Masterarbeit, 2015
94 Seiten, Note: 1,3
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Forschungsstand
1.2 Aufbau der Arbeit
2 Definition der Begrifflichkeiten
2.1 Behinderung
2.2 Inklusion
3 Legitimation der Inklusion im Schulsport
3.1 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)
3.2 9. Schulrechtsänderungsgesetz (NRW)
4 Inklusiver Schulsport
4.1 Die Bedeutung von inklusivem Schulsport
4.2 Heterogenität – Schulsport für alle
4.2.1 Grenzen der Heterogenität im traditionellen Wettkampfsport und deren Überwindung durch strukturelle Veränderungen
4.2.2 Statistische Daten zur inklusiven Beschulung und ihre Bedeutung für den inklusiven Sportunterricht
5 Gelingensbedingungen von inklusivem Schulsport
5.1 Inklusion beginnt im Kopf - Einstellung der Lehrkräfte und Eltern zur Inklusion
5.2 Co-Teaching
5.2.1 Die sechs Formen des Co-Teachings
5.2.2 Einbeziehung von anderen Helfersystemen – Kooperation in multiprofessionellen Teams
5.3 Strukturelle Rahmenbedingungen
5.3.1 Bildungspolitische Ausrichtung
5.3.2 Materielle und räumliche Ausstattung der Sportstätten
5.3.3 Finanzielle Ressourcen
5.4 Personelle Rahmenbedingungen/Ressourcen
5.4.1 Didaktisches Wissen und Können der Lehrkräfte in Bezug auf Inklusion
5.4.2 Anerkennende Lehrer-Schüler-Beziehungen
5.5 Methoden im Sportunterricht
5.5.1 Soziales Lernen – Eine Methode, die Inklusion befördert
5.5.2 Konstruktivistische Didaktik und offener Unterricht
5.6 Leitlinien eines inklusiven Sportunterrichts
6 Drei-Ebenen-Modell der Unterrichtsentwicklung inklusiven Sportunterrichts
6.1 Ziel-Ebene
6.2 Konstrukt-Ebene
6.3 Unterrichts-Ebene
7 Fachdidaktische Modelle zum Umgang mit Heterogenität im Schulsport
7.1 Die Australischen Modelle „TREE“ und „CHANGE IT“
7.2 Das „6 + 1 Modell eines adaptiven Sportunterrichts“
7.3 Das „Handlungsmodell inklusiver Sportunterricht“
7.3.1 Aktivitätstypen
7.3.2 Lernsituationen
7.3.3 Das Handlungsmodell
8 Kritik
9 Fazit
10 Literaturverzeichnis
11 Anhang
Anhang A
Anhang B
Anhang C
Anhang D
Abb. 1. Inklusion in Abgrenzung zu anderen Positionen.
Abb. 2. Drei-Ebenen-Modell der Unterrichtsentwicklung inklusiven Sportunterrichts.
Abb. 3. Das 6+1 Modell eines adaptiven Sportunterrichts.
Abb. 4. Handlungsmodell inklusiver Sportunterricht.
Tab. 1. Die sechs Formen des Co-Teachings und ihre Einsatzmöglichkeiten
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland im Jahr 2009, ist eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen[1] in allen Lebensbereichen der Gesellschaft gesetzlich verankert. Aufgrund dessen steht das deutsche Bildungssystem vor einem Umbruch, der eine Umstrukturierung des dreigliedrigen Schulsystems und der Hochschulausbildung erfordert. Über die Notwendigkeit der Einführung der Inklusion an den Regelschulen besteht jedoch kein Konsens in der Bevölkerung und zudem wird die Inklusion kontrovers diskutiert.
Für den Sportlehrer bedeutet die Einführung der Inklusion sich auf neue Bedingungen und Strukturen einzulassen. Dabei sollte die Sportlehrkraft das Ziel verfolgen, durch eine gezielte Förderung jedes einzelnen Individuums, eine gleichberechtigte Teilhabe von Schülern[2] mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf zu ermöglichen. Bei dieser Aufgabe fühlt sich die Lehrkraft oft überfordert und wünscht sich eine bessere Vorbereitung und Unterstützung bei der Umsetzung der Inklusion.
Die allgemeine Pädagogik und Didaktik haben zum Thema Inklusion bereits viel geforscht und haben damit der Aktualität und Wichtigkeit des Themas Rechnung getragen. Demnach existieren zahlreiche Literaturquellen, die die Thematik der Inklusion unter einer pädagogischen und didaktischen, aber auch soziologischen und psychologischen Perspektive betrachten. Im Bereich der Didaktik der einzelnen Fachgebiete besteht jedoch nach wie vor eine große Forschungslücke. Demgemäß existiert auch in der Sportdidaktik ein Nachholbedarf in der Erstellung von fundierten sportpraktischen Konzepten, die weit über das Bereitstellen von Musterstunden zu bestimmten Sportarten hinausgehen. Dieser Mangel an fachdidaktischen Konzepten und an geeigneter Forschungsliteratur zum Thema Inklusion offenbart sich besonders im Bereich der Sekundarstufe I.
Aufgrund dieses Mangels wird sich in der vorliegenden Arbeit mit folgender Thematik auseinandergesetzt: Gelingensbedingungen und Grenzen des inklusiven Schulsports in der Sekundarstufe I. Die Ausführungen der Arbeit beziehen sich schwerpunktmäßig auf den Sportunterricht, da im Bereich des außerunterrichtlichen Schulsports ein Mangel an Forschungsliteratur besteht. Viele der in der Arbeit behandelten Aspekte lassen sich jedoch auf die Gegebenheiten des außerunterrichtlichen Schulsports übertragen. Die Behandlung der Sekundarstufe I ist von besonderer Relevanz, da der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule mit dem Ende der Sekundarstufe I abgeschlossen ist. Zudem bezieht sich diese Arbeit vorrangig auf die inklusive Beschulung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Regelschule und nicht auf den weiten Inklusionsbegriff, der alle Dimensionen der Heterogenität umfasst. Hinsichtlich dazu ergibt sich für die vorliegende Arbeit folgende Fragestellung: Welche Bedingungen und Strukturen unterstützen einen gelingenden inklusiven Schulsport und welche Grenzen besitzt dieser? Unter Berücksichtigung dieser Problemstellung wird in dieser Arbeit zunächst ein grober Überblick über die Inklusionsthematik gegeben und dann Inklusion im Kontext des Schulsports, mit der damit verbundenen Zunahme der Heterogenität, dargestellt. Schwerpunktmäßig verfolgt die Arbeit das Ziel, die zentralen Gelingensbedingungen und Grenzen des inklusiven Schulsports aufzuzeigen, wobei diese nicht als notwendiges Kriterium für eine inklusive Beschulung angesehen werden sollen. Zudem soll die Arbeit zur kritischen Reflexion des Inklusionsdiskurses beitragen. Darüber hinaus verfolgt die Arbeit das Ziel konkrete Fragen zu der Thematik aufzuwerfen.
Nach der Einleitung folgt im zweiten Kapitel eine Definition der zentralen Begriffe Behinderung und Inklusion, denn ein genaues Begriffsverständnis schafft die Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen der Arbeit.
Im dritten Kapitel werden die UN-Behindertenrechtskonvention und das 9. Schulrechtsänderungsgesetz erläutert. Hiermit wird eine gesetzliche Grundlage für den inklusiven Schulsport geschaffen und er wird dadurch legitimiert.
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit einem inklusiv ausgerichteten Schulsport. Dabei wird zunächst die Bedeutung von inklusivem Schulsport herausgestellt. Zudem wird der Umgang mit Heterogenität im Schulsport thematisiert und die Grenzen der Heterogenität im traditionellen Wettkampfsport aufgezeigt. Darüber hinaus werden statistische Daten zur inklusiven Beschulung benannt.
Im fünften Kapitel findet eine Erörterung der zentralen Gelingensbedingungen und Grenzen von inklusivem Schulsport statt. Dabei wird zu Beginn, anhand von Studien, die Einstellung der Lehrkräfte und Eltern zur Inklusion aufgezeigt. Auch wird das Co-Teaching mit seinen unterschied-lichen Aspekten beleuchtet. Nachfolgend werden strukturelle und personelle Rahmenbedingungen beziehungsweise Ressourcen vorgestellt. Hierzu zählen unter anderem die bildungspolitische Ausrichtung und das didaktische Wissen und Können der Lehrkräfte in Bezug auf Inklusion. Abgerundet wird das Kapitel durch die Darstellung von Methoden und Leitlinien, die einen gelingenden inklusiven Schulsport fördern.
In Kapitel 6 wird das Drei-Ebenen-Modell der Unterrichtsentwicklung von Friedrich und Scheid (2014) vorgestellt.
Das siebte Kapitel stellt fachdidaktische Modelle zum Umgang mit Heterogenität im Schulsport dar. Es werden zunächst die australischen Anpassungsmodelle „TREE“ und „CHANGE IT“ vorgestellt, bevor das „6+1 Modell eines adaptiven Sportunterrichts“ und das „Handlungsmodell inklusiver Sportunterricht“ erörtert werden.
Im letzten Kapitel der Arbeit wird ein Fazit gezogen und ein Ausblick auf weitere mögliche Forschungsfragen gegeben.
Im Folgenden wird zunächst auf den Begriff Behinderung eingegangen, in dem dieser zuerst in einer defizitären Sichtweise dargestellt wird, wie er gegenwärtig bedauerlicherweise meist verwendet wird. Daraufhin wird auf zwei ganzheitliche, ressourcenorientierte Behinderungsbegriffe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) eingegangen.[3]
Zusätzlich wird der für die vorliegende Arbeit zentrale Begriff der Inklusion vorgestellt. Dabei wird er zuerst geschichtlich eingebettet bevor unterschiedliche Begriffsbestimmungen gegenüber gestellt werden. Abschließend wird eine für die vorliegende Arbeit verbindliche Definition dargestellt.
In der allgegenwärtigen Debatte zum Thema der Inklusion erscheint der Begriff der Behinderung in einem neuen Licht. Um den Ansatz einer gemeinsamen Beschulung von behinderten und nicht behinderten Kindern und Jugendlichen zu verstehen, ist eine Definition des Begriffs Behinderung unerlässlich. In unserer Gesellschaft wird der Begriff Behinderung immer noch mit fast ausschließlich negativen Aspekten assoziiert. Dumke und Schäfer (1993, S.122) definieren Behinderung wie folgt:
„Behindert sein heißt beispielsweise, auf den Rollstuhl angewiesen sein, nicht das Gleichgewicht halten können, nicht so gut Sport machen oder sprechen können; es bedeutet außerdem: langsamer denken und lernen, nicht so gut mitkommen oder manche Dinge nicht verstehen können“ (Dumke & Schäfer, 1993, S. 122).
In dieser Definition wird eine defizitorientierte Sichtweise von Behinderung vertreten. Dies bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen als Defizitwesen betrachtet werden. Dadurch wird die Separation von Menschen mit und ohne Behinderung verstärkt. Dies könnte wiederum zu einer gesellschaftlichen Ausgrenzung der Betroffenen führen.
Die folgenden Ausführungen stellen die Grundlage der vorliegenden Masterarbeit dar.
Im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen einseitigen Sichtweise von Behinderung definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2001 erstmals mit der „International Classification of Functioning, Disabilities and Health“ (ICF) einen ganzheitlichen Behinderungsbegriff. Behinderung wird hierbei als eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der gesellschaftlichen Teilhabe einer Person, unter Berücksichtigung von Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren, verstanden (Kubek, 2012, S. 36). Die WHO versteht Behinderung einerseits als eine Beeinträchtigung der Aktivität und Partizipation des betroffenen Menschen in der Gesellschaft sowie andererseits aus einer Schädigung der Körperfunktionen und -strukturen dieser Person. Dadurch wurde erstmals ein Wechsel der Sichtweise auf behinderte Menschen, weg von der reinen defizitorientierten, medizinischen Auffassung, hin zu einer ressourcenorientierten, systemischen Auffassung eingeleitet (Doose, 2006, S. 46).
Im bundesdeutschen Recht wird der Begriff Behinderung nach § 2 Absatz 1 des neunten Sozialgesetzbuchs (SGB IX) folgendermaßen definiert:
„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von der Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist“ (SGB IX, 2001).
Diese Definition bezieht im Gegensatz zur WHO den zeitlichen Aspekt der Beeinträchtigung mit ein. Die Definitionen von Behinderung nach der ICF und des SGB IX haben gemein, dass es sich bei einer Behinderung, um eine Beeinträchtigung handelt. Sie gehen von der Annahme aus, dass man nicht behindert ist, sondern vielmehr durch die Gesellschaft behindert wird (Poscher, Rux & Langer, 2008, S. 49). Am deutlichsten wird dies bei einem Menschen, der eine Brille benötigt. Er wird nicht als behindert bezeichnet, weil die vorherrschende Beeinträchtigung durch eine technische Vorrichtung (Brille) ausgeglichen wird und er so an der Gesellschaft teilhaben kann. Im Gegensatz dazu wird beispielsweise ein Rollstuhlfahrer vor dem Betreten eines Gebäudes dadurch behindert, da das Gebäude nicht über einen Aufzug verfügt und somit nicht barrierefrei ist. Neben den räumlichen Barrieren spielen die psychischen Barrieren eine ebenso wichtige Rolle. Die zen- trale Frage sollte lauten: Was kann die gesamte Gesellschaft dafür tun, dass alle Menschen ohne Ausnahme an ihr teilhaben können? (Saldern, 2014, S. 35).
Die nachfolgende Definition verdeutlicht die Wichtigkeit der Beseitigung der unterschiedlichen Barrieren:
„Je größer die Barrierefreiheit in einer Gesellschaft ist, je schneller Barrierefreiheit hergestellt wird, desto kleiner wird die Zahl behinderter Menschen zukünftig sein und desto weniger wird die Beeinträchtigung eines Menschen diesen daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben“ (Lachwitz, 2007, S. 4).
Der Begriff Inklusion wird von dem lateinischen Verb „includere“ abgeleitet, welcher so viel wie „einschließen“ bedeutet (Anneken, 2013, S.10).
Der Begriff „inclusion“ wurde ursprünglich nur in politik- und sozialwissenschaftlichen Kontexten verwendet, bevor er ab Anfang der 90er Jahre auch auf bildungspolitische und bildungswissenschaftliche Inhalte in den angloamerikanischen Ländern (USA, Kanada, Großbritannien, Australien) übertragen wurde. Die für eine gemeinsame Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigung zuvor verwendeten Begriffe Integration oder Mainstreaming wurden durch den Terminus Inklusion abgelöst (Biewer & Fasching, 2012, S. 118; Merz-Atalik, 2008, S. 24).
Im Zuge der Salamanca Erklärung der UNESCO von 1994 (vgl. UNESCO, 1994) wurde der Begriff Inklusion international verbreitet und erfuhr auch in Europa große Aufmerksamkeit. Nach der Salamanca Erklärung wurde eine inklusive Leitrichtung für Erziehungs- und Bildungseinrichtungen festgelegt:
„dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabte Kinder einschliessen, Strassen- ebenso wie arbeitende Kinder, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anders benachteiligten Randgruppen oder -gebieten.“ (UNESCO, 1994, S. 4).
Durch dieses Zitat wird deutlich, dass Inklusion verschiedene Ebenen der Heterogenität mit einbezieht.
Nach Auffassung von Hinz (2004, S. 68 f.) umfasst die Inklusion alle Dimensionen von Heterogenität. Dazu gehören unter anderem Geschlechterrollen, Fähigkeiten, Herkünfte, soziale Klassen, Hautfarbe, Religionen, sexuelle Orientierungen, körperliche Beeinträchtigungen und viele weitere Aspekte, welche die Vielfalt einer Gesellschaft ausmachen. Diese Aspekte sollen in Zukunft nicht wie bisher getrennt voneinander betrachtet und diskutiert werden (Saldern, 2013, S. 8f.). Vielmehr sollen alle Aspekte in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden.
Eine gängige und einheitliche Definition von Inklusion existiert nicht. So konstatiert Ahrbeck, dass nicht eine „nur annähernd konsensfähige Definition dessen vorliegt, was denn nun unter Inklusion zu verstehen sei“ (Ahrbeck, 2014, S. 7). Dies liegt daran, dass bei der deutschen Übersetzung der Salamanca Erklärung 1994 und der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 das Wort „inclusion“ in das Wort Integration und nicht in den Begriff der Inklusion übersetzt wurde. Das ist irreführend und sorgt dafür, dass in der Fachdiskussion alle Positionen zu finden sind.
Diese reichen „von der synonymen Verwendung ‚Integration ist gleichbedeutend mit Inklusion‘ bis hin zur scharfen Unterscheidung ‚Inklusion ist mehr und anders als Integration‘ “ (Wocken, 2015, S. 59). So kritisiert Stein, dass beide Begriffe „häufig als Gegensatzpaar formuliert bzw. der Integrationsbegriff als der zu überwindende, der Begriff der Inklusion als der weiterführende bezeichnet“ (Stein, 2008, S.78) wird. Er sieht vielmehr keine „theoretisch begründete Notwendigkeit der Ablösung des Integrationsbegriffs durch den der Inklusion“ (ebd., S. 81). Frühauf (2008, S. 11) dagegen stellt heraus, dass beide Begriffe oft synonym für den gleichen Sachverhalt benutzt werden und ihr inhaltlicher Aussagegehalt annähernd identisch ist (Frühauf, 2008, S. 11). Im Gegensatz dazu betont Reich, dass die Inklusion umfassender ist
„als das, was man früher mit Integration zu erreichen meinte. Sie ist ein gesellschaftlicher Anspruch, der besagt, dass die Gesellschaft ihrerseits Leistungen erbringen muss, die geeignet sind, Diskriminierungen von Menschen jeder Art auf allen Ebenen abzubauen, um möglichst chancengerechte Entwicklung aller Menschen zu ermöglichen“ (Reich, 2012a, S. 39).
Auch Zimmer (2014, S. 24ff.) sieht einen zentralen Unterschied zwischen den Begriffen Inklusion und Integration. Sie betont, dass bei der Integration Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf diagnostiziert werden, um sie nach dem ersten Akt der Ausgliederung wieder in die Regelschule zu integrieren. Dagegen wird bei der Inklusion die Unterschiedlichkeit der Menschen als normal angesehen und es muss demzufolge keine Integration stattfinden, da nicht zuvor ausgesondert wird.
„Bei integrativen Bildungsprozessen werden behinderte Kinder in das bestehende System integriert, während bei der Inklusion vordergründig eine Änderung des Systems erforderlich ist, das sich der Heterogenität und den Bedürfnissen aller Kinder anpasst“ (Zimmer, 2014, S. 25f.).
Nach Wocken (2015, S. 72) liegt bei der Integration eine „Zwei-Gruppen-Theorie“ vor. Das bedeutet, es wird ursprünglich in zwei Gruppen unterschieden. Einerseits in die Gruppe der „nichtbehinderten“ und andererseits in die Gruppe der „behinderten“ Kinder und Jugendlichen. Nach der Diagnose wird versucht, die Gruppe der „Behinderten“ in die Gruppe der „Nichtbehinderten“ zu integrieren.
Hinz (2008, S. 33) sieht die Aufgabe der Inklusion darin, alle Dimensionen von Heterogenität gemeinsam zu betrachten und sich nicht nur auf behinderte Menschen zu beschränken. Giese und Weigelt (2015, S. 13) stellen fest, dass die Inklusion in diesem Sinne keine Disziplin der Sonderpädagogik sei, sondern vielmehr ein Thema der allgemeinen Pädagogik.
Trotz der vielen unterschiedlichen Definitionen wird im Folgenden eine für die vorliegende Masterarbeit verbindliche Definition der Inklusion dargestellt.
In der nachfolgenden Abbildung wird das Konzept der Inklusion veranschaulicht, indem dieses von anderen Konzepten wie Exklusion oder Integration abgegrenzt wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 . Inklusion in Abgrenzung zu anderen Positionen (Indlekofer, 2013).
Unter Exklusion wird der explizite Ausschluss von Menschen aus der Gesellschaft verstanden, die nicht der Norm entsprechen (z.B. Sehbehinderte). Die Exklusion schließt Personen aufgrund spezifischer Persönlichkeitsmerkmale von schulischer Bildung und Erziehung aus (Bielefeldt, 2010, S. 67).
Separation (auch Segregation) bedeutet, dass (fast) alle Menschen Zugang zu schulischer Bildung und Erziehung bekommen, jedoch in voneinander abgegrenzten Bildungseinrichtungen (Förderschulen). Das Ziel der Separation ist es, differenzierte Schulformen zu schaffen, in denen spezialisierte Pädagogen mit möglichst homogenen Lerngruppen arbeiten.
Bei der Integration werden Schüler, die vorher in der Förderschule separiert von den Regelschülern unterrichtet wurden, in Einzelfällen wieder in die Regelschule integriert. Die Integration geht jedoch von der Zwei-Gruppen-Theorie aus, das heißt, es besteht weiterhin eine äußere Differenzierung zwischen Kindern mit und ohne Behinderung (Giese & Weigelt, 2015, S. 13f.).
Saldern definiert dagegen Inklusion wie folgt:
„Bei der Inklusion verzichtet man auf diese Unterscheidung von Menschen anhand willkürlich gewählter Faktoren (was immer mit einer Etikettierung, Labeling, verbunden ist). Inklusion beschreibt ein zieldifferentes Lernen ohne äußere Differenzierung. Die Unterschiedlichkeit und Individualität jedes einzelnen Kindes soll in der Schule und anderswo anerkannt werden“ (Saldern, 2014, S. 34).
Nach Hinz (2015, S. 68f.) liegt die Gefahr des Inklusionsbegriffs darin, dass beinahe alles mit Inklusion in Verbindung gebracht wird, was als positiv und fortschrittlich dargestellt werden soll. Dadurch geht nicht selten die inhaltliche Klarheit darüber verloren, was denn genau mit Inklusion gemeint ist. Im Status quo wird Inklusion eher als eine schwer einzulösende Anforderung wahrgenommen. Dies liegt daran, dass Schulen unter schlechten beziehungsweise unzureichenden sächlichen, personellen und qualifikatorischen Rahmenbedingungen Kinder und Jugendliche mit Behinderung aufnehmen müssen. Dies wird des Öfteren konträr, zu der mit dem Begriff generell positiv assoziierten Grundhaltung, als schwere Belastung wahrgenommen. Die Klärung, der für die Arbeit zentralen Begriffe Behinderung und Inklusion, dient dazu ein grundlegendes Verständnis für die Thematik der vorliegenden Arbeit zu bekommen. Im folgenden Kapitel wird der inklusive Schulsport legitimiert, in dem dieser mit der UN-Behindertenrechtskonvention und dem 9. Schulrechtsänderungsgesetz einen gesetzlich festgelegten Rahmen erhält.
Eine gesetzlich verankerte Grundlage zur Umsetzung der Inklusion stellt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) dar. Durch das Inkrafttreten der UN-BRK, stellt sich nicht mehr die Frage, ob eine inklusive Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung erstrebenswert ist. Denn „diese Frage ist rechtsverbindlich geklärt“ (Giese, 2014, S. 13). Die Inklusion ist somit „keine bildungspolitische Option mehr“ (ebd.). Eine verbindliche Umsetzung der UN-BRK findet sich auf nordrheinwestfälischer Landesebene im 9. Schulrechtsänderungsgesetz wieder.
Die UN-BRK wurde am 13.12.2006 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und am 26.03.2009 von der BRD ratifiziert.[4] Somit hat sich die BRD völkerrechtlich zur Inklusion verpflichtet (Nuding & Stanislowski, 2013, S. 27f.).
Für die schulische Bildung ergeben sich nach Artikel 24 der UN-BRK weiteichende Veränderungen. So fordert die UN-BRK unter anderen im Absatz 2b, dass
„Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben“ (UN-BRK, 2014, S. 36).[5]
Durch die rechtliche Gleichbehandlung von Menschen mit und ohne Behinderung in einer inklusiven Gesellschaft müssen behinderte Menschen ihre Bedürfnisse nicht länger an äußere Strukturen anpassen, sondern die Gegebenheiten werden auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten (Bielefeldt, 2010, S. 66ff.).
Ein Meilenstein bei der Entwicklung der Inklusion ist das Inkrafttreten des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes zum 1. August 2014. Denn bis zu diesem Tag stand ein rechtlicher Widerspruch den gesetzlichen Forderungen der UN-BRK und dem nordrheinwestfälischen Schulgesetz der inklusiven Beschulung im Weg. Das Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (Schulgesetz NRW) sah bislang vor, dass die Behörden darüber entscheiden, welche Schule die Schüler mit Behinderung besuchen (Stangier & Thoms, 2012, S. 8f.).[6]
Nach dem 9. Schulrechtsänderungsgesetz ist das gemeinsame Lernen von Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf der gesetzliche Regelfall (Ministerium für Schule und Weiterbildung, 2014, S. 4). Verankert wird dies im § 2 Absatz 5, in dem der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule festgelegt wird:
„Die Schule fördert die vorurteilsfreie Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung. In der Schule werden sie in der Regel gemeinsam unterrichtet und erzogen (inklusive Bildung). Schülerinnen und Schüler, die auf sonderpädagogische Unterstützung angewiesen sind, werden nach ihrem individuellen Bedarf gefördert, um ihnen ein möglichst hohes Maß an schulischer und beruflicher Eingliederung, gesetzlicher Teilhabe und selbstständiger Lebensgestaltung zu ermöglichen“ (ebd., S. 10).
Zudem wird nach § 20 - Orte der sonderpädagogischen Förderung, den Eltern das Wahlrecht zugebilligt, ob ihre Kinder in einer Förderschule oder in einer Regelschule beschult werden sollen (Faber, 2014, S. 10). Wocken (2011, S. 9) kritisiert ein Elternwahlrecht, denn dieses könnte für den Erhalt der Förderschulen eingesetzt werden und die Entwicklung der Inklusion verzögern. Weiter führt er aus, dass die UN-BRK bewusst auf ein Elternwahlrecht verzichtet, denn die inklusive Bildung ist das Recht des Kindes und bedarf keine Rechtfertigung durch ein Elternwalrecht.[7]
Das 9. Schulrechtsänderungsgesetz bietet auf Grundlage der UN-BRK die Legitimation für einen inklusiven Schulsport in NRW. Im folgenden Kapitel wird auf den heterogenen Schulsport eingegangen und dessen Potenzial für eine inklusive Beschulung aufgezeigt.
