Masterarbeit, 2017
79 Seiten, Note: 1,5
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1) Einleitung
1.1) Motivation und Zielsetzung
1.2) Struktur der Arbeit
1.3) Methodik
2) Verständnis von Bionik und Produktentwicklung
2.1) Begriffsbestimmung Bionik
2.2) Begriffsbestimmung Produktentwicklung
3) Integration von Bionik in die Produktentwicklung
3.1) Aktueller Stand und Trend in Deutschland
3.2) Best Practice Beispiele
3.3) Methodische Ansätze
4) Problemstellung und Lösungsansatz
4.1) Herausforderungen der bionischer Produktentwicklung
4.2) Expertenbefragung als Problemlösungsansatz
5) Ergebnisse der Expertenbefragung
5.1) Aktueller Stand und Trend in Deutschland
5.2) Herausforderungen
5.3) Problemlösungsansätze und Handlungsempfehlungen
5.4) Perspektiven
6) Auswertung der Expertenbefragungen
6.1) Methodische Diskussion
6.2) Inhaltliche Diskussion
7) Perspektiven
7.1) Ausblick
7.2) Handlungsempfehlungen
7.3) Fazit
Quellenverzeichnis
Anhang
Fragebogen
Anschreiben
Tabelle 1: Angeschriebene Bionik-Experten und deren Zugehörigkeit.
Tabelle 2: Übersicht aller identifizierten Methoden zur Vereinfachung des Bionikprozesses.
Tabelle 3: Ergebnisübersicht der angefragten Experten sowie die Anzahl und der Anteil der beantworteten Fragebögen.
Tabelle 4: Nach Mayring inhaltlich zusammengefasste Antworten der Experten zu Frage 1 des Fragebogens.
Tabelle 5: Nach Mayring inhaltlich zusammengefasste Antworten der Experten zu Frage 2 des Fragebogens.
Tabelle 6: Nach Mayring inhaltlich zusammengefasste Antworten der Experten zu Frage 3 des Fragebogens.
Tabelle 7: Nach Mayring inhaltlich zusammengefasste Antworten der Experten zu Frage 4 des Fragebogens.
Abbildung 1: Skizze einer Flugmaschine von Leonardo da Vinci.
Abbildung 2: Globale Aktivitätskurve im Bereich "Bioinspiration". Basierend auf dem Da Vinci Index 2.0 des Fermanian Business & Economic Institute.
Abbildung 3: Relativer Anteil an veröffentlichter Fachliteratur im Jahr 2015 aufgeteilt nach deren Herkunft.
Abbildung 4: Relatives Suchinteresse / Beliebtheit des Suchbegriffes "Bionik" in der Google- Suchfunktion über die Zeit.
Abbildung 5: Werbebild der Firma STO für die wasserabweisende Fassadenfarbe Lotusