Bachelorarbeit, 2017
48 Seiten, Note: 1,0
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Einführung der Agenda 2010
2.1 Gründe für die Einführung und Ziele der Reformen
2.1.1 Wirtschaftliche Situation in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts
2.1.2 Reformvorschläge
2.2 Ziele der Agenda
2.3 Inhalte und Maßnahmen in verschiedenen politischen Bereichen
2.3.1 Bereich Wirtschaft
2.3.2 Bereich Arbeitspolitik: Die Hartz-Reformen
2.3.3 Bereich Sozialversicherungen
2.3.4 Bereich Fiskalpolitik
2.3.5 Bereich Bildung und Ausbildung
3 Entwicklung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes auf Basis der Agenda
3.1 Wirtschaftswachstum in Deutschland
3.2 Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik
3.2.1 Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit
3.2.2 Existenzgründungen im Zuge der Hartz-Reformen:
3.2.3 Arbeitnehmerüberlassung
3.2.4 Ausweitung des Niedriglohnsektors
4 Bewertung der Reform aus aktueller Sicht
4.1 Untersuchung zur Erreichung der mit der Agenda verbundenen Ziele
4.2 Bewertung der Agenda 2010
4.2.1 Arbeitnehmernahe Perspektive
4.2.2 Arbeitgebernahe Perspektive
4.2.3 Politisch unabhängige Perspektiven und neutrale Bewertungen
5 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Abbildung 1: Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 1991
Abbildung 2: Drei Komponenten zur Reformierung des Arbeitsmarktes
Abbildung 3: Wachstum des realen BIP in Deutschland und der Eurozone
Abbildung 4: Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit dem Höchststand im März 2005
Abbildung 5: Geförderte Existenzgründungen seit 2000 in Deutschland
Abbildung 6: Entwicklung der Leiharbeit
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: ALG II - Regelsätze 2017
Im Bundestagswahljahr 2017 ist eines der großen Wahlkampfthemen der SPD und ihres Kanzlerkandidaten Martin Schulz die Verlängerung des Arbeitslosengeld I und eine Abkehr von den Reformen der Agenda 2010.1 Dieses Wahlkampfthema unterstreicht die andauernde Aktualität der Reformen, die im Zuge der Agenda 2010 in den Jahren 2003 bis 2005 von der Rot-Grünen Bundesregierung unter der Führung von Bundeskanzler Gerhard Schröder durchgeführt wurden.
Der Regierungsvorschlag traf damals auch in den Oppositionsparteien und bei Arbeitgeberverbänden auf große Zustimmung. Lediglich aus linken politischen Lagern sowie von den Gewerkschaften kamen Gegenstimmen und Kritik an der Agenda 2010.2 Vermutlich hätte es weder die Partei „Die Linke“ ohne diese Reformen gegeben3, noch hätten sich insbesondere Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder von der SPD abgewandt und so für den Verlust zahlreicher Wählerstimmen gesorgt.4 Die Agenda spaltet die SPD bis heute, doch inzwischen distanziert sie sich insbesondere von den umstrittenen Hartz-Reformen und fordert Korrekturen.5
In dieser Arbeit wird untersucht und bewertet, ob die Agenda 2010 ein sinnvolles Reformpaket war, welches seine Ziele erreicht und das deutsche Wirtschaftswachstum gefördert hat. Bevor diese Analyse vorgenommen wird, werden zunächst die Inhalte und Ziele der Agenda 2010 dargestellt und die Gründe für die Durchführung genannt. Hierbei ist es wichtig die wirtschaftliche Ausgangslage, in der sich Deutschland Anfang des 21. Jahrhunderts befand, zu beleuchten, um zu verstehen, warum die Bundesregierung solch umfassende Reformmaßnahmen vornahm.
Im Anschluss daran wird die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutsch- land im Laufe der Jahre nach der Reformeinführung dargestellt, um im folgenden Ab- schnitt eine Bewertung der Agenda durchführen zu können. Bei dieser Bewertung werden sowohl arbeitnehmer-, als auch arbeitgebernahe sowie politisch unabhängige Meinungen, wie die des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirt- schaftlichen Entwicklung in Deutschland sowie einzelner Ökonomen wiedergegeben.