Der Alltag des Schulsports wurde schon immer durch eine hohe Heterogenität geprägt (Frohn & Pfitzner, 2011, S. 2; Tiemann, 2012, S. 168; Wurzel, 2008, S. 124). In jeder Lerngruppe bestehen große Unterschiede hinsichtlich der Persönlichkeitsmerkmale (u.a. Geschlecht, Motivation, Vorerfahrungen) der einzelnen Schüler, wobei die Heterogenität weiter zunimmt, wenn behinderte Schüler in eine Lerngruppe inkludiert werden (Becker, 2014, S. 169). In einem inklusiven Schulsport sind didaktisch-methodische Anpassungen notwendig, damit „jedes Kind sozial eingebunden an der aktuellen individuellen Leistungsgrenze lernen kann“ (Seitz, 2012, S. 165).[8] Dabei muss der Schulsport neu gedacht werden, denn es geht in einem inklusiven Unterricht nicht darum, sonderpädagogische Maßnahmen in einen ansonsten unveränderten Unterricht zu integrieren (ebd.). Die Umstrukturierung des Schulsports wird erschwert durch den, von der Gesellschaft hoch angesehenen Leistungssport, der von einer starken Homogenität gekennzeichnet ist. Zunächst wird dargestellt, welche Bedeutung der inklusive Schulsport für Menschen mit Behinderungen einnimmt. Des Weiteren wird die Heterogenität im Schulsport unter Berücksichtigung der Potenziale, Grenzen und statistischer Daten näher betrachtet.
Der Sport ist sehr wichtig für die Teilhabe an der Gesellschaft von Menschen mit Behinderungen. Bewegung und Sport stärken auf der einen Seite die körperlichen, psychischen und sozialen Fertigkeiten und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen. Auf der anderen Seite fördert Sport die Mobilität und Gesundheit und trägt folglich zu einem aktiveren Leben in der Mitte der Gesellschaft bei. Darüber hinaus macht Sport selbstbewusst und steigert das Selbstwertgefühl (Anneken, 2013, S. 3).
„Im Hinblick auf das gemeinsame Sporttreiben von Menschen mit und ohne Behinderung wurden für alle Beteiligte Effekte im sozial-affektiven Bereich nachgewiesen, wie zum Beispiel Abbau von Vorurteilen, Berührungsängsten und allgemeiner sozialer Distanz sowie Zunahme von Akzeptanz, Toleranz und Kooperation“ (Radtke, 2011).
Der Zugang von Menschen mit Behinderungen zum Sport ist jedoch ein sehr komplexer Auftrag, weil Sport selbst in seinen Regularien und Zugangsbestimmungen exklusiv beziehungsweise exkludierend sein kann (Wacker, 2013, S. 48). Auch die folgende Aussage von Weichert offenbart die Probleme einer inklusiven Beschulung: „Unser Sport ist von der Idee und seiner Struktur her historisch nicht für das Bewegen in heterogenen Gruppen gemacht und wir müssten ihn hierfür regelrecht neu erfinden und stark verändern“ (Weichert, 2003, S. 28).
Giese und Weigelt stellen dagegen fest, dass der Sportunterricht geradezu prädestiniert für eine inklusive Beschulung ist:
„Dem Fach Sport wird im Allgemeinen – wenn auch wissenschaftlich nicht systematisch begründet – eine besondere Inklusionsleistung zuerkannt, da es soziale Prozesse innerhalb der Lerngruppen eher in den Vordergrund stelle, was inklusive Prozesse begünstige“ (Giese & Weigelt, 2013, S. 4).
Zur Herausstellung der Bedeutung von inklusivem Schulsport für Menschen mit Behinderung wird auf vier Motive des Sporttreibens eingegangen.
1. Menschen brauchen Aktivität – Sport macht glücklich:
Auf biochemischer Ebene schüttet der Körper nach sportlicher Betätigung endogene Opiate (Endorphine) aus. Diese führen dazu, dass der Sporttreibende ein Glücksgefühl erlebt und sich dadurch positiv aktiviert fühlt. Der Sport bietet in vielfältiger Hinsicht positive Aktivitätserfahrungen, welche zur Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls und eines positiven Selbstbildes führen kann (Schmidt, 2012, S. 263ff.).
2. Menschen brauchen Erfolge und Anerkennung – Sport macht stark:
Der Sport bietet eine herausragende Plattform für Anerkennung und Erfolge der zu inkludierenden Schüler. Zum Sport gehören der Vergleich und der Wettkampf. Aufgrund dessen muss im Rahmen der Inklusion jedoch berücksichtigt werden, dass man das Leistungsniveau und die Erwartungshaltung an das jeweilige Krankheitsbild des Inkludierten anpasst. Auf diese Weise kann die Anzahl der Erfolgserlebnisse erhöht werden. Auch sollte einer demotivierten Haltung des Inkludierten entgegengesteuert werden, damit ein Rückzug des Betroffenen aus dem Sport verhindert werden kann (ebd., S. 266ff.).
3. Menschen brauchen Kontakte – Sport schafft Beziehungen:
Der Mensch ist ein soziales Wesen und sucht gezielt nach Beziehungen und Freundschaften zu verlässlichen Mitmenschen. Er strebt nach einem Zugehörigkeitsgefühl, das er z.B. in einem Team oder einer Gruppe mit gleichen Interessen erfährt (ebd., S. 268ff.).
„Gerade der Umstand, dass im Grunde eine einzige Gemeinsamkeit ausreicht, macht bereichernde Begegnungen mit vielfältigsten Menschen möglich. Männer begegnen Frauen, Kinder spielen gemeinsam mit Senioren, Deutsche freunden sich mit Türken an. Gerade weil Sport so verführerisch motivierend ist, eignet er sich bestens zur Verbindung von ansonsten sehr verschiedenen Menschen. Er hat also große integrierende Kraft“ (ebd., S. 268).
4. Menschen brauchen Bewegung – Sport erhält Gesundheit:
Der Mensch treibt Sport, um bis ins hohe Alter fit und gesund zu bleiben. Aufgrund einer Veränderung der Freizeitgestaltung hin zu einer immer stärker werdenden Nutzung von digitalen Medien, kommt es zu einem negativen Einfluss auf das Bewegungsverhalten des Menschen. Deswegen wird es in Zukunft immer wichtiger werden, für alle Gesellschaftsgruppen vielfältige Bewegungsangebote zu schaffen (ebd., S. 270).
