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Bachelorarbeit, 2017
90 Seiten, Note: 1,0
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Einordnung der Begrifflichkeiten
2.1 Behinderung
2.2 Selbstbestimmung
2.3 Rehabilitation und Teilhabe
3 Das Persönliche Budget
3.1 Eine begriffliche Annäherung
3.2 Konzeptionelle Grundlagen – Von der Sach- zur Geldleistung
3.3 Zur Entstehung der Leistungsform
3.3.1 Der Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe
3.3.2 Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels
3.3.3 Einführung und Entwicklung des Persönlichen Budgets in Deutschland
3.4 Sozialrechtliche Grundlagen
3.4.1 SGB IX und Budgetverordnung (BudgetV)
3.4.2 Leistungsberechtigte Personen
3.4.3 Budgetfähige Leistungen und Leistungsträger
3.4.4 Das Persönliche Budget als Komplexleistung
3.4.5 Bewilligungsverfahren
4 Aktueller Forschungsstand
5 Die Nutzer*innenforschung
5.1 Perspektiven der Forschung – Nutzen und Nutzung
5.2 Kontextualisierung der Nutzer*innenforschung
6 Forschungsdesign
6.1 Erhebungsmethode: Das problemzentrierte Interview
6.2 Entwicklung des Leitfadens und Kategorienbildung – Relevanzkontexte des Persönlichen Budgets
6.3 Feldzugang
6.4 Durchführung
6.5 Auswertungsmethode: Die qualitative Inhaltsanalyse
7 Empirie: Ergebnisse der Studie und Diskussion
7.1 Nutzenstrukturierende Bedingungen auf der Ebene des subjektiven Relevanzkontextes
7.2 Nutzenstrukturierende Bedingungen auf der Ebene des institutionellen Relevanzkontextes
7.3 Nutzenstrukturierende Bedingungen auf der Makroebene
7.4 Zusammenfassung
8 Handlungsempfehlungen
9 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang A Interviewleitfaden
Anhang B auf der beiliegenden CD-ROM
Anhang B.1 Transkriptionsregeln
Anhang B.2 Transkript 1: Andi
Anhang B.3 Transkript 2: Herr Müller
Anhang B.4 Transkript 3: Jan
Anhang B.5 Transkript 4: Gianna
Anhang B.6 Kodierleitfaden
Anhang B.7 Häufigkeit der Codierungen pro Kategorie
Anhang B.8 Textstellenkodierung
Abbildung 1: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF
Abbildung 2: Leistungsbeziehungen nach dem Sachleistungsprinzip
Abbildung 3: Leistungsbeziehungen im Rahmen eines Persönlichen Budgets
Abbildung 4: Beispiel für eine Komplexleistung "Trägerübergreifendes Persönliches Budget"
Abbildung 5: Koordination und Kooperation beteiligter Leistungsträger bei der Ausführung eines (trägerübergreifenden) Persönlichen Budgets nach § 17 SGB IX und BudgetV.
Abbildung 6: Ebenen des subjektiven Relevanzkontextes
Abbildung 7: Ebenen des institutionellen Relevanzkontextes
Abbildung 8: Nutzen in Abhängigkeit des subjektiven und institutionellen Relevanzkontextes
Tabelle 1: Sampling
Tabelle 2: Beispiel des Kodierleitfadens
Tabelle 3: Zusammenfassung der Erkenntnisse Im Anhang des Dokuments:
Tabelle 1a: Interviewleitfaden
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Seit dem 1. Januar 2008 besteht in Deutschland ein Rechtsanspruch auf das Persönliche Budget[1]. Durch das Persönliche Budget soll es Menschen mit Behinderung ermöglicht werden, Leistungen zur Teilhabe selbstbestimmt einzukaufen, indem sie statt der bisher gebräuchlichen Sach- und Dienstleistungen einen Geldbetrag zur Deckung ihres Hilfebedarfs erhalten (vgl. BMAS 2014, S. 7). Die Nutzer*innen nehmen die Position der Arbeitgeber*innen ein und können als Expert*innen in eigener Sache selbst entscheiden, welche Leistungen sie wann, wo und von wem erhalten möchten. Die so gegebene Wahlfreiheit fördert die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung (vgl. ebd.).
Mit der Einführung des neunten Sozialgesetzbuches – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), in welchem das Persönliche Budget geregelt ist, wurde die rechtliche Grundlage für einen Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe geschaffen (vgl. Krüger 2014, S. 82). Im Rahmen des Paradigmenwechsels soll das defizitgeprägte Verständnis von Behinderung einem sozialen, ganzheitlichen Verständnis weichen (vgl. dazu z.B. Meyer 2011; Wacker, Wansing & Schäfers 2009). Im Zentrum steht dabei die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Diese Thematik ist seit Jahren präsent und findet sich aktuell in dem am 01.01.2017 in Kraft getretenem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) wieder (vgl. BMAS 2017, S. 2). Das Persönliche Budget wird als Ausdruck sowie als Resultat des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe angesehen (vgl. Meyer 2011, S. 45). Ausgehend davon greift das folgende Forschungsvorhaben die verstärkte Betrachtung der Nutzer*innenperspektive im Rahmen der Selbstbestimmung auf. Den Nutzer*innen wird die Definitionsmacht über den Nutzen der Leistungsform, die sie in Anspruch nehmen, zuteil.
Bisherige Forschungsprojekte zum Persönlichen Budget betrachten in erster Linie Probleme bei der Durchführung sowie Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets mit dem Ziel, dieses zu verbessern, um mehr Nutzer*innen für die Leistungsform zu gewinnen (vgl. z.B. Metzler et al. 2007; BMAS 2012; Kampmeier, Kraehmer & Schmidt 2014). Weiterhin liegt der Fokus auf einer Betrachtung des Persönlichen Budgets unter umsetzungsrelevanten Gesichtspunkten hinsichtlich sozialrechtlicher sowie sozialpolitischer Überlegungen (vgl. Meyer 2011, S. 18). Der Nutzen speziell aus der Perspektive derjenigen, welche die Leistung in Anspruch nehmen, wurde dabei bisher nicht erforscht.
An diesem Punkt setzt die vorliegende Forschungsarbeit an. Indem der Gebrauchswert der Leistung für die eigene Lebenssituation aus der Perspektive der Nutzer*innen erschlossen wird, soll die gegebene Forschungslücke geschlossen werden. Der Nutzen ist höchst subjektiv, jedoch in gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen eingebunden (vgl. Schaarschuch & Oelerich 2005, S. 19f.). Um entsprechend den subjektiven Nutzen sowie die Bedingungen, die diesen strukturieren, bestimmen zu können, wird im Rahmen dieser Forschungsarbeit die Nutzer*innenforschung angewandt. Dieser Forschungsansatz betrachtet die Nutzer*innen als Expert*innen, denen alleine die Zuständigkeit und die Definitionsmacht über den Nutzen der Leistungsform in Bezug auf ihre Lebenssituation zugesprochen wird (vgl. van Rießen & Herzog 2017, S. 131; van Rießen 2016, S. 85). Die Anwendung der Nutzer*innenforschung auf das Persönliche Budget kann einen neuen Bereich für diesen Forschungsansatz erschließen, da die Nutzer*innenforschung bisher größtenteils auf die klassischen Felder im Dienstleistungskontext angewandt wurde (vgl. van Rießen 2016, S. 82). Die zu beantwortende Forschungsfrage, die sich aufgrund der gegebenen Forschungslücke ergibt und die dieser Arbeit zu Grunde liegt, lautet: - Welche Bedingungen fördern und/oder limitieren den Nutzen der Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets?
Die Ergebnisse der Forschung sollen dazu beitragen, den Nutzen der Leistungsform für die Inanspruchnehmenden möglichst maximieren zu können. Zur Beantwortung der Forschungsfrage gliedert sich die Arbeit in acht Abschnitte.
Im ersten Abschnitt der Arbeit werden die relevanten Begrifflichkeiten, die mit dem Persönlichen Budget in Verbindung stehen und die dem folgenden Leseverständnis dienen, eingeordnet (Kapitel 2). Es folgt im zweiten Abschnitt eine Betrachtung der neuen Form der Leistungsgewährung – des Persönlichen Budgets. Dies geschieht angesichts einer begrifflichen Annäherung, der Betrachtung des Budgets im Kontext des Paradigmenwechsels, sowie der Einführung und Entwicklung des Persönlichen Budgets. Das Aufzeigen der rechtlichen Grundlagen schließt den Abschnitt ab (Kapitel 3). Nachdem der Kenntnisstand über das Persönliche Budget gegeben ist, wird im dritten Abschnitt der Arbeit der aktuelle Forschungsstand betrachtet (Kapitel 4) und anschließend im vierten Abschnitt die Nutzer*innenforschung erklärt sowie hinsichtlich des Persönlichen Budgets in einen Kontext gebracht (Kapitel 5). Im nächsten Abschnitt wird das gewählte Forschungsdesign dargestellt (Kapitel 6), woraufhin der empirische Teil der Arbeit folgt, in welchem die Ergebnisse dargestellt und interpretiert werden (Kapitel 7). Anhand der Ergebnisse werden im darauffolgenden Abschnitt Handlungsempfehlungen für die Soziale Arbeit getroffen, um die erarbeiteten, nutzenlimitierenden Bedingungen möglichst durch Verbesserungen zu minimieren (Kapitel 8). Die Arbeit schließt mit einem Fazit sowie einem Ausblick.
