Bachelorarbeit, 2015
54 Seiten, Note: 1,0
EINLEITUNG
1. Literaturwissenschaftliche Grundlagen der modernen Jugendliteratur
1.1. Zum Begriff der Modernisierung
1.2. Gesellschaftliche Modernisierung
1.3. Literarischer Wandel
2. Der Bildungsroman
2.1. Zur Begriffsbestimmung des Bildungsromans
2.2. Merkmale des Bildungsromans
3. Der Abenteuerroman
3.1. Zum Begriff des Abenteuers
3.2. Merkmale des Abenteuerromans
4. Der Adoleszenzroman
4.1. Zum Begriff der Adoleszenz
4.2. Weibliche und männliche Adoleszenz
4.3. Vom Jugendbuch zum Adoleszenzroman
4.4. Merkmale des Adoleszenzromans
4.5. Vom klassischen zum postmodernen Adoleszenzroman
ANALYTISCHER TEIL
5. Zur Biographie von Rainer Merkel
6. Zur Entstehungsgeschichte
7. Zur Handlung des Romans
8. ZUM TEXTANFANG
9. Zum Textende
10. Zur Figurencharakteristik - Benjamin Pingel-Greenhammer als Beispiel eines männlichen Adoleszenten im Roman
10.1. Beziehungen zwischen Benjamin und seinen Eltern
10.2. Zu Freundschaftsbeziehungen
Zusammenfassung
LITERATURVERZEICHNIS
Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit dem Thema „Rainer Merkels Roman Bo als moderner Bildungs- und Abenteuerroman”. Rainer Merkel gehört zu den mehrfach preisgekrönten Autoren. Obwohl er kein typischer Jugendbuchautor ist, schafft er mit diesem Werk einen erfolgreichen Jugendroman, für den er den Erich- Fried-Preis 2013 erhielt. Zu den relevanten Themen, die in diesem Roman behandelt werden, gehören: das Erwachsenwerden, Familienbeziehungen, Freundschaft, Liebe, Identitätssuche, Peer-Gruppen, Außenseitertum, sowie Schule. Dies sind die Themen, die für die Adoleszenzphase charakteristisch sind und mit denen sich die Jugendlichen auseinandersetzen müssen.
Da es innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur zu einer Auflösung der Gattungsgrenzen gekommen ist, kann man den Roman von Rainer Merkel nicht einem einzigen gattungstypologischen Muster zuordnen. Das Werk Bo weist daher Merkmale verschiedener Gattungen auf. Man kann den Roman sowohl als einen Bildungs- oder Abenteuerroman, als auch als einen Adoleszenzroman bezeichnen. Die Vielfältigkeit dieses Werkes aufzuzeigen ist eine Intention dieser Arbeit.
Die Bachelorarbeit gliedert sich in zwei Teile, den theoretischen und den analytischen. Zunächst soll das Phänomen des Modernisierungsprozesses beleuchtet werden und sein Einfluss auf Gesellschaft und Literatur. Im Zuge der Modernisierungsprozesse kam es zu gravierenden Veränderungen innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur und infolgedessen zur Entstehung einer Hybridität jugendliterarischer Erzählmodelle, was für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung ist. Darüber hinaus werden in dem theoretischen Teil drei Typen des Jugendromans eingehender behandelt: der Bildungsroman, der Abenteuerroman, sowie der Adoleszenzroman. Die gattungstypischen Entstehungsgeschichten und Merkmale werden hierbei berücksichtigt. Eine besondere Aufmerksamkeit richtet die Verfasserin auf die Adoleszenzphase, in der Heranwachsende wichtige Persönlichkeitsentwicklungen erfahren. Die Verfasserin konzentriert sich dabei auf die männliche Adoleszenz, die im Fokus dieser Arbeit steht.
Im zweiten Teil der Arbeit findet sich die Analyse des Primärwerkes. Dabei geht die Verfasserin auf die Biographie des Autors sowie die Entstehungsgeschichte des Romans näher ein. Außerdem werden der Textanfang und sein Ende mithilfe der Theorien von Petersen, Martinez und Scheffel narratologisch genau analysiert. Nach der narratologischen Untersuchung des Werkes folgt die inhaltliche Analyse. Diese legt ihren Schwerpunkt auf drei Themen: männliche Adoleszenz, Familie und Freundschaftsbeziehungen.
