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Bachelorarbeit, 2017
45 Seiten, Note: 1,3
1 Einleitung
2 Einführung in die Gender-Debatte
2.1 Gender, Geschlecht – Begrifflichkeiten und aktuelle Diskussion
2.2 Geschlechterdifferenzierung in der Sozialen Arbeit
3 Obdachlosigkeit im Kontext Sozialer Arbeit
3.1 Armut, Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit? – Eine Einführung
3.2 Die Entwicklung von Armut und Obdachlosigkeit in Deutschland ab 1970
3.3 Ursachen und Folgen von Armut und Obdachlosigkeit im deutschen Sozialstaat
3.4 Obdachlosigkeit heute und die Aufgaben der Sozialen Arbeit
4 Geschlechterdifferenzierung in der Sozialen Arbeit mit Obdachlosen
4.1 Ist Geschlechterdifferenzierung zum Thema Obdachlosigkeit notwendig? – eine statistische Analyse
4.2 Weibliche Obdachlosigkeit
4.3 Männliche Obdachlosigkeit nach Fichtner
4.4 Differenzierte Einrichtungen in Deutschland
4.5 Auswirkung auf Personal und Sozialpolitik
4.6 Ausblick auf zukünftige Soziale Arbeit mit Obdachlosigkeit
5 Fazit
Quellenverzeichnis
Wenn wir das Bild eines Obdachlosen vor uns sehen, erscheint uns meist ein bettelnder, ungepflegter Mann vor dem inneren Auge. Viele Menschen verbinden diesen mit einem Leben, in dem er versagt haben muss, vielleicht ist er alkoholabhängig oder nimmt andere Drogen. Die wenigsten Obdachlosen, die wir auf der Straße antreffen, sind weiblich. Stellen wir uns Frauen in der Obdachlosigkeit vor, sind diese misshandelte Frauen oder alleinerziehende Mütter und werden in Frauenhäusern aufgenommen, oder sie sind vielleicht auch drogenabhängig und prostituieren sich? Diese verinnerlichten Stereotypen bestimmter sozialer Gruppen haben sich über Generationen gesellschaftlich etabliert und halten sich in allen sozialen Schichten. Nun leben wir heute in einer Gesellschaft, die von 50 Jahren Gender- und Emanzipationsforschung geprägt ist. Während in den Katalogen weiterhin Spielzeugherde für Mädchen und Spiel-Werkzeug für Jungen verkauft werden, sind Transsexualität und Geschlechtsumwandlungen ein aktuelles Thema und die gleichgeschlechtliche Ehe wurde gerade in das deutsche Recht aufgenommen. Doch wie verhält sich die Geschlechterdifferenzierung unter den Marginalisierten in unserer Gesellschaft? Die Kluft zwischen Armen und Reichen wächst auch im Sozialstaat Deutschland, doch leben wir wirklich in einem Land in welchem Armut und Obdachlosigkeit überhaupt existieren muss? Obdachlosigkeit und Armut wird nach unserem heutigen konsumorientierten Verständnis in Verbindung mit Arbeitslosigkeit gebracht. Über die Zahlen der Arbeitslosigkeit ist sich die Literatur uneinig, da immer mehr Menschen gezwungen sind, ihre Existenz bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit durch staatliche Transferleistungen zu sichern. Auch die berufliche Gleichstellung von Mann und Frau scheint weiterhin ein Streitthema zu bleiben: „Da der soziale Status von Menschen in unserer Gesellschaft in hohem Maße mit der Erwerbstätigkeit der jeweiligen Personen zusammenhängt, handelt es sich um ein Merkmal, dem Männer sehr viel leichter zuzuordnen sind als Frauen. Die soziale Zuordnung von nicht erwerbstätigen Frauen wird dementsprechend überwiegend über die Erwerbstätigkeit des Mannes vorgenommen. Eine genauere Unterscheidung zwischen dem sozialen Status von Frauen und von Männern ist in unserem alltäglichen Denken weitgehend nicht vorhanden.“ (Clausen 1981, S: 29). Ist diese Aussage von 1981 heute noch gültig? Immerhin beträgt selbst im Bundestag der Anteil der Frauen nur 31 Prozent und die Zahl der Männer, die in Familien mit Kleinkindern leben und Vollzeit arbeiten ist erheblich höher als die der Frauen in vergleichbarer Lage. Armut und Geschlecht als Dimension sozialer Ungleichheit ist ein aktuelles Thema, welches gerade den Bereich der Sozialen Arbeit berührt.
