Bachelorarbeit, 2014
42 Seiten, Note: 2,3
1. Einleitung
2. Zeit der Narration
a) Spätere und gleichzeitige Narration
b) Frühere und eingeschobene Narration
3. Narrative Ebenen
a) Zusammenwirken der Erzähltechniken Nathanaels
b) Zusammenwirken der Erzähltechniken des fiktiven Erzählers
4. Stellung der narrativen Instanz zum Geschehen
a) Wiedergabe der subjektiven Empfindung und Wahrnehmung Nathanaels
b) Sprachliche Markierung der perspektivischen Übergänge
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
Als ich die Erzählung von E.T.A. Hoffman ÄDer Sandmann“ das erste Mal gelesen habe, hinterließ diese ein seltsames Gefühl etwas verpasst, überlesen oder sogar nicht richtig verstanden zu haben. Eine Art Ratlosigkeit machte sich bemerkbar und drang mich förmlich dazu die Erzählung erneut aufmerksamer, langsamer und detailierter zu lesen. Aber auch das half mir nicht. Das erneute Lesen offenbarte zwar neue Details, die aber, anstatt zur Klärung der bereits vorhandenen Verwirrung beizutragen, neue Fragen hervorgebracht haben. Allen voran: Hat sich Nathanael den Sandmann und somit auch den Äunheimlichen Spuk“1 nur eingebildet? Betrachtet man aber nun wie folgend zwei der möglichen Antworten, so wird schnell klar, dass keine der beiden zufriedenstellend ist.
Wenn man also die eingehende Frage bejaht, drängen sich unweigerlich folgende Fragen auf: Wie erklärt man sich die Gemütsveränderung der Mutter, die sich immer genau gegen neun Uhr bemerkbar machte? Mehr noch, warum lässt sie Nathanael im Glauben, dass Coppelius der Sandmann sei? Als Nathanael sie nämlich nach dem schrecklichen Vorfall mit Coppelius fragt: ÄIst der Sandmann noch da?“, erwidert sie: ÄNein, mein liebes Kind, der ist lange, lange fort, der tut dir keinen Schaden!“ (SM 10). Ist Nathanael in dem Augenblick noch zu jung, um den ‚wahren‘ Grund zu erfahren? Und wenn es diesen ‚wahren‘ Grund gab2, warum haben sie sich immer noch nicht ausgesprochen? Dies wird beispielsweise klar, als Nathanael im ersten Brief an Lothar betont: ÄDer Mutter erzähl nichts von dem Erscheinen des grässlichen Unholds“ (SM 12). Oder versuchen sie die Gefühle des jeweils anderen zu schützen? So verwehren sie sich aber gleichzeitig die Möglichkeit den Tod des Vaters aufzuklären und aufzuarbeiten. Treibt diese Tatsache Nathanael am Ende in den Wahnsinn?
Umgekehrt, wenn man die gleiche Frage verneint, ist man gezwungen auf folgende Fragen eine Antwort zu finden: Sind Coppelius und Coppola ein und dieselbe Person? Wenn Coppelius und Coppola ein und dieselbe Person sind, warum hat sich Coppelius dann Nathanael ausgesucht - eine Person die ihn bestimmt wiedererkennen würde? Oder wollte Coppelius Nathanael erneut Äauf die Bahn des Wunderbaren“ (SM 6) bringen und seine Neugierde, die Nathanaels ganzes Gemüt schon in der Kindheit beherrschte, für seine Machenschaften mit Professor Spalanzani nutzen? Dann müsste aber der Leser gleichzeitig akzeptieren, dass Clara, obwohl sie eine plausible Erklärung für das Äunheimliche Treiben“ (SM 13) parat hat, doch unrecht haben muss. Aber kann ein aufmerksamer Leser daran glauben, dass Ädas gemütvolle, verständige, kindliche Mädchen“ (SM 21) in Wahrheit ein Äleblose[r,] verdammte[r] Automat“ (SM 25) sei, der Nathanael nicht verstehen kann oder gar will?
Es kann also festgehalten werden, dass unabhängig davon, ob man diese Frage verneint oder bejaht, die jeweilige Antwort eine Unzahl an neuen Fragen aufwirft. Bevor man sich also, aufgrund der unbeantworteten Fragen, in Details verliert, wäre es viel logischer nach dem Grund der Verwirrung zu Fragen: Also warum treten diese Fragen überhaupt auf? Was ist so besonders an dieser Erzählung, dass eine Art Unentschiedenheit der Deutung hervorrufen wird? Oder vielmehr, wie wird diese Unentschiedenheit der Deutung hervorgerufen?
Nicht zu übersehen ist zunächst die ungewöhnliche Einführung der Erzählung durch die Briefe. Dabei ist der Brief an sich, als Medium der Erzählung, nicht so ungewöhnlich. Es gibt ja genügend Autoren, wie zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethe3, die bereits vor E.T.A. Hoffmann den Brief als Erzählmittel eingesetzt haben. Das Ungewöhnliche hierbei ist, dass der Briefwechsel im darauffolgenden Teil der Erzählung, obwohl er mehr als ein Drittel der ganzen Erzählung einnimmt4, unterbrochen und trotz der verheißungsvollen direkten Ansprache des fiktiven Erzählers nicht bewertet oder kommentiert wird. An dieser Stelle wird der Leser geradezu direkt auf eine Zäsur, ein Wechsel der Erzählinstanz, aufmerksam gemacht. Aber bringt dieser Wechsel mehr Licht in das ganze Geschehen? Hilft uns der fiktive Erzähler, durch seine Kommentare und dergleichen, sich am Ende für eine der verschiedenen Deutungsmöglichkeiten zu entscheiden? Nein, das tut er nicht!
Der fiktive Erzähler unterbricht, verzögert die Handlung und zieht sich an wichtigsten Stellen zurück. Er verwirrt den Leser also, anstatt ihm zu helfen. Es scheint sich von selbst zu verstehen, dass genau aus diesem Grund der fiktive Erzähler, als einer der möglichen Erzählinstanzen, Gegenstand dieser Untersuchung wird. Nathanaels Vorgeschichte und damit der ganze Briefwechsel, darf darüberhinaus, als Kernpunkt der ganzen Erzählung, nicht vernachlässigt werden. Demnach begrenzt sich die nachfolgende Untersuchung lediglich auf die drei vom fiktiven Erzähler vorgelegten Briefe und den ersten ‚Erzählerexkurs‘. Um die Erzählinstanz auf verschiedenen Ebenen untersuchen zu können, muss zunächst aber ein Beschreibungsmodus gefunden werden, der in der Lage ist, alle im Text vorkommenden Gesichter der Erzählinstanz zu erfassen. Mit anderen Worten muss man sich für eine der gängigen Erzähltheorien entscheiden.
Mittlerweile gibt es eine Reihe von neueren Erzähltheorien, die aber im Wesentlichen auf Stanzel oder Genette aufbauen und diese erweitern oder modifizieren.5 Allgemein, wenn man sich mit der Erzähltheorie beschäftigt, kommt man an Stanzel oder Genette nicht vorbei. Beide Narratologen haben durch ihre Modelle die erzähltheoretische Terminologie entscheidend beeinflusst, obwohl sie sehr unterschiedlich an das Problem herangegangen sind. Franz Karl Stanzel baute auf die deutsche Tradition einer Morphologie auf, wobei als Ausgangsbasis seines morphologischen Ansatzes die Biologie und die Evolution von Pflanzen, am Vorbild von Goethe und Robert Petsch, dienten.6 Gérard Genette stützte sich seinerseits auf die Struktur der Grammatik, insbesondere auf die Kategorien, die das Verb betreffen.7 Sowohl das eine, als auch das andere Erzählmodell hat seine Vor- und Nachteile. Nichtsdestotrotz eignet sich das Modell von Genette im Kontext dieser Untersuchung besser, weil Äes penible Feinanalysen erlaubt, die keine notwendigen Gesamturteile über den Text als ganzes erfordern“8. Doch bevor man sich, mithilfe des Modells von Genette, in die Analyse des Textes begeben kann, muss noch eine weitere Frage geklärt werden. Wo ist die Erzählinstanz in Genettes Erzähltheorie angesiedelt? Um diese Frage beantworten zu können, wird zunächst ein kurzer Überblick über die Untersuchungsebenen der Erzählung nach Gérard Genette verschafft.
Genette unterscheidet drei Ebenen der Erzählung (Geschichte, Erzählung, Narration) und analog dazu drei Kategorien (Tempus, Modus, Stimme), die die Beziehungen zwischen diesen drei Ebenen beschreiben.9 Dabei wird die Unterscheidung folgend getroffen:
Ich schlage vor [«] das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen [«], den Signifikanten, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt.10
Ausschlaggebend für eine Analyse des jeweiligen Textes ist demnach die Erzählung, die sich als einzige der drei Ebenen einer direkten textuellen Analyse unterziehen lässt. Mit anderen Worten können die Geschichte und die Narration den Lesern nur durch die Erzählung vermittelt werden. Andererseits macht das Erzählen einer Geschichte, die Erzählung erst narrativ, sofern sie von jemandem erzählt wird, denn sonst wäre eine Erzählung kein Diskurs, sondern eine Aufzählung von Fakten. 11
Die drei Ebenen stehen also, wie schon oben angeführt, in einer Beziehung zu einander. Die eigentliche Analyse bezieht sich demnach auf das Untersuchen der Beziehungen zwischen diesen Ebenen (Erzählung und Geschichte, Erzählung und Narration, Geschichte und Narration). Dabei beschreibt die Kategorie des Tempus die Parameter der Zeitgestaltung einer Erzählung (Ordnung, Dauer, Frequenz). Die Kategorie des Modus beschreibt die Art und Weise des Erzählens (Distanz und Beschränkung des Blickwinkels des Erzählens). Die Kategorie der Stimme beschreibt schließlich die Art und Weise, Äwie in der Erzählung oder dem narrativen Diskurs die Narration selber impliziert ist, [«], d.h. die narrative Situation oder Instanz und mit ihr ihre beiden Protogonisten: der Erzähler und sein realer oder virtueller Adressat“. 12
Die Erzählinstanz ist also in der Kategorie der Stimme angesiedelt, wobei die Arten der Fokalisierung (auktorialer, personaler, neutraler Erzähler) einen zunächst durcheinander bringen. Wichtig ist zu verstehen, dass Genette zwischen dem ‚wer spricht‘ (Stimme) und dem ‚wer sieht‘ (Modus) unterscheidet. Ob sich diese beiden Kategorien am Ende überschneiden und ich während der Analyse des Textes doch gezwungen werde auf die Modi des Erzählens zurück zu greifen, wird die nachfolgende Untersuchung zeigen.
Zunächst wird aber die Erzählinstanz, die für die Verwirrung des Lesers verantwortlich ist, mithilfe der oben angeführten Kategorie der Stimme auf verschiedenen Ebenen untersucht. Gérard Genette unterteilt die Kategorie der Stimme in insgesamt zehn Unterpunkte, die inhaltlich in drei Unterkategorien zusammen gefasst werden können: Zeit der Narration, Ebenen der Narration und Stellung des Erzählers zum Geschehen.
Dabei wird im ersten Kapitel das Verhältnis zwischen dem Erzählen und Erlebten mithilfe der Narrationstypen untersucht. Hauptsächlich wird dabei auf den ersten Brief von Nathanael an Lothar eingegangen. Im zweiten Kapitel wird die Verschachtelung mehrerer Ereignisse mithilfe der Ebenen der Narration problematisiert. Hierbei wird der Einstieg des fiktiven Erzählers zu Nutze gezogen und so eine weitere Ebene (Rahmerzählung des fiktiven Autors) aufgezeigt. Im dritten Kapitel wird schließlich der Wechsel der Erzählinstanz thematisiert, wobei hier der ‚Held‘ und der ‚fiktive Erzähler‘ gegenüber gestellt werden und so erneut auf das Problem der Perspektivierung aufmerksam gemacht wird.
Ein letzter aber für mich nicht weniger wichtiger Punkt sollte nochmals hervorgehoben werden. Bei dieser Untersuchung geht es um meine eigenen Verständnisirretationen, die ich versuche selbstständig mithilfe von Genettes Kategorie der Stimme aufzulösen. Daher ist es nur selbstverständlich, dass ich mich bewusst dazu entschlossen habe, soweit es mir möglich ist, mich von der gängigen Sekundärliteratur zu distanzieren. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass es genügend Autoren gibt, die sich vor mir die gleichen Fragen gestellt und möglicherweise sogar die gleichen Antworten darauf bekommen haben. Genau von diesen Autoren möchte ich mich umso mehr distanzieren, damit ich die Antworten eigenständig anhand des Textes und nicht anhand der Hinweise in der Sekundärliteratur, die mir meinen Untersuchungsweg enorm erleichtern würde, ermittle. Zentral für diese Untersuchung ist also allein der Text, der unabhängig von der Sekundärliteratur und anderen Texten E.T.A. Hoffmanns unvoreingenommen untersucht wird. Nur in den seltensten Fällen, wo die Analyse anhand der Kategorie der Stimme kein akzeptables Ergebnis hervorbrachte, griff ich auf die Hilfe der Sekundärliteratur zurück. Das eher knapp ausgefallene Literaturverzeichnis soll einen daher nicht wundern.
Es kann zunächst verwirrend sein, dass Genette die Zeit der Narration in die Kategorie der Stimme und nicht in die Kategorie des Tempus eingeordnet hat. Erinnert man sich aber auf die drei Ebenen, die in der Einleitung eingeführt wurden, so wird schnell klar, dass Tempus sich auf die Ebene der Beziehungen zwischen Geschichte und Erzählung bezieht und die Narration lediglich als eine Quelle des vorliegenden Textes nutzt. Die Zeitbestimmung der narrativen Instanz bezieht sich aber auf die Ebene der Beziehungen zwischen Narration und Geschichte, also dem Verhältnis zwischen Erzählen und Erleben.13 Insgesamt unterscheidet Genette zwischen vier Narrationstypen:
[«] die spätere Narration (die klassische Position der Erzählung in Vergangenheitsform, zweifellos die bei weitem häufigste), die frühere Narration (die prädikative Erzählung, die im Allgemeinen im Futur steht, die aber im Präsens vorgetragen werden kann, [«]), die gleichzeitige Narration (Erzählung im Präsens, die Handlung simultan begleitet) und die (zwischen die Momente der Handlung) eingeschobene Narration.14
Laut Genette kommt die spätere Narration, also die Narration in der Vergangenheitsform, am häufigsten vor. Die Erzählung ÄDer Sandmann“ bildet dabei, wenn man den ganzen Text betrachtet, keine Ausnahme. Nicht nur, dass der fiktive Erzähler bei dem Erzählen der Geschichte auf die Vergangenheitsform zurückgreift, sondern auch sein plötzlicher Einstieg in die Geschichte weisen, bereits im ersten Satz15, darauf hin, dass Nathanaels Geschichte sich längst zugetragen haben muss.
Dies erfährt der Leser aber erst nachdem er die Briefe von Nathanael und Clara gelesen hat, also nach mehr als einem Drittel der ganzen Erzählung. Demnach ist der Leser, fast die Hälfte der Erzählung, auf die Aussagen von Nathanael und Clara angewiesen. Unweigerlich drängt sich also die Frage, ob es sich überhaupt lohnt die Erzählung als Ganzes zu betrachten, um so den jeweiligen Narrationstyp zu bestimmen. Die Einordnung der ganzen Erzählung in die jeweilige Form der Narration sagt nämlich nichts über die Gründe, die zur Verwirrung des Lesers beitragen, aus. Es lohnt sich demnach zunächst den Briefwechsel unvoreingenommen, herausgelöst aus dem Kontext der Erzählung, zu betrachten.
Die ersten drei Briefe involvieren den Leser inhaltlich und gefühlsmäßig in die Vorgeschichte Nathanaels. Dabei wird die Vorgeschichte einmal aus der Sichtweise von Nathanael selber und einmal aus der Sichtweise von Clara dargestellt. Von Anfang an wird also der Leser vor eine Wahl gestellt, sich für eine der beiden Sichtweisen zu entscheiden. Dies gelingt aber nicht, wie schon die Einleitung gezeigt hat, da alle nachfolgenden Ereignisse sich abwechselnd als Indizien für die eine oder andere Sichtweise erweisen. Nicht zuletzt stellt Nathanael selbst seine eigene Sichtweise des Äunheimlichen Spuk[s]“ in Frage, da er in seinem ersten Brief auf verschiedene Typen der Narration zurückgreift, um genauer zu sein auf alle vier Narrationstypen, und so für mehr Zweifel als Glaubwürdigkeit sorgt. Im Laufe der Analyse habe ich aber festgestellt, dass die Narrationstypen an ihrer Widersprüchlichkeit erst in einem Zusammenspiel mit dem jeweils anderen Narrationstyp gewinnen. So haben sich zwei Narrationspaare herauskristallisiert: a) die spätere und gleichzeitige Narration und b) die frühere und die eingeschobene Narration, die im weiteren Verlauf zusammen betrachtet werden. In welcher Beziehung diese Paare zueinander stehen oder inwiefern sie eine Widersprüchlichkeit erzeugen, wird die nachfolgende Analyse zeigen. Da aber, wie schon mehrfach wiederholt, die Vorgeschichte Nathanaels (das erste Aufeinander treffen mit dem ‚Sandmann‘16 ) der Kernpunkt der ganzen Erzählung ist, bietet es sich an, mit dem ersten Paar der späteren und gleichzeitigen Narration anzufangen.
Zumal der Vorfall mit dem Advokaten Coppelius chronologisch noch weiter in der Vergangenheit liegt, als das Auftauchen des Wetterglashändlers, ist es nur logisch, dass Nathanael bei dem Erzählen dieses Vorfalls auf die Vergangenheitsform zurückgreift.17 Viel interessanter und gleichzeitig verwirrender ist es aber, dass Nathanael, ohne jegliche Vorwarnung, den Typ der Narration, aus einem für den Leser zunächst unergründlichen Grund, wechselt. So wechselt Nathanael, als er zum ersten Mal den ‚Sandmann‘ begegnet von der späteren Narration plötzlich in die gleichzeitige Narration:
Näher - immer näher dröhnten die Tritte - es hustete und scharrte und brummte seltsam draußen. Das Herz bebte mir vor Angst und Erwartung. - Dicht, dicht vor der Türe ein scharfer Tritt - ein heftiger Schlag auf die Klinke, die Tür springt rasselnd auf! - Mit Gewalt mich ermannend gucke ich behutsam hervor. Der Sandmann steht mitten in der Stube vor meinem Vater, der helle Schein der Lichter brennt ihm ins Gesicht! - Der Sandmann, der fürchterliche Sandmann ist der alte Advokat Coppelius, der manchmal bei uns zu Mittag ist! (SM 7)
Ohne also, dass der Leser es bemerkt, saugt ihn die Erzählung plötzlich ein, sodass man das Gefühl hat mitten im Geschehen zu sein und das Gleiche wie Nathanael zu sehen und zu fühlen. Da aber Nathanael, genauso plötzlich wieder auf die spätere Narration wechselt, wirft die Erzählung den Leser erbarmungslos und wieder ohne jegliche Vorwarnung heraus. Dies hat zweierlei zur Folge: Einerseits ist der Leser unmittelbar am Geschehen beteiligt, sodass keine Distanzierung zum Geschehen möglich ist. Andererseits wird die Narration weiter, wie gewohnt fortgeführt, sodass der Leser auch da keine Distanzierungsmöglichkeit hat, um sich die Zeit zu nehmen über die Konsequenzen der zeitweiligen Beteiligung am Geschehen klar zu werden. Ein weiteres Mal greift Nathanael auf das gleiche Verfahren zurück, als er den Advokaten Coppelius im Sandmann erkennt. Detailliert und genau versucht er die Gestalt des ‚Sandmanns‘ Lothar zu beschreiben. Dabei wird die Beschreibung des Gesichts mit einem Konjunktivsatz eingeführt, der im Zusammenspiel mit dem langen darauffolgenden Satz vorerst vom Wechsel des Narrationstyps ablenkt.
Aber die grässlichste Gestalt hätte mir nicht tieferes Entsetzen erregen können, als eben dieser Coppelius. - Denke dir einen großen breitschultrigen Mann mit einem unförmlich dicken Kopf, erdgelbem Gesicht, buschigten grauen Augenbrauen, unter denen ein Paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln, großer, starker über die Oberlippe gezogener Nase. (SM 7)
Man ist so auf die lange Aufzählung der jeweiligen Merkmale der Mimik fokussiert, dass man das Auftauchen des Präsens (Äunter denen ein Paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln“) am Ende des Satzes beim ersten Mal überliest. Erst als man den darauffolgenden Satz liest: ÄDas schiefe Maul verzieht sich oft zum hämischen Lachen; dann werden auf den Backen ein paar dunkelrote Flecke sichtbar und ein seltsam zischender Ton fährt durch die zusammengekniffenen Zähne.“ (Ebd.), wo das Verb im Präsens die gewohnte zweite Position annimmt, ist man irritiert und wird förmlich gedrängt den langen hervorgehenden Satz erneut zu lesen.
Nichtsdestotrotz bleibt die Wirkung die gleiche: Der Leser sieht, genauso wie Nathanael, den ‚Sandmann‘ ins Gesicht. Er erlebt das Ätief[e] Entsetzen“ am eigenen Leibe, wobei vor allem das Äschiefe Maul, das sich Äzum hämischen Lachen“ verzieht und sich in das Gedächtnis von Nathanael eingebrannt hat, den Schauder über den Rücken des Lesers jagt. Nicht ohne Grund wird die gleichzeitige Narration genau nach diesem Satz unterbrochen, obwohl Nathanael die Beschreibung des Advokaten Coppelieus fortsetzt: ÄCoppelius erschien immer in einem altmodisch zugeschnittenen aschgrauen Rocke, eben solcher Weste und gleichen Beinkleidern, aber dazu schwarze Strümpfe und Schuhe mit kleinen Steinschnallen.“ (SM 7). Was nützt aber die zeitweilige Mitbeteiligung am Geschehen dem Leser? Was bringt es ihm, nur für bestimmte von Nathanael ausgesuchte Momente am Geschehen beteiligt zu sein? Hilft es dem Leser wirklich weiter? Soll so Nathanaels Sichtweise an Glaubwürdigkeit gewinnen? Oder verwirrt es den Leser nur noch mehr? Und wenn es den Leser verwirrt, woran liegt es genau?
Am Anfang schien es so, als ob Nathanael nur in bedrohlichen Situationen den Narrationstyp wechselt, um so das Ausmaß des Schrecklichen mit dem Leser unmittelbar zu teilen. Es gibt aber eine durchaus bedrohlichere Stelle in seiner Begegnung mit dem Sandmann, die von Nathanael nicht im Präsens, sondern ganz normal im Präteritum erzählt wird:
Und damit fasste er mich gewaltig, dass die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein. »'s steht doch überall nicht recht! 's gut so wie es war! - Der Alte hat's verstanden!« So zischte und lispelte Coppelius; aber alles um mich her wurde schwarz und finster, ein jäher Krampf durchzuckte Nerv und Gebein - ich fühlte nichts mehr. (SM 9-10)
Es drängen sich demnach, anstatt die vorangegangenen Fragen zu beantworten, weitere Fragen auf. Warum werden nur diese zwei Stellen so gehandelt? Was ist so besonders daran? Eine mögliche aber auf jeden Fall problematische und für manch einen sogar weithergeholte Erklärung könnte die Tatsache sein, dass Nathanael, während er in seinem Versteck auf den Sandmann wartete, müde wurde und einschlief. Es würde zum Beispiel erklären, warum sich die Zeit der Narration plötzlich und ohne jegliche Vorwarnung ändert. Einerseits wird so die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum sichtbar gemacht. Andererseits verschiebt sich diese Grenze immer wieder, so dass der Leser nicht in der Lage ist, zwischen der Wirklichkeit und dem Traum zu unterscheiden. Anscheinend ist Nathanael selber nicht in der Lage zwischen den beiden Ebenen zu unterscheiden, weil er eben gegen die Müdigkeit ankämpft und immer wieder sowohl in die eine als auch in die andere Ebene eintaucht. Wenn das der Fall sein sollte, dann muss im Text eine Schnittstelle, eine Zäsur, zu finden sein, die signalisiert, dass Nathanael diesen Kampf aufgibt und vollständig in die Ebene des Traums übergeht. Dies würde wiederum erklären, warum auch die davor zitierte Stelle (siehe dazu: SM 9-10) im Präteritum wiedergegeben wird. Meiner Meinung nach könnte es sich bei folgender Textpassage um die vorher genannte Schnittstelle handeln:
Als ich nun diesen Coppelius sah, ging es grausig und entsetzlich in meiner Seele auf, dass ja niemand anders, als er, der Sandmann sein könne, aber der Sandmann war mir nicht mehr jener Popanz aus dem Ammenmärchen, der dem Eulennest im Halbmonde Kinderaugen zur Atzung holt - nein! - ein hässlicher gespenstischer Unhold, der überall, wo er einschreitet, Jammer - Not - zeitliches, ewiges Verderben bringt. (SM 8)
Die Neugierde, die unerträgliche Ungewissheit und der unwiderstehlicher Drang nach Erkenntnis, die Nathanael auf die ÄBahn des Wunderbaren“ gebracht haben, lösten sich in dieser Nacht auf, da ‚der Sandmann‘ endlich ein Gesicht bekommen hat. Sowohl die Neugierde als auch die innere Diskrepanz konnte so gestillt werden, sodass Nathanael nichts mehr im Wege stand, vollständig in die Traumwelt einzutauchen. Aber, wie schon Eingangs betont, kann auch diese These nicht zufriedenstellend bekräftigt werden, da alle von Nathanael gelieferten Hinweise sich abwechselnd als Indizien sowohl für, als auch gegen die Traumdeutung herausstellen.
Auf der einen Seite weiß man, dass Nathanael Ävon unwiderstehlichem Drange getrieben“ (SM 6) eines Abends beschloss, sich im Zimmer des Vaters zu verbergen. Getrieben also von Neugierde, Angst und gleichzeitiger Erwartung fällt es ihm wahrscheinlich schwer mühelos einzuschlafen. Darüberhinaus weiß man nicht, ob Nathanael nun in seinem Versteck steht, sitzt oder sich an etwas anlehnt - also wie bequem er es überhaupt hat. Zudem scheint das Näherkommen des ‚Sandmanns‘ sich gleichzeitig mit dem Eintreten Nathanaels ins Zimmer des Vaters zu vollziehen:
Die Haustür knarrte, durch den Flur ging es, langsamen, schweren, dröhnenden Schrittes nach der Treppe. [«]. Leise - leise öffnete ich des Vaters Stubentür. [«], schnell war ich hinein und hinter der Gardine, die einem gleich neben der Türe stehenden offenen Schrank, worin meines Vaters Kleider hingen, vorgezogen war. - Näher - immer näher dröhnten die Tritte - es hustete und scharrte und brummte seltsam draußen. Das Herz bebte mir vor Angst und Erwartung. (SM 7)
Man spürt förmlich, wie Nathanael vor Aufregung der Atem stoppt. Die häufige Verwendung der Gedankenstriche erhöht die Authentizität, sodass man das Gefühl hat, mit Nathanael an den gleichen Stellen innezuhalten.
[...]
1 E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. Hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart 2009. S. 6. (fortan zitiert: SM und Seitennummer).
2 Eine plausible Erklärung hat Clara in ihrem Brief an Nathanael parat: ÄDas unheimliche Treiben mit Deinem Vater zur Nachtzeit war wohl nichts anders, als dass beide insgeheim alchymistische Versuche machten, womit die Mutter nicht zufrieden sein konnte, da gewiss viel Geld unnütz verschleudert und obendrein, wie es immer mit solchen Laboranten der Fall sein soll, des Vaters Gemüt ganz von dem trügerischen Drange nach hoher Weisheit erfüllt, der Familie abwendig gemacht wurde.“ (SM 13-14).
3 Damit ist natürlich der berühmte Briefroman ÄDie Leiden des jungen Werther“ gemeint, der bereits schon 1774 erschien ist.
4 Insgesamt ist der Briefwechsel ganze 17 Seiten lang und nimmt dabei fast die Hälfte der ganzen Erzählung ein, die sich insgesamt auf 42 Seiten erstreckt.
5 Einen kurzen Überblick über die neuen Erzähltheorien, die sich auch auf neue Medien wie den Film beziehen, findet man in: Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006. S. 118- 123.
6 Franz Karl Stanzel: Theorie des Erzählens. 5. unveränd. Aufl. Göttingen 1991.
7 Gérard Genette: Die Erzählung. 3. durchges. und korrigierte Aufl. Paderborn 2010.
8 Vgl.: Fludenik (wie Anm. 5), S. 117.
9 Siehe Einleitung in: Genette (wie Anm. 7), S. 11-15.
10 Ebd., S. 12.
11 Ebd.
12 Ebd., S. 15.
13 Ebd.
14 Vgl. dazu das Kapitel ÄZeit der Narration“ in: Genette (wie Anm. 7), S. 139-147, hier: S. 140.
15 Gemeint ist natürlich der erste Satz des Erzählers: ÄSeltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden, als dasjenige ist, was sich mit meinem armen Freunde, dem jungen Studenten Nathanael, zugetragen, und was ich dir, günstiger Leser! zu erzählen unternommen.“ (SM 17-18).
16 Da man auch am Ende der Erzählung die Frage, ob Sandmann nun existiert oder nicht, nicht beantworten kann, erweist es sich als lohnenswert die Verwendung dieser Bezeichnung mit Vorsicht zu genießen. Aus diesem Grund wird diese Bezeichnung nur mit Anführungszeichen verwendet.
17 So beginnt Nathanael seine Geschichte über den ‚Sandmann‘: ÄAußer dem Mittagessen sahen wir, ich und meine Geschwister, Tag über den Vater wenig. Er mochte mit seinem Dienst viel beschäftigt sein.“ [Hervorhebungen von mir] (SM 4).
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