Die vorliegende Arbeit wird mit einer Zusammenfassung abgeschlossen, in der die Ergebnisse der Analyse dokumentiert werden.
In den vergangenen Jahrzehnten kam es innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur zu gravierenden Veränderungsprozessen, denn nicht nur die Literatur veränderte sich, sondern auch die Lebensrealität und Wirklichkeitsauffassung der Jugendlichen sowie deren Zukunftsperspektiven. Der literarische und gesellschaftliche Wandel erfolgte im Zuge eines Modernisierungsprozesses. In Theorieansätzen verschiedener Soziologen wurde versucht, den Terminus Modernisierung zu definieren. In Ulrich Becks Definition wird das Phänomen sehr umfassend erklärt:
Modernisierung meint die technologischen Rationalisierungsschübe und Veränderungen von Arbeit und Organisation, umfasst darüber hinaus aber auch sehr viel mehr: den Wandel der Sozialcharaktere und Normalbiographien, der Lebensstile und Liebesformen, der Einfluss- und Machtstrukturen, der politischen Unterdrückungs- und Beteiligungsformen, der Wirklichkeitsauffassungen und Erkenntnisnormen.[1]
Infolge des Modernisierungsprozesses unterliegen also die Bewusstseinsstrukturen den strukturellen Veränderungen, es entstehen neue Werte und Normen wie auch ein anderes Denken über die Welt.[2]
Die literarische Modernisierung spielt für die vorliegende Arbeit eine bedeutende Rolle. Sie wird von dem gesellschaftlichen Wandel beeinflusst und als seine Folge betrachtet. Damit man dieses Phänomen besser versteht, müssen die literarische und die gesellschaftliche Modernisierung voneinander abgegrenzt werden.
Der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich über einen längeren Zeitraum und auf allen Ebenen, betrifft sowohl die soziale als auch die kulturelle Struktur der Gesellschaft. Beck beschreibt drei Entwicklungsphasen der modernen Gesellschaft. Charakteristisch für die erste Phase ist die Notwendigkeit, die während des Zweiten Weltkriegs zerstörte Welt wieder aufzubauen. Mit dem Wiederaufbau verbindet sich in der Nachkriegszeit eine große Angst, das Erreichte wieder zu verlieren.
Tugenden wie Opferbereitschaft, Fleiß und harte Arbeit gewinnen infolgedessen an Bedeutung. Die zweite Phase reicht bis in die 1980er Jahre hinein. In dieser Zeit entwickeln sich politische Freiheiten, die sich unter anderem durch mehrere Protestbewegungen auszeichnen. Die dritte Phase erfolgt in den 1990er Jahren, Beck bezeichnet sie als Weltrisikogesellschaft. Kennzeichnend hier sind Ungewissheit und Sorgen um die Zukunft. Die Menschen haben Angst, den erworbenen Wohlstand wieder zu verlieren und sorgen sich um Arbeit, Höhe des Einkommens, um die Ausbildung ihrer Kinder sowie um die Sicherheit ihrer Altersversorgung.[3] In diesem Zusammenhang stellt Beck Folgendes fest:
Je rascher und weitreichender gesellschaftlicher Wandel die Geschäftsgrundlagen des Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens verändert, desto wahrscheinlicher fühlen sich die Menschen überfordert, und desto mehr greift die Angst vor der Freiheit um sich.[4]
In einer Welt der vielfältigen beruflichen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten bekommt das Individuum einerseits Chancen geboten, wird aber auch mit vielen Risiken konfrontiert. Gemeint sind hier die risikobehafteten Lebensumstände, die nicht nur mit der ökologischen Krise, wie globale Erwärmung, Atomenergie und Umweltverschmutzung, zusammenhängen. Vielmehr geht es um risikoreiche alltägliche Entscheidungen, die ökonomische Lage und nicht zuletzt unsichere Partnerbeziehungen. Auch das zunehmende Risiko kriegerischer Konflikte, selbst für europäische Länder, wird hinzugezählt.[5] Verständlich daher, dass viele Menschen der heutigen Gesellschaft sich aufgrund des Modernisierungsprozesses bedroht fühlen. Auch die neue Familienstruktur zeugt von zunehmender Instabilität.
Im Laufe des Modernisierungsprozesses haben sich neben der "Normalfamilie" andere Familienmodelle herausgebildet. Alleinerziehende oder kinderlose Ehen sind keine Seltenheit mehr. Die Menschen entscheiden sich nach einer Scheidung häufiger, eine neue Ehe einzugehen. Infolgedessen wachsen viele Kinder in sogenannten Patchwork-Familien auf. Die Instabilität familiärer Strukturen verursacht, dass viele Kinder Angst davor haben, die Eltern zu verlieren. Doch ist diese Verunsicherung in familiären Strukturen nicht der einzige Faktor, durch den sich Kinder bedroht fühlen können. Durch die Modernisierungsprozesse verändern sich auch die Erziehungsmethoden, die Beziehungen innerhalb der Familie, die Rolle der Ehe, der Status von Mann, Frau und Kind. Der Prozess des gesellschaftlichen Wandels betrifft also alle Altersgruppen und Lebensbereiche.
Während etwa im 19. Jahrhundert Kinder als Garanten für die Übernahme der elterlichen Betriebe und somit als Absicherung der Altersvorsorge galten, wurden Kinder im Laufe der Industrialisierung mit der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung zu einer luxuriösen Investition.[6]
Während der Emanzipationsbewegung kommt es zur Loslösung von traditionellen Rollenbildern, wie die Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau. Kinder werden als Individuen und gleichberechtigte Partner mit eigener Meinung betrachtet und leben nicht länger in patriarchalisch-autoritären Familien, sondern handeln eigenverantwortlich in Verhandlungsfamilien.[7] Die Selbstständigkeit des Kindes spielt eine bedeutende Rolle in der Erziehung. Es verhandelt, plant selbst den Alltag und stellt ihn in eigener Regie her. Die von den Eltern geschenkte "Freiheit" kann jedoch Überforderungssyndrome bei den Kindern verursachen, denn diese haben kaum Freizeit für sich. Sie bewältigen ihren Alltag unter Termindruck, bemüht darum, die schulischen und außerschulischen Aktivitäten zu vereinbaren. In der modernen Konsumgesellschaft sind die Kinder außerdem zu Konsumenten geworden. Ein erstrebenswertes Leben wird von der Höhe des Taschengelds, Markenbekleidung und neuesten Trends abhängig gemacht. Man spricht hier von einer "Ökonomisierung" der Kinderwelt.[8] Eine wichtige Rolle spielt in der heutigen Kindheit die Technik. Das moderne Kind verfügt über vielfältige Möglichkeiten, mithilfe des Computers schnellen Zugang zu wichtigen Informationen zu finden, online Sprachen zu erlernen oder andere Dienste zu nutzen. Dennoch birgt diese Medienkindheit auch Gefahren, wie Gewalt verherrlichende Computerspiele oder Filme aufzeigen. Man kann feststellen, dass es keinen Schonraum mehr für die Kindheit gibt. Ein weiterer Aspekt ist das Kapital. Um in der Risikogesellschaft bestehen zu können, braucht man ein hohes Kapital. Pierre Bourdieu unterscheidet drei Kapitalsorten, das materielle, das soziale und das symbolische Kapital, von denen die Stellung des Menschen im sozialen Raum abhängig ist.
Die Zusammensetzung an Kapital entscheidet über die Chancen des Menschen in der Gesellschaft.[9] In diesem Sinne gewinnt Bildung an Bedeutung und die Ausbildungszeit wird ausgedehnt. Um das symbolische Kapital zu erwerben, braucht ein Jugendlicher einen guten Abschluss, deswegen „ist moderne Kindheit und Jugend fast ausschließlich Schulzeit geworden. Die Ausbildungszeit reicht oft bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt.”[10] Aufgrund längerer Schulzeit und ökonomischer Abhängigkeit von den Eltern gründet man erst spät eine eigene Familie. Im Zuge des Modernisierungsprozesses erreicht demnach der Begriff Jugend eine völlig neue Dimension. Ein weiteres Phänomen der neuen Körperlichkeit bestätigt dies. Im Laufe der letzten Jahrzehnte entstand ein überhöhtes Jugendideal, geprägt von Körperkult und Jugendwahn. Diese neue Auffassung des Jung-Seins artikuliert sich in der Lebensweise: Mithilfe von Schönheitsoperationen, Sonnenstudio und Fitnesstraining soll versucht werden, dem Jugendideal zu genügen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Folgen der Modernisierung alle Lebensbereiche betreffen. Es entstanden neue Werte und Normen. Der Prozess des Wandels beeinflusste die Familienstruktur, die Kindererziehung und Lebensstile. Mit der veränderten Wirklichkeit veränderte sich auch die Darstellung von Realität in der Literatur.
Die im vorigen Kapitel beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen liegen dem Wandel der Kinder- und Jugendliteratur zugrunde. Bertolt Brecht weist mit Recht darauf hin, wenn er sagt: „Es verändert sich die Wirklichkeit, um sie darzustellen, muss die Darstellungsart sich ändern.”[11] In der Kinder- und Jugendliteratur wurden die beiden narrativen Ebenen des „Was” und des „Wie” reformiert. Sowohl die Geschichte selbst als auch die Art und Weise deren Präsentation wurden modifiziert. Carsten Gansel spezifiziert die kulturhistorisch bedingten Veränderungen, die zu dem literarischen Wandel beitrugen. Dabei handelt es sich um Veränderungen im Verhältnis der Figuren zueinander, Veränderungen im Verhältnis von Innen- und Außenwelt, Veränderungen im Verhältnis von Kinder- und Erwachsenenwelt, sowie in der Wahl des Erzählers.[12]
Der Wandel von Kindheit und Jugend bildet die Grundlage für das Entstehen einer modernen Kinder- und Jugendliteratur, die sich auf die aktuellen Wirklichkeitserfahrungen bezieht. In der modernen Kinder- und Jugendliteratur werden keine Mythen oder Utopien mehr geschildert, wie es zuvor der Fall war. In der Sozialisationsliteratur der 1950er Jahre wurden noch bestimmte Werte vermittelt, und Kindheitsautonomie auf der literarischen Ebene anders verstanden.
Zuvor galten Kinder als andere, in einer eigenen Welt existierende Menschen, doch nun gehören sie als gleichberechtigte Partner der Erwachsenenwelt an. Infolgedessen werden die jungen Leser nicht vor bestehenden Problemen und schwierigen Themen verschont, sondern damit konfrontiert. Es vollzieht sich eine thematische Öffnung: Behinderung, Sterben und Tod, Scheidung, Alkoholismus, Drogen, Krieg, Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Sexualität sind die Themen, die seit 1970er Jahren in die Texte eingehen. Vor dieser Zeit als ungeeignet für die Kinder- und Jugendliteratur empfunden, werden diese Themen jetzt kritisch behandelt und reflektiert. Aus der Kritik an der Ideologie der heilen Kinderwelt entsteht in den 1970er Jahren die „antiautoritäre Kinder- und Jugendliteratur”, in der es vielmehr darum geht, die "wirkliche Wirklichkeit" literarisch zu erfassen. Die literarische Welt hängt mit der realen Welt der Kinder und Jugendlichen zusammen. Die Kinder- und Jugendliteratur ist somit in einem Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung zum Spiegel kindlicher Lebenswelten geworden. Sie kann sogar als Instrument der Zeitdiagnostik angesehen werden.[13] Aus der Erwachsenenliteratur entliehen, bekam die Kinder- und Jugendliteratur das zuvor für kindliche und jugendliche Rezipienten untypische Formarsenal wie Reportage und Montage, sowie Formen der Dokumentarliteratur.[14] Dementsprechend verwischen sich auch die Grenzen zwischen der Kinder- und Jugendliteratur und der Erwachsenenliteratur.
Auch mit weiteren Formmerkmalen kommt es zur Annäherung an die Erwachsenenliteratur.[15] Gemeint sind Darstellungstechniken wie Ich-Erzählung, die personale Erzählsituation, innerer Monolog mit Übergängen zur Bewusstseinsstromtechnik, häufiger Wechsel des Erzählstandortes, Rückblenden, rascher Wechsel der Zeitebenen und Tempusformen.[16] Auch bleibt das Ende der Handlung meistens offen und wirft viele Fragezeichen auf. All diese Eigenschaften sind charakteristisch für einen modernen Jugendroman, der sich weiterentwickelt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Rahmen des Modernisierungsprozesses der gesellschaftliche Wandel mit dem literarischen Wandel sehr eng zusammenhängt. Die Literatur wurde durch die Folgen der Modernisierung beeinflusst und hat gravierende Veränderungen erfahren. Es kam zu einer Vermischung der Gattungen und die bisherigen Grenzen wurden aufgebrochen. Die Entwicklung und der Wandel innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur ist dabei immer noch nicht beendet.
Der Bildungsroman gehört zu den wichtigsten Gattungen der Literaturgeschichte und markiert einen entscheidenden Meilenstein in der Genese des deutschen Romans. Eine Besonderheit dieser Gattung besteht darin, dass die weder Vorläufer in der antiken Literatur hat, noch auf vorbildende Beispiele in der zeitgenössischen europäischen Literatur zurückgreifen konnte. Dazu noch erfolgte die Gattungsbestimmung aus der Analyse deutschsprachiger Romane.
Der Bildungsroman gilt daher als eine typisch deutsche Literaturgattung. Bis heute wird der Begriff Bildungsroman in anderen Sprachen als Terminus technicus benutzt.[17]
Hinter dem Begriff Bildungsroman steckt ein in Deutschland im späteren 18. Jahrhundert entstandener Romantypus, in dem der Bildungsgang eines jugendlichen Protagonisten in dem Zeitanschnitt zwischen der Kindheit und der Berufsbildung thematisiert wird.[18]
Carsten Gansel weist mit Recht darauf hin, dass der Bildungsroman „[...] sich auf einen bestimmten Zeitabschnitt, zumeist die Jugendphase konzentriert [...].“[19] Es handelt sich hier also nicht um einen überzeitlichen Romantypus, sondern um ein historisches Epochenphänomen. Ziel und Weg des Protagonisten sind daher auch an spezifische Epoche und Kultur gebunden.
Als der Erfinder des Begriffs gilt Professor Karl von Morgenstern, der zum ersten Mal in der deutschen Literaturgeschichte das Wort Bildung verwandte und den Terminus des Bildungsromans prägte. „Bildungsroman wird er heißen dürfen, weil es des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang darstellt.“[20] Seine Definition bleibt jedoch vage und die Aufsätze von ihm führen nicht zu einer eindeutigen Formulierung. In der folgenden Untersuchung des Begriffs beschäftigten sich auch u. a. Gustav Freytag, Friedrich Spielhagen, Wilhelm Dilthey und Georg Lukacs mit der Begriffsbestimmung des Bildungsromans und zur Herausbildung des Genres beitrugen.[21] Die Problematik der Gattungsbestimmung liegt in dem engen Zusammenhang zwischen Bildungs-, Entwicklungs-, und Erziehungsroman. Die genannten Romane werden in den Sachwörterbüchern voneinander abgegrenzt, jedoch die Grenzen sind sehr fließend.[22],,Bildungsroman benennt eine konkrete historische Gattung oder Dichtungsart, Entwicklungsroman dagegen einen quasi überhistorischen Aufbautypus.“[23] Als Erziehungsroman gilt ein stärker didaktisches Genre, das pädagogische Probleme diskutiert, Erziehungsformen gedanklich entwirft oder exemplarisch veranschaulicht.[24]
Außer vielen Gemeinsamkeiten zwischen den benachbarten Gattungen bildet der Bildungsroman die Wurzel für den Adoleszenzroman. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Ausprägung des Genres einen bedeutsamen deutschen Beitrag zur Weltliteratur liefert.[25]