Aus den genannten Motiven wird ersichtlich, dass ein diversitätssensibler Umgang mit Heterogenität von großer Relevanz ist. Im Folgenden wird der heterogene Schulsport genauer erörtert um herauszustellen welchen Einfluss die Haltung beziehungsweise der Umgang der Lehrkraft gegenüber heterogenen Lerngruppen hat.
„Vielfalt im Sportunterricht war und ist schon immer Realität“ (Tiemann, 2012, S. 168). Manche Schüler betreiben in ihrer Freizeit mehrmals die Woche Leistungssport wohingegen andere Schüler kaum oder nur geringe Bewegungserfahrungen erleben. Manche sind schlank, andere hingegen adipös. Wiederum einige Schüler sind motiviert, andere dagegen desinteressiert Sport zu treiben. Einige Schüler halten sich an die Klassenregeln und Vorgaben wohingegen andere Schüler Schwierigkeiten haben, diesen zu folgen. Die individuellen Persönlichkeitsmerkmale beziehungsweise Unterschiede der Lernenden in Bezug auf ihre motorischen, kognitiven oder sozial-emotionalen Möglichkeiten sind stark heterogen und lassen sich vielfältig ausdifferenzieren (ebd.). Saldern teilt diese Auffassung und betont, dass die Annahme falsch ist, dass man vor der Inklusion homogene Schulklassen gehabt hätte: „Schulklassen sind in jeder Schulform heterogen zusammengesetzt“ (Saldern, 2014, S. 37).
Neben der Tatsache, dass der Sportunterricht schon immer von einer stark heterogenen Lerngruppe geprägt ist, muss jedoch konstatiert werden, dass die Heterogenität in einer Schulklasse durch den Inklusionsprozess weiter zunehmen wird. Nach Schneider (2012, S. 131) stellt dies jedoch keine wirklich neue Herausforderung dar, sondern erweitert nur die Spannbreite der Aufgabenstellungen.
Tiemann kritisiert das sehr stark in den Köpfen der Menschen verankerte kategoriale Denken, lehnt diese Sichtweise vehement ab und fordert eine Denkweise jenseits der starren Heterogenitäts- und Differenzkategorien, die Stigmatisierungen hervorrufen können, unflexibel machen und einen unvoreingenommenen Blick auf das Individuum vernachlässigen können. So vernachlässigt beispielsweise die Kategorie Behinderung die Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen keine homogene Gruppe darstellen. Sie verweist auf ein Beispiel, dass die Information an eine Lehrkraft, dass in Zukunft ein Kind mit geistiger Behinderung ihren Sportunterricht besuchen wird, für ihre Unterrichtsplanung nur bedingt weiterhilft. Denn mit dieser Information bleibt ungeklärt, welchen kognitiven, motorischen oder sozial-emotionalen Entwicklungsstand dieser Schüler besitzt (Tiemann, 2012, S. 168).
Heterogene Gruppen müssen vielmehr mit Blick auf die konkreten Merkmale der Lernenden betrachtet werden. Nur so sind sinnvolle Entscheidungen, in Bezug auf heterogene Lerngruppen, zu treffen (Wurzel, 2008, S. 125). Auch darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass sehr leistungsstarke Schüler ihre besonderen Bedürfnisse haben. Hieraus wird deutlich, dass ein inklusiver Sportunterricht einen Einstellungswandel bezüglich des „Anders-Seins“ erfordert. So muss als zentrale Grundlage einer gelingenden Inklusion eine anerkennende Einstellung gegenüber menschlicher Vielfalt entstehen, in dem kein Raum für kategoriales Denken besteht (ebd., S. 168f.). So stellt Tiemann wie folgt das Potenzial eines inklusiven Sportunterrichts heraus:
„Ein für alle bereichernder inklusiver Sportunterricht ist für die individuellen Potenziale von jedem Schüler und jeder Schülerin offen. Die Unterschiedlichkeit jedes Einzelnen einer Gruppe wird als Anregung und Bereicherung für die Lern- und Entwicklungsprozesse aller verstanden“ (ebd., S. 169).
Ein inklusiver Sportunterricht könnte bereichert werden, indem zum Beispiel Schüler mit Migrationshintergrund Bewegungsspiele, Sportarten oder auch Spielgeräte, die sie aus der Kultur der Herkunftsfamilie kennen, im Sportunterricht einbringen (ebd., S. 169).
Nach Arndt und Pertek ist Inklusion die konsequente Antwort auf Heterogenität:
„Trotz aller Schwierigkeiten ist Inklusion die einzig richtige Antwort auf Heterogenität, weil jedes Kind, auch solche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen, geistige Entwicklung, Verhalten, Lesen, Rechnen oder Schreiben etwas kann. Unsere Aufgabe besteht darin, jedes Kind erst einmal einfach anzunehmen, wie es ist, und es in seiner Entwicklung so zu unterstützen, dass es ein gesundes Selbstbild entwickeln kann“ (Arndt & Pertek, 2013, S. 14).
Der Umgang mit Heterogenität im Sport bleibt jedoch bisher wenig hinterfragt. Der Sport als Leistungs- und Wettkampfsport gewinnt gerade durch Leistungsvergleiche auf möglichst gleichem Niveau seine Attraktion, da so ein offener Ausgang des Wettkampfes garantiert ist.
„Um dies zu gewährleisten, wird von der Kreisklasse bis zur Bundesliga, im Sport der Nichtbehinderten und im Behindertensport nach Leistung differenziert, und, damit dies optimal funktioniert, zudem noch nach Alter und Geschlecht“ (Weichert, 2010, S. 257).
Die Methode der gezielten Homogenisierung kann jedoch im Sportunterricht nicht funktionieren, denn dort werden die Schulklassen nicht nach sportlicher Leistungsstärke zusammengesetzt und es besteht eine Teilnahmepflicht im Gegensatz zu dem freiwilligen Vereinssport (ebd.). Weichert führt weiter aus, dass der Sport von seiner Idee und seiner Struktur her historisch nicht für das Sporttreiben in heterogenen Gruppen ausgelegt ist und er deswegen dafür neu erfunden beziehungsweise verändert werden muss. Zudem spricht die Zusammenstellung der Gruppen, wenn die Lehrkraft die freie Gruppeneinteilung erlaubt, nicht gerade für einen inklusiven Sportunterricht. Hier lässt sich beobachten, dass sich sportstarke Jungen oder Mädchen mit anderen Sportstarken des gleichen Geschlechts zusammentun und dass auch die leistungsschwachen Schüler beziehungsweise die „Mittelgruppe“ unter sich bleibt. Aus diesen Umständen wird ersichtlich, dass schlechte Voraussetzungen für die Inklusion von Behinderten und Nichtbehinderten vorliegen (Weichert, 2003, S. 26). Weichert unterstreicht dies mit folgenden Fragen:
„Wie soll man auch mit einem Rollstuhlkind um die Wette laufen, sich mit einem spastischen Mitschüler den Ball zuwerfen und gar beim Fußball um den Ball kämpfen oder mit einem geistig behinderten Kind, das die Spielregeln nicht versteht, ein Regelspiel spielen?“ (ebd., S. 26).