Für die Forschungsarbeit ist ein einheitliches Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten erforderlich. Daher werden in den folgenden Unterkapiteln die Begriffe Behinderung, Selbstbestimmung sowie Rehabilitation und Teilhabe eingeordnet.
Im deutschen Sprachraum setzte sich bereits im 20. Jahrhundert „Behinderung“ als Begrifflichkeit durch (vgl. Mürner & Sierck 2012, S. 9), bis heute liegt jedoch keine allgemein anerkannte Definition von Behinderung vor, obwohl der Begriff sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der Wissenschaft etabliert ist (vgl. Dederich 2016a, S. 107).
Ursache dieser Begriffsunschärfe ist zum einen, dass sich die Definition, abhängig von der jeweiligen Profession, unterscheidet. So existieren in den Bereichen Medizin, Pädagogik, Soziologie und Psychologie verschiedene Definitionen. Je nach Kontext hat der Begriff unterschiedliche Funktionen (vgl. Dederich 2016a, S. 107). Die verschiedenen Definitionen spiegeln nach Mühlum & Gödecker-Geenen (vgl. 2003, S. 15) die unterschiedlichen Sichtweisen (Fachdisziplinen), die Zweckbestimmungen (Rechtswirkungen) sowie die Lebensumstände der jeweiligen Person wider. Zum anderen unterliegt der Begriff in seiner inhaltlichen Bedeutung einem steten Wandel (vgl. Mürner & Sierck 2012, S.11).
So bedeutete Behinderung für die bezeichneten Personen über Jahrzehnte hinweg Ausgrenzung, Missachtung und eine Nicht-Gewährung der persönlichen Rechte (vgl. Mürner & Sierck 2012, S. 10). Ein Umdenken bzgl. des Verständnisses von Behinderung und die entsprechend veränderten Umgangsweisen mit Menschen mit Behinderung spiegeln sozialhistorische Prozesse wider (vgl. ebd.).
Dieser Veränderungsprozess zeigt sich auch in der gesetzlichen Definition von Behinderung. Bis 2001 formulierte sich der Behinderungsbegriff im Schwerbehindertengesetz (SchwbG) wie folgt:
„Behinderung im Sinne dieses Gesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als 6 Monaten. Bei mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Funktionsbeeinträchtigungen ist deren Gesamtauswirkung maßgeblich.“ (§3, Abs. 1, SchwbG)
Diese Formulierung wurde im Jahr 2001 durch die Einführung des SGB IX abgelöst. Seitdem haben Menschen gemäß §2 SGB IX eine Behinderung, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ (§2, Abs.1, Satz 1, SGB IX).
Die Veränderungen in der Formulierung lassen erkennen, dass der Begriff der Teilhabe in den Vordergrund rückt und defizitgeprägte Begrifflichkeiten wie der der „Regelwidrigkeit“ keine Berücksichtigung mehr finden. Das SGB IX folgt damit der Auffassung des Behinderungsbegriffs der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization - WHO), der in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health - ICF) formuliert wird (vgl. Meyer 2011, S. 58).
Generell sind die Klassifikationen der WHO von größter Bedeutung für die Arbeit von und mit Menschen mit Behinderung (vgl. Mühlum & Gödecker-Geenen 2003, S. 15). Bereits im Jahr 1980 erschien die International Classification of Impairment, Disability and Handicap (ICIDH). Diese erste Fassung kann als Fortschritt gegenüber den vorangegangenen statischen und defizitorientierten Definitionen gedeutet werden (vgl. Mühlum & Gödecker-Geenen 2003, S. 16). Durch die überarbeitete Fassung, die ICF, vollzieht das Begriffsverständnis einen endgültigen Wandel, weg von einer defizitären und hin zu einer Aktivitäts- und Partizipationsorientierung (vgl. Mühlum & Gödecker-Geenen 2003, S. 16; Gerdes & Weis 2000, S. 47).
Theunissen (vgl. 2002, S. 366) bezeichnet die Klassifikation als richtungsweisend für die Behindertenarbeit. So rückt die neue ICF soziale und gesellschaftliche Aspekte in den Fokus und betrachtet das Individuum als „Mitgestalter seiner Situation“ (Dederich 2016a, S. 108). In der Klassifikation wird das Verständnis von Behinderung nicht mehr ausschließlich auf die medizinische Sicht begrenzt, sondern durch die Aspekte der „Aktivität, Teilhabe und Kontextfaktoren“ (Meyer 2011, S. 56) erweitert. Behinderung ist entsprechend immer in Abhängigkeit zu der erschwerten Lebenssituation und eingeschränkten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, welche sich aufgrund der Beeinträchtigung ergeben, zu interpretieren (vgl. ebd., S. 54). Die ICF geht davon aus, dass die Ausprägung von Behinderung ebenfalls von sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen abhängt und sich Behinderung durch komplexe, sich wechselseitig bedingende Faktoren manifestiert (vgl. Meyer 2011, S. 54). Die ICF legt nahe, Behinderung als eine situationsbedingte Einschränkung der Funktionsfähigkeit zu verstehen (vgl. ebd., S. 55). Das Verständnis von Behinderung in der ICF wird von der Funktionsfähigkeit bzw. durch die Vorstellung einer funktionalen Gesundheit charakterisiert. Behinderung ist folglich jede Form der Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit (vgl. ebd.).
Zum Verständnis des Behinderungsbegriffes nach der ICF ist somit eine Klärung des Begriffes der Funktionsfähigkeit unerlässlich. Gemäß der WHO (2005) beinhaltet die Funktionsfähigkeit eines Menschen alle Aspekte der funktionalen Gesundheit.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 : Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF (Eigene Bearbeitung nach WHO 2005, S. 23)
„Eine Person ist funktional gesund, wenn – vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren –
1. ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen),
2. sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsprobleme (ICD[2] ) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten),
3. sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktion oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation [Teilhabe][3] an Lebensbereichen).“ (WHO 2005, S. 4)
Die vierte implizite Ebene des Modells, die „Kontextfaktoren“, beinhaltet zum einen die Umweltfaktoren, welche die physikalische sowie die soziale Umwelt umfassen, sowie die personenbezogenen Faktoren wie Alter, Herkunft, Geschlecht etc.
Diese vier Ebenen stehen in Wechselwirkung zueinander und bedingen die Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit (vgl. Meyer 2011, S. 57).
Behinderung, im Sinne der Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit, beinhaltet entsprechend Einschränkungen von Aktivität und Partizipation (Teilhabe) ebenso wie Einschränkungen der Körperfunktion und -strukturen. Die Wechselwirkung zwischen Gesundheitsproblemen und Kontextfaktoren bildet wiederum den Hintergrund der Beeinträchtigung (vgl. Meyer 2011, S. 57).
Im Folgenden wird der Begriff der Selbstbestimmung eingeordnet, welcher in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Stellung einnimmt.
Der Begriff Selbstbestimmung wird im Lexikon Brockhaus als „die Möglichkeit und Fähigkeit des Individuums, der Gesellschaft oder des Staates, frei dem eigenen Willen gemäß zu handeln […]“ (Brockhaus 1998, S. 21) definiert. Zentrale Aspekte dieser Definition sind die „Möglichkeit“ und die „Fähigkeit“.
Die Fähigkeit des Individuums zur Selbstbestimmung bezieht sich nach Schallenkammer (vgl. 2016, S. 33) auf ein selbstwirksames Entscheiden für oder gegen etwas bzgl. der eigenen Lebensgestaltung. So versteht auch Nirje (1996, S. 40, zit. n. Schallenkammer 2016, S. 34) Selbstbestimmung als „Macht über sich selbst“.
Die Lebensgestaltung jedes Individuums findet jedoch auch stets unter fremdbestimmten Bedingungen statt (vgl. Speck 2007, S. 301 ff.). Menschen werden auf unterschiedlichste Weise fremdbestimmt, durch „ihre Erziehung, kulturelle Prägungen, gesellschaftliche, politische und ökonomische Realitäten, unbewusste Strebungen und Affekte oder entwicklungs- oder krankheitsbedingte Abhängigkeitsverhältnisse“ (Dederich 2016b, S. 170). Ein Leben lang von fremder Hilfe abhängig zu sein, ist jedoch nicht mit Fremdbestimmung gleichzusetzen, selbstbestimmt zu leben bedeutet nicht, dass man ohne fremde Hilfe leben muss (vgl. Schallenkammer 2016, S. 39). Entsprechend kann allein durch die Befähigung zur Selbstbestimmung noch nicht auf die im Leben eines Menschen verwirklichte Selbstbestimmung geschlossen werden. Dieser Aspekt rückt bei der Betrachtung von Selbstbestimmung als Möglichkeit in den Fokus. Hier werden die äußeren Bedingungen also entsprechend die Möglichkeitsräume des Menschen bzgl. der Auswahl und Gestaltung seiner Lebensbedingungen für die Selbstbestimmung relevant (vgl. Schallenkammer 2016, S. 33).
Der Mensch ist stets mit konkreten sozialen Situationen verflochten, die der Selbstbestimmungsfähigkeit klare Grenzen setzen (vgl. Dederich 2016b, S. 170). So lässt sich Selbstbestimmung nur unter bestimmten Rahmenbedingungen verwirklichen und ist nie ganz losgelöst von gesellschaftlichen Hintergründen zu betrachten (vgl. Waldschmidt 2012, S. 17).
Die Grundlagen des Persönlichen Budgets sind im SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – geregelt. Um eine konkrete Einordnung sowie ein einheitliches Verständnis der Begrifflichkeiten zu erlangen, werden im Folgenden die Begriffe „Rehabilitation“ und „Teilhabe“ bestimmt.