In dieser Arbeit soll analysiert werden, wie soziales Geschlecht in der marginalisierten Situation von Obdachlosigkeit im heutigen Sozialstaat gelebt wird und ob eine differenzierende Sozialpolitik in Form von geschlechtersensiblen Einrichtungen und einer entsprechenden Personalaufstellung auf diese Dimension sozialer Ungleichheit reagieren muss. Dafür soll zunächst geklärt werden, in welchem Kontext Geschlecht für diese Analyse relevant ist und ob die festgeschriebenen Stereotypen von sozialem Geschlecht in der Praxis weiterhin vorzufinden sind. Außerdem wird geklärt, welche Formen und Ursachen der Armut bzw. Obdachlosigkeit es heute in Deutschland gibt. Anschließend wird die Typisierung von sozialem Geschlecht auf die Lebenssituation Obdachlosigkeit angewendet und anhand der Literatur analysiert. Der Fokus liegt dabei auf spezifischen Problemlagen von Frauen und dem Umgang von untergeordneten Männern mit der Darstellung ihrer Männlichkeit. Interessant ist, dass sich die Obdachlosenforschung in Hinblick auf das soziale Geschlecht in den letzten 20 Jahren zurückgehalten hat und die Werke aus den 1970er bis 2000er Jahren weiterhin ihre Gültigkeit behalten. Zur Überprüfung dieser Validität habe ich drei Einrichtungsleitungen aus einer gemischtgeschlechtlichen Notunterkunft und zwei Notübernachtungen, welche nur für Frauen zugänglich sind, zu den theoretischen Annahmen der bestehenden Stereotypen geschlechterdifferenzierenden Verhaltens befragt.
Das Ziel der folgenden Analyse soll ein Ausblick sein, wie sich geschlechtersensible Soziale Arbeit mit Obdachlosigkeit entwickeln könnte und was die entsprechenden Aufgaben und Anforderungen an diese Wissenschaftsdisziplin und praxisorientierte Profession sind.
Um überhaupt von Geschlechterdifferenzierung sprechen zu können und diese auf das Thema Obdachlosigkeit anzuwenden, bedarf es zunächst einer genauen Definition, in welchem Kontext Geschlecht in dieser Arbeit relevant ist. Seit dem Aufkommen der Frauenforschung in den 1970er Jahren wurde das biologische Geschlecht in verschiedensten Theorien im soziologischen und psychologischen Zusammenhang beleuchtet, um das weibliche vom männlichen Geschlecht in unserem sozialen Handeln abgrenzen zu können. Die verbreiteten Stereotypen, die mit Männlichkeit und Weiblichkeit in Verbindung gebracht werden, haben dabei nicht unbedingt mit dem biologischen Geschlecht zu tun. Die Forschung ist sich jedoch einig, dass das biologische Geschlecht immer Grundlage für eine geschlechterdifferenzierende Sozialisation ist: „Soziale Praxis allgemein und Geschlechterpraxis insbesondere ist hier dadurch gekennzeichnet, dass die Dimension des Körpers „als Objekt der Praxis“ […] immer gegenwärtig bleibt. […] Diese Bedeutung von ‚Körper‘ für soziale Praxis lässt nun der Sexualität eine besondere Bedeutung für die Konstruktion von Geschlechterverhältnissen zukommen.“ (Fichtner et al. 2005, S. 74). Im Folgenden sollen einige dieser geschlechterdifferenzierenden Abgrenzungsversuche erläutert werden und Basis für weitere Überlegungen sein.
