Bachelorarbeit, 2015
47 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Mädchen im allgemeinen Bildungssystem - kurzer historischer Rückblick und Bestandsaufnahme
2.1 Empirische Befunde PISA,IGLU, TIMSS
2.2 Konsequenzen für Studienfach- und Berufswahl
3. Geschlechtertheorien
3.1 Sozialisation im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit
3.2 Doing Gender
4. Doing Gender im allgemeinbildenden Schulsystem
4.1 Doing Gender seitens der Eltern
4.2 Doing Gender seitens der Lehrkräfte
5. MINT-Förderung für Mädchen - Chancen und Grenzen
5.1 Das Beispiel Ada-Lovelace-Projekt Rheinland-Pfalz
5.2 Empirische Befunde
5.2.1 Entwicklung des Anteils der Studentinnen in den MINT-Fächern
5.2.2 Evaluative Ergebnisse der Projektaktivitäten
5.3 Chancen und Grenzen der MINT-Förderung aus geschlechtertheoretischer Sicht
6. Fazit und Ausblick
7. Literatur
8. Internetquellen
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Anstieg an weiblichen Gymnasiasten im Zeitraum 1960-
Tabelle 1: Anteil der Schülerinnen nach Schulform
Abbildung 2: Leistungsunterschiede zwischen deutschen Mädchen und Jungen im PISA 2001-Test für den Bereich Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften
Abbildung 3: Frauenanteil bei den Erstsemestern in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen
Abbildung 4: Frauenanteil bei den Erstsemestern in der Chemie
Abbildung 5: Frauenanteil bei den Erstsemestern in der Mathematik
Abbildung 6: Frauenanteil bei den Erstsemestern in der Physik/Astronomie
Abbildung 7: Frauenanteil bei den Erstsemestern in der Informatik
Abbildung 8: Frauenanteil bei den Erstsemestern in den ingenieurwissenschaftlichen Fächern
Abbildung 9: Technikbezogenes Selbstvertrauen der Schülerinnen vor und nach einem Roberta-Kurs im Rahmen des ALP
Im Zuge der Bildungsreformen der 60er Jahre des vergangenen Jahrhundertswurde die Benachteiligung der Mädchen im allgemeinbildenden Schulsystemnach und nach aufgehoben. Mittlerweile haben die Mädchen die Jungen hiersogar überflügelt, was sich in anteilig höheren Quoten beispielsweise desGymnasiumbesuchs oder der Höhe der Schulabschlüsse niederschlägt. Auffälligist jedoch, dass nach vor scheinbar geschlechtsspezifische Präferenzen, wasFächer- und Berufswahl angehen, sehr deutlich in Erscheinung treten. Studienwie PISA und TIMSS zeigen außerdem auf, dass sich spätestens ab derSekundarstufe I auch Leistungsunterschiede in den sogenannten MINT[1]-Fächernzuungunsten der Mädchen feststellen lassen. Im Ergebnis scheinen Mädchenihren Vorteil aus dem allgemeinbildenden Schulsystem nicht in Studium undBeruf zu transferieren, indem sie sich en gros auf wenige, traditionell weiblichkonnotierte Ausbildungs- und Studiengänge beschränken, die dann imBerufsleben vergleichsweise schlechtere Verdienste und Karrieremöglichkeitenbieten. Dies wird im zweiten Kapitel der Arbeit referiert.
Im Zuge dieser Befunde einerseits, die weiterhin auf eine Ungleichheit quaGeschlecht hinweisen, und dem demographischen Wandel und allseits beklagtenFachkräftemangels andererseits, wurden nunmehr seit einigen Jahren Initiativenund Projekte ins Leben gerufen, die sich der Förderung von Mädchen im MINT-Bereich widmen. Durch verschiedene Maßnahmen soll den Mädchen der MINT-Bereich näher gebracht werden, ihnen die Scheu vor Fächer- und Berufswahl indiesem Bereich genommen werden.