Um das Wesen des Bildungsromans verstehen zu können, müssen zunächst seine typischen Merkmale aufgezeigt und seine charakteristischen Eigenschaften besprochen werden. Zentrales Thema dieser Gattung ist der Prozess der geistigen und charakterlichen Bildung des Helden bzw. der Heldin. Dessen persönliche Entwicklungsgeschichte und die Suche nach Orientierungsmustern sowie die Bestimmung seiner eigenen Position in der Gesellschaft stehen in jedem Bildungsroman im Fokus. Es geht hier um die Idee der Bildsamkeit des Individuums, den Weg zur Selbstfindung und -verwirklichung.[26] Dabei spielt die Auseinandersetzung der personalen Identität des Protagonisten mit den Anforderungen der Umwelt eine bedeutende Rolle. „Der Bildungsgang gleicht dabei einem Reifungsprozess, bei dem natürliche Anlagen in einem gesellschaftlichen Umfeld über Konflikt- und Krisenerfahrungen zur Ausbildung gelangen.“[27]
Der Leser begleitet den Protagonisten auf seinem Weg zumeist von der Kindheit an bis zur Berufsbildung. Der Held erfährt bereichernde Erlebnisse, schließt Freundschaften, verliebt sich, wird mit der harten Realität konfrontiert, setzt sich mit dem Elternhaus auseinander, probiert sich selbst in einem Beruf aus.[28] Dieser Prozess führt zu einem Ausgleich mit der Welt, der das Ziel einer Bildungsgeschichte ist.[29] Das Einbringen autobiographischer Züge des Autors ist ein weiteres Merkmal dieses Genres. „Der Wunsch, individuelle Existenz zur Anerkennung zu bringen, wie er der neuen Form der Autobiographie zugrunde liegt, prägt auch die Gestaltung des Bildungsromans.“[30] Als erster Bildungsroman überhaupt gilt die Geschichte des Agathon von Christoph M. Wieland aus dem Jahr 1766. Es handelt sich hier noch nicht um eine Entwicklungsgeschichte im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr um abenteuerliche Erfahrungen des Helden und seine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Als beispielhaftes Muster eines Bildungsromans erlangt das Werk von Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre von 1795 Bedeutung. Goethes Roman wurde zum Vorbild für das literarische Schaffen nachfolgender Autoren, seine Form und Gestaltung wurden oft nachgeahmt. Somit entstanden weitere Bildungsromane, zu denen u.a. Heinrich von Ofterdingen von Novalis aus dem Jahr 1802 und Kellers Der grüne Heinrich von 1854 gehören. „Damit weitet sich das Spektrum des Bildungsromans, und es können auch moderne Beispiele wie Die Blechtrommel von Günter Grass dieser Gattung zugerechnet werden.“[31]
Die Abenteuerliteratur existiert als eine der ältesten Erscheinungsformen innerhalb der Literatur. Literarische Werke, in denen Helden ein Abenteuer durchleben, gab es schon zu allen Zeiten.[32] Über die Entstehung dieser Gattung sagt das Online-Lexikon Folgendes:
Abenteuerliteratur ist so alt wie die Literatur selbst. Zwar trat sie nicht immer unter der Begrifflichkeit „Abenteuerroman“ auf, sondern auch als Mythos, Epos oder Märchen, doch begeisterten Abenteuergeschichten ihr Publikum zu jeder Zeit und in jedem Kulturkreis. So kann Abenteuerliteratur bis in die Antike, sogar in den Alten Orient zurückverfolgt werden: In der babylonischen Literatur entstanden Werke wie der Gilgamesch-Epos, noch im Dunklen Zeitalter Griechenlands schuf Homer die Odyssee (8. Jahrhundert v. Chr.). In beiden Werken müssen die Protagonisten bereits ein Abenteuer nach dem anderen bestehen.[33]
In der Menschheitsgeschichte wurde allgemein ehrfurchtsvoll von Abenteurern berichtet, seien es die klassischen Helden des Altertums, die Eroberer der Antarktis in der Neuzeit oder die Basejumper aus dem Jahr 2013.[34]
Bevor man sich mit dem Abenteuerroman eingehender beschäftigt, sollte zunächst der Begriff Abenteuer erklärt werden.
