobleme und assoziierte Verhaltensschwierigkeiten auftreten. So wird den Kindern darüber hinaus der Alltag noch weiter erschwert und Entwicklungsaufgaben können kaum rechtzeitig bewältigt werden. Für die Betroffenen und ihre Umwelt weist dies eine große Belastung auf (Kuschel, Ständer, Bertram, Heinrichs, Naumann & Hahlweg, 2006, S.276).
ForscherInnen haben herausgefunden, dass „insgesamt 4,8% der Kinder und Jugendlichen in Deutschland […] eine ärztlich oder von einem Psychologen diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung [aufweisen]“ (Schlack, Hölling, Kurth & Huss, 2007, S.829). Statistisch gesehen ist also in jeder Schulklasse mindestens ein Kind von ADHS betroffen (vgl. BV-AH e.V., 2006, S.7). Da ADHS eine häufige psychische Störung im Kindes- und Jugendalter ist, wurde 2006 eine umfangreiche Studie am Robert-Koch-Institut durchgeführt (vgl. KIGGS, 2006). Es wurden fast 15.000 Kinder zwischen 3 und 17 Jahren getestet. „Je nach Altersgruppe lag die Prävalenz bei bis zu 2,9% der Vorschulkinder und bis zu 7,9% bei Jugendlichen“ (Schlack et al., 2007, S.831f.). In dieser Studie wurden die bisherigen Daten der Häufigkeit von ADHS verifiziert.
Derzeit macht das Robert-Koch-Institut wieder eine Langzeitstudie, die seit 2014 erhoben wird. Dabei werden Gesundheitsstatus und -verhalten, Lebensbedingungen und weitere Schwerpunkte untersucht (vgl. Robert-Koch-Institut, KIGGS, 2006).
Insgesamt 39 Studien wurden von Skounti, Philalitis und Galanakis (2007) geprüft und Prävalenzwerte von 2,2 bis 17,8% festgestellt. Darin lagen jedoch die meisten Angaben zwischen 4 und 10% (vgl. Koentges & Schleider, 2016, S.20). Werden mehrere Studien betrachtet, wird sichtbar, dass die Werte stark schwanken. Die Begründung liegt dabei in dem Klassifikationssystem, das jeweils verwendet wird.
Das damalige DSM-3 hat sich bei einigen Kriterien im Vergleich zum DSM-4 unterschieden. Deshalb kann nicht vermieden werden, dass in verschiedenen Studien, die Prävalenzraten unterschiedlich ausfallen. Außerdem kommt es immer auf die Erhebungsmethoden, Erfassungszeiträume, Stichproben und viele weitere Faktoren an (vgl. Breuer & Döpfner, 2006, S.358). Eine Teilstudie der KIGGS war die BELLA-Studie (Studie zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen). Bei dieser Studie wurden mit dem ICD-10 1% und mit dem DSM-4 5% der Prävalenzraten festgestellt (Döpfner, Breuer, Wille, Erhart & Ravens-Sieberer, 2008, S.110). Die Zahlen weichen voneinander ab, weil die Kriterien unterschiedlich festgesetzt wurden. Da das ICD-10 strengere Charakteristika aufweist, ist die Prozentzahl geringer. Während der Untersuchung wurden viele Unterschiede ersichtlich, wie z.B. in Bezug auf Geschlecht, Alter und demographische Variablen, worauf später, im Kapitel 2.1.3 Epidemiologie, noch genauer eingegangen wird.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nach vielen Studien und Untersuchungen, die Prävalenz bei ungefähr 5% liegt. Die Unterschiede kommen, wie schon erwähnt, durch die ungleichen Klassifikationssysteme und „vor allem [durch] die Art der Erfassung der Symptomatik“ (Koentges & Schleider, 2016, S.22) zustande. So werden manche Kinder, die Symptome aufweisen, trotzdem nicht als klinisch relevant charakterisiert. Was jedoch nicht außer Acht gelassen werden sollte, sind die Fehldiagnosen. In manchen Studien wurde bei einigen Kindern eine ADHS diagnostiziert, welche sich im Nachhinein als falsch herausgestellte. Durch solche Fehler schwanken die Prävalenzwerte (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie DGKJP, 2013). Bei der Interpretation von Prävalenzwerten sollten daher alle Faktoren mitberücksichtigt werden.