Leitendes Forschungsanliegen dieser Arbeit soll nun sein, die Chancen und Grenzen dieser MINT-Förderung für Mädchen aus geschlechtertheoretischer Sicht auszuloten. Zielgruppe sind Mädchen der Sekundarstufe I.
Im Zuge der zweiten Frauenbewegung seit den 60er Jahren des 20. Jahrhundertsund der dadurch angestoßenen Frauen- und Geschlechterforschung, hat sich, wasTheoriebildung angeht, sehr viel getan. Überhaupt wurde die Kategorie„Geschlecht“ als Faktor struktureller Ungleichheit durch die Forschungstätigkeit
ϭ D/Ed͗ DĂƚŚĞŵĂƚŝŬ͕ /ŶĨŽƌŵĂƚŝŬ͕ EĂƚƵƌǁŝƐƐĞŶƐĐŚĂĨƚ͕ dĞĐŚŶŝŬ in den verschiedenen wissenschaftlichen Teildisziplinen wie beispielsweise
Erziehungswissenschaft, Soziologie oder Psychologie der letzten 50 Jahre erstsichtbar gemacht und in die Öffentlichkeit getragen. Es entwickelten sichmannigfaltige Theorien und Ansätze, die kontrovers diskutiert wurden undimmer noch werden.
Da die Zielgruppe dieser Arbeit Mädchen in der Adoleszenz sind, wird sich dasdritte Kapitel mit der theoretischen Fundierung dieser Arbeit auf einerseitsSozialisation im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit, andererseits aufden Ansatz des „Doing Gender“, das auf Konzepte von geschlechtergerechterSchule und Unterricht bereits häufig angewandt wurde, konzentrieren.
Im vierten Kapitel soll nun der Fokus auf Vorgänge des „Doing Gender“ in derfamiliären Umgebung und in der Schule, hier speziell in der Sekundarstufe I,liegen. Es wird gezeigt werden, wie sich in der alltäglichen Interaktion zwischenEltern und Kindern, aber auch der zwischen LehrerInnen und SchülerInnenGeschlechtsrollenstereotype immer wieder reproduzieren und verfestigen.
Am Beispiel des Ada-Lovelace-Projektes Rheinland-Pfalz wird im fünftenKapitel zunächst das Projekt selbst vorgestellt und empirische Daten dazuvorgelegt, dann auf die Chancen und Grenzen dieser Förderung ausgeschlechtertheoretischer Sicht eingegangen. Dazu werden die sich aus derübergeordneten Forschungsfrage ergebenden Teilfragen beantwortet werden:
Auf der empirischen Ebene:
- Zeigen Statistiken (am Beispiel des Landes Rheinland-Pfalz) ein gestiegenes Interesse von Mädchen am MINT-Bereich, und, damit einhergehend, einen gestiegenen Anteil an Frauen in diesem an, und falls ja, kann man diese in Korrelation zu den Fördermaßnahmen setzen?
Auf der theoretischen Ebene:
Es scheint sich hier ein Paradox bzw. Dilemma zu ergeben, nämlich das derGleichheit bei gleichzeitiger Ungleichheit: Mädchen sollen Eingang in dietraditionell männlich konnotierten MINT-Bereiche finden, ihnen also gleiche
Chancen ermöglicht werden. Das heißt aber auch Einpassung der Mädchen in
diese Bereiche.
- Lässt das nicht auf eine erneute Defizitzuschreibung zuungunsten der Mädchen schließen?
- Werden mit der Betonung, wie erstrebenswert eine solche Karriere sei, nicht die traditionell weiblich konnotierten Bereiche weiterhin abgewertet und somit Hierarchien aufgrund von horizontaler Segmentation fortgeschrieben?
Die Arbeit schließt im sechsten Kapitel mit einem Fazit und einem Ausblick.