Rehabilitation (lat. rehabilitare) bedeutet in seiner ursprünglichen Form, jemanden wieder einzugliedern und ihn auf seinen ursprünglichen Stand sowie in die jeweilige Situation zurückzuversetzen (vgl. Morfeld 2016, S. 163).
Baudisch (2004) hält als Eingangsverständigung über den Rehabilitationsbegriff fest: „Rehabilitation meint den komplexen Prozess (alle relevanten Maßnahmen und Hilfen) der Eingliederung und Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen in die Gesellschaft, in Beruf und in Arbeit“ (Baudisch 2004, S. 9 f.).
Die WHO (1981) bezieht darüber hinaus in ihrer Definition auch die gesellschaftlichen- und die Umweltfaktoren ein:
„Rehabilitation includes all measures aimed at reducing the impact of disabling and handicapping conditions, and at enabling the disabled and handicapped to achieve social integration. Rehabilitation aims not only at training disabled and handicapped persons to adapt to their environment and society as a whole in order to facilitate their social integration. The disabled and handicapped themselves, their families and the communities they live in should be involved in the planning and implementation of services related to rehabilitation.“ (WHO 1981, S. 9)
Entsprechend umfasst Rehabilitation sowohl alle Maßnahmen, die darauf abzielen, negative Auswirkungen behindernder Faktoren abzuschwächen, als auch alle Maßnahmen, die Menschen mit Behinderung zu sozialer Integration befähigen. Dabei zielt Rehabilitation, um Menschen mit Behinderung die soziale Integration zu erleichtern, nicht ausschließlich auf die Befähigung dieser, sich an die Umwelt sowie die Gesellschaft als Ganzes anzupassen. Vielmehr sollten Menschen mit Behinderung ebenso wie ihre Familien und das gesellschaftliche Umfeld in die Planung und Realisierung der Rehabilitationsangebote einbezogen werden.
Ziel der Rehabilitationsleistungen ist eine möglichst weitgehende Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft (vgl. BMAS 2016, S. 42). Entsprechend wird nachfolgend der Begriff der Teilhabe genauer betrachtet. Die Begrifflichkeiten Teilhabe und Partizipation werden aufgrund der Übersetzung aus dem Englischen sowohl von der WHO als auch von anderen verwendeten Literaturquellen in dieser Arbeit gleichgesetzt. Um einer einheitlichen Verwendung gerecht zu werden, wird nachfolgend zwischen den beiden Begriffen nicht differenziert.
Teilhabe kommt in Bezug auf den Behinderungsbegriff, wie in den Ausführungen der ICF sowie in der gesetzlichen Fokussierung des SGB IX auf den Aspekt der Teilhabe erkennbar, eine zentrale Bedeutung zu. Neben der Beeinträchtigung von Körperstrukturen und -funktionen spielen die Einschränkungen der Teilhabe hinsichtlich der wesentlichen Lebensbereiche der Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung oder dem sozialen Leben eine ausschlaggebende Rolle bei der Manifestation der Behinderung (vgl. Metzler et al. 2007, S. 25). Teilhabe ist im SGB IX sowohl zum Schlüsselbegriff als auch zur Zielvorgabe geworden (vgl. Fink 2011, S. 19).
Teilhabe bedeutet, beim Zusammenleben aller Bürger*innen mitbestimmen, mitmachen und mitgestalten zu können, auch wenn ein Mensch mit Behinderung viel Hilfe benötigt. Jeder Mensch hat das Recht, unabhängig von der Schwere seiner Behinderung, mittendrin in der Gesellschaft zu leben (vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. 2005, S. 9).
Die WHO (vgl. 2005, S. 16) definiert den Begriff der Teilhabe als Einbezogen sein in eine Lebenssituation. Teilhabe ist nach dem BMAS dann erreicht, wenn der Mensch mit Behinderung vollständig in das Leben der Gemeinschaft eingegliedert ist (vgl. BMAS 2009, o.S.). Somit lässt sich sagen, dass Rehabilitation und Teilhabe ein einheitlicher Prozess ist. Wenn die einzelnen Bereiche nahtlos ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen, führen sie laut dem BMAS (vgl. 2009, o.S.) zu dem besten Ergebnis.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage ist zunächst die Leistungsform des Persönlichen Budgets in ihrer Ganzheitlichkeit vorzustellen, um den Leser*innen grundlegende Kenntnisse über die neue Form der Leistungsgestaltung zu vermitteln.
Bei dem Persönlichen Budget handelt es sich um eine Geldleistung, mit der Menschen mit Behinderung, die diese in Anspruch nehmen, selbstbestimmt Leistungen einkaufen können. Damit stellt es eine alternative Wahlleistung zu den bisher im Regelfall angewandten Sach- und Dienstleistungen dar. Mit dem zur Verfügung gestellten Geld bezahlen sie „eigenverantwortlich, selbstständig und selbstbestimmt“ (BMAS 2014, S. 7) die Leistungen für ihren individuellen Hilfebedarf.
Auf diese Weise kommt Menschen mit Behinderung anstelle der klassischen, eher passiven Rolle als Hilfeempfänger*in im Objektstatus eine aktive Rolle zu, in welcher der Leistungsprozess mitgestaltet werden kann (vgl. Schäfers, Wacker & Wansing 2009, S. 26 f.). Die Budgetnehmer*innen sind Expert*innen in eigener Sache. Das bedeutet konkret, sie selbst können am besten entscheiden, welche Hilfen von wem, zu welchem Zeitpunkt, für sie die beste Wahl sind. Das so gegebene Wahl- und Wunschrecht fördert die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung, was entsprechend das Ziel der neuen Form der Leistungsausführung umfasst (vgl. BMAS 2014, S. 7).
Die übergeordneten Ziele des Persönlichen Budgets lassen sich wie folgt zusammenfassen. Anstelle von standardisierten Leistungen im Rahmen der wohlfahrtstaatlichen Fürsorge soll das Persönliche Budget
- „die Subjektstellung des Einzelnen fördern,
- eine selbstbestimmte Lebensführung und
- die Eigenverantwortlichkeit für die Bewältigung von Lebenslagen unterstützen,
- Risiken der Ausgrenzung mindern oder beseitigen und
- die umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben der Gesellschaft verwirklichen“ (Metzler et al. 2007, S. 25).
Weiterhin wird erwartet, dass „der eigenverantwortliche Einsatz der Ressourcen durch die Leistungsberechtigten selbst
- den Wettbewerb im Bereich der Sozialen Dienste erhöht und einen nachfrageorientierten Angebotswandel zugunsten ambulanter Leistungen unterstützt,
- persönliche Ressourcen der Leistungsberechtigten und informelle Unterstützungssysteme (wieder-)belebt und stärkt sowie
- die Qualität und Passgenauigkeit sozialer Leistungen durch Partizipation steigert“ (ebd., S. 26).
Zur genaueren Beschreibung der Kernelemente der Begrifflichkeit werden die Begriffe „persönlich“ und „Budget“ nachfolgend einzeln und differenziert im Hinblick auf die Wahlleistung betrachtet.
Nach Meyer (vgl. 2011, S. 31 f.) verweist der Begriff persönlich auf den individuellen persönlichen Bedarf, welcher durch die Nutzung des Budgets gedeckt werden soll. Persönlich ist das Budget insbesondere dadurch, dass es sich auf den persönlichen „Hilfe- und Unterstützungsbedarf“ (ebd., S. 31) bezieht. Zudem verweist Meyer (vgl. 2011, S. 32) darauf, dass der Begriff „persönlich“ auch auf andere Weise verstanden werden kann. Dieses Verständnis ist hinsichtlich des Forschungsvorhabens besonders relevant für die vorliegende Arbeit.
„Das Persönliche Budget ist insofern „persönlich“, weil es einer bestimmten Person bewilligt wurde und im Kontext der Lebenssituation dieser Person einen spezifischen Nutzen erfüllt. Es handelt sich also immer auch um einen „persönlichen“ Geldbetrag, der einer Person – und nur dieser Peron – aufgrund leistungsrechtlicher Ansprüche zur Verfügung gestellt wird und über den diese Person im Kontext ihrer „persönlichen“ Lebenssituation verfügen darf.“ (Meyer 2011, S. 32)
Das Budget wird entsprechend persönlich, indem es die persönliche, individuelle Lebenssituation sowie die Erwartungen der jeweiligen Person mit einbezieht. Der Inhalt sowie die Verwendung für einen persönlichen Bedarf unterliegen entsprechend dem jeweiligen persönlichen Nutzen (vgl. ebd.).
Der Begriff „Budget“ weist ebenfalls zwei Deutungsebenen auf. Zum einen handelt es sich bei dem Budget um einen Geldbetrag. Die Unterstützung, welche die jeweilige Person benötigt, kann entsprechend aus diesem Geldbetrag bezahlt werden und ermöglicht es den Budgetnehmer*innen auf diese Weise, ihren Bedarf und die damit verbundenen Ausgaben zu planen (vgl. Meyer 2011, S. 31 f.). Diese Planung ist nur möglich, wenn der zur Verfügung stehende Geldbetrag hinsichtlich seiner Höhe und Regelmäßigkeit bzgl. des Auszahlungszeitpunktes gleichbleibend und entsprechend erwartbar ist (vgl. Kastl & Metzler 2005, S. 13).