Diese Fragen zeigen die geringen Inklusionschancen von traditionellen Spiel und Sport im Unterricht. Aufgrund dessen müssen strukturelle Veränderungen am Sport für inklusive Gruppen vorgenommen werden.
Jedoch sollte dies nicht auf der Grundlage der totalen Rücknahme des Leistungsprinzips erfolgen, indem ausschließlich Spiele erfunden werden, die keinen Sieger und keinen Gewinner hervorbringen. Derartige Spiele negieren genau das, was Wettkampfsport ausmacht. Vielmehr sollen Sportarten ausgeübt werden, die in der jeweiligen Struktur die Unterschiede der Beteiligten berücksichtigt, wie beispielsweise das niederländische Sportspiel Korfball[9] (Weichert, 2003, S. 28). Auf die vielfältigen Anpassungsmöglichkeiten von inklusivem Sportunterricht wird im siebten Kapitel ausführlich eingegangen. An diesem Punkt soll jedoch festgehalten werden, dass sich fast immer „geeignete Spiel- und Sportformen finden, die es ermöglichen, Menschen mit Behinderungen so in eine Sportstunde zu integrieren, dass alle gleichermaßen gefordert werden“ (Ableitner, 2013, S. 4).
Der starken Heterogenität in einer inklusiven Sportklasse sollte nicht mit sogenannten „erstbesten Lösungen“ entgegengetreten werden, da diese zur Festigung von Vorurteilen beitragen können. Unter „erstbeste Lösungen“ werden nach Wurzel (2008, S. 125) inhaltlich und methodisch einfache Lösungen bezeichnet, „die gemeinsamen Sportunterricht von Kindern mit unterschiedlichen Voraussetzungen ermöglichen und auf die daher schnell zugegriffen wird“. Diese fördern jedoch nicht den gleichberechtigten Umgang aller Beteiligten, sondern führen oft zur Verfestigung von Vorurteilen. Ein Beispiel für eine erstbeste Lösung ist: Der sehende Schüler nimmt den blinden Mitschüler bei Lauf- und Fangspielen an die Hand.
Der Grundgedanke ist, dem blinden Schüler die Teilnahme am gemeinsamen Sportunterricht, durch die Hilfe des Sehenden zu ermöglichen. Dabei wird bei allen Beteiligten die Auffassung vom unselbstständigen und abhängigen Blinden verstärkt. Eine Rollenverteilung, die ausschließlich den Sehenden als Helfer und den Blinden als Hilflosen darstellt, trägt nicht beziehungsweise nur wenig zur Verbesserung der Mobilität und zur Steigerung der Selbstständigkeit des Blinden bei. Zentrale Aspekte wie zum Beispiel die Förderung der Orientierungsfähigkeit eines Blinden bleiben unberücksichtigt.
Aufgrund dessen sollte im Zeichen der Inklusion ein diversitätssensibler Sportunterricht maßgebend sein. In einem solchen Unterricht wird die Vielfalt als Bereicherung beziehungsweise als Chance angesehen und generalisierende Zuschreibungen in Bezug auf Heterogenitäts- und Differenzkategorien sollen vermieden werden (Tiemann, 2015a, S. 57).
Alle Schüler sollen entsprechend ihrer Möglichkeiten und Grenzen gefördert werden. Frau Jühe, Schulleiterin der Gesamtschule Kelsterbach, gibt hierzu eine unmissverständliche Botschaft an die Lernenden ihrer Schule:
„Das, was zählt, sind deine Persönlichkeit, dein Verhalten und deine Arbeitsergebnisse. Wir sehen eure Unterschiedlichkeiten, es ist aber für das, was in der Schule geschieht, nicht wichtig, ob man Deutscher, Türke oder Grieche ist, ob man eine Behinderung oder eine Beeinträchtigung hat, ob man ein paar Kilo zu viel wiegt, ob man für sein Alter noch zu klein oder gar schon zu groß ist“ (Jühe, 2013, S. 74).
Laut dieser Aussage werden die Schüler in ihrer Individualität wahrgenommen und anerkannt, stereotype Zuschreibungen werden vermieden und die Schüler werden in ihrer individuellen sportbezogenen Entwicklung unterstützt. Wenn aufgrund einer Behinderung ein Schüler im Sportunterricht ausgeschlossen wird, kann eine Situation entstehen, die eine Thematisierung der Behinderung durch den Sportlehrer erfordert. Ein Gleichgewicht zwischen einer Entdramatisierung und einer Dramatisierung der betreffenden Kategorie und einer damit einhergehenden Sensibilisierung für Heterogenität kann die Basis dafür sein, allen Schülern eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen (Tiemann, 2015a, S. 57f.).