In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam es in der damaligenBundesrepublik Deutschland zu Diskussionen bezüglich grundlegendenReformen des Bildungswesens. Anstoß der Debatte bestand zum einen inökonomischen Gründen. Zum Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeitder Bundesrepublik wurde eine deutliche Steigerung der „Bildungsproduktion“angemahnt (vgl. Klemm, 2011, S.21 f.) Die auf einem demokratischenArgumentationsstrang beruhenden Ansprüche zum anderen betrafen dieungleiche Verteilung von Bildungschancen. In der Kunstfigur des „katholischenArbeitermädchens vom Lande“ wurden die damals konstatierten vierDimensionen der Chancenungleichheit deutlich: Konfession, soziale Schicht,Geschlecht und Region (vgl. ebd. S.27).
Was die Ungleichheitsdimension „Geschlecht“ betraf, so konnte damals festgestellt werden, dass Mädchen „wesentlich seltener auf weiterführenden Schulen gingen, häufiger eine Gymnasialbildung abbrachen oder vorzeitig beendeten und geringere Anteile an den Abiturienten hatten“ (Faulstich-Wieland, 2011, S.24). Um dieser Situation Abhilfe zu schaffen, bestand eine Maßnahme im Zuge der Bildungsreformen in der Einführung der Koedukation im gymnasialen Bereich. Abbildung 1 veranschaulicht den Anstieg an weiblichen Gymnasiasten im Zeitraum 1960 bis 1999.
Abbildung 1: Anstieg an weiblichen Gymnasiasten im Zeitraum 1960-1999 Quelle: histat.gesis.org
Auch ein Zusammenhang zwischen dem Prestige einer Schulform und dem Mädchenanteil der entsprechenden Schulform kann mittlerweile festgestellt werden. „Je höher das soziale Prestige bzw. der zu vergebende allgemeine Bildungsabschluss einer Schule ist, desto größer ist der Anteil der Mädchen bzw. Frauen.“ (Wenning, 2013, S. 66) Tabelle 2 verdeutlicht exemplarisch diese Entwicklung für den Zeitraum 1992/93 bis 1997/98.
Tabelle 1: Anteil der Schülerinnen nach Schulform
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gymnasien 53,7 54,4
Quelle: Wenning, N., 2013, S. 66 nach Statistisches Bundesamt Deutschland 1999, Schüler und Schülerinnen nach Schularten
Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Mädchen seit Beginn derBildungsreformen im allgemeinbildenden Schulsystem den Jungen gegenüber ϳ deutlich aufgeholt und sie sogar überholt haben. Somit sind die Mädchen „die eigentlichen „Gewinner der Bildungsexpansion“ (ebd.).
Verschiedene Studien und Leistungstests zeigen auf, dass geschlechtsspezifischeUnterschiede bereits früh in der Bildungslaufbahn auftreten. Zum Ende derersten Klasse sind zunächst keine Unterschiede in der mathematischen Leistungfestzustellen bzw. es zeigen sich sogar leichte Vorteile zugunsten der Mädchen.Gravierende Unterschiede zugunsten der Jungen zeigen sich dann jedoch bereitszum Ende der Grundschule (vgl. Budde, 2008, S.23). Für den BereichNaturwissenschaften, in der Grundschule gelehrt als Sachkunde, zeigten sichsowohl in der IGLU- als auch in der TIMSS-Studie Vorteile zugunsten derJungen. Auch zeigte sich hier der im internationalen Vergleich größteUnterschied zwischen Mädchen und Jungen (vgl. Endepohls-Ulpe, 2011, S.12).