Beim Betrachten von verschiedenen Studien zum Thema ADHS wird immer wieder ersichtlich, dass es deutliche Unterschiede innerhalb der Geschlechter gibt. Steinhausen et al. (2010) schreiben: „Die ausgeprägte Dominanz des männlichen Geschlechts bei ADHS in klinischen Stichproben findet in Feldstichproben ihre Entsprechung“. Ebenso wurde in einer Studie an Erwachsenen in den USA die Vorrangigkeit des männlichen Geschlechts nachgewiesen (vgl. Steinhausen et al., 2010, S. 34). Bei Feldstichproben liegt das Verhältnis von Jungen zu Mädchen bei 2,5-4:1 und bei klinischen Stichproben sogar bei 9:1 (Häßler et al., 2008, S.820). „Auf ein Mädchen kommen im Schnitt also etwa vier Jungs“ schreibt Lauth (2014, S.27). Ein Grund für den Geschlechtseffekt ist vermutlich eine starke biologische, also erbliche, Komponente (vgl. Döpfner et al., 2013, S.280). Laut dem ADHS Infoportal „spielen [möglicherweise] […] noch Unterschiede in der Erziehung von Jungen und Mädchen eine – allerdings untergeordnete – Rolle“ (ADHS Infoportal, o. J.).
Insgesamt wird Jungen deutlich öfters eine Therapie empfohlen. Das könnte daran liegen, dass Jungen vielmals Hyperaktivität und Impulsivität aufzeigen, daher eher lauter sind. Außerdem verhalten Jungen sich häufiger „aggressiv und oppositionell“ (ADHS Infoportal, o. J.). Diskutiert wird auch, ob sich „expansives Verhalten bei Jungen verfestigt, weil es bei ihnen eher toleriert wird als bei Mädchen“ (Lauth, 2014, S.27). Weitere Ursachen sind noch unbekannt.
Prof. Dr. Amelie Wuppermann schreibt, dass Kinder, die früher eingeschult werden, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, mit ADHS diagnostiziert zu werden. Sie vermutet, dass „der Zusammenhang durch den nicht angemessenen Vergleich der Kinder innerhalb einer Klasse getrieben wird“ (Wuppermann et al., 2015, S.4). Nach mehrfachen Datenanalysen mit verschiedenen Studienkohorten hat ein „Rückgang der Prävalenzraten mit zunehmendem Alter [stattgefunden]“ (Steinhausen et al. 2010, S.31). Untersucht werden immer wieder Faktoren, die auf eine ADHS hinweisen können. Sogar im Säuglingsalter können schon erste Anzeichen sichtbar werden (vgl. Esser, Fischer, Wyschkon, Laucht & Schmidt, 2007, S.128). Herausgefunden wurde von ihnen, dass ein niedriges Geburtsgewicht, organische, motorische, neurologische oder psychosoziale Belastungsfaktoren keinen Einfluss auf eine spätere ADHS-Diagnose nehmen.
Die Professorin Auerbach und ihre Kollegen haben hingegen einen Einflussfaktor gefunden Zum Beispiel kann das Temperament bei einer auffälligen Hyperaktivität eine Auswirkung haben (vgl. Auerbach, Berger, Atzaba-Poria, Arbelle, Cypin, Friedman & Landau, 2008, S. 328). Außerdem haben die Professoren Petermann und Kullik (2011, S.188) eine Korrelation mit negativer Emotionalität finden können. Im späteren Kleinkindalter werden mehr kognitive Defizite entdeckt, z.B. bei der geistigen Entwicklung und vor allem bei der Sprachentwicklung (Esser et al., 2007, S.179). Darüber hinaus steigt auch die motorische Aktivität an. So wird nochmals untermauert, dass die Hyperaktivität im Kleinkindalter auf eine spätere ADHS-Diagnose hinweist. Es muss jedoch immer beachtet werden, dass „bei einer prognostischen Einschätzung im Kindesalter immer die Kombination aus Temperaments- und kognitiven Merkmalen herangezogen werden muss“ (Koentges & Schleider, 2016, S.26).