Wird in der heutigen Sozialen Arbeit von Geschlecht gesprochen, wird damit meist das von der Natur gegebene biologische Geschlecht gemeint (abgesehen von der Möglichkeit einer operativen Veränderung). Das Geschlecht, welches als Erklärung für die Differenzierung im soziologischen Sinne dient, ist jedoch das soziale Geschlecht (das Gender). Wenn es um die Differenzierung von Geschlechtern geht, ist das Konzept des Doing Gender nach West und Zimmermann in der Literatur führend. Die Zugehörigkeit zu einem Gender ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich in der fortwährenden Entwicklung eines Individuums in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Geschlecht wird also als soziale Konstruktion verstanden (vgl. Gildemeister 2010, S.137). Dabei orientiert sich das Individuum in seinem Verhalten an der herrschenden Norm in der Gesellschaft, in der es lebt. So ist es egal, welchem biologischen Geschlecht Individuen zugeordnet werden, es geht ausschließlich um zweigeschlechtlich differenzierendes Verhalten, welches unserer sozialen Wirklichkeit entspricht. Gildemeister definiert in ihrer kurzen Einführung zum Doing Gender -Konzept im „Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung“ Gender als „die intersubjektive Validierung in Interaktionsprozessen durch ein situationsadäquates Verhalten und Handeln im Lichte normativer Vorgaben und unter Berücksichtigung der Tätigkeiten, welche der in Anspruch genommene Geschlechtskategorie angemessen sind.“ (Gildemeister 2010, S. 138). Individuen befinden sich also in einem ständigen Abgrenzungsprozess zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit (egal welchem biologischen Geschlecht sie angehören), unter Heranziehung der gesellschaftlichen Norm von geschlechtskategorischem Verhalten. Individuen nehmen Geschlechterrollen ein, um diesen sozial geteilten Verhaltenserwartungen zu entsprechen. Verhaltenserwartungen ergeben sich durch gesellschaftlich anerkannte Typisierung von Merkmalen, die eher dem einen als dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden (vgl. Eckes 2010, S. 179). Männern wird eher aufgabenbezogene Kompetenz, Selbstbehauptung, Stärke und Instrumentalität zugeschrieben, während Frauen expressiv und gemeinschaftsorientiert Wärme ausstrahlen. Nun stellt sich die Frage, welchen Nutzen Individuen aus dieser Geschlechterdifferenzierung ziehen. Die Zugehörigkeit zu einem sozialen Geschlecht gibt Menschen eine Identität und damit Sicherheit, sie schafft eine Basis zur Entwicklung von Persönlichkeit und Handlungsplanung (vgl. Connell 2006, S. 88 und Eckes 2010, S. 181). Diese Stereotypen halten sich schon seit Jahrhunderten und scheinen sich auch nur bedingt zu verändern.
Der Begriff des Habitus nach P. Bourdieu
Anschließend an die bereits erwähnten soziologisch zugeschriebenen Verhaltensmerkmale von Weiblichkeit und Männlichkeit sei das Konzept des Habitus nach Bourdieu genannt. So beschreibt er als Erster soziales Handeln im soziologischen Sinne als Ergebnis dauerhafter und übertragbarer Dispositionen (vgl. Krais/ Gebauer 2002, S. 5). Diese Dispositionen meint im Zusammenhang der Gender-Forschung Fähigkeiten und Merkmale, die sozial konstruierter Weiblichkeit und Männlichkeit zugeschrieben und im Zuge der individuellen Entwicklung verinnerlicht werden. Der Habitus bestimmt die soziale Struktur einer Gesellschaft und entwickelt sich parallel zu gesellschaftlichen Veränderungen weiter (ebd., S. 6). Individuen sind also in ihrem sozialen Handeln an einen Rahmen gebunden, welcher unter anderem die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau definiert: Männer sehen sich in der Rolle des Ernährers und Familienoberhauptes, während Frauen die Führung des Haushaltes und die Erziehung der Kinder übernehmen. (vgl. BAGW POS 03 2012, S.3 und Fichtner et al. 2005, S. 74). Zur Bedeutung des Habitus-Konzeptes in unserer heutigen Gesellschaft soll in einem späteren Kapitel eingegangen werden.