Studienübergreifend lässt sich konstatieren, dass Mädchen bessere Ergebnisseim Bereich Lesen erzielen. So kommt sowohl die internationalGrundschuluntersuchung IGLU als auch die PISA-Leistungsstudie mit15jährigen zu dem Ergebnis, dass Mädchen im Durchschnitt geschriebene Textebesser verstehen und diese auch häufiger zur Lösung von gestellten Aufgabennutzen können. So beträgt laut PISA-Studie der Abstand im Lesen in derSekundarstufe I im OECD-Durchschnitt 38, in Deutschland 42Kompetenzpunkte zu Gunsten der Mädchen. Im Gegensatz hierzu schneidenJungen in Mathematik besser ab. Der Abstand in Mathematik beträgt im OECD-Durchschnitt 11, in Deutschland 20 Punkte zu Gunsten der Jungen (vgl.Lupatsch & Hadjar, 2011, S. 179).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Leistungsunterschiede zwischen deutschen Mädchen und Jungen im PISA 2001-Test für den Bereich Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften
Quelle: Cornelißen, W., 2005, S.41)
Dieser Abstand fällt auch größer aus als der vieler Vergleichsländer. Die zumEnde der Primarschulzeit festgestellten Leistungsunterschiede im FachMathematik setzen sich also in der Sekundarstufe I fort. In denNaturwissenschaften schneiden die Jungen geringfügig, aber nicht signifikantbesser ab als die Mädchen, Vorteile zugunsten der Jungen zeigen sich vor allemim Fach Physik.
Die Dritte Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie (TIMSS)befasst sich mit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundbildung amEnde der Pflichtschulzeit und dem Mathematik- und Physikunterrichtvoruniversitärer Bildungsgänge, fokussiert also auf die Sekundarstufe II. DieBefunde aus Studien die sich mit der Primarstufe und der Sekundarstufe Ibefassen, setzen sich hier im Wesentlichen fort. Die Jungen zeigen weiterhinbessere Leistungen in Mathematik und den Naturwissenschaften, amauffälligsten sind die Unterschiede zu Ungunsten der Mädchen im Fach Physik(vgl. Baumert et. al., 2000, S.83f.).
In den hier aufgeführten Studien wurde gezeigt, dass Mädchen in der Schulegemeinhin zu mehr Interesse und besseren Leistungen in den traditionellweiblich konnotierten Fächern wie z.B. Sprachen neigen und für Jungen dasgleiche in den üblicherweise männlich konnotierten MINT-Fächern gilt. DiesePräferenzen haben weitreichende Konsequenzen für Studienfach- und/oderBerufswahl speziell der Mädchen, denn hier setzt sich dasgeschlechtsrollenkonforme Wahlverhalten in Form von üblicherweise weiblichkonnotierten Berufen und Studienfächern fort. Hinzu kommt speziell in denBerufen des dualen Ausbildungssystems ein sehr verengtes Auswahlspektrum.
Tabelle 2: Die zehn am stärksten besetzten Ausbildungsberufe für weibliche Auszubildende 2005
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung nach Cornelißen & Tremel, 2007, S. 19
So entschieden sich also 53,3 Prozent der jungen Frauen für nur zehnAusbildungsberufe aus einem Spektrum von insgesamt 348 anerkanntenAusbildungen; ebenso fällt auf, dass hier kein einziger Beruf aus dem MINT-Bereich zu verzeichnen ist. In den vollzeitschulischen Ausbildungen ist dieVerteilung noch wesentlich deutlicher: beispielsweise liegt der Frauenanteil beider Ausbildung zur Kinderpflegerin bzw. zum Kinderpfleger bei bei 94,8%, zur
Erzieherin/zum Erzieher bei 93,5%, zur/zum Kinder- und Säuglingskrankenschwester bzw. -pfleger bei 97,2%, zur Altenpflegerin bzw. -pfleger bei 82,1% und zur Krankenschwester bzw. Krankenpfleger bei 82%.Auch an den Universitäten variieren die Frauenanteile stark nach derFachausrichtung: beispielsweise sind 66% der Studenten in denSozialwissenschaften und 60% derer der Kulturwissenschaften weiblich, abernur 21% in den Ingenieurwissenschaften. Die am häufigsten gewähltenStudiengänge von Studentinnen sind Betriebswirtschaftslehre, Germanistik,Rechtswissenschaften, Medizin und Erziehungswissenschaften/Pädagogik. (vgl.Cornelißen & Tremel, 2007, S. 20)
Die geschlechtsrollenkonformen Präferenzen setzen sich also an derEinmündung vom allgemeinen in das berufliche Bildungssystem fort. Das magzum Teil daran liegen, dass z. B. im dualen Ausbildungssystem speziell in dentechnischen Berufen männliche Auszubildende weiterhin bevorzugt werden,aber „die geschlechtsspezifischen Ausbildungsentscheidungen junger Frauensind nicht nur auf mögliche Barrieren zurückzuführen, die den Zugang zumännlich konnotierten Ausbildungsgängen erschweren können. DieEntscheidungen sind ganz wesentlich durch die Berufswünsche der jungenFrauen selbst bestimmt.“ (ebd., S.20) Wie solche geschlechtsrollenkonforme
Wünsche und dementsprechendes Verhalten entstehen, verfestigt und immer wieder reproduziert werden, soll im nächsten Kapitel näher untersucht werden.