Das Wort Abenteuer stammt aus dem Lateinischen und leitet sich von „adventura“ ab und bedeutet Erlebnis.
Unter einem Abenteuer ist eine Unternehmung oder ein Ereignis zu verstehen, dass sich vom Alltäglichen stark unterscheidet. Es muss aber in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, dass der Begriff Abenteuer höchst subjektiv betrachtet werden muss. Was für den einen aufregend ist, kann für den anderen nichts Ungewöhnliches sein.[35]
Das Grundprinzip eines Abenteuerromans ist die Bewährung des Protagonisten.[36] Der Held bricht aus seiner alltäglichen Welt auf in eine fremde, meist weit entfernte Welt, wo er mehrere Abenteuer überstehen muss. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Ferne, zwischen Heimat und Fremde stellt ein bedeutsames Merkmal dieser Gattung dar.
Fremde, exotische Schauplätze gehören zum festen Gattungsinventar. Dennoch hat die Mehrheit der Abenteuerromane einen zyklischen Verlauf: Nach dem Aufbruch des Helden, seinen Abenteuern in fernen Welten, kehrt er stets zu seinem Ausgangspunkt zurück.[37]
Ein weiteres Merkmal dieses Romantypus offenbart sich in seiner Figurenkonzeption: Die Protagonisten weisen kaum individuelle Züge auf, sind eher „Typen mit feststehenden Eigenschaften, zu denen auch zählt, dass sie mehrheitlich männlichen Geschlechts sind.“[38] Erst in den modernen Abenteuerromanen treten weibliche Heldinnen auf, die allerlei Probleme und Aufgaben meistern müssen.
So kam es in der Postmoderne zu einer Auflösung der Gattungsgrenzen und einer Hybridität jugendlicher Erzählmodelle. Aus diesem Grund haben wir heutzutage mit Texten zu tun, die nicht nur die Merkmale einer einzelnen Gattung aufweisen, sondern die mehrerer.[39] Die Kennzeichen und Merkmale des Abenteuerromans finden sich also auch außerhalb seiner Grenzen, so in den Reiseromanen, in der Robinsonade und auch in den historischen Romanen, die mit jenem in Verwandtschaft stehen.
Im Verlauf der 1950er und 60er Jahre beginnen sich die Wissenschaftler im Bereich u.a. der Medizin, der Psychologie, der Soziologie, der Erziehungswissenschaft mit der Lebensphase zwischen dem Ende der Kindheit und dem Übergang zum Erwachsenenalter detailliert zu beschäftigen. Für die untersuchte Phase wird von allen Disziplinen nun der Begriff der Adoleszenz[40] verwendet.[41] Damit ist eine bestimmte Lebensphase des jungen Menschen gemeint. Carsten Gansel nennt folgende Definition dieses Terminus:
Als Adoleszenz gilt allgemein jene Phase, die den ‚Abschied von der Kindheit’ und den Eintritt in das Erwachsenenalter bezeichnet. Die Besonderheit dieser lebensgeschichtlichen Phase besteht im Mit- und Gegeneinander von körperlichen, psychischen und sozialen Prozessen. Es geht sozusagen um die ‚Neuprogrammierung’ der physiologischen, psychologischen und psychosozialen Systeme.[42]
[...]
[1] Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986, S. 25.
[2] Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor 1999, S. 48.
[3] Vgl. Beck, Ulrich: Kinder der Freiheit. Frankfurt a.M. 1997, S. 22-24.
[4] Ebd., S. 21.
[5] Vgl. Preuss-Lausitz, Ulf: Kindheit 2000. Entwicklungstendenzen zwischen Risiken und Chancen. In Daubert, Hannelore / Ewers, Hans-Heino (Hrsg.): Veränderte Kindheit in der aktuellen Kinderliteratur. Braunschweig 1995, S. 10.