Hegemoniale Männlichkeit nach R. Connell
Eine Vertreterin zum Thema soziales Geschlecht ist die Soziologin Raewyn Connell (im verwendeten Werk noch Robert William Connell), welche den Begriff der Hegemonie in den Diskurs brachte und als Weiterentwicklung des Habitus-Konzept von Bourdieu gesehen werden kann. Sie entwickelte zunächst ein Drei-Stufenmodell um die Beziehungen zwischen den sozialen Geschlechtern darzustellen (vgl. Connell 2006, S. 94ff.). Dies behandelt zum einen Machtbeziehungen zwischen den verschiedenen Geschlechtern: die Dominanz des Mannes (das männliche soziale Geschlecht) und die Unterordnung der Frau (das weibliche soziale Geschlecht), welche in unserer heutigen Gesellschaft auch als Patriarchat betitelt wird. Zum anderen behandelt dieses Modell die Arbeits- und Einkommensverteilung zwischen Männern und Frauen. Auch hier ist allgemein bekannt, dass eine Ungleichverteilung besteht und Frauen auf dem Arbeitsmarkt weniger und schlechtere Chancen haben. Außerdem festigen Männer ihre gesellschaftliche Machtposition durch ökonomischen Einfluss und berufliche Entscheidungspositionen (vgl. Fichtner et al. 2005, S. 44). Auch die emotionale Bindungsstruktur nimmt Connell in den Fokus. Dabei werden sowohl hetero- als auch homosexuelle Beziehungen und die damit wiederum verbundene Dominanz von Männern behandelt. In dieser Arbeit sollen jedoch lediglich heterosexuelle Beziehungen von Interesse sein, da diese in Bezug zu Obdachlosigkeit an Häufigkeit dominieren und eine weitere Betrachtung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Dieses hier veranschaulichte Modell der hegemonialen Männlichkeit dreht sich um die männliche Machtposition und deren Legitimation (vgl. Connell 2006, S. 98). Connell betont, dass Hegemonie jedoch nicht nur zwischen Mann und Frau praktiziert wird, sondern auch die Machtverhältnisse zwischen Männern klärt. So gibt es nicht eine einzige Form der Männlichkeit, sondern auch innerhalb dieser Geschlechtszugehörigkeit sind Unterordnung und Dominanz zu beobachten, die gerade in der Betrachtung von marginalisierten Individuen von Bedeutung sind.
Intersektionalität in der Gender-Debatte
Um die Machtverhältnisse zwischen und innerhalb der Geschlechter zu verstehen, muss soziales Geschlecht auch in Zusammenhang von Milieu betrachtet werden. So kann es zwischen verschiedenen Klassen oder Rassen und auch innerhalb der gleichen zu Marginalisierungs- und Ermächtigungsprozessen kommen (vgl. Connell 2006, S. 102). Diese Phänomene geschlechterdifferenzierenden Verhaltens in Bezug auf andere soziale Ungleichheiten werden seit den 1980er Jahren vor allem im angloamerikanischen Raum, aber auch in Deutschland untersucht. „Sich auf die Strukturkategorie Geschlecht zu beschränken, ohne ihre Wechselwirkungen mit anderen Achsen der Ungleichheit zu beachten, ist reduktionistisch und wird dem Theoriestand und der Empirie moderner Gesellschaften nicht gerecht.“ (Lenz 2010, S.164). Dabei sei gesagt, dass es kaum Forschung zur Intersektionalität von extrem marginalisierten Männern, wie etwa Obdachlosen, in Deutschland gibt. Auch im angloamerikanischen Raum konzentrieren sich diese Forschungen hauptsächlich auf die Machtbeziehungen zwischen weißen und schwarzen Männern, welche für den deutschsprachigen Raum kaum von Bedeutung sind (vgl. Fichtner et al. 2005, S. 45).
Für ein professionelles Handeln als Sozialarbeiter*in ist es unabdingbar, sich in einer ständigen Auseinandersetzung mit den herrschenden Normen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Klient*innen zu beschäftigen. So ist es auch nicht ausreichend, lediglich den aktuellen Forschungsstand in Bezug auf soziale Geschlechterdifferenzierung theoretisch zu kennen, sondern er ist auch in der Praxis auf seine Gültigkeit zu reflektieren. „Geschlechtsreflektierend zu arbeiten bedeutet schließlich auch, die herrschenden, zum Teil uneindeutigen und sich wandelnden Normen zu Geschlecht immer wieder im Team gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten auf ihre Wirkmächtigkeit im Alltag hin kritisch zu durchdenken.“ (Steckelberg 2011 in Lutz/ Simon 2012, S. 166). Wie groß diese Wirkmächtigkeit der stereotypisierten Geschlechterrollen wirklich ist, sei im Einzelfall zu betrachten und kann nicht paradigmatisch angewendet werden. Fallübergreifend ist jedoch zu beachten, dass Soziale Arbeit als Profession dort einsetzt, wo soziale Problemlagen von Individuen bestehen, also Menschen die in irgendeiner Art und Weise auch eine gewisse Marginalisierung erfahren. Dabei ist die soziale Problemlage Obdachlosigkeit sicherlich eine zu untersuchende Form der Marginalisierung, die sich in Deutschland finden lässt. Weiter ist wiederholt zu erwähnen, dass Geschlechterrollen gleichzeitig einengend wirken, aber auch eine gewisse Sicherheit bieten und Grundlage zur Entwicklung von Persönlichkeit sind. So liegt die Überlegung nahe, dass gerade Individuen in Problemlagen eher an den tradierten Geschlechterrollen festhalten, auch wenn sie sich damit in eine patriarchalische Ordnung drängen.