Im Zuge der zweiten Frauenbewegung seit den 60er Jahren des 20. Jahrhundertshat sich eine interdisziplinäre Fülle von Theorien und Ansätzen im Bereich derGeschlechterforschung entwickelt, die, wie eingangs erwähnt, nach wie vorkontrovers diskutiert werden. Das Geschlechterverhältnis als Gegenstandsozialwissenschaftlicher Forschung und Lehre legt den Fokus auf (vermeintliche oder tatsächliche, ebenfalls jeweils kontrovers diskutiert)) Geschlechterdifferenzen und -differenzierungen und die sich daraus als Konsequenzen ergebenden sozialen Ungleichheitsstrukturen im gesellschaftlichen System.
Für die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wird dieArbeitsteilung, und damit einhergehend horizontale und vertikaleSegmentierung der Arbeitssphären hauptverantwortlich gemacht. Dieentgeltliche Erwerbsarbeit gilt als männlich dominierte, die unentgeltliche Haus-und Familienarbeit als weiblich dominierte Sphäre. Die geschlechtsspezifischeArbeitsteilung betrifft aber nicht nur den Privatbereich, sondern spiegelt sich inder horizontalen und vertikalen Segmentation des Arbeitsmarktes. DieBerufsbilder unterscheiden sich in typische Männer- und Frauenberufe, auchwenn die Anzahl der sogenannten neutralen Berufe im Steigen begriffen ist. DieVerteilung von Frauen und Männern in diesen Berufen ist keineswegs in ersterLinie eine Frage des geschlechtstypischen Berufswahlverhaltens oder derpersönlichen Berufsorientierung sondern die Geschlechterrollenbilder werden inden Berufsbildern reflektiert und die Individuen verhalten sich entsprechend.Diese Zusammenhänge aufzudecken ist eine maßgebliche Aufgabe derGeschlechterforschung und -theorie.
Hildegard Maria Nickel unterscheidet drei maßgebliche Forschungszugänge:
1. Die mikroanalytische Ebene des „doing gender“, die die aktive Beteiligungder Individuen an Herstellungsprozessen von Geschlecht in verschiedenstenInteraktionen in den Mittelpunkt rückt. „Dieser Forschungszugang ist wichtig,weil damit gezeigt werden kann, dass es keine vollständige, deterministische
Zuschreibung von Geschlechtsidentitäten durch gesellschaftliche Rollen und Normen gibt. Im Gegenteil, es besteht immer eine Spannung zwischen normativ bestimmten Handlungserwartungen, die sich durch strukturelle Kontexte ergeben einerseits und dem flexiblen Veränderungsdruck und Gestaltungswillen durch die handelnden andererseits.“ (Nickel, 2000, S. 134)
2. Die Analyse des sogenannten gender system, in welchem Geschlecht alsStrukturkategorie betrachtet wird und die dieser Kategorie zugrunde liegendenBedingungen sozialer Formung von Geschlechterhandeln. „Hierbei rücken diegesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen für Geschlechterpraxen in denMittelpunkt, Strukturen, die mit bestimmten Anforderungen an die Geschlechterverbunden sind. Es geht um historische, sozial-kulturell variierendeGeschlechterordnungen, die Frauen und Männern über das System dergesellschaftlichen Arbeitsteilung soziale Positionen, Ressourcen undTätigkeitsbereiche zuweisen.“ (ebd., S. 134f.)