Zudem beinhaltet der Begriff „Budget“, dass Menschen ihre Leistungen eigenverantwortlich finanzieren. Durch das Persönliche Budget können die Menschen „mehr oder weniger frei“ (ebd.) über den Geldbetrag verfügen. Ihnen werden Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume ermöglicht, wodurch der Aspekt der Selbstbestimmung vermehrt in den Fokus rückt.
„Mit den Geldleistungen können Menschen mit Behinderungen bedarfsgerecht und wunschgemäß Unterstützung bei professionellen Dienstleistern erwerben, nach dem Arbeitgebermodell Persönliche Assistenten einstellen oder Hilfen privat organisieren. Dabei werden wesentliche sachliche, soziale und zeitliche Entscheidungsspielräume geschaffen, welche zu einer individualisierten Lebensführung beitragen und dem Budgetnehmer mehr Kontrolle über das eigene Leben ermöglichen.“ (Wacker, Wansing & Schäfers 2009, S. 31)
Sachliche Entscheidungsspielräume beziehen sich hierbei auf das „Was“ und das „Wie“ der Leistungserbringung, welche es den Budgetnehmer*innen ermöglicht, auf den Inhalt der Leistungen und auf die Art der Ausführung Einfluss zu nehmen (vgl. Meyer 2011, S. 38). Der soziale Entscheidungsspielraum bezieht sich auf die Auswahl der Leistungsanbieter*innen, also entsprechend das „Wer“. Der zeitliche Entscheidungsspielraum schließlich umfasst das „Wann“ und „Wie oft“ und ermöglicht es den Budgetnehmer*innen, den Zeitpunkt der Leistungserbringung selbst wählen zu können (vgl. Kastl & Metzler 2005, S. 14).
Als letztes Charakteristikum der Grundidee des Persönlichen Budgets ist zu erwähnen, dass das Persönliche Budget nicht als neue Leistungskategorie, sondern als eine neue Form der Leistungsausführung zu verstehen ist (vgl. Meyer 2011, S. 38). Das Leistungsrechtliche Dreieck wird reduziert und aus einer dreiseitigen Beziehung, wie es im Sachleistungsbezug der Fall ist, werden zwei zweiseitige Beziehungen. Dieses neue System wird im folgenden Abschnitt (siehe Kapitel 3.2) der Arbeit genauer betrachtet.
Die Implikationen der ausgeführten Definitionen und die damit einhergehende Grundidee des Persönlichen Budgets lassen sich nach Kastl & Metzler (2005) in wenigen Worten zusammenfassen:
„Menschen mit Behinderung erhalten einen bedarfsbezogenen Geldbetrag, mit dem sie selbst die für sie erforderlichen Unterstützungsleistungen auswählen und diese finanzieren. Intendiert ist mit diesem Ansatz, Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume für ihr Alltagsleben auszuweiten sowie ihre sozialen Teilhabechancen zu erhöhen.“ (Kastl & Metzler 2005, S. 13)
Jener Aspekt der benannten Grundidee des Persönlichen Budgets, das Konzept der Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks zur Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, wird im Folgenden dargestellt und erläutert.
Die neue Form der Leistung, Geldleistung statt Sachleistung, stellt die Beziehungen im Rehabilitationssystem auf eine ganz neue Basis, indem es die Kräfteverhältnisse verlagert. Es setzt nicht, wie bisherige Finanzierungsformen, an der Erbringer*innenseite von Leistungen an, sondern steuert die relevanten Ressourcen (Geldressourcen ebenso wie Zuständigkeiten und Macht) radikal zu Gunsten der Nutzer*innen um (vgl. Metzler et al. 2007, S. 27). Um diese Veränderung zu veranschaulichen, wird zunächst das klassische Sachleistungsprinzip dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Leistungsbeziehungen nach dem Sachleistungsprinzip (Eigene Bearbeitung nach Metzler et al. 2007, S. 27)
Wie aus Abbildung 2 ersichtlich wird, erfolgt im klassischen Sachleistungsprinzip sowohl die Abwicklung der Kosten als auch die Vereinbarung über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung zwischen dem Leistungsträger und den Anbieter*innen der Leistung. Die Anbieter*innen führen die vereinbarten Leistungen aus, und die Nutzer*innen empfangen die Leistungen, welche für sie ausgehandelt wurden und auf welche sie Anspruch haben. Die Nutzer*innen werden in diesem Fall lediglich über die Leistung informiert und nehmen so eine passive Rolle der Adressat*innen und Empfänger*innen ein (vgl. Meyer 2011, S. 64).
Diese Vertragsbeziehung wird durch die neue Leistungsbeziehung im Persönlichen Budget aufgelöst oder zumindest geschwächt (vgl. Metzler et al. 2007, S. 27), wie in der folgenden Abbildung des Geldleistungsprinzips des Persönlichen Budgets verdeutlicht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Leistungsbeziehungen im Rahmen eines Persönlichen Budgets (Eigene Bearbeitung nach Metzler et al. 2007, S. 28)
Die Leistungsbeziehung im Rahmen des Persönlichen Budgets stellt, wie aus der Abbildung hervorgeht, die Nutzer*innen in den Mittelpunkt. Diese stehen sowohl selbst in Kontakt mit dem jeweiligen Leistungsträger als auch mit den Anbieter*innen. Sie verhandeln mit dem Leistungsträger über das Budget (Geldmittel) sowie die Zielvereinbarungen und gehen damit eine Vertragsbeziehung mit diesem ein. Der Kontakt zwischen dem Leistungsträger und den Leistungsanbieter*innen in ist aufgehoben.
Von dem Persönlichen Budget, welches die Nutzer*innen vom Leistungsträger erhalten, können sich diese ihre persönlichen Hilfen in Dienstleistungsform einkaufen und die Anbieter*innen direkt bezahlen. Die Nutzer*innen werden so zu Kunden und Kundinnen und können maßgeblich Einfluss auf die Leistungserbringung in ihrem Inhalt sowie ihrer Qualität nehmen. Die Budgetnehmer*innen werden aktiv in den Prozess der Leistungsgestaltung mit einbezogen und nicht mehr – wie im Sachleistungsprinzip – auf die Rolle der Empfänger*innen beschränkt (vgl. Metzler et al. 2007, S. 27). Dies entspricht sowohl der demokratischen Partizipation hinsichtlich der Verwirklichung bürgerlicher Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte, als auch „der Konsumentensouveränität über eine aktivere Rolle im sozialen ‚Dienstleistungsmarkt‘“ (Schäfers, Wacker & Wansing 2009, S. 27, H. i. O).
Im nachfolgenden Kapitel wird die Entstehung des Persönlichen Budgets aufgezeigt. Der Entstehungskontext geht unter anderem mit dem sogenannten Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe einher. Dieser wird zunächst dargestellt und anschließend mit dem Persönlichen Budget in einen kontextualen Zusammenhang gebracht. Es folgt ein Abschnitt über die Einführung und Entwicklung des Persönlichen Budgets, der sowohl die Gründe für die Einführung als auch den Verlauf insbesondere aus rechtlicher Perspektive aufzeigt.
Bereits seit einigen Jahren hat ein Umdenken im Umgang mit Menschen mit Behinderung stattgefunden und findet gegenwärtig noch immer statt. Umdenken meint in diesem Zusammenhang die Abkehr von einem defizitgeprägten Verständnis von Behinderung hin zu einem sozialen, ganzheitlichen Verständnis. Dieses Umdenken und die Entwicklungen in der Behindertenhilfe werden in der Fachsprache als Paradigmenwechsel oder auch Perspektivwechsel bezeichnet und unter diesem Begriff diskutiert (vgl. dazu z.B. Meyer 2011; Wacker, Wansing & Schäfers 2009).
Die rechtlichen Voraussetzungen dafür, dass sich ein grundlegender Wandel in der Behindertenpolitik in Deutschland vollziehen konnte und kann, bildet das SGB IX, das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG)[4] sowie das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)[5], wodurch nach Krüger (vgl. 2014, S. 82) ein bürgernahes Recht für Menschen mit Behinderung geschaffen wurde, in welchem der selbstbestimmte Mensch mit Behinderung mit individuellem Anspruch auf Rehabilitation und Teilhabe im Mittelpunkt steht.
Der Paradigmenwechsel und das daraus folgende veränderte Verständnis von Behinderung vollzieht sich noch immer und äußert sich ganz aktuell durch das Inkrafttreten des neuen Bundesteilhabegesetzes (BTHG) am 01.01.2017. Durch das BTHG soll die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickelt und die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Sinne von mehr Teilhabe und Selbstbestimmung verbessert werden (vgl. BMAS 2017, S. 2). Nach dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird durch die Verfolgung dieser Zielsetzung ein weiterer Meilenstein hin zu einer Inklusiven Gesellschaft gesetzt (vgl. ebd.). Das BTHG sieht vor, die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem des Sozialgesetzbuches zwölf (SGB XII – Sozialhilfe) herauszulösen und dieses als neuen zweiten Teil in das SGB IX einzugliedern (vgl. BAR 2017, S. 6). Die neuen Reformen treten seit dem 01.01.2017 schrittweise in Kraft und sollen mit der vierten Reformstufe 2023 abgeschlossen sein (vgl. ebd. S. 7).
Ein Teil des BTHG ist die Neufassung des Behinderungsbegriffs im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). So versteht sich die Entstehung von Behinderung ähnlich wie nach der ICF zukünftig auch im Gesetz als eine Wechselwirkung zwischen dem Menschen mit seiner Beeinträchtigung und den einstellungs- und umweltbedingten Barrieren (vgl. BMAS 2017, S. 7). Besonders hervorzuheben ist, dass die Erarbeitung des BTHG in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung sowie den Behinderungsverbänden stattgefunden hat. Dabei wurde der im Koalitionsvertrag niedergeschriebene Grundsatz „Nichts über uns – ohne uns“ berücksichtigt (vgl. ebd., S. 8).