In diesem Abschnitt sollen die Gründe für die Einführung sowie die Ziele der Refor- men betrachtet werden. Hierbei sollen auch wirtschaftliche Eckdaten wie die Entwick- lung des Bruttoinlandsproduktes, die Zahl der Arbeitslosen und weitere volkswirt- schaftliche Kennzahlen aus den Jahren vor 2003, die Grund für die Einführung der Reformen waren, aufgezeigt werden. Durch die Darstellung der Gründe und Auflis- tung der formulierten Ziele, lässt sich die Bewertung der Reformen in Kapitel 4 dar- stellen und ein grundlegendes Verständnis für die Einführung der Agenda aufbauen.
Deutschland befand sich Anfang des 21. Jahrhunderts in einer großen wirtschaftli- chen Krise. Die Arbeitslosigkeit nahm seit der Wiedervereinigung 1990 erheblich zu und erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt 1997 mit einer Arbeitslosenquote von 11,4 Prozent bei einer Anzahl von 4,4 Mio. Arbeitslosen (siehe Abbildung 1).6 Arbeitslosig- keit hat nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für die Gesellschaft weitrei- chende negative Konsequenzen. Volkswirtschaftlich betrachtet sind Arbeitslose Men- schen, die nicht wettbewerbsfähig und daher in einer Volkswirtschaft an ihrer Leistung gemessen zu teuer sind. Dies bedeutet, dass ein Kriterium zur Beurteilung der Wett- bewerbsfähigkeit eines Landes in der Höhe der Arbeitslosigkeit liegt.7 Anhand der hohen Arbeitslosigkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich somit ableiten, dass Deutschland seit 1990 mit seiner steigenden Arbeitslosigkeit zunehmend an Wettbe- werbsfähigkeit einbüßte.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 19918
Die negative Beschäftigungsentwicklung wurde durch einen unflexiblen Arbeitsmarkt verstärkt. Betriebe hatten nur wenig Möglichkeiten auf etwaige Auftragsspitzen zu re- agieren, da es keine Möglichkeit gab, Arbeitskräfte kurzfristig einzustellen und bei mangelndem Bedarf wieder zu entlassen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland benennt in seinem Jahresgut- achten 2002/03 die hohen Lohnnebenkosten als hemmend für die Nachfrage nach Arbeit. Deshalb müssten die Lohnnebenkosten in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ge- senkt werden.9 Auch Peter Bofinger schildert in seinem Buch „Wir sind besser als wir glauben“, dass die Lohnnebenkosten ein grundlegendes Problem in Deutschland seien, da der Staat sich so durch Abgaben auf den Faktor Arbeit, trotz hoher Arbeits- losigkeit, finanziere.10
Die gleiche negative Entwicklung zeigte auch das Wirtschaftswachstum auf. Die eu- ropäische Wirtschaftskraft wuchs von 1995 bis 2003 real um 18,1 Prozent, während die deutsche Wirtschaft in diesem Zeitraum nur um 10,2 Prozent wuchs und damit die geringste Wachstumsrate aller europäischen Länder aufwies.11 Anfang des 21. Jahr- hunderts wurde Deutschland daher auch als „Kranker Mann Europas“ bezeichnet.12 Diese Tatsache wurde ebenfalls dadurch belegt, dass Deutschland noch vor der Euro-Einführung 2002 gegen die „Maastricht-Kriterien“ aus dem europäischen Stabi- litäts- und Wachstumspakt verstieß. Demnach darf u.a. die öffentliche Verschuldung nicht über 60 Prozent des BIP steigen und das nationale Haushaltsdefizit (Nettoneu- verschuldung) soll auf maximal 3 Prozent des BIP begrenzt sein13. Aufgrund des hohen Staatsschuldenanstiegs seit der deutschen Wiedervereinigung von 1990 bis 2002 (Öffentliche Verschuldung von ca. 540 Mrd. auf ca. 1.270 Mrd. Euro, 60,8 Prozent des BIP)14, konnte bereits das erste Kriterium nicht erfüllt werden und auch das zweite Kriterium, die Regulierung der Nettoneuverschuldung, wurde verfehlt, weil die Neuverschuldung 3,7 Prozent des BIP betrug.15 Aufgrund der Verletzung des Maastrichter Vertrages wurde von der EU ein formelles Verfahren gegen Deutschland eingeleitet. Sollte sich die Lage nicht verbessern, müsste Deutschland jährlich eine Strafe von etwa 5 Milliarden Euro an die EU zahlen.16