Auch wenn die Feminismus- und Emanzipationsforschung schon seit fast 50 Jahren aktuell ist, scheinen sich die tradierten Rollenbilder in der Praxis weiter zu halten. In einem Beitrag von Barbara Keddi aus dem Jahr 2010 heißt es noch, dass Frauen abhängig von Strukturmerkmalen wie Bildung, Milieu und Region die traditionellen Geschlechterrollen nicht so schnell aufgeben. Sie spricht von einer „Illusion der Emanzipation“ (vgl. Keddi 2010, S. 437). Auch im Blick auf wohnungslose Frauen, oder denen, die Unterstützung in familiären Belangen benötigen, heißt es in einem Positionspapier der BAG Wohnungslosenhilfe: „Einige schämen sich auch ihrer Situation, ihres vermeintlichen Versagens. Sie orientieren sich immer noch an dem traditionellen Frauenbild: Eine Frau wird durch einen Mann, der ihre Existent sicherstellt, versorgt. Im Gegenzug stellt sie ihn dann durch eine ordentliche und ausreichende Versorgung und Haushaltsführung zufrieden. Aus diesem Rollenverständnis beziehen die Frauen ein hohes Maß ihrer weiblichen Identität.“ (BAGW POS 03 2012, S. 3). So sind es wohl auch weiter Frauen (abhängig vom sozialen Status), die statistisch betrachtet eher Gewalt oder sexuellen Missbrauch in der Partnerschaft erfahren, doch aus einem Wunsch nach Harmonie und Familie weiter Schutz bei dem Partner suchen (ebd., S. 3).
Auch in der Männerforschung werden diese Rollenbilder sowohl in der Praxis als auch in der Theorie weiter beobachtet, nicht ohne Grund haben Paradigmen wie die der Hegemonialen Männlichkeit seit den 1970er Jahren an Gültigkeit kaum verloren. So ist in unserer heutigen Gesellschaft Berufsarbeit existenziell für die Identität von Männern, welche gekennzeichnet ist durch die Betonung von Leistung oder dem Streben nach Erfolg und Autonomie (vgl. Fichtner et al. 2005, S. 74). Auch gibt es Diskussionen über die geringe Selbstwahrnehmung von Männern für ihre eigene Gesundheit. So scheint die Gefahr von Abhängigkeiten und die Überschätzung von Belastungsgrenzen weiterhin ein eher männliches Problem zu sein, wie auch das Gesundheitssystem eher von Frauen in Anspruch genommen wird (ebd., S. 99). Nun stellt sich die Frage nach dem Stellenwert von geschlechtsspezifischer Sozialen Arbeit.
In der deutschen Übersetzung der internationalen Definition zur Sozialen Arbeit heißt es: „Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen.“ (DBSH 2016, S. 2). Sind Sozialarbeiter*innen nun also aufgefordert, der wissenschaftlichen Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung in Bezug auf die Gleichstellung von Männern und Frauen nachzukommen, also Frauen aus dem unterdrückten Rollenbild heraus zu holen und gleichzeitig das männliche Geschlecht in seinem patriarchalischen Handeln zu bremsen? Oder ist es vielleicht sinnvoller, die strukturell bedingten Geschlechterrollen als gegeben zu akzeptieren und die im Einzelfall entstehenden Problemlagen mit einem angemessenen Angebot an Beratung und Unterstützung zu bearbeiten? Auch die subjektive Wahrnehmung von Autonomie und Selbstbestimmung muss behandelt werden. Während der*die Sozialarbeiter*in Autonomie als ein Ausbrechen aus den tradierten Rollenbildern interpretiert, wollen Klient*innen vielleicht über sich selbst bestimmen, indem sie sich diesen Rollenbildern hingeben. Dabei muss die Arbeit in bereits bestehenden geschlechterdifferenzierenden und -neutralen Angeboten reflektiert werden und in Zusammenarbeit mit den Klient*innen überprüft werden, wie diese Angebote angenommen werden. Eckes stellt sich in Bezug zur Arbeit mit Obdachlosigkeit sogar die Frage, ob es nicht sogar sexistisch ist, Frauen in eine untergeordnete Rolle zu drängen, wenn mehr frauenspezifische Angebote bereitstellt werden, als spezifische Angebote für Männer (vgl. Eckes 2010, S. 180). Gleichzeitig wird aber auch behauptet, dass in den sozialen Strukturen, in denen sich die Klient*innen befinden, Rollenbilder so verinnerlicht werden, dass es unmöglich ist, ohne professionelle Hilfe (durch Sozialarbeiter*innen) aus diesen herauszukommen (vgl. BAGW POS 03 2012, S.3). Außerdem spielt es ebenfalls eine Rolle, wie der*die Sozialarbeiter*in seine*ihre eigene Rolle in Hinblick auf die aktuelle Gender-Debatte bewertet. Fest steht, dass der wissenschaftliche Ansatz der Gender-Debatte eine große Rolle bei der Bereitstellung von Sozialer Arbeit spielt und elementar bei der Bereitstellung dieser praxisorientierten Profession ist.