Hinsichtlich des thematischen Verständnisses der Arbeit und der folgenden Einordnung in den Kontext des Persönlichen Budgets ist es sinnvoll, den Paradigmenwechsel auf drei Ebenen zu betrachten, auf welchen sich in Anlehnung an verschiedene Autoren (z.B. Kastl & Metzler 2005, S. 9; Loeken 2006, S. 30 f.) im Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe die Idee des Persönlichen Budgets verorten lässt (vgl. Meyer 2011, S. 46). Diese Ebenen sind:
- die normativ-ethische Ebene,
- die professionstheoretisch-fachliche Ebene
- und die sozialpolitische Ebene.
Der Paradigmenwechsel auf der normativ-ethischen Ebene vollzieht sich insbesondere hinsichtlich der Veränderung des Fürsorgeparadigmas hin zu einem Selbstbestimmungsparadigma (vgl. Meyer 2011, S. 51). Bedingt durch die defizitäre Sichtweise auf Menschen mit Behinderung, standen diese stets im Fokus der Fürsorge und Versorgung. Sie sollten sicher durchs Leben begleitet und möglichst vor allen Risiken, welche die moderne Lebensführung birgt, geschützt werden (vgl. ebd., S. 50). Entsprechend hat sich ein großes Versorgungsnetz an Unterstützungsleistungen etabliert, die auf eine perfekte „Rund um Versorgung“ (ebd.) ausgelegt sind und so die Perspektive der nachfragenden Personen völlig außer Acht lassen (vgl. ebd.).
Gegen die vorherrschende Versorgungsmentalität und gegen Bevormundung sowie Beschneidung der Selbstbestimmungsrechte werden auf dieser Ebene seit Jahren Forderungen an die Behindertenhilfe gestellt (vgl. Loeken 2006, S. 30 f.). Der Fürsorgecharakter ebenso wie das Prinzip der größtmöglichen Risikofreiheit wird hinterfragt. Nach Hansen (vgl. 2006, S. 22) sollte die Zielsetzung stattdessen sein, Risiken zu akzeptieren und einzugehen, um den Umgang mit ihnen zu lernen, da Risikoarmut die Persönlichkeitsentwicklung begrenzen kann.
Die Forderungen äußern sich durch verschiedene Zusammenschlüsse und Bewegungen (vgl. Meyer 2011, S. 46 f.). Prägend für die genannte Forderung war zum einen die „Independent Living“-Bewegung aus den USA, bestehend aus Menschen mit körperlicher Behinderung sowie Menschen mit Sinnesbeeinträchtigung, die gegen die Zustände der bestehenden Behindertenhilfe protestierten (vgl. ebd., S. 46). Das Streben nach mehr Selbstbestimmung und einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung, die auch die Organisation und Wahlfreiheit bzgl. der eigenen Unterstützungsleistungen beinhaltet, fordert u.a. ebenso die Bewegung „People first“, die von Menschen mit geistiger Behinderung organisiert wurde (vgl. Theunissen 2002, S. 364).
Anstelle einer Versorgungsstruktur, welche sich auf ein defizitgeprägtes Verständnis von Behinderung bezieht, wird es nach Meyer (vgl. 2011, S. 51) in Zukunft eher darum gehen, „Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, Funktionsstörungen zu kompensieren oder die Folgen zu beseitigen“ (ebd.).
Auf der professionstheoretisch-fachlichen Ebene ist in Bezug auf den Paradigmenwechsel eine zunehmende Orientierung an neuen Prinzipien, Konzepten und Ansätzen in der Wissenschaft von besonderer Relevanz (vgl. Meyer 2011, S. 47). Hier sind u.a. zu nennen das Normalisierungsprinzip[6], der Empowermentgedanke[7], das Paradigma der Inklusion[8] sowie die neu entwickelte ICF. Konsens dieser Konzepte ist die Abkehr von einem defizitgeprägten Verständnis von Behinderung sowie die Einsicht, dass institutionelle Bedingungen Barrieren für die Entwicklung des Individuums darstellen und diese so ebenfalls zu einer Manifestierung von Behinderung beitragen (vgl. Meyer 2011, S. 47). Im Rahmen der Deinstitutionalisierung sollen traditionelle (Groß-)Einrichtungen aufgelöst und eine Veränderung der „Angebote, Strukturen und Abläufe in Einrichtungen der Behindertenhilfe“ (Meyer 2011, S. 83) hinsichtlich eines personenbezogenen Denkens erreicht werden.
Speziell auf der professionstheoretisch-fachlichen Ebene kommt dem Modell der ICF, welches eine Abkehr von einem defizitgeprägten Verständnis von Behinderung hin zu einem ganzheitlichen Verständnis beinhaltet (siehe hierzu ausführlicher Kapitel 2.1) eine besondere Bedeutung zu. Das Modell bewirkt, dass die Vorstellungen über sowie der Umgang mit Menschen mit Behinderung überprüft wird und sich ein neues Verständnis bzgl. des Unterstützungsbedarfs ergibt. Dieses neue Verständnis vereint die Körperfunktionen und -strukturen, Aktivität, Partizipation sowie die Kontextfaktoren (vgl. Meyer 2011, S. 59 f.) und rückt somit den Aspekt der Teilhabe in den Fokus der Betrachtung.
Nach Meyer (vgl. 2011, S. 59) wird durch die Einführung des SGB IX nicht nur einen Paradigmenwechsel zu einer verstärkten Selbstbestimmung die neue Zielsetzung, sondern insbesondere auch eine Stärkung der Teilhabechancen.
Die verstärkte Zuwendung zu den Konzepten der Teilhabe ist demnach ein wichtiges Element in dem Paradigmenwechsel (vgl. Meyer 2011, S. 60).
Auf sozialpolitischer Ebene wird der sich vollziehende Paradigmenwechsel zum einen mit der veränderten Rolle der Leistungsempfänger*innen in der Sozialgesetzgebung in Verbindung gebracht (vgl. Meyer 2011, S. 61). Zum anderen bestehen auf dieser Ebene Forderungen nach einem Umbau des Sozialstaats (vgl. Meyer 2011, S. 48).
Hinsichtlich des Unterstützungsverständnisses und des damit einhergehenden Erbringungsverhältnisses wächst das Bewusstsein, dass die Rolle der Leistungsempfänger*innen aufgewertet und sich entsprechend die Leistungserbringer*innen an den Bedürfnissen der Leistungsempfänger*innen orientieren sollten (vgl. Meyer 2011, S. 48). Kritische Stimmen fordern, dass Menschen mit Behinderung durch ein sich veränderndes Rollenverständnis die Möglichkeit bekommen sollen, in die Leistungsgestaltung einzugreifen um in der Rolle eines Partners die Gestaltung und Planung sozialer Dienstleistungen und Angebote mitbestimmen zu können (vgl. ebd. 2011, S. 62).
Ausgangspunkt der Forderung war zum einen die Kritik an der Machtposition der Leistungsanbieter*innen, zum anderen der Wunsch nach einem verstärkten Markt und Wettbewerb im Dienstleistungsbereich sowie eine effizientere Hilfegestaltung und verstärkte Qualitätssicherung (vgl. Meyer 2011, S. 61 f.). Die Forderung nach einem Umbau des Sozialstaats ist verbunden mit der Kritik am Sozialstaat als Versorgungsinstitution und der Forderung nach Selbstverantwortung und Eigeninitiative bei den Nutzer*innen der Leistungen (vgl. Loeken 2006, S. 30).
Bereits durch die Einführung des SGB IX, 2001 wurde die Position der Leistungsempfänger*innen gestärkt. Durch die neue Gesetzgebung sollen die Leistungsträger und-anbieter*innen nicht mehr über den Kopf der Leistungsnehmer*innen hinweg Entscheidungen treffen können (vgl. Meyer 2011, S. 62). Stattdessen besteht die Aufgabe der Leistungsträger darin, ausreichend Ressourcen für die notwendige Unterstützung zur Verfügung zu stellen (vgl. ebd.). Leistungsanbieter*innen hingegen sollen als Dienstleister*innen fungieren, „die mit dem Ziel gesellschaftlicher Teilhabe handeln, aber dabei Abschied nehmen von einer fürsorglichen (Rundum-) Versorgung zugunsten individueller Serviceleistungen“ (Wacker, Wansing & Hölscher 2004, S. 128). Dies bedeutet, dass ein Umdenken seitens der Einrichtungen vollzogen werden muss. Durch die neue Gesetzgebung soll es dem Leistungsnehmer fortan möglich sein, sich von einem „Objekt der Fürsorge“ (Kastl & Metzler 2005, S. 44) zu einem „Subjekt der eigenen Lebensgestaltung“ (ebd.) zu wandeln.
Das Persönliche Budget wird als Ausdruck, aber auch als Resultat des Paradigmenwechsels gesehen (vgl. Meyer 2011, S. 45). In der Ausführung der einzelnen Ebenen, auf welchen der Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe verortet wird, lässt sich erkennen, dass das Persönliche Budget in seiner Grundidee nach mehr Selbstbestimmung und Teilhabe für Menschen mit Behinderung eng verwoben ist mit dem antizipierten Paradigmenwechsel und den gesellschaftlichen Forderungen in der Behindertenhilfe (vgl. Meyer 2011, S. 49).