Ein weiterer Faktor, der Deutschland wirtschaftlich im internationalen Vergleich hinter andere Länder zurückfallen ließ, war die Erweiterung der EU durch viele kleine Staa- ten wie Irland und Finnland. Deutsche Firmen profitierten einst von den Handels- schranken gegenüber den kleinen Ländern, da auf dem heimischen Markt viele Kon- sumenten für hohe Produktionszahlen und damit verbundene Produktivitätssteigerun- gen sorgten. Dieser Effekt, der wesentlich für den Vorsprung der deutschen Unter- nehmen in der Produktivität war, wurde durch die Schaffung des Binnenmarktes auf- gelöst.17
Auch kleinere Länder konnten nun Standorte für Großbetriebe werden und so verlor Deutschland die Produktivitätsvorsprünge. Nokia beispielsweise konnte Siemens durch den EU-Beitritt Finnlands 1995 als Marktführer in der Elektronikbranche verdrängen und Irland konnte ein Zentrum für IT-Dienstleistungen werden, was ohne EUBeitritt ebenfalls nicht möglich gewesen wäre.18
Ein Faktor, der bei der Wirtschaftsentwicklung im europäischen Vergleich nicht vergessen werden sollte, war die Einführung der Währungsunion und der damit verbundene Verlust des Zinsvorteils, den Deutschland gegenüber anderen Nationen hatte. Die folgende Geldpolitik wirkte sich restriktiver auf Deutschland, als auf die anderen europäischen Länder aus, sodass dies eine Beschleunigung der Investitionstätigkeit im Euro-Raum relativ zu Deutschland zur Folge hatte.19
Zur schlechten Wirtschaftslage kamen auch noch weitere negative Entwicklungen in Deutschland hinzu. In der PISA-Bildungsstudie von 2000 belegte Deutschland in den drei getesteten Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen jeweils einen Platz, der unter dem Durchschnitt der OECD-Länder lag20 Dies führte dazu, dass auch das Thema Bildung in der Öffentlichkeit immer mehr Aufmerksamkeit bekam und auch in diesem Bereich ein großer Reformbedarf vorhanden war.21 Weitreichende Reformen waren also unausweichlich geworden, um Deutschland wieder wettbewerbsfähiger zu machen.
In diesem Abschnitt sollen einige Reformvorschläge für verschiedene wirtschaftliche Bereiche vorgestellt werden. Thematisiert werden sollen hierbei zum einen die Reformierung des Arbeitsmarktes durch Vorschläge des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Zum anderen sollen Reformen, die der Ökonom Hans-Werner Sinn in seinem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ dargelegt hat und die Reformvorschläge von Peter Bofinger, seit 2004 Mitglied der Wirtschaftsweisen, vorgestellt werden.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erstellt jedes Jahr ein Gutachten, in dem die wirtschaftliche Lage in Deutschland und der globalisierten Welt analysiert wird.22 In diesen jährlichen Gutachten schlagen die fünf Wirtschaftsweisen vor, mit welchen Schritten man Probleme der deutschen Wirt- schaftspolitik lösen könnte. In seinem Jahresgutachten 2002/03 legte der Sachver- ständigenrat konkrete Vorschläge zur Reformierung der deutschen Wirtschaft und des Arbeitsmarktes vor.23 Da eine Ausführung aller Reformvorschläge in diesem Kon- text zu weit führen würde, soll an dieser Stelle lediglich die Reformierung des Arbeits- marktes beschrieben werden.
