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Bachelorarbeit, 2017
58 Seiten, Note: 2,0
Abstract
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsverständnis von sexuellem Kindesmissbrauch
2.1 Begriffliche Abgrenzung
2.2 Begriffserklärung
2.3 Formen sexueller Missbrauchshandlungen
3. Ausmaß, Häufigkeit und Dauer des sexuellen Kindesmissbrauchs
4. Opfer-Täter-Dynamik
4.1 Die Täter und Täterinnen
4.2 Das Vorgehen der Täter und Täterinnen und ihre Opfer
5. Fragestellung
6. Methode
7. Mögliche Auswirkungen des sexuellen Kindesmissbrauchs
7.1 Traumabelastungsstörungen
7.2 Emotionale und weitere intrapsychische Reaktionen
7.2.1 Schamgefühle
7.2.2 Schuldgefühle
7.2.3 Angst
7.2.4 Vertrauensverlust
7.2.5 Sprachlosigkeit
7.2.6 Ohnmacht
7.3 Auffälligkeiten im Sozialverhalten
7.4 Sexualverhalten
7.5 Psychosomatische Beschwerden
8. Diskussion
Literaturverzeichnis
Tabelle 1
Tabelle 2
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die Auswirkungen von sexuellem Miss- brauch von Kindern auf deren psychische Entwicklung zu untersuchen. Metho- disch wurde eine ausführliche Literaturrecherche durchgeführt, um den aktuel- len empirischen Forschungsstand darzustellen. 2014 wurden laut polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) in der Altersgruppe bis 14 Jahre 14.168 Opfer (10.581 Mädchen) von sexuellem Missbrauch erfasst; knapp die Hälfte der Opfer kannte den Täter/die Täterin1 (19 % Verwandte; 30 % Bekannte) vor der Tat. Kinder mit sexuellen Missbrauchserfahrungen erleben auf jeder psychischen Ebene Auswirkungen: emotional (Angst-, Ohnmachts-, Scham-, Schuld-, Minderwertig- keits-, Ekel- und Entfremdungsgefühle, geringes Selbstwertgefühl, Depressio- nen), kognitiv (Schulleistung, Störungen des Selbstkonzepts, v. a. der Ge- schlechtsidentität, Suizidgedanken) und behavioral (v. a. aggressives oder re- gressives Verhalten, Impulskontrollstörungen, sozialer Rückzug). Es können sich posttraumatische Belastungsstörungen als Folge zeigen. Jugendliche und Erwachsene mit sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit tendieren zu Störungen im Sozial- und Sexualverhalten (triebhaftes Verhalten, Exhibieren, exzessive Masturbation, Imitation des sexuellen Missbrauchs, frühzeitige Schwangerschaft, vermehrte Tendenz zur Prostitution versus funktionelle Se- xualstörungen) sowie zu Drogenmissbrauch und -abhängigkeit. Letztlich kön- nen sich diese Erfahrungen auch in psychosomatischen Erkrankungen wie Ma- gen-Darm- oder chronischen Unterleibsbeschwerden, Schlaf- und Essstörun- gen äußern. Die psychischen Beeinträchtigungen der Opfer von sexuellem Missbrauch sind entsprechend weitreichend.
Schlüsselwörter: Sexueller Missbrauch im Kindesalter, PKS, psychische Beeinträchtigungen und Erkrankungen
Es gibt wohl kaum treffendere Worte als die von Enders (2011), um nur annä- hernd zu beschreiben, was eines der schlimmsten Verbrechen bedeutet: ÄSe- xueller Missbrauch ist ein Mordanschlag auf die Seele des Kindes“ (S. 142). Zumal damit oftmals ein heftiger Vertrauensmissbrauch einhergeht, da knapp die Hälfte der Opfer den Täter (19 % Verwandte; 30 % Bekannte) vor der Tat kannte (Bundeskriminalamt, 2017a, 2017b, 2017c). Entsprechend existieren nach Krischer (2002) sechs Handlungstypen, die charakteristisch für die Tat des sexuellen Missbrauchs werden können: überraschender Übergriff durch eine Vertrauensperson, trickreiches Ausnutzen der kindlichen Naivität, Überra- schungsübergriff durch einen Fremden, beiläufiger Übertritt durch Respektper- son, Gruppenfälle - allmähliche Anbahnung in Kindergruppen und erotische Verführung von emotional bedürftigen Menschen. Je höher das Maß an Autori- tät und Vertrauen, welches dem Täter durch das Kind entgegengebracht wird, und je geringer die Autonomie und Widerstandsfähigkeit des Kindes ausfallen, desto leichter fällt es dem Täter, das Kind sexuell auszubeuten (Enders, 2014).
Dabei besteht bis heute eine Kontroverse um die Begrifflichkeiten. Wipplinger und Amann (2005) definieren sexuellen Missbrauch wie folgt: ÄSexueller Miss- brauch an Kindern bezeichnet sexuelle Gewalt, die von älteren oder gleichaltri- gen Person an Kindern ausgeübt wird“ (S. 29). Daneben gibt es noch ein brei- tes Spektrum an Definitionen mit verschiedener Ausrichtung: enge versus wei- te, feministische, entwicklungspsychologische oder klinische Definitionen (Wipplinger & Amann, 2005). Konsens scheint jedoch darüber zu bestehen, wie massiv die Auswirkungen, welche die Opfer von sexuellem Missbrauch nicht nur physisch, sondern vor allem auch psychisch davontragen, sind.
Mit der vorliegenden Arbeit soll entsprechend eine genaue Begriffsklärung erfolgen und der aktuelle empirische Forschungsstand zu den psychischen Auswirkungen von sexuellem Missbrauch beleuchtet werden.
In diesem Kapitel wird der Fokus auf das Begriffsverständnis von sexuellem Kindesmissbrauch gerichtet. Hierfür wird zunächst eine begriffliche Abgrenzung vorgenommen, d. h., es werden unterschiedliche Definitionen sexuellen Miss- brauchs angeführt. Infolgedessen wird anschließend der Begriff sexueller Miss- brauch definiert. Abschließend wird auf die Formen sexueller Missbrauchshand- lungen eingegangen.
In der Fachliteratur werden diverse Begriffe, wie z. B. sexuelle Gewalt, sexuelle Ausbeutung, sexuelle Misshandlung oder Inzest, bezüglich sexuellen Missbrauchs ohne jegliche Differenzierungen gleichgesetzt bzw. als synonym verwendet. Um aus der Bandbreite an Literatur eine prägnante Definition von sexuellem Missbrauch herausarbeiten zu können, wird im Folgenden vorerst eine begriffliche Abgrenzung vorgelegt.
Eine Definition von sexuellem Missbrauch nach Bange (2002) lautet:
Für die Verwendung des Begriffs sexueller Missbrauch sprechen drei Argumente: Erstens wirkt er jeglichen Assoziationen entgegen, die eine Verantwortung der betroffenen Kinder an den Geschehnissen beinhalten. Zweitens entspricht er der juristischen Terminologie und drittens hat er sich in der (Fach-)Öffentlichkeit durchgesetzt. (S. 47)
Allerdings wird der Begriff sexueller Missbrauch in der Fachliteratur kritisch hin- terfragt, weil dieser mehrdeutig interpretiert werden kann. Er verweist auf einen berechtigten sexuellen Gebrauch von Kindern. Das heißt, dieser impliziert, dass eine Person richtig oder falsch gebraucht werden kann (Wipplinger & Amann, 2005; Herzig, 2010; Bange, 2002). Dass Kinder nicht als Gebrauchsobjekte fungieren, die zur eigenen sexuellen Befriedigung herangezogen werden kön- nen bzw. dienen, wurde unstrittig anerkannt (Wipplinger & Amann, 2005; Braun, 2006). Zudem präge dieser Begriff eine stigmatisierende Wirkung, welche die Betroffenen als schmutzig erscheinen lasse und ihre Gefühlslage nicht in Betracht ziehe (Wipplinger & Amann, 2005).
Aus diesem Grund bevorzugen Experten wie Kupffer (1989) und Enders (2001) die Bezeichnung sexuelle Gewalt. Auch Gloor und Pfister (1995) sowie Brockhaus und Kolshorn (1993) gebrauchen eher die Bezeichnungen sexuelle Ausbeutung oder sexuelle Gewalt. Zumal sie die Gefühlslage der Opfer reflektieren und die Aufmerksamkeit auf den Aspekt der Gewalt richten (Bange, 2002). Die Autoren wollen mit diesem Begriff darauf aufmerksam machen, dass es den Tätern bei solch einem Akt nicht allein um sexuelle Befriedigung geht, sondern vielmehr um die Machtergreifung über das Opfer (Jönsson, 1997). Es sind sozusagen Änicht-sexuelle Bedürfnisse, die in sexualisierter Form ausgelegt werden (z. B. der Wunsch, Macht zu erleben, zu erniedrigen, sich selbst zu bestätigen o. ä.)“ (Brockhaus & Kolshorn, 1993, S. 28).
Bezugnehmend auf das Machtgefälle zwischen dem Täter und dem Opfer füh- ren Wipplinger und Amann (2005) die Bezeichnung Äsexuelle Ausbeutung“ (S. 16) an. Hotaling und Finkelhor (1988) bemerken jedoch, dass von sexueller Ausbeutung nur dann die Rede ist, wenn es um Kinderpornografie und Kinder- prostitution geht. Hartwig (1990) verwendet die Begriffe sexueller Missbrauch, sexuelle Gewalt und sexuelle Ausbeutung an sich synonym, allerdings mit un- terschiedlicher Akzentsetzung. Wenn es um das familiäre Umfeld geht, verwen- det Hartwig (1990) vornehmlich den Begriff Missbrauch; wenn es hingegen um die Handlungsabsicht geht, zieht sie die Bezeichnung Ausbeutung heran. Um den Fokus auf die gesellschaftlichen Bedingungen zu richten, verwendet Hart- wig (1990) den Begriff Gewalt. Remschmidt (1989) hebt den Begriff sexuelle Misshandlung von sexuellem Missbrauch insofern ab, als von sexueller Miss- handlung nur dann gesprochen werden sollte, wenn Handlungen Gewalt enthal- ten und sexuelle Aktivitäten gegen den Willen der Kinder stattfinden. Blum- Maurice, Knoller, Nitsch und Kröhnert (2000) determinieren Kindesmisshand- lung als eine Änicht zufällige, gewaltsame psychische und/oder physische Be- einträchtigung oder Vernachlässigung des Kindes durch El- tern/Erziehungsberechtigte oder Dritte, die das Kind schädigt, verletzt, in seiner Entwicklung hemmt oder zu Tode bringt“ (S. 2). Gründer, Kleiner und Nagel (2013) formulieren, dass es divergente Formen von Gewalt gegen Kinder gibt, welche jedoch keine allzu gravierenden Unterschiede zwischen sexuellen und nicht sexuellen Formen der Gewalt darstellen.
Jedoch muss erwähnt werden, dass diese Bezeichnung von feministischen Au- torinnen sehr kritisiert wird, weil sie der Meinung sind, dass dadurch die gesell- schaftlichen Bedingungen, welche zu dieser Handlung führen, sehr leicht in den Hintergrund geraten (Bange, 2002). Darüber hinaus wird hauptsächlich der Un- terschied zwischen sexuellem Missbrauch und beispielsweise körperlicher Misshandlung betont. Die Gleichsetzung dieser Bezeichnungen wird nicht aner- kannt (Bange, 2002). Als Grund wird angeführt, dass sexueller Missbrauch vor- wiegend geplant herbeigeführt wird und kein einmaliges Vorkommen ist, son- dern über einen längeren Zeitraum anhält (Gahleitner, 2000). Körperliche Miss- handlung hingegen ist kein beabsichtigter Akt, sie ergibt sich vielmehr aus der jeweiligen Gefühlslage heraus (Steinhage, 2002). Sie ereignet sich aus Grün- den wie beispielsweise der Bestrafung, Hilflosigkeit, Wut oder auch Freude an der Qual anderer (Dyer & Steil, 2012).
Laut Jud (2015, S. 43) werden sexuelle Handlungen zwischen Verwandten ers- ten Grades als Inzest wahrgenommen. Wobei Bange (2002) den Begriff Inzest weit fasst und betont, dass hierbei der Grad der Verwandtschaft keine bedeu- tende Rolle spielt. Jedoch wird kritisiert, dass bei diesem Begriff nicht deutlich wird, ob der sexuelle Kontakt zwischen (gleichaltrigen) Verwandten - welcher von beiden Seiten bewusst herbeigeführt wird - bestehen muss oder ob es sich um einen männlichen Verwandten handelt, der das jüngere Opfer Äzur eigenen sexuellen Befriedigung zwingt“ (Gahleitner, 2000, S. 27). Zudem ist in Betracht zu ziehen, dass dieser Begriff Ädurch das Inzesttabu emotional belastet ist“, da er die Opfer möglicherweise schnell stigmatisiert (Gahleitner, 2000, S. 27). Dies wiederum trägt dazu bei, dass das Geschehen Äan der Erlebniswelt eines Miss- brauchsopfers völlig vorbeigeht“ (Gahleitner, 2000, S. 27) und dass sie die Mit- verantwortung am Geschehen tragen. Diese Bezeichnung prägt ein Stigma des Opfers und bedingt eine verharmlosende Darstellung des Täters (Gahleitner, 2000). Darüber hinaus werden in der Fachliteratur weitere Begriffe wie realer Inzest, Beziehungsschande, Seelenmord, sexualisierte Gewalt, sexueller Über- griff, sexuelle Belästigung oder sexuelle Verletzung angeführt (z. B. Wipplinger & Amann, 2005; Bange, 2002).
Neuerdings gibt es weitere umgangssprachliche Bezeichnungen, die ebenfalls sexuelle Übergriffe charakterisieren. Einer der am häufigsten vorkommenden Begriffe ist der Begriff Date Rape. Dieser bedeutet, dass eine sexuelle Hand- lung durch einen Bekannten bei einer Verabredung erzwungen herbeigeführt wird (Bueno, Dahinden & Güntert, 2008). Scheithauer, Hayer und Niebank (2008) formulieren, dass Date Rape auch als eine erzwungene sexuelle Hand- lung bei der ersten Verabredung, welche beispielsweise über das Internet ver- einbart wurde, erfasst werden kann. Dieser Begriff zielt somit z. B. auf die un- gesicherte Internetnutzung der Kinder ab.
Wie bereits mehrere Autoren (z. B. Bange, 2002; Gahleitner, 2000; Steinhage, 2002) dargelegt haben, wird anhand der vielfältigen Begriffe deutlich, dass es nicht simpel ist, eine Bezeichnung zu finden, welche dieses Problemfeld präzise beschreibt und abdeckt. Jeder Autor orientiert sich an seinem eigenen Definiti- onskriterium. Die Begriffe sexueller Missbrauch, sexuelle Gewalt und sexuelle Ausbeutung scheinen die in der Fachliteratur geläufigsten Bezeichnungen, die jeglichen Assoziationen entgegenwirken, welche die betroffenen Kinder als mit- schuldig an den Geschehnissen darstellen (Bange, 2002). Zudem reflektieren diese Begriffe die Gefühle der Betroffenen und legen das Machtgefälle zwi- schen Täter und Opfer am ehesten dar.
An erster Stelle muss thematisiert werden, dass bis heute - trotz des breiten Spektrums an Literatur - keine allgemeingültige Definition sexuellen Miss- brauchs an Kindern zu finden ist. Wipplinger und Amann (2005) haben dennoch versucht, einen Überblick über die vielfältigen Definitionen des sexuellen Miss- brauchs an Kindern zu schaffen. Daher vollzogen sie eine Klassifikation der Definitionen, indem sie diese systematisch kategorisiert haben. Zum einen er- geben sich weite und enge Definitionen, zum anderen kristallisieren sich gesell- schaftliche, feministische, entwicklungspsychologische und klinische Definitionen heraus.
Enge Definitionen umfassen sämtliche Handlungen, die schädlich für das Kind sind. Diese sind meist empirischen Forschungsarbeiten zugrunde gelegt, um nicht missbrauchte Kinder auszuschließen. Diese Definitionen erfassen sexuel- len Missbrauch als Handlungen mit direktem Körperkontakt hinsichtlich des ora- len, analen und genitalen Geschlechtsverkehrs zwischen Täter/Täterin und Op- fer (Wetzels, 1997; Bange, 2002; Wipplinger & Amann, 2005). Demgegenüber versuchen weite Definitionen, sexuellen Missbrauch im gesamten Umfang zu berücksichtigen. Dabei werden auch sexuelle Handlungen ohne direkten Kör- perkontakt, die aber dennoch aus sexuellen Motiven ausgeübt werden, wie Ex- hibitionismus, obszöne Anreden, Belästigung, Anleitung zur Prostitution und die Herstellung von pornografischen Materialien, als sexueller Missbrauch erfasst (Wetzels, 1997; Bange, 2002; Wipplinger & Amann, 2005). Aufgrund dessen ist es bei diesen Definitionen schwierig, eine abschließende Auflistung zu erstel- len, da die eigentliche Absicht des Täters nicht identifiziert werden kann.
Gesellschaftliche Definitionen erfassen das Machtgefälle zwischen Älteren und Kindern. Hierfür wird der Fokus auf die Autoritäts- und Gewaltstrukturen der Erwachsenen gelegt, welche der Erwachsene gegenüber dem Kind auslebt (Wipplinger & Amann 2005). Hierzu gibt es folgende Ausführungen: ÄUnter se- xuellem Mißbrauch verstehe ich jede sexuell gefärbte Handlung, die dem Kind in irgendeiner Form von einer älteren Person aufgedrängt wird. Dabei ist der Täter überlegen, er ist in der Regel älter, er ist stärker und mächtiger“ (Geier, 1990, S. 37). Eine etwas präziser formulierte Definition, in welche die gesell- schaftlichen Faktoren mit einfließen, ist bei Brockhaus und Kolshorn (1993) zu finden: ÄSexueller Mißbrauch an Kindern bezeichnet sexuelle Gewalt, die von älteren oder gleichaltrigen Person an Kindern verübt wird“ (S. 29). Demnach wird erst von sexueller Gewalt gesprochen, wenn eine Person von einer ande- ren Person zur eigenen sexuellen Befriedigung herangezogen wird (Wipplinger & Amann, 2005). Hierzu zählen auch nicht sexuelle Bedürfnisse, die jedoch in sexualisierter Form ausgelebt werden (Brockhaus & Kolshorn, 1993). Bei bei- den Definitionen ist kein eindeutiger Altersunterschied zwischen Opfer und Tä- ter/Täterin festzustellen. Wipplinger und Amann (2005) hingegen erwähnen auch den Missbrauch zwischen gleichaltrigen Personen. Demzufolge ist eine genaue Altersangabe kritisch zu betrachten, denn gleichaltrige Kinder besitzen dennoch unterschiedliche körperliche, psychische und kognitive Kompetenzen. Im Großen und Ganzen wird deutlich, dass der zentrale Punkt, welcher eine sexuelle Handlung zu einem sexuellen Missbrauch macht, demnach vom ge- sellschaftlich bedingten Machtgefälle ausgeht: Die missbrauchende Person be- friedigt eigene Bedürfnisse am Kind gegen dessen Willen. Daher ist eine Al- tersangabe als völlig irrelevant zu betrachten, da nicht das Alter des Opfers bzw. des Täters/der Täterin bedeutend ist, sondern das Machtgefälle, welches vom Täter/der Täterin missbraucht wird (Wipplinger & Amann, 2005).