Der Grundgedanke des Persönlichen Budgets findet sich in hohem Maße in den Forderungen der Bewegungen auf der normativ–ethischen Ebene wieder. Dies findet sich laut Loeken (vgl. 2006, S. 31) darin begründet, dass sich die Forderungen auf die Rolle der Nutzer*innen als autonome Kunden und Kundinnen beziehen, welche als Expert*innen für ihre eigenen Belange angesehen werden. Persönliche Budgets sind nach Loeken (vgl. 2006, S. 31) demnach auch vor dem Hintergrund dieser Forderungen und des Wandels in der Behindertenpolitik zu betrachten. Speziell auf der normativ-ethischen Ebene lässt sich das Persönliche Budget als Inbegriff des Paradigmenwechsels betrachten (vgl. Meyer 2011, S. 47). Der Mensch wird vom „Objekt der Fürsorge“ (Kastl & Metzler 2005, S. 9) zum „Subjekt der Lebensgestaltung“ (ebd.). Als Experte oder Expertin in eigener Sache kann die jeweilige Person ihre Unterstützungsleistungen eigenverantwortlich aussuchen und auch bezahlen. Zudem entscheidet der Mensch selbst, ob und welche individuellen Hilfen er*sie benötigt (vgl. Meyer 2011, S. 51 f.). Das Fürsorgeparadigma wird aufgelöst und Selbstbestimmung tritt in den Fokus. Dies entspricht in hohem Maße den Forderungen der Bewegungen auf der normativ-ethischen Ebene.
Die professionstheoretisch-fachliche Ebene verweist auf die Grundidee des Persönlichen Budgets, indem dieses individuell angepasste Versorgungsangebote verwirklicht, welche an die Wünsche und Bedürfnisse der Leistungsnehmer*innen angepasst sind. Anstelle einer institutionellen Versorgung bietet das Persönliche Budget die Möglichkeit, sich durch den zur Verfügung gestellten Geldbetrag die persönlichen, individuellen Hilfen einzukaufen (vgl. Loeken 2006, S. 31). Das Persönliche Budget entspricht somit der Idee der Deinstitutionalisierung und fördert ambulante Hilfen. Zudem spiegelt sich die Abkehr des defizitorientierten Verständnisses im Persönlichen Budget wider. Dies zeigt sich beispielsweise in den Reformierungen des Behinderungsbegriffs (siehe Kapitel 2.1), welche ebenfalls die „sozialen Beziehungen, Aktivität[en], Ressourcen und Kompetenzen“ (Meyer 2011, S. 60) verstärkt fokussieren, eine Zielsetzung, die mit dem Grundgedanken des Persönlichen Budgets übereinstimmt. Durch und mit dem Persönlichen Budget wird eine neue Perspektive eröffnet, weg von einem medizinisch geprägten Behinderungsverständnis und hin zu einem ganzheitlichen Verständnis, das die individuelle Lebenssituation der Menschen mit Behinderung in den Blick nimmt (vgl. ebd., S. 61). Die Grundannahmen des ICF lassen sich insbesondere auf die Kernidee der Teilhabe zurückführen, welche eine tragende Rolle bei dem Konzept des Persönlichen Budgets – sowie auch im Paradigmenwechsel – spielt (vgl. Meyer 2011, S. 61).
Auf der sozialpolitischen Ebene ist die Einführung des Persönlichen Budgets sowohl Ausdruck sozialpolitischer Reformbemühungen als auch eines grundlegenden Richtungswechsels in der Politik für Menschen mit Behinderung (vgl. Meyer 2011, S. 62).
Durch die Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks (siehe Kapitel 3.2) verschiebt sich das Machtverhältnis zugunsten der Leistungsnehmer*innen. Dadurch steigen deren Einflussmöglichkeiten auf die Art und Weise der Leistungserbringung sowie auf die Qualität der Dienstleistungen (vgl. Meyer 2011, S. 62). Die Leistungsempfänger*innen treffen beim Persönlichen Budget ihre eigenen Vereinbarungen mit den Leistungsanbieter*innen über die Leistungsausführung und können so verstärkt „Inhalt, Qualität und Umfang“ (ebd., S. 66) mitbestimmen. Die Nutzer*innen tragen so dazu bei, dass sich die Behindertenhilfe zukünftig verstärkt an den Bedürfnissen und Vorstellungen der Menschen mit Behinderung ausrichten muss. Die Entscheidung darüber, welche Hilfen notwendig sind und wer diese zu welcher Zeit erbringen soll, wird den Nutzer*innen übertragen. Den Leistungsträgern und Anbieter*innen steht damit nicht mehr die Entscheidungsmacht zu (vgl. Meyer 2011, S. 66). Weiterhin steht auf der sozialpolitischen Ebene die Kritik am Sozialstaat im Vordergrund. Hier kann das Persönliche Budget eine tragende Rolle spielen.
„In der Diskussion um den Sozialstaat richtet sich die Kritik auf dessen Funktion als Versorgungsinstitution und ist mit der Forderung nach Eigeninitiative und Selbstverantwortung bei den Nutzern sozialer Leistungen verbunden. Das in Verbindung mit dieser Debatte benutzte Vokabular ist häufig ökonomisch akzentuiert, wenn etwa vom unternehmerischen Mensch oder dem souveränen Kunden die Rede ist. […]. Was liegt da näher, als den Unternehmen ihrer selbst ein Persönliches Budget auszuzahlen.“ (Loeken 2006, S. 30)
Die gestellten Forderungen und die neue Betrachtungsweise in der Behindertenpolitik können als Grundstein für das Persönliche Budget gesehen werden, welches zugleich auch Ausdruck des Perspektivwechsels ist. Damit hat das Persönliche Budget ein hohes, innovatives Potenzial, das die Chance zu einem selbstbestimmte(re)n Leben von Menschen mit Behinderung birgt (vgl. Meyer 2011, S. 49). Gleichzeitig dürfen die Risiken nicht außer Acht gelassen werden. Diese können nicht nur einen Zuwachs an Eigenverantwortung betreffen, sondern ebenso einen – wie Meyer (vgl. 2011, S. 49) es formuliert – Zwang, das eigene Leben selbstständig zu planen und zu führen.
Doch nicht nur die Forderungen und Änderungen, die den Paradigmenwechsel veranlassten, führten zu Veränderungen im Leistungssystem und zur Einführung des Persönlichen Budgets. Nach Wacker (vgl. 2009, S. 5) sind weitere Ursachen die steigenden Kosten der Eingliederungshilfe um die Jahrtausendwende sowie die positiven Erfahrungen der europäischen Nachbarländer mit ähnlichen personenbezogenen Finanzierungsmodellen. Hinsichtlich der steigenden Kosten der Eingliederungshilfe werden seitens der Leistungsträger Einsparungserwartungen an das Persönliche Budget geknüpft. Dieses soll zu einer Lösung der Finanzierungsprobleme im Bereich der Eingliederungshilfe beitragen (vgl. Kastl & Metzler 2005, S. 9). Entsprechend soll die „größere Bedarfsangemessenheit der Hilfen zu einem insgesamt niedrigeren Ausgabevolumen“ (Meyer 2011, S. 48) führen.
Die erfolgreichen Erfahrungen beruhen auf den Leistungsmodellen der Niederlande, Großbritanniens und Schwedens, an welche Deutschland durch das Persönliche Budget Anschluss gefunden hat (vgl. Kampmeier, Kraehmer & Schmidt 2014a, S. 9).
Die Entwicklung des Persönlichen Budgets verlief, vor allem aus rechtlicher Perspektive betrachtet, wie folgt: Um die Jahrtausendwende (1998 bis 2000) wurde eine Experimentierklausel in das Bundessozialhilfegesetz (§ 101a BSHG) eingesetzt (vgl. Wacker 2009, S. 5). Der Begriff des Persönlichen Budgets findet hier noch keine Verwendung. Als Grundlage fungiert vielmehr die Pauschalisierung von Sozialhilfeleistungen, auf denen die folgenden Modellversuche z.B. in Rheinland-Pfalz, Hamburg und Niedersachsen basieren (vgl. Kastl & Metzler 2005, S. 20). 2001 trat das SGB IX in Kraft und es erfolgte die sogenannte „Kann-Regelung“ nach § 17 Abs. 4 SGB IX. Durch diese Regelung erhielten Leistungsberechtigte die Möglichkeit, sich das Budget zu wünschen, und die Rehabilitationsträger konnten dieses erproben (vgl. Wacker 2009, S. 5). Daraufhin erfolgte eine bundesweit angelegte Erprobungsphase des Budgets in Modellprojekten. Ende 2003 und Mitte 2004 traten Reformen der Sozialhilfe in Kraft und das neue Sozialhilferecht wurde als SGB XII in das Sozialgesetzbuch aufgenommen. Durch eine angepasste Neufassung des SGB IX im April 2004 wurde die Möglichkeit geschaffen, das Persönliche Budget von Leistungsberechtigten im ganzen Bundesgebiet zu beantragen (vgl. ebd.). Ab 2005 folgten, auch durch die gewonnenen Erfahrungen aus der Erprobungsphase, Regelungen über das Verwaltungsverfahren und die Budgetverordnung (BudgetV) (vgl. ebd., S. 6). In den darauf folgenden Jahren wurde durch die Erprobung in Form von Modellprojekten das Persönliche Budget und seine Ausgestaltung angepasst, bis schließlich seit dem ersten Januar 2008 aus der „Kann-Leistung“ eine Leistung geworden ist, auf die ein Rechtsanspruch seitens der leistungsberechtigten Personen besteht (vgl. ebd., S. 6 f.).