Das „Programm für Beschäftigung und Wachstum“ verfolgt die Zielsetzung, bei den Ursachen der Arbeitslosigkeit anzusetzen und beinhaltet hierbei drei Komponenten:24
1. Nachfrage nach Arbeitskräften stärken.
2. Anspruchslöhne senken und Niedriglohnbereich ausbauen.
3. Mehr Flexibilität beim Festlegen von Beschäftigungsverhältnissen schaffen.
Der Sachverständigenrat schlägt für die Stärkung der Nachfrage nach Arbeit vor, den Grenzabgabensatz für Arbeit zu senken, da der hohe Grenzsteuer- und Grenzbeitragssatz die Arbeitsnachfrage der Arbeitnehmer senkt und die Kosten des Faktors Arbeit erhöht. Die Wirtschaftsweisen plädieren daher für eine Reduzierung des Grenzabgabensatzes.25
Weiterhin sieht es der Sachverständigenrat als Aufgabe der Tarifvertragsparteien vor, die Lohnanhebungen konsequent unter der Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität zu halten. Die entscheidende Bestimmungsgröße der Arbeitskosten stellen die Tarif- löhne dar, sie bestimmen somit auch die Nachfrage nach Arbeitskräften. In einer un- terbeschäftigten Volkswirtschaft wie der deutschen, sollten die Lohnanhebungen da- her immer unter der realen Zuwachsrate der Produktivität liegen, da bei der Reallohn- berechnung nicht die Konsumenten-, sondern die Produzentenpreise maßgeblich sind.26
Zu Komponente 2 nennen die Wirtschaftsweisen drei grundlegende Bausteine:
Baustein 1 besteht aus der Befristung des Arbeitslosengeldes auf 12 Monate. Dies bringt zwei Vorteile mit sich, zum einen gibt es einen Anreiz zur raschen Wiederaufnahme von Arbeit und zum anderen mindert es die Lohnnebenkosten, da es die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung senkt. Dies stärkt die Nachfrage nach Arbeitskräften und verringert somit die Arbeitslosigkeit.27
Baustein 2 sieht vor, die Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe zu integrieren. Die An- spruchshöhe und Bedürftigkeitskriterien für die neue Sozialhilfe sollen sich an den Maßstäben des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) orientieren. Hiervon verspricht man sich über alle Gebietskörperschaften gerechnet Ersparnisse in Höhe von 7 Mrd. Euro. Mit der Kürzung des ALG auf 12 Monate wären es sogar 11 Mrd. Euro. Die freigesetzten Mittel sollen zur Finanzierung von Arbeitsanreizen der Sozialhilfeemp- fänger sowie zur Rückführung der Staatsquote genutzt werden und so auch dem Steuerzahler dienen.28
Baustein 3 sieht vor, die Beschäftigung im Niedriglohnsektor zu verstärken. Dies er- fordert eine grundlegende Reform der Sozialhilfe. Der Vorschlag des Sachverständi- genrates sieht vor, den Regelsatz für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger auf 70 Pro- zent des jetzigen Regelsatzes zu senken. Ziel hierbei ist es, die Anspruchslöhne, jene unter denen die eigene Arbeit nicht angeboten wird, zu senken. Dies würde zu einer produktivitätsgerechten Entlohnung im Niedriglohnsektor führen und diesen somit stärken. Arbeitsunfähige Sozialhilfeempfänger sollen von dieser Regelung jedoch ausgeschlossen werden, damit ihnen kein Nachteil aus ihrer Arbeitsunfähigkeit ent- steht. Ein weiterer Aspekt der Reformierung der Sozialhilfe soll es sein, arbeitswillige Arbeitslose in kommunalen Beschäftigungsgesellschaften arbeiten zu lassen, sodass diese nicht schlechter gestellt werden.29