Feministische Definitionen des sexuellen Missbrauchs von Kindern sind den gesellschaftlichen Definitionen sehr ähnlich. Hinzu kommt, dass ein sexueller Missbrauch in den meisten Fällen an weiblichen Opfern ausgeübt wird und in diesem Fall dem Täter ein männliches Geschlecht zugeschrieben wird (Draijer, 1990; Kavemann, 1991). Dabei wird sexueller Missbrauch als sexualisierte Ge- waltanwendung verstanden; durch das Ausnutzen eines männlichen Macht- und Autoritätsverhältnisses liegen dessen ÄWurzeln in einer patriarchischen Gesellschaftsstruktur“ (Wipplinger & Amann, 2005, S. 30) begründet. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Instrumentalisierung von Mädchen und Frau- en, die als Gebrauchsobjekte von Männern zur sexuellen Befriedigung heran- gezogen werden. Der Vorteil feministischer Definitionen ist, dass das subjektive Erleben der Betroffenen eine bedeutende Rolle spielt, die zum Klassifikations- kriterium herangezogen wird. Demnach steht hier der Missbrauch des Opfers im Vordergrund, weshalb die Handlung objektiv schwer erfasst wird (Engfer, 1997). Ein Nachteil ist, das Jungen als Opfer sexuellen Missbrauchs ausge- schlossen bleiben (Engfer & Hardt, 2008).
Entwicklungspsychologische Definitionen ziehen den Entwicklungsstand des Kindes in Betracht und heben die entwicklungsbedingte Unreife des Kindes hervor. Die Kinder sind aufgrund des Fehlens kognitiver, emotionaler und psy- chischer Kompetenzen nicht in der Lage, Ädie gesamte Tragweite der sexuellen Handlungen zu überblicken und zu erfassen“ (Wipplinger & Amann, 2005, S. 31). Dies wiederum zeigt an, dass Kinder sexuellen Handlungen mit Erwachse- nen weder zustimmen wollen noch hinsichtlich ihres Reifegrades dazu in der Lage sind, diese Entscheidung zu treffen.2 Ebenso kann eine Verletzung der sozialen Tabus von Familienrollen stattfinden. Das heißt, dass in Familien be- stimmte Verhaltensregeln vorhanden sind, an die jeder gebunden ist. Im Falle eines sexuellen Missbrauchs können diese Tabus verletzt werden. Zum Bei- spiel wird bei einer aufgeschlossenen Familie dem gemeinsamen Baden von Vater und Tochter keine schlechte Bedeutung zugeschrieben (Wipplinger & Amann, 2005). Somit wird deutlich, dass sich entwicklungspsychologische Defi- nitionen nicht nur auf die Entwicklung konzentrieren, sondern auch die gesell- schaftlich-kulturelle Betrachtungsweise miteinbeziehen (Wipplinger & Amann, 2005).
Im Vergleich zu den oben genannten Formen der Begriffsbestimmung sexuellen Missbrauchs wird in folgenden Ausführungen auf klinische Definitionen einge- gangen. Klinische Definitionen charakterisieren die Auswirkungen gewaltsamer sexueller Handlungen auf das Kind. Demzufolge wird Missbrauch als Äein emo- tionales, körperliches oder psychisches Trauma“ (Wipplinger & Amann, 2005, S. 33) definiert. Bei klinischen Definitionen geht es hauptsächlich darum, die spezifischen Symptome eines sexuellen Missbrauchs zu erkennen und sie dementsprechend zu behandeln. Einige Forscher sind der Meinung, dass nur Handlungen, die ein Trauma hervorrufen, als sexueller Missbrauch verstanden werden sollten. Als Nachteil dieser Definition wird gesehen, dass sexuelle Handlungen, die keine unmittelbar erkennbaren Spuren bzw. Auswirkungen aufweisen, nicht als Missbrauch erfasst werden (Wipplinger & Amann, 2005). Daher sind klinische Definitionen für die wissenschaftliche Forschung nicht von großer Bedeutung.