Im nachfolgenden Abschnitt werden die sozialrechtlichen Grundlagen, die das Persönliche Budget regeln, dargelegt und der Prozess der Bewilligung der Leistungsform vorgestellt.
Die Rechtsgrundlage des Persönlichen Budgets ist im SGB IX in § 17 SGB IX mit Konkretisierungen in den einzelnen Leistungsgesetzen geregelt. Neben diesem existiert noch die Budgetverordnung (BudgetV), eine Verordnung zur Durchführung Persönlicher Budgets nach §17 Abs. 2 bis 4 SGB IX. Diese stellt die Vorschriften für den Inhalt Persönlicher Budgets (§4 BudgetV) sowie für das Verfahren (§3 BudgetV) und die Zuständigkeit der beteiligten Leistungsträger (§2 BudgetV).
Durch die Einführung des SGB IX tritt der Begriff der Teilhabe als Ziel aller Rehabilitationsleistungen an die Stelle des traditionell verwendeten Begriffs der Eingliederung (vgl. Metzler et al. 2007, S. 25).
Selbstbestimmung und Teilhabe stehen im Fokus des SGB IX und werden als Auftrag der Sozialen Arbeit in der Rehabilitation formuliert. Durch Beratung sollen die Betroffenen in der Lage sein, ihr Selbstbestimmungsrecht zu praktizieren (vgl. Mühlum & Gödecker-Geenen 2003, S. 19). Von politischer Seite wird durch die gesetzliche Verankerung des Persönlichen Budgets den Forderungen nach einem selbstbestimmteren Umgang mit Leistungen sowie der Forderung nach einem Wunsch- und Wahlrecht entsprochen (vgl. Meyer 2011, S. 39). Im Folgenden wird ein Überblick über die gesetzlichen Bestimmungen gegeben.
Alle Personen, die einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe nach §5 SGB IX haben, können das Persönliche Budget in Anspruch nehmen. Da es sich um eine neue Form der Leistungsgewährung handelt, gelten die gleichen Anspruchsvoraussetzungen wie bei einer Sachleistungsgewährung. Einen Anspruch auf das Persönliche Budget haben demnach alle Menschen mit Behinderung und von Behinderung bedrohte Menschen nach §2 Abs. 1 SGB IX (siehe Kapitel 2.1). Der Personenkreis der Anspruchsberechtigten wird nicht aufgrund von Art oder Schwere der Behinderung beschränkt.
Einen Anspruch auf das Persönliche Budget haben auch Menschen, die auf die Unterstützung hinsichtlich der Verwaltung des Budgets durch Dritte, wie z.B. von Familienangehörigen oder einer rechtlichen Betreuung, angewiesen sind (vgl. BAR e.V. 2009, S. 7).
Bei Minderjährigen können die Sorgeberechtigten in Vertretung das Persönliche Budget in Anspruch nehmen (vgl. Welti 2014, S. 71).
Die Leistungserbringung durch das Persönliche Budget ist für alle Leistungen zur Teilhabe möglich (vgl. Welti 2014, S. 72). Die Leistungen zur Teilhabe umfassen nach § 4 SGB IX „die notwendigen Sozialleistungen, um unabhängig von der Ursache der Behinderung:
- die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern,
- Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug anderer Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern,
- die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern oder
- die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern“ (§ 4 Abs. 1 SGB IX).
In § 5 SGB IX sind die Leistungsgruppen, für die dies gilt, aufgeführt. Diese sind:
- „Leistungen zur medizinischen Rehabilitation,
- Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben,
- unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen,
- Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ (§ 5 SGB IX).
Bestandteil des Persönlichen Budgets können darüber hinaus nach § 17 Abs. 2 Satz 4 SGB IX die „erforderlichen Leistungen der Krankenkassen und der Pflegekassen, Leistungen der Träger der Unfallversicherung bei Pflegebedürftigkeit sowie Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe, die sich auf alltägliche[9] und regelmäßig wiederkehrende[10] Bedarfe beziehen und als Geldleistungen oder durch Gutscheine erbracht werden können“ (nach § 17 Abs. 2 Satz 4 SGB IX), sein. An die Entscheidung ist der Antragsteller für die Dauer von sechs Monaten gebunden (vgl. § 17 Abs. 2 Satz 4 SGB IX). Die Erbringung des Persönlichen Budgets durch Gutscheine bezieht sich insbesondere auf Pflegesachleistungen, da das Recht der Sozialen Pflegeversicherung vorsieht, dass für Pflegesachleistungen nur Gutscheine ausgegeben werden können (vgl. BMAS 2014, S. 27). Die Gutscheine können anschließend bei Pflegediensten eingelöst werden, die von den Pflegekassen zugelassen sind und einen Versorgungsvertrag mit diesen haben (vgl. ebd.). Lediglich ein im Voraus bestimmtes Pflegegeld ist nach § 35a SGB XI im Rahmen der Kombination von Geld- und Sachleistung als Geldleistung budgetfähig.
Die benannten Leistungen können nach § 17 Abs. 2 Satz 2 SGB IX i.V.m. § 2 BudgetV von den Leistungsträgern sowohl einzeln als auch im Rahmen eines trägerübergreifenden Budgets als Komplexleistung ausgeführt werden (siehe Kapitel 3.4.4). In § 6 SGB IX werden mögliche Rehabilitationsträger benannt, deren konkrete Leistung sich aus den jeweiligen Sozialgesetzbüchern ableiten lässt[11]. Im Folgenden sind dies Träger der
- Gesetzlichen Krankenversicherung – (SGB V) (SGB XI)
- Bundesagentur für Arbeit – (SGB III)
- Gesetzlichen Unfallversicherung – (SGB VII)
- Öffentlichen Jugendhilfe – (SGB VIII)
- Sozialhilfe (auch für Hilfen zur Pflege) – (SGB XII)
- Gesetzlichen Rentenversicherung – (SGB VI)
- Kriegsopferversorgung (auch soziale Entschädigung bei Gesundheitsschäden für Opfer von Gewalttaten oder bei Impfschäden) – Bundesversorgungsgesetz (BVG)
Zusätzlich wurden im Jahr 2004 die Pflegekassen sowie die Integrationsämter mit in den Gesetzestext aufgenommen (vgl. Meyer, 2011, S. 42).
- Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI)
- Integrationsämter
Abschließend soll betont werden, dass durch das Persönliche Budget die Sachleistung nicht ersetzt wurde. Es besteht auch die Möglichkeit, dass Menschen mit Behinderung gleichzeitig Sachleistungen und ein Persönliches Budget für verschiedene Hilfen als Teilbudget erhalten können (vgl. BMAS 2006, o.S.).
Ebenso fällt unter die Option des Teilbudgets die bereits benannte Kombinationsleistung nach § 38 SGB XI, die das Pflegegeld als Geldleistung und weitere Pflegeleistungen nur durch Gutscheine oder Sachleistungen ermöglicht (vgl. § 35a SGB XI; § 38 SGB XI; § 36 SGB XI; § 41 SGB XI).
Wenn mehrere Leistungsträger unterschiedliche Teilhabe- und Rehabilitationsleistungen in einem Budget erbringen, spricht man von einem trägerübergreifenden Persönlichen Budget als Komplexleistung (vgl. § 2 BudgetV). Im SGB IX nach §17 Abs. 4 heißt es dazu:
„Enthält das Persönliche Budget Leistungen mehrerer Leistungsträger, erlässt der nach §14 zuständige der beteiligten Leistungsträger im Auftrag und im Namen der anderen beteiligten Leistungsträger den Verwaltungsakt und führt das weitere Verfahren durch.“ (§17 Abs. 4 SGB IX)
Bei Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf kann das Gesamtbudget dadurch „wie aus einer Hand“ (Metzler et al. 2007, S. 29) erfolgen, wenn ein Anspruch gegenüber verschiedenen Leistungsträgern besteht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Beispiel für eine Komplexleistung "Trägerübergreifendes Persönliches Budget" (Eigene Bearbeitung nach Metzler et al. 2007, S. 29)
Wenn mehrere Träger an der Umsetzung beteiligt sind, so liegt die Verantwortung bei demjenigen, bei dem der Antrag eingereicht wurde. Dieser wird entsprechend zur Ansprechperson des Antragstellenden und ist verpflichtet, innerhalb von zwei Wochen seine Zuständigkeit zu überprüfen und im Falle einer Nicht-Zuständigkeit den Antrag weiterzuleiten (vgl. §10 - §14 SGB IX).
Durch Änderungen im Gesetz zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht (Verwaltungsvereinfachungsgesetz) (2005) wurde zudem festgelegt, dass in Abstimmung mit allen Beteiligten auch ein anderer Leistungsträger als derjenige, der den Auftrag erhält, bestimmt werden kann. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn der Leistungsträger, bei dem der Antrag gestellt wurde, nicht oder nicht dauerhaft mit seinen eigenen Leistungen am Persönlichen Budget beteiligt ist (vgl. ebd.).