Die 3. Komponente in den Vorschlägen zur Reformierung des Arbeitsmarktes fordert die Schaffung von mehr Lohnflexibilität durch Tarifvertragsparteien und Gesetzgeber. Hierbei stehen drei Kernpunkte im Mittelpunkt: Die Tarifvertragsparteien sollen ers- tens für mehr Flexibilität in den Arbeitsverträgen sorgen, sodass Arbeitgeber durch Öffnungsklauseln vom Flächentarifvertrag abweichen und variable Lohnkomponen- ten oder ähnliche Vereinbarungen im Arbeitsvertrag verankern können.30
Außerdem schlagen die Wirtschaftsweisen vor, die gesetzlichen Regelungen so zu ändern, dass dezentrale Lohnfindung möglich wird und die Sperrwirkung von §77 Ab- satz 3 BetrVG (Betriebsvereinbarungen dürfen keine Regelungen des Tarifvertrags außer Kraft setzen)31 für nicht tarifgebundene Unternehmen aufgehoben wird.32
Als letzten Punkt fordert der Sachverständigenrat, die Möglichkeiten von befristeten Arbeitsverträgen zu erweitern und diese für eine längere Dauer zu gestalten, ohne den Tarifvertragsparteien hierbei ein Mitbestimmungsrecht zu geben. Weiterhin wird eine Lockerung des Kündigungsschutzes empfohlen, sodass dieser auch bei Unter- nehmen von bis zu 20 Mitarbeitern flexibler gestaltet werden kann.33
Die drei Komponenten sind nachfolgend in Abbildung 2 zum allgemeinen Verständnis noch einmal zusammengefasst:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Drei Komponenten zur Reformierung des Arbeitsmarktes34
Der renommierte Volkswirt Hans-Werner Sinn, von 1999 bis 2016 Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsordnung und als einer der einflussreichsten Volkswirte Deutschlands geltend35, stellte in seinem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ (2003) mehrere Thesen zur Verbesserung der Wirtschaftslage in Deutschland auf. Er zeigt in seinem Buch die Probleme von Deutschland Anfang des 21. Jahrhunderts auf und stellt Lösungsvorschläge für die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Ankurbelung der Wirtschaft und die Reformierung des Sozialsystems in Deutschland auf. Sinn ent- wickelt hierbei das System des „Aktivierenden Sozialstaats“36, welches laut dem Sachverständigenratsmitglied Wolfgang Wiegand in weiten Teilen vom wissenschaft- lichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums und vom Sachverständigenrat über- nommen wurde und als Blaupause der Agenda 2010 diente.37
Sinn stellt in seinem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ ein „6+1-Punkte-Pro- gramm“38 für die Bewältigung der negativen wirtschaftlichen Lage vor. An dieser Stelle werden die wichtigsten Punkte des Programms, die in Verbindung mit der Agenda stehen, genannt:
Punkt 1: „Kehrtwende bei den Tarifvereinbarungen“
Sinn empfiehlt eine Senkung der Stundenlöhne. Hierzu fordert er als einfachste Möglichkeit eine Verlängerung der Arbeitszeit von 38 auf 42 Stunden ohne Lohnausgleich. Im Zusammenhang mit diesen Vorschlägen steht auch die Forderung nach mehr Mitbeteiligung der Mitarbeiter an Unternehmen, statt Mitbestimmung. So könne Lohnzurückhaltung kompensiert werden.39