3. Die sozio-kulturelle Konstruktion von Geschlecht als symbolische Ebene vonGeschlechtsunterschieden; auf dieser Analyseebene geht es nun um dieKonstruktion bzw. Dekonstruktion der Geschlechterinszenierungen.„Geschlechtergrenzen sind zunehmend fließend und veränderbar und werdenüber verbale und nonverbale Kommunikation, über Gruppenstile, Moden,Schönheitsideale, aber auch über bestimmte Situationen und Handlungskontexte`dargestellt` und normativ `erneuert` oder durchbrochen. Dabei sindentsprechende Verhaltensregeln und Codes nicht immer explizit formuliert,sondern sie sind kontextualisierte, vorreflexive Orientierungen. Sie wirken alsimplizite Handlungsregeln im Alltag und in Interaktionen zwischengeschlechtlichen Individuen.“ (ebd., S. 135)
Im Zusammenhang mit der dieser Arbeit zugrunde liegenden Fragestellung sollen im Folgenden Sozialisationstheorien bezüglich des Geschlechts sowie der Ansatz des „doing gender“ näher beleuchtet werden.
Soll der Begriff der „Sozialisation“ definiert werden, so konstatieren Lehrbücherbeispielsweise „Heute ist Sozialisation als ein Prozess der Entstehung undEntwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit zwischenIndividuum und der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellenUmwelt zu verstehen, …“ (Raithel et.al., 2009, S.60) oder „Sozialisation ist einProzess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen derbiophysischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen undphysischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs- , Bewertungs- undHandlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebeneentstehen.“ (Hurrelmann et. al., 2008, S.25) Betont wird also gemeinhin, dasssich Individuum und Umwelt wechselseitig beeinflussen und formen, also keinerSeite eine allein aktive oder passive Rolle beigemessen wird.
Um nun die Kategorie „Geschlecht“ in den Sozialisationsprozess einzuordnen,muss mitgedacht werden, dass in diesem Prozess für das Individuum dieEntwicklung einer einzigartigen Identität erfolgt, in der Geschlecht ein zentralesMoment darstellt. Allerdings sind nicht natürliche Grundlagen für einenunterschiedlichen Sozialisationsverlauf von Frauen und Männernverantwortlich, sondern umgekehrt ist Geschlechtszugehörigkeit eineIdentitätsdimension, die im Prozess angeeignet wird. (vgl. Faulstich-Wieland,1995, S.86) Hier wird also bereits auf die soziale Konstruiertheit von Geschlecht,und nicht etwa auf biologisch begründete Anlagen, abgestellt. Weiter betont
Regine Gildemeister, dass die Geschlechterdifferenz
„Universalisierungswirkung hat. Die Kategorie `Geschlecht´ hat eine
Schlüsselfunktion, die über (und unter) allen anderen Mitgliedschaftskategorienliegt. Geschlechtskategorien werden im Prozess sozialisatorischer Interaktionerworben und gewinnen darin die Qualität `natürlicher Selbstverständlichkeit´-dies sagt aber nichts darüber aus, dass sie selbstverständlich natürlich sind.“(Gildemeister, 1988, S. 499) In dieser Interpretation kommen zwei Aussagenzutage: einerseits die Omnipräsenz, andererseits die Omnirelevanz der KategorieGeschlecht. Eine entscheidende Unterstützung finden diese Aussagen in demAspekt, dass in unserem kulturellen System unhinterfragt davon ausgegangenwird, dass zwei und nur zwei verschiedene Geschlechter existieren.
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