[6] Eggert, Anna: Jugend und Bildung im gesellschaftlichen Wandel: Möglichkeiten und Grenzen der non-formalen Jugendbildung im 21. Jahrhundert. Hamburg 2003, S. 13.
[7] Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Berlin 2010, S. 105-106.
[8] Vgl. Preuss-Lausitz, Ulf: Kindheit 2000. Entwicklungstendenzen zwischen Risiken und Chancen. In Daubert, Hannelore / Ewers, Hans-Heino (Hrsg.): Veränderte Kindheit in der aktuellen Kinderliteratur. Braunschweig 1995, S. 13.
[9] Vgl. Schroer, Markus: Der physische und der soziale Raum - Pierre Bourdieu. In: Ders.: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Frankfurt (M.): Suhrkamp 2006, S. 82-106.
[10] Preuss-Lausitz, Kindheit 2000, S. 18.
[11] Brecht, Bertolt: Über Realismus. Leipzig 1968, S. 124.
[12] Vgl. Ganel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 91.
[13] Vgl. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 91-93.
[14] Vgl. Ebd., S. 104.
[15] Vgl. Wild, Reiner: Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 2002, S. 461.
[16] Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 106.
[17] Vgl. Gutjahr, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman. Darmstadt 2007, S. 7.
[18] Vgl. Ebd., S. 7.
[19] Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 161.
[20] Mayer, Gerhart: Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart 1992, S. 17.
[21] Vgl. Krause, Markus: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. München: Beck 1989, S. 21-24.
[22] Vgl. Lange, Günter: Charlotte Kerners Jugendromane in der Sekundarstufe I und II. Hohengehren 2006, S. 6.
[23] Köhn, Lothar: Entwicklungs- und Bildungsroman. Stuttgart 1969, S. 435.
[24] Vgl. Ebd., S. 434.
[25] Vgl. Mayer, Der deutsche Bildungsroman, S. 14.
[26] Vgl. Lange, Günter: Charlotte Kerners Jugendromane in der Sekundarstufe I und II. Hohengehren 2006, S. 6.
[27] Guthjahr, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman. Darmstadt 2007, S. 8.
[28] Vgl. Krause, Markus: Der deutsche Bildungsroman. München 1989, S. 37.
[29] Vgl. http://www.enzyklo.de/Begriff/Bildungsroman. Letzter Zugriff am 23.06.2015
[30] Guthjahr, Einführung in den Bildungsroman, S. 38.
[31] Lange, Charlotte Kerners Jugendromane in der Sekundarstufe I und II, S. 6.
[32] Vgl. Weinkauff, Gina / Glasenapp, Gabriele von: Kinder und Jugendliteratur. Paderborn 2010, S. 120.
[33] http://lexikon.freenet.de/Abenteuerroman Letzter Zugriff am 23.06.2015
[34] http://definition-online.de/abenteuer/ Letzter Zugriff am 23.06.2015
[35] http://definition-online.de/abenteuer/ Letzter Zugriff am 13.06.2015
[36] Vgl. Weinkauff, Gina / Glasenapp, Gabriele von: Kinder und Jugendliteratur. Paderborn 2010, S. 120.
[37] Ebd., S. 121.
[38] Ebd., S. 121.
[39] Vgl. Ebd., S. 118.
[40] Der Begriff Adoleszenz ist etymologisch gesehen ein relativ neues Wort. Erst der Duden von 1999 erläutert die Adoleszenz: „Endphase des Jugendalters: Die Mädchen treten [...] mit fünfzehn, die Jungen mit siebzehn in die Phase der A. ein ” (Duden, 1999, S. 136), im Fremdwörterbuch des Dudens benennt es genauer: „Jugendalter, Reifezeit, bes. der Lebensabschnitt nach beendeter Pubertät” (Duden 2000, S. 45).
[41] Vgl. Weinkauff, Gina / Glasenapp, Gabriele von: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn 2010, S. 127.
[42] Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 167.
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