Punkt 2: „Weniger Macht für die Gewerkschaften“
Sinn wirft den Gewerkschaften vor, die Tarifautonomie zur Bildung von „Lohnkartel- len“40 zu missbrauchen und dadurch die Löhne über das Gleichgewicht aus Angebot und Nachfrage erhöht zu haben. Durch das Erzwingen höherer Löhne, als sie der Markt hergibt, hätten die Gewerkschaften für Arbeitslosigkeit gesorgt. Er fordert da- her, dass die Tarifautonomie mit der Konkurrenz auf den Märkten kompatibel sein und den Unternehmen die Möglichkeit bieten sollte, Preise und Löhne auch unterhalb der Preise und Löhne von anderen Wettbewerbern zu halten.41 Aus diesem Grund soll es Unternehmen per Gesetz ermöglicht werden, vom Flächentarifvertrag mithilfe von Öffnungsklauseln abzuweichen. Eine solche Abweichung kann dann möglich sein, wenn eine Mehrheit der Belegschaft sich für eine solche ausspricht, um ihren Arbeitsplatz zu sichern. Laut Sinn würde dies außerdem das Mitspracherecht der Be- legschaften bei der Lohnbildung fördern und somit die Tarifautonomie stärken.42 Eine weitere Forderung ist die Abschaffung des gesetzlichen Kündigungsschutzes, der für Sinn die „größte Waffe im Tarifpoker der Gewerkschaften“43 sei. Der gesetzli- che Kündigungsschutz trüge dazu bei, dass Unternehmen die Arbeitsleistung ihrer Belegschaft auch dann noch kaufen müssten, wenn sie eigentlich zu teuer ist, was zur Schwächung der privaten Unternehmen führe. Ein gleichzeitiger negativer Effekt des Kündigungsschutzes ist die Verhinderung von Neueinstellungen, weil Arbeitgeber besonders in Zeiten konjunktureller Tiefpunkte auf Neueinstellungen verzichten wür- den, da sie Angst vor der Tarifbindung hätten. Sinn fordert daher die Aufhebung des gesetzlichen Kündigungsschutzes, sowohl in der Privatwirtschaft, als auch für Be- amte, da auch ihr „Arbeitseifer sich noch steigern ließe“44. Die Reform müsste jedoch sehr behutsam durchgeführt werden, weil gerade in der schlechten wirtschaftlichen Situation Deutschlands, Arbeitgeber den gelockerten Kündigungsschutz zum Mas- senabbau von Arbeitsplätzen missbrauchen könnten.45
Punkt 3: „Weniger Geld für das Nichtstun, mehr Geld für Jobs“
Im Bereich der Arbeitslohnpolitik fordert Sinn ein neues Modell, die sogenannte „akti- vierende Sozialhilfe“, das für Hilfe zur Selbsthilfe sorgen soll. Sinn betont hierbei, dass ihm die Vorschläge der Hartz-Kommission mit der Verkürzung der Bezugsdauer des ALG auf 12 Monate und der Verschmelzung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht weit genug gingen.46 Er erläutert, dass die Sozialhilfe in Konkurrenz zur Privatwirt- schaft stehe, da man für das Nichtarbeiten in der privaten Wirtschaft eine Art „Lohn- ersatz“ erhalte.47 Wenn dieser Betrag über dem Verdienst, den man in der privaten Wirtschaft verdienen würde, liegt, fehle der grundsätzliche Wille zu arbeiten, da man für das „Nichtstun“ besser bezahlt werde als für das Arbeiten.48 Einen funktionieren- den Arbeitsmarkt für Geringverdiener gäbe es nur, wenn die Sozialhilfe eine absolute Untergrenze für die Tariflohnstruktur sei und sich ein Sozialhilfeempfänger in keiner Weise besserstellen könne, wenn er keiner Arbeit nachgehe.