Im Vorschulalter wurden Mängel bei der Inhibitionsleistung festgestellt (vgl. Berlin, Bohlin & Rydell, 2003, S.260). Durch die verschiedenen Anforderungen, die die Kinder in der Schule gestellt bekommen, zeigt sich die Krankheit vor allem nach der Einschulung, nachdem eine ADHS in der Vorschule vermutet wurde oder die Kinder leicht auffällig waren.
In Abbildung 1 wird die Entwicklung der Prävalenzzahlen über die verschiedenen Altersstufen deutlich.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Prävalenzzahlen (Alters- und Geschlechtsunterschiede)
(nach Schlander, 2007, S.413)
Auf der Grafik wird deutlich gemacht, dass im Grundschulalter die Ausprägungen am größten sind. Gleichermaßen werden die Geschlechtsunterschiede erneut sichtbar. Jungen, die hier farblich blau markiert wurden, sind von ADHS deutlich häufiger betroffen, wie schon im Kapitel 2.1.3.2 beschrieben. Diese Abbildung dient nochmals der Veranschaulichung der Alters- und Geschlechtsunterschiede. Spätestens in der Grundschule werden die ADHS-Symptome nämlich behandlungsbedürftig.
Wie auf der Grafik ersichtlich wird, sinkt die Zahl der ADHS erkrankten wieder ab. Einige Symptome können in diesem Alter wieder zurückgehen. Manchmal kann sogar eine Heilung erreicht werden. Trotz dem Rückgang mancher Symptome, kann sich die Störung in der Pubertät durch den Widerstand gegen die Erziehung der Eltern weiter verschlimmern (Barkley, Fischer, Smallish & Fletcher, 2004, S.200). Nachdem früher angenommen wurde, dass ADHS im Jugendalter vorbei sein wird, ist heute klar, dass auch im Erwachsenenalter durchaus noch gewisse Symptome vorhanden sind (vgl. Häßler et al., 2008, S. 820). ADHS Deutschland e.V. schreibt, dass „schätzungsweise etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland betroffen [sind], ohne die geringste Ahnung davon zu haben“ (Neuy-Bartmann, ADHS Deutschland e.V., 2013). Dr. Astrid Neuuy-Bartmann betont auch, dass etwa 30-50% der Kinder mit ADHS später im Erwachsenenalter deutlich davon betroffen seien (ebd.).
Bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung gibt es viele Untergruppen. Im DSM-5 zum Beispiel, werden drei verschiedene Subtypen unterschieden. Es gibt „einen Mischtypus, einen vorherrschend unaufmerksamen Subtypus und einen vorherrschend hyperaktiv-impulsiven Typus“ (Lauth, 2014, S.24). Bei diesen Typen ist die Hyperaktivität bzw. Impulsivität ein Merkmal, welches nicht unbedingt auftreten muss. Aufgeteilt sind die Untergruppen in die Schweregrade leicht, mittel und schwer (ebd.). Im ICD-10 gibt es ebenfalls Subtypen. Wurde bei einem Kind z.B. eine „einfache Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung“ diagnostiziert, kann es gleichzeitig eine „Störung des Sozialverhaltens“ aufweisen. Treten beide Diagnosen zusammen auf, wird von einer „Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens“ gesprochen (ebd.). Eine „nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störung“ gibt es ebenfalls (Döpfner & Petermann, 2012, S.12). Der unaufmerksame Subtyp kommt laut Steinhausen et al. (2010, S.35) am häufigsten vor.