Doch wie sieht die Situation im inklusiven Sportunterricht tatsächlich aus? Wie groß ist der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf von allen Schülern der Primarstufe und der Sekundarstufe I? Welche Förderschwerpunkte sind für den Sportunterricht relevant und erschweren ihn erheblich? Um diese Fragen zu beantworten wird nachfolgend auf zentrale Befunde, einer Studie der Bertelsmann Stiftung, aus dem Jahr 2015, zur Situation der Inklusion in Deutschland, eingegangen. Von deutschlandweit, im Schuljahr 2013/2014, ca. 7,4 Millionen schulpflichtigen Schülern der Primar- und Sekundarstufe I, wurde bei rund 500.500 Schülern entsprechend einer Förderquote[10] von 6,8%, ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert. Von ihnen wurden in etwa ein Drittel inklusiv unterrichtet und zwei Drittel exklusiv. Den größten Anteil der förderbedürftigen Schüler besitzen den sonderpädagogischen Förderbedarf Lernen (38,8%). Gerade diese Schüler lassen sich in besonderem Maße in den Sportunterricht inkludieren. Hier zeigt sich die besondere Stärke des Sportunterrichts, da in ihm, aufgrund seiner stark auf den Körper ausgerichteten Struktur, die Lernschwierigkeiten im Bereich Lesen, Schreiben und Rechnen weitestgehend unberücksichtigt bleiben. Dagegen haben nur 6,9% der förderbedürftigen Schüler den Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Das sind rund 34.500 Schüler der 7,4 Millionen Schüler der Primar-und Sekundarstufe I und macht einen Anteil von 0,46% aller Schüler aus. Veranschaulicht an einem exemplarischen Beispiel von einer Regelschule mit 1000 Schülern würde dies bedeuten, dass rund fünf Kinder mit dem Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung an dieser Schule, unter der Gegebenheit einer vollständigen Inklusion, unterrichtet werden müssten. Zum heutigen Zeitpunkt werden jedoch nur knapp über ein Viertel dieser Schüler inklusiv unterrichtet, was demzufolge bedeutet, dass im Durchschnitt nur ein Kind mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung eine Regelschule mit 1000 Schülern besuchen würde. Auch haben insgesamt nur 0,25% aller Schüler einen Förderbedarf im Bereich Sehen und Hören. Somit würden nur zwei bis drei Schüler mit diesem Förderbedarf die Beispielschule mit 1000 Schülern besuchen. Wobei gegenwärtig von ihnen nur ca. 38% inklusiv beschult werden, obwohl sie höchstwahrscheinlich geistig vollkommen gesund sind und durch die exklusive Beschulung schlechtere Bildungschancen besitzen. Die Schüler mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ (16%) und „Emotionale und soziale Entwicklung“ (15,2%) bilden zusammen ca. ein Drittel aller Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf. Sie bilden auch die Schülergruppe, welche die Sportlehrkräfte im inklusiven Sportunterricht vor erhebliche Herausforderungen stellt. Diese Schülergruppe macht jedoch auch nur einen Anteil von 2% aller Schüler aus, was wiederum bedeutet, dass in einer Klasse von 30 Schülern maximal ein Kind mit einem dieser beiden Förderschwerpunkte unterrichtet wird (Klemm, 2015, S. 6ff.).
Aus den hier vorgestellten statistischen Daten lässt sich schlussfolgern, dass der Anteil der förderbedürftigen Schüler nur sehr gering ist und selbst von diesen nur ein Teil eine erhöhte Sensibilität der Lehrkraft im Schulsport erfordert. Die Sorge von Sportlehrkräften, dass sie es in Zukunft im Rahmen eines inklusiven Sportunterrichts, mit einer nicht zu bewältigenden Anzahl von förderbedürftigen Schülern zu tun haben, bleibt demnach unbegründet.
Abschließend dürfen jedoch die Grenzen eines inklusiven Sportunterrichts nicht unerwähnt bleiben. Wurzel stellt klar, dass nicht jede Form der inklusiven Beschulung möglich sei:
„Wenn das Maß an Heterogenität durch Differenzierung nicht mehr aufgefangen werden kann, ist gemeinsamer Unterricht nicht sinnvoll. Wenn die Beteiligten in gemeinsamen Gruppen aufgrund ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen zur Passivität gezwungen sind, während sie in getrennten Gruppen aktiv Handelnde sein können, sind, so meine ich, die Grenzen überschritten“ (Wurzel, 1997, S. 394).
Wenn Schüler mit starken Behinderungen ihre Mitschüler körperlich gefährden oder es nicht möglich ist, einen ordnungsgemäßen Unterricht durchzuführen, kann die Inklusionsverpflichtung rechtlich beschränkt sein. In diesem Fall muss der betreffende Schüler an eine Förderschule versetzt werden, da sonst das Recht der Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf auf Bildung verletzt werden würde (Poscher et al., 2008, S. 36).
Im folgenden Kapitel wird aufgezeigt, welche Bedingungen und Strukturen das Sporttreiben mit heterogenen Gruppen unterstützen.
[...]
[1] Der Begriff Behinderung wird in der vorliegenden Arbeit mit dem politisch korrekten Begriff der Beeinträchtigung gleichgesetzt. Inwieweit der Begriff Beeinträchtigung weniger diskriminierend ist als der Begriff Behinderung bleibt kritisch zu hinterfragen.
[2] In der vorliegenden Arbeit wird zur besseren Lesbarkeit nur das männliche Genus verwendet. Die weibliche Form ist selbstverständlich immer mit eingeschlossen.
[3] Zur Vertiefung über verschiedene Behinderungsformen siehe Stangier und Thoms (2012, S. 146ff.).
[4] Gültig ist die amtliche gemeinsame Übersetzung der UN-BRK von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein.
[5] Zur näheren Betrachtung des Gesetzes siehe UN-BRK (2014) und Nuding & Stanislowski (2013). Eine kritische Betrachtung der Gleichsetzung des Sprachgebrauchs Integration mit Inklusion in der UN-BRK liefert der Beitrag von Schumann (2009, S. 51ff.).
[6] Das bisherige Gesetz entspricht nicht der gesetzlichen Forderung der UN-BRK nach einer gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen an Bildung.
[7] Zur kritischen Reflexion über das Elternwahlrecht siehe Wocken (2015, S. 39ff.).
[8] Zur Vertiefung zu Anpassungsmöglichkeiten in einem heterogenen Schulsport siehe Kap. 7.
[9] Korfball ist ein Teamsport, bei dem Mädchen und Jungen gleichberechtigt in einer Mannschaft spielen. Zwei gegnerische Teams mit je vier männlichen und vier weiblichen Spielern versuchen, den Ball in den gegnerischen Korb zu werfen. Korfball ist ein Spiel ohne Körperkontakt. Jeder Spieler besitzt einen festen Gegenspieler, wobei die Zuordnung nach Geschlecht, Größe und Spielstärke erfolgt. Dadurch wird gewährleistet, dass Schüler unterschiedlichen Geschlechts und Leistungsniveaus gleichermaßen Erfolgserlebnisse erfahren. Zur genauen Erläuterung von Korfball und einem Vorschlag für eine Unterrichtsreihe siehe Eberhardt (2013).
[10] Förderquoten geben den Anteil der Schüler mit Förderbedarf an allen Schülern mit Vollzeitschulpflicht in allgemeinen Schulen der Primar- und Sekundarstufe I an (Klemm, 2015, S. 28).
Der GRIN Verlag hat sich seit 1998 auf die Veröffentlichung akademischer eBooks und Bücher spezialisiert. Der GRIN Verlag steht damit als erstes Unternehmen für User Generated Quality Content. Die Verlagsseiten GRIN.com, Hausarbeiten.de und Diplomarbeiten24 bieten für Hochschullehrer, Absolventen und Studenten die ideale Plattform, wissenschaftliche Texte wie Hausarbeiten, Referate, Bachelorarbeiten, Masterarbeiten, Diplomarbeiten, Dissertationen und wissenschaftliche Aufsätze einem breiten Publikum zu präsentieren.
Kostenfreie Veröffentlichung: Hausarbeit, Bachelorarbeit, Diplomarbeit, Dissertation, Masterarbeit, Interpretation oder Referat jetzt veröffentlichen!
Kommentare