Er schlägt deshalb vor, die Sozialhilfesätze für arbeitsfähige Personen um ein Drittel zu kürzen und die dadurch freigewordenen finanziellen Mittel zu Geringverdienern, die einer Arbeit nachgehen, umzuschichten. Bis zu einem Einkommen von 400 Euro soll keine Sozialhilfe entzogen werden, der Staat zahlt zu dem selbst verdienten Geld noch etwas hinzu und zwar umso mehr, je mehr man verdient. Hierdurch soll ein Hin- zuverdienst ermöglicht werden, ohne dass die Sozialhilfe für jeden selbst verdienten Euro gestrichen werde.49 Des Weiteren sollen arbeitswillige Personen, die keinen Job finden, bei den Kommunen in einem Leiharbeitsverhältnis beschäftigt werden. Die Kommunen sollen diese Personen dann an die private Wirtschaft verleihen. Hiervon würde das lokale Handwerk profitieren, da die arbeitswilligen Personen ihre Arbeit nun in den Betrieben zu niedrigen Löhnen und nicht auf dem Schwarzmarkt verrich- ten. Die Arbeitskraft wird somit in die private Wirtschaft eingebracht und der Schwund der Schwarzarbeit wirkt sich positiv auf die Nachfrage in der Privatwirtschaft aus, so- mit werde das Handwerk in zweierlei Hinsicht gestärkt.50
Sinn verspricht sich hiervon einen Beschäftigungsboom im Niedriglohnsektor, der nach Schätzungen des ifo Instituts einen langfristigen Beschäftigungszuwachs von 2,3 Mio. Personen betreffen wird.51
Als wichtigen Punkt neben der Einführung der aktivierenden Sozialhilfe fordert Sinn eine Veränderung der Frühverrentungsprogramme, da die Programme zu dieser Zeit laut Sinn zur Verfestigung und Ausweitung von Arbeitslosigkeit beitrügen. Es solle dafür gesorgt werden, dass Frühverrentung nur zu versicherungsmathematisch korrekt berechneten Abschlägen gewährt werde und Arbeitgebern und Staat keine zusätzlichen Kosten entstünden.52
Punkt 5: „Eine wirklich radikale Steuerreform“
In seinem fünften Punkt nimmt Sinn zur Fiskalpolitik Stellung. Er kritisiert, dass der Staatsanteil am BIP in den vergangenen 30 Jahren stetig gestiegen sei und die Staatsquote im Jahr 2003 bereits bei knapp 50 Prozent liege. Dieser von Steuern finanzierte Staatsanteil verhindere private Investitionen und lenke die Bevölkerung mit dem Ziel, Steuern zu sparen, von anderen Zielen ab. Grund für die hohe Staats- quote seien die hohen Sozialleistungen in Deutschland, die eine hohe Steuer- und Abgabenlast zur Folge hätten.53 Daher fordert Sinn eine umfassende Steuerreform, die erhebliche Steuersenkungen im Bereich der Einkommen- und Kapitalertragsteuer vorsieht, um der privaten Wirtschaftstätigkeit wieder mehr Raum für Investitionen zu lassen.54
[...]
1 Vgl. Monath, Hans: Agenda 2010
2 Vgl. Hasse, Anke/Schiller, Christoph: Hartz IV, S. 24
3 Vgl. Hard, Daniel: Schröder-Blair-Papier. Agenda 2010 S.152
4 Vgl. Hegelich, Simon u.a: Agenda 2010, S. 206-210
5 Vgl. Monath, Hans: Agenda 2010
6 Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslosigkeit, Tabelle 1.1
7 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland S. 69-73
8 Eigene Darstellung; Daten von Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslosigkeit, Tabelle 1.1
9 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 170, 236 u. 250
10 Vgl. Bofinger, Peter: Wir sind besser, S. 253
11 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S.26
12 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S.26, 483
13 Vgl. Gabisch, Günter: Außen- und Weltwirtschaft, S. 49
14 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2003/04, S. 15
15 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 16
16 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 48
17 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 80
18 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 81
19 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 9
20 Vgl. Max-Planck-Institut: PISA 2000, S. 8
21 Vgl. Friesinger, Theresia: Agenda 2010, S. 5
22 Vgl. §2 SVRG
23 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 10-14
24 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 10-12
25 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 10
26 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 11
27 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 11
28 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 11f.
29 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 12
30 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 12
31 Vgl. Edenfeld, Stefan: Betriebsverfassungsrecht, S. 9
32 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 13
33 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2002/03, S. 13
34 Eigene Darstellung in Anlehnung an Sachverständigenrat 2002/03 S. 10-13
35 Vgl. FAZ-Ökonomenranking 2016
36 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 460
37 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Forschungsgebiete; Schieritz, Mark: Der Bart ist ab
38 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 451-476
39 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 455-457
40 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 457
41 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 457
42 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 458
43 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 458
44 Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S.460
45 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 460
46 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 461
47 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 460
48 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 460f.
49 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 462
50 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 462f.
51 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 463
52 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 465
53 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 469
54 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Deutschland, S. 471
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