Der Ursprung von Sozialer Arbeit findet sich in der Arbeit mit Individuen, die wir heute als Wohnungslose oder Obdachlose in unserer Gesellschaft wahrnehmen: den Ärmsten der deutschen Bevölkerung. Die Armenfürsorge hat eine bis in das Mittelalter zurückführende Geschichte und die Marginalisierten hatten stets einen eigenen Stellenwert in der gesellschaftlichen Ordnung, da sie den Gegenpol zu den Reichen darstellten und darstellen. Eine genaue Vorstellung von der Größenordnung Wohnungsloser und wie Obdachlosigkeit in unserem heutigen Sozialstaat überhaupt entstehen kann, existiert allgemein jedoch nicht. Armut wird im deutschen von Sozialhilfe gesteuerten System kaum noch wahrgenommen, während das Bild von Obdachlosigkeit als romantischer Schrei nach Freiheit oder das Versagen eines Einzelnen bagatellisiert wird. Doch inwiefern Obdachlosigkeit mit Armut wirklich zusammenhängt und welche Ursachen und Folgen Armut haben, soll im folgenden Abschnitt diskutiert werden. Außerdem soll geklärt werden, wie dringend und in welchem Ausmaß Soziale Arbeit für Obdachlose benötigt wird.
Die Vermutung liegt nahe, da jeder deutsche Bürger ein Recht auf die Sicherung eines Existenzminimums hat, dass es keine Armut in Deutschland gibt. Das Recht auf Wohnung ist zwar im Einzelnen nicht in unserem Grundgesetz verankert, jedoch verletzt fehlender Wohnraum das Recht auf Menschenwürde, freie Entfaltung der Persönlichkeit und auch der körperlichen Unversehrtheit (vgl. Artikel 1 und 2 GG). Außerdem folgt Deutschland dem Sozialstaatsprinzip, nach welchem den Schwachen in der Gesellschaft ausreichend Unterstützung zur Verfügung stehen soll. Es muss also zunächst geklärt werden, was Armut überhaupt bedeutet und wie es zur Wohnungslosigkeit kommen kann.
Wie bereits angedeutet, ist eine Definition von Armut in unserer heutigen Gesellschaft schwer zu finden. In jeder Epoche der Geschichte, in der Armut in den Fokus der Wissenschaft geriet, hatte sie eine andere Bedeutung. Generell sind die Armen sozial marginalisierte Gruppen, die im Verhältnis zur Norm ihrer jeweiligen sozialen Schicht unterdurchschnittlich viel haben (vgl. Lutz 2002, S. 344). Noch im 20. Jahrhundert wurde versucht, Armut durch fehlendes Einkommen im Vergleich zum gesellschaftlichen Durchschnitt zu messen, kam dadurch aber zu unterschiedlichen Ergebnissen, die wiederum zu gegensätzlichen Diskursen führten. Seit einigen Jahren wird Armut mit einem prozessorientierten Ansatz versucht zu erklären, der die individuellen Lebenslagen der Obdachlosen betrachtet und so versucht Ausgrenzungsdynamiken zu erkennen und zu erklären (ebd., S. 341). Aber auch heute kann keine einheitliche Definition von Armut gefunden werden. Der EU-Rat definierte 1984 arme Personen als die, „die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 2001 in Fichtner et al. 2005, S. 71).