Vor einer Bewilligung des Persönlichen Budgets erfolgt zunächst ein Prozess der Bewilligung. Dieser gestaltet sich, je nach Art des Budgets, unterschiedlich und soll durch die folgende Abbildung verdeutlicht werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Koordination und Kooperation beteiligter Leistungsträger bei der Ausführung eines (trägerübergreifenden) Persönlichen Budgets nach § 17 SGB IX und BudgetV (Eigene Bearbeitung in Anlehnung an Schäfers, Wacker & Wansing 2009, S. 31)
Zu (1) lässt sich sagen, dass die leistungsberechtigte Person, alleine oder mit Unterstützung, zunächst die Möglichkeit hat, eine Beratungs- und Servicestelle aufzusuchen. Im Gespräch wird geklärt, welche Leistungen für die Person in Frage kommen, und es kann gemeinsam ein Antrag bei dem jeweiligen Leistungsträger gestellt werden (vgl. BMAS 2014, S. 17). Die Beratung durch die Servicestellen und Rehabilitationsträger ist kostenlos. Die Finanzierung einer Budgetberatung vor Antragstellung wird nicht gewährleistet (ebd., S. 19).
Der Leistungsanspruch (2) ergibt sich aus den zuvor genannten Kriterien. Wenn dieser festgestellt wurde, wird der individuelle Bedarf (3) festgelegt. Die Höhe dieses Bedarfs ist abhängig von dem individuellen Hilfeanspruch der Budgetnehmer*innen und muss daher im Rahmen des Bedarfsfeststellungsverfahrens (4) festgelegt werden. Die Höhe des hier bestimmten Budgets richtet sich nach den Kosten der alternativen Sachleistung. Die Obergrenze für das Budget liegt entsprechend, inklusive zusätzlicher Beratung und Unterstützung, bei den Kosten der Sachleistung – höhere Kosten sollten grundsätzlich nicht entstehen (vgl. ebd., S. 20). Im nächsten Schritt wird die Zielvereinbarung geschlossen. Die festgelegten Ziele müssen mindestens enthalten:
1. „die Ausrichtung der individuellen Förder- und Leistungsziele,
2. die Erforderlichkeit eines Nachweises für die Deckung des festgestellten individuellen Bedarfs sowie
3. die Qualitätssicherung“ (§4 Abs. 1 BudgetV).
Die Nachweise sollen sich auf die Leistung und nicht auf den Preis beziehen, wobei die Ausgestaltung der Nachweise möglichst einfach und unbürokratisch erfolgen soll. Ziel ist es, die Bereitschaft zur Eigenverantwortung und Selbstbestimmung zu stärken (vgl. BMAS 2014, S. 27). Die festgelegte Zielvereinbarung kann durch die antragstellende Person oder auch durch den Beauftragten aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung schriftlich gekündigt werden. Für die antragstellende Person kann dieser Grund insbesondere in der persönlichen Lebenssituation liegen. Für den Beauftragten kann ein Nichteinhalten der Vereinbarungen über Nachweise sowie die Qualitätssicherung einen Kündigungsgrund darstellen (vgl. §4 Abs. 2 BudgetV). Die Qualitätssicherung erfolgt durch Qualitätssicherungsgespräche zwischen dem*der Budgetnehmer*in und dem Leistungsträger sowie durch Stellungnahmen von Ärzten, Sozialdiensten sowie Leistungserbringer*innen (vgl. Metzler et al. 2007 S. 12).
Schließlich stellen bei einem trägerübergreifenden Persönlichen Budget die beteiligten Leistungsträger ihre jeweiligen Teilbudgets zur Verfügung (5), und der Beauftragte überweist anschließend das Gesamtbudget an den*die Leistungsnehmer*in. In einem Abstand von mindestens zwei Jahren erfolgt ein weiteres Bedarfsfeststellungsverfahren, in welchem der Hilfebedarf geprüft und ggf. angepasst wird (vgl. BMAS 2014, S. 18).
Wie sich anhand der theoretischen Ausführungen erkennen lässt, ist die Leistungsform des Persönlichen Budgets ein dynamischer Prozess und befindet sich in stetem Wandel. Daher wurde die Leistungsform durch verschiedenste Begleitforschungen sowie weiterführende Forschungsprojekte gestützt. Der folgende Abschnitt soll die wichtigsten Erkenntnisse und Ziele dieser Forschungen darstellen und, davon ausgehend, die Relevanz des vorliegenden Forschungsvorhabens aufzeigen. Dabei erhebt diese Arbeit nicht den Anspruch, jedes Forschungsprojekt aufzuzeigen, sondern vielmehr die wichtigsten Erkenntnisse hervorzuheben, differenziert zu betrachten und in Bezug zu dem folgenden Forschungsvorhaben zu setzen.
Von 2004 bis 2007 wurden bundesweit in verschiedenen Modellregionen Persönliche Budgets erprobt und wissenschaftlich begleitet (vgl. BMAS 2012, S. 1). Im Rahmen dieser Studien konnten innerhalb der Modellregionen (acht Bundesländer) 494 bewilligte Budgets erfasst werden, sowie 353 weitere Persönliche Budgets außerhalb der Modellregionen (vgl. Meyer 2011, S. 29; Schäfers, Wacker & Wansing 2009, S. 35). Die meisten Budgets nutzten in den Modellversuchen Menschen mit psychischer Erkrankung (einschließlich Suchterkrankung) mit 42%, am wenigsten nutzten es Menschen mit körperlicher Behinderung (19%) (vgl. Metzler et al. 2007, S. 82). Das Hauptaugenmerk der Modellversuche richtete sich auf die Wirkung Persönlicher Budgets, insbesondere trägerübergreifender Persönlicher Budgets, sowie auf die Ausgestaltung der Prozesse des Budgetverfahrens (vgl. ebd., S. 39). Als Ergebnis der Modellversuche lässt sich festhalten, dass die intendierte positive Wirkung des Persönlichen Budgets grundsätzlich bestätigt wurde, sich jedoch auch Schwierigkeiten ergeben haben. Zum einen beschränkte sich der größte Teil der Budgets auf den Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfeträger, zum anderen war die Zahl der Menschen mit Behinderung, die das Persönliche Budget genutzt haben, insbesondere im Vergleich zu den Sachleistungsempfänger*innen sehr niedrig (vgl. BMAS 2012, S. 1). Aufgrund der Erkenntnisse der Modellprojekte wurden anschließend von 2008 bis 2010 im Rahmen des „Programms zur Strukturverstärkung und zur Verbreitung Persönlicher Budgets“ (ebd.) Projekte ins Leben gerufen, um das Instrument bekannter zu machen. Aus dem gleichen Grund initiierte das BMAS auch eine Öffentlichkeitskampagne (vgl. ebd.).
[...]
[1] Der Begriff des Persönlichen Budgets wird im Folgenden immer groß geschrieben, da es sich um einen feststehenden Begriff handelt.
[2] ICD steht für „International Classification of Diseases (ins Deutsche übersetzt: „Internationale Klassifikation von Krankheiten").
[3] Laut der WHO (2005) ist „die Übersetzung des englischen Begriff [sic] „participation“ […] „Teilhabe“. Da Teilhabe in der Schweiz jedoch eine engere Bedeutung hat als in Deutschland, dieser Begriff in Deutschland jedoch im Sozialrecht eine zentrale Bedeutung hat, ist der englische Originalbegriff mit „Partizipation [Teilhabe] wiedergegeben“ (WHO 2005, S. 4).
[4] Das BGG ist 2002 mit dem Ziel in Kraft getreten, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben, insbesondere hinsichtlich der Barrierefreiheit, zu sichern (vgl. Winter 2014, S. 85).
[5] Das AGG von 2006 hat das Ziel, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“ (AGG §1).
[6] Das Normalisierungsprinzip wurde erstmals durch den Schwedischen Psychologen Bengt Nirje im Jahr 1969 systematisch dargestellt. Er bezeichnet das Normalisierungsprinzip als ein Mittel, welches es Menschen mit Behinderung, insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung, gestattet, Bedingungen und Errungenschaften des täglichen Lebens weitestgehend so zu nutzen, wie sie auch der übrigen Bevölkerung zur Verfügung stehen (vgl. Mürner & Sierck 2012, S. 70). Durch die Normalisierung der Hilfen soll Integration gefördert und Partizipation durch eine lebensweltlich orientierte Unterstützung angestrebt werden (vgl. ebd.).
[7] Der Begriff „Empowerment“ wird oftmals gleichgesetzt mit Selbstbefähigung, Selbstvertretung, Selbstermächtigung oder Selbstbemächtigung (vgl. Theunissen 2016, S. 114).
[8] „Inklusion (lat. Inclusio, Einschließung) meint die Überwindung der sozialen Ungleichheit, der Aussonderung und Marginalisierung“ (Ziemen 2013, S. 47).
[9] „Alltäglich“ meint die Anforderungen in Arbeit, Familie, Privatleben und Gesellschaft sowie die Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes. Der Hilfebedarf kann darin bestehen, diese Anforderungen individuell zu bewältigen und die eigenen Ressourcen (persönlich, sozial, umweltbezogen) zu erweitern (vgl. BAR e.V. 2009, S. 7).
[10] „Regelmäßig wiederkehrend“ beschreibt das Zeitintervall, in welchem die Leistungen anfallen (täglich, wöchentlich, monatlich, jährlich) und ein Rhythmus erkennbar ist, der innerhalb eines vorab feststehenden Zeitraums dauerhaft, zumindest aber wiederholt gegeben ist (vgl. BAR e.V. 2009, S. 7).
[11] Die konkrete Verankerung des Persönlichen Budgets in den einzelnen Leistungsgesetzen ist im Folgenden in Klammern hinter dem jeweiligen Träger angegeben. Die einzelnen Regelungen werden aufgrund des begrenzten Umfangs der Arbeit nicht weiter ausgeführt, lassen sich jedoch in den einzelnen Leistungsgesetzen nachvollziehen.