Bei genauer Betrachtung der unterschiedlichen Definitionen wird deutlich, dass sich wesentliche Kriterien wie zum Beispiel die Altersdifferenz zwischen Opfer und Täter, die Missachtung des kindlichen Willens und das Machtgefälle zwi- schen Opfer und Täter in den meisten Formulierungen manifestiert haben. Dar- über hinaus gibt es weitere ausschlaggebende Kriterien, die bei der Beurteilung eines sexuellen Missbrauchs herangezogen werden. Weitere Definitionskriterien sind bei Gahleitner (2000), Bange (2002) sowie Bange und Deegener (1996) zu finden. Folgende Kriterien fließen in die Definitionen mit ein:
- Art der Handlungen
- Folgen
- Missachtung des kindlichen Willens - Ausübung von Zwang und Gewalt
- Altersunterschied zwischen Opfer und Täter/Täterin - Verletzung von Familienregeln/sozialen Regeln - Wissentliches Einverständnis
In der Fachliteratur besteht Einigkeit darüber, dass all diese Kriterien in irgendeiner Form eingebettet werden sollten (z. B. Bange, 2002). Bange und Deegener (1996) führen weitere Kriterien (das Gefühl, sich missbraucht zu fühlen, sexueller Missbrauch durch Blicke und Worte) an, die jedoch bei anderen Autoren nicht direkt mit einfließen.
Um den sexuellen Missbrauch von Kindern etwas prägnanter darzustellen, wird die Begriffsbestimmung der World Health Organization (WHO; 1999) verwen- det. Laut der WHO (1999) liege sexueller Missbrauch dann vor, wenn Kinder in sexuelle Aktivitäten einbezogen werden, die sie nicht vollständig verstehen, zu denen sie keine informierte Einwilligung geben können oder für die das Kind aufgrund seiner Entwicklung nicht bereit ist und daher kein Einverständnis ertei- len kann, oder die Gesetze oder gesellschaftliche Tabus verletzen. Sexueller Missbrauch von Kindern ist definiert durch diese Art der Aktivitäten zwischen einem Kind und einem Erwachsenen oder einem anderen Kind, das aufgrund des Alters oder seiner Entwicklung in einem Verantwortungs-, Vertrauens- oder Abhängigkeitsverhältnis steht, sofern diese Aktivität dazu dient, die Bedürfnisse der anderen Person zu befriedigen (WHO, 1999). Dazu gehören beispielsweise die Überredung oder Nötigung eines Kindes, sich an strafbaren sexuellen Akti- vitäten zu beteiligen, die Ausbeutung von Kindern in Prostitution oder andere strafbare Sexualdelikte sowie die Ausbeutung von Kindern in pornografischen Darstellungen und Materialien. Darüber hinaus ist sexueller Missbrauch von Kindern als eine Straftat im Strafgesetzbuch (StGB; 1998) verankert, dessen Inhalt sich wie folgt darstellen lässt:
-176 Sexueller Mißbrauch von Kindern
(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen läßt.
(3) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen.
(4) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer
1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt,
2. ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die die Tat nicht nach Absatz 1 oder Absatz 2 mit Strafe bedroht ist,
3. auf ein Kind mittels Schriften (-11 Absatz 3) oder mittels Informations- oder Kommunikationstechnologie einwirkt, um
a) das Kind zu sexuellen Handlungen zu bringen, die es an oder vor dem Täter oder einer dritten Person vornehmen oder von dem Täter oder einer dritten Person an sich vornehmen lassen soll, oder
b) um eine Tat nach -184b Absatz 1 Nummer 3 oder nach -184b Absatz 3 zu begehen, oder
4. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts, durch Zugänglichmachen pornographischer Inhalte mittels Informations- und Kommunikationstechnologie oder durch entsprechende Reden einwirkt.
(5) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach den Absätzen 1 bis 4 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.
(6) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht nur für Taten nach Absatz 4 Nr. 3 und 4 und Absatz 5.
-176a Schwerer sexueller Mißbrauch von Kindern
(1) Der sexuelle Mißbrauch von Kindern wird in den Fällen des -176 Abs. 1 und 2 mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft, wenn der Täter innerhalb der letzten fünf Jahre wegen einer solchen Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist.
(2) Der sexuelle Mißbrauch von Kindern wird in den Fällen des -176 Abs. 1 und 2 mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft, wenn
1. eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen läßt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind,
2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird oder
3. der Täter das Kind durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung bringt.