Der Lebenslagenansatz
Dieser Definition folgend, orientiert sich die Wissenschaft heute am sogenannten Lebenslagenansatz. Dabei wird nicht nur das Einkommen von Individuen als Indikator von Armut genutzt, sondern auch die gesellschaftliche Teilhabe durch zum Beispiel Arbeit, Wohnen und Ausbildung – also Dimensionen, die ein „unbeschwertes Leben“ ermöglichen (vgl. Schniering 2006, S. 14). Auch der Mangel an sozialem Kapital, also die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder sozialen Netzwerken, gehört zur heutigen Definition von Armut. Das Individuum befindet sich also in einer Lebenslage, die ihm*ihr als objektiver Handlungsspielraum zur Verfügung steht. Hinzu kommt, wie das Individuum mit dieser objektiven Lebenslage umgeht, also welche subjektiven Bewältigungsstrategien zeigen sich, um die aktuelle Lebenslage zu verarbeiten (z.B. Lebenszufriedenheit, Sozialbeziehungen, Gesundheit) (vgl. ebd., S. 16 und Sellach 2010, S. 474). Eine Operationalisierung zur Bestimmung von einem benötigten Maß an sozialer Teilhabe ist nicht möglich, da definitorisch nicht festgelegt ist, welche Dimensionen überhaupt dazu gehören und wann eine Unterversorgung beginnt. Jedoch ist sich die Literatur einig, dass eine materielle Unterversorgung die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe beschränkt und dies wiederum zu sozialer Isolation und psychischen Gesundheitsschäden führen kann. „Das Problem der Bestimmung von Armut beinhaltet mehr als die Frage nach der Höhe des Einkommens. Arm im umfassenden Sinne ist, wer aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage von den „normalen“ Lebensvollzügen und Aktivitäten der Menschen in seiner jeweiligen Gesellschaft ausgeschlossen ist. […] Die Ärmsten haben häufig die schlechteste Gesundheit und die schlechteste Wohnung. Sofern sie beschäftigt sind, haben sie die schlechtesten Arbeitsbedingungen, was wiederum ihr Einkommen und ihre Gesundheit negativ beeinflusst.“ (Lutz/ Simon 2012, S. 34). Dieser Lebenslagenansatz ist wohl das übliche Prinzip, um in unserer Gesellschaft Armut zu definieren. Die Sozialwissenschaftlerin Brigitte Sellach kritisiert an diesem Ansatz jedoch, dass geschlechterdifferenzierte Dimensionen wie etwa die Aufgaben in der Mutterschaft/ Vaterschaft, geschlechtsbedingte Benachteiligungen bzw. Privilegierungen und die der Selbstbestimmung außer Acht gelassen werden (vgl. Sellach 2010, S. 2010, S. 474).
Wichtig bei der Betrachtung von Armut ist, dass dieses Phänomen als Prozess gesellschaftlicher Ausgrenzung verstanden wird, dessen Bedeutung relativ ist und im jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext analysiert werden muss. Politisch betrachtet sind Individuen also in Deutschland arm, wenn die Grenze von Einkommen unterschritten wird, die den Anspruch auf Einsetzen von Sozialhilfe auslöst (Lutz/ Simon 2012, S. 35).
In der Wissenschaft wird zwischen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit unterschieden. Dafür hat der europäische Dachverband der Wohnungslosenhilfe FEANTSA einen Abgrenzungsversuch in Form der „European Typology of Homelessness and Housing Exclusion“ (kurz ETHOS) unternommen. Er definiert „roofless people“ (in der deutschen Übersetzung Obdachlose) als Menschen, die im öffentlichen Raum leben, während „houseless people“ (in der deutschen Übersetzung Wohnungslose) zwar keinen eigenen Wohnraum zu Verfügung haben, aber für einen begrenzten Zeitraum in einer Notunterkunft, Einrichtung oder im Übergangswohnen leben (vgl. FEANTSA 2005). Nun ergibt sich das Problem, dass beide Begriffe bereits in der deutschen Übersetzung durch die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe Österreich anders zugeordnet werden. So werden Obdachlose sowohl als Menschen definiert, die im öffentlichen Raum (also „auf Platte“) leben, aber auch als diejenigen, die in niedrigschwelligen Notunterkünften leben. Als Wohnungslose wird der Personenkreis derjenigen bezeichnet, die für einen begrenzten Zeitraum in einer Einrichtung (z.B. Frauenhäuser, Übergangswohnheime, Heilanstalten, Jugendheime) wohnen (vgl. BAWO 2005).
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