Was ansonsten auffällig war, ist, dass Mädchen „häufiger von ADS, als von dem hyperaktiv-impulsiven Subtyp“ betroffen sind (Steinhausen et al., 2010, S.35). Während einer ADHS kommt es außerdem oft vor, dass komorbide Störungen vorherrschen. Unter Komorbidität wird das „Vorliegen von mehr als einer Krankheit oder Störung bei einer Person in einem definierten Zeitrahmen“ verstanden (Steinhausen et al., S.172). Bei Forschungen bzw. Feldstudien wurden erst spät koexistierende Störungen erfasst (ebd.). ADHS korreliert vor allem mit Störungen des Sozialverhaltens, oppositionellem Trotzverhalten und aggressiven Verhaltens-auffälligkeiten. Auffallend waren ebenso Entwicklungsstörungen, Lernstörungen, Tic-Störungen oder das Asperger-Syndrom (vgl. Steinhausen et al., S.35f). Hoch ist das Risiko beim Auftreten von „internalisierenden Störungen“ wie Depressionen oder Angststörungen (Döpfner et al., 2008, S.110).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die komorbiden Störungen „beträchtlich [sind] und kein methodischer Artefakt diagnostischer Systeme“ (ebd.) ist. Bei einer Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung gibt es noch weitere Probleme, die auf den ersten Blick nicht ersichtlich sind. Erst bei genauerer Auseinandersetzung mit der Störung werden die Belastungsfaktoren und Folgeprobleme deutlich. Was vor allem häufig auftritt sind Schlafstörungen. Die Kinder mit einer ADHS können nur schwer einschlafen und kaum durchschlafen, sind unruhig und wachen wieder früh auf (vgl. Fröhlich, Lehmkuhl, Wiater, 2003, S.136).
Ein weiteres gravierendes Folgeproblem ist der abnehmende schulische Erfolg. Viele Kinder mit ADHS haben Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen. Es kommt auch vor, dass deshalb eine Klassenstufe wiederholt werden muss (vgl. Döpfner, Fröhlich & Metternich, 2007, S.16). Durch die abfallenden Leistungen kann gleichzeitig das Selbstvertrauen sinken. Durch Ablehnung von MitschülerInnen, PädagogInnen oder sogar den eigenen Eltern, kann dies noch weiter verschlimmert werden. Gerade die Ablehnung durch Gleichaltrige fördert Interaktionsprobleme (ebd.). Schwierigkeiten gibt es auch im familiären Kontext, da Kinder mit ADHS belastend sein können (vgl. Döpfner et al., 2007, S.17). Sowohl für die Eltern als auch für die Kinder, kann der Alltag zu einer großen Herausforderung werde, was für Konfliktsituationen sorgt.
Durch diese Anstrengungen können auch bei den Eltern psychische Erkrankungen entstehen (ebd.). Der Teufelskreis, der sich in der Lebensqualität bemerkbar machen kann, ist demzufolge vorprogrammiert (vgl. Falk-Frühbrodt, o. J.). Häßler et al. (2008, S.821) berichten außerdem, dass Kinder- und Jugendliche mit ADHS später ein erhöhtes Risiko haben, süchtig zu werden.
Die Pharmazeutische Zeitung schreibt: „Mit Zigaretten, Cannabis, Kokain oder Alkohol behandeln sich die Betroffenen anscheinend selbst“ (Borchard-Tuch, Pharmazeutische Zeitung, 2007). Wird ADHS mit Medikamenten behandelt, kann das Suchtrisiko reduziert werden, ohne abhängig zu machen (vgl. American Academy of Pediatrics, 2014). In der Gesamtheit lässt sich sagen, dass durch die Diagnose einer ADHS viele Risiken entstehen können, sowohl psychisch, als auch physisch.
Wie in den vorherigen Kapiteln beschrieben, ist ADHS grundsätzlich größtenteils auf die Biologie zurückzuführen. Trotzdem spielen soziodemographische Variablen eine Rolle, wie jetzt im weiteren Verlauf erläutert wird. Zusammenhänge zwischen ADHS und einem niedrigen sozioökonomischen Status der Eltern wurden beispielsweise von Gimpel und Kuhn (2000, S.170) bestätigt. In verschiedenen Studien, z.B. BELLA & KiGGS, konnte dieses Phänomen festgestellt werden (vgl. Döpfner et al., 2008 & Schlack et al., 2007). Schlack et al. (2007, S.830) schreiben, dass psychische Belastungen Einfluss auf die soziale und berufliche Entwicklung nehmen können. Durch diese Last kann ein Abstieg in eine niedrige soziale Schicht erfolgen. Die Kinder der belasteten Eltern werden dann in dieser Schicht großgezogen und bekommen die Belastung unter diesen Umständen vererbt. So erhöht sich das Risiko einer psychischen Störung deutlich. In Abbildung 2 kann der Zusammenhang zwischen der ADHS-Prävalenz und den soziodemographischen Faktoren betrachtet werden.
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