(3) Mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren wird bestraft, wer in den Fällen des -176 Abs. 1 bis 3, 4 Nr. 1 oder Nr. 2 oder des -176 Abs. 6 als Täter oder anderer Beteiligter in der Absicht handelt, die Tat zum Gegenstand einer pornographischen Schrift (-11 Abs. 3) zu machen, die nach -184b Absatz 1 oder 2 verbreitet werden soll.
(4) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 2 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.
(5) Mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren wird bestraft, wer das Kind in den Fällen des -176 Abs. 1 bis 3 bei der Tat körperlich schwer mißhandelt oder durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.
(6) In die in Absatz 1 bezeichnete Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die Im Ausland abgeurteilt worden ist, steht in den Fällen des Absatzes 1 einer im Inland abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine solche Nach -176 Abs. 1 oder 2 wäre.
-176b Sexueller Mißbrauch von Kindern mit Todesfolge Verursacht der Täter durch den sexuellen Mißbrauch (--176 und 176a) wenigstens leichtfertig den Tod des Kindes, so ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren.
Diese Definitionen des StGB finden sich in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBI. I, S. 3322), das durch Artikel 2 Absatz 4 des Gesetzes vom 22. Dezember 2016 (BGBI. I, S. 3150) geändert worden ist.
Sexueller Missbrauch an Kindern erfasst Handlungen sowohl mit direktem als auch ohne direkten Körperkontakt (Jud, 2015). Es Äfängt bei heimlichen, vor- sichtigen Berührungen, verletzenden Redensarten und Blicken an und reicht bis hin zu oralen, vaginalen oder analen Vergewaltigungen und sexuellen Folter- techniken“ (Enders, 2011, S. 29). In manchen Situationen ist von außen nicht deutlich zu erkennen, ob eine Grenzverletzung stattgefunden hat oder nicht. Zum Beispiel lassen sich Grenzverletzungen in einem vertrauten Umfeld, wie in der Familie, nicht eindeutig bestimmen. In Familien, in denen es Kindern nicht fremd ist, ihre Eltern nackt zu sehen, steht eine sich im Bad aufhaltende Be- zugsperson während des kindlichen Badens nicht zwingend für einen Hinweis auf eine sexuelle Ausbeutung. Erst nachdem das Kind den Erwachsenen bittet, das Badezimmer zu verlassen und der Erwachsene den Wunsch des Kindes nicht achtet und akzeptiert, beginnt eine Missachtung des Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung des Kindes (Enders, 2011). ÄDer zentrale Punkt ist die Ab- sicht, mit der die Handlung ausgeführt wird“ (Dyer & Steil, 2012, S. 13).
Kinder sind daran gebunden, dass Erwachsene sie bei ihrer Entwicklung unter- stützen und ihnen als Begleiter beistehen. Zudem, dass diese ihre kindlichen Bedürfnisse nach Liebe, Zärtlichkeit und Schutz achten und erfüllen (Enders, 2011, S. 29). Kinder bauen Vertrauen in ihre Umwelt auf und sind darauf ange- wiesen, dass Erwachsene dieser Vertrauensbasis treu bleiben. Daher ist davon auszugehen, dass fast immer zwischen dem Täter und dem Opfer schon eine Beziehung besteht, welche für das Kind mittels Vertrauen, der Abhängigkeit und Zuneigung kenntlich gemacht wird (Enders, 2011). ÄDiese Beziehung bildet dann in der Regel die Ausgangsbasis für die durch den Täter (die Täterin) wis- sentlich und bewusst vorbereitete sexuelle Ausbeutung“ (Enders, 2011, S. 29).
[...]
1 Zur besseren Lesbarkeit wird im weiteren Verlauf ausschließlich der Begriff ÄTäter“ verwendet, wobei beide Geschlechter inkludiert sind.
2 Kontroverse Theorien diskutieren diesen Punkt, hierauf soll im Verlauf dieser Arbeit jedoch nicht weiter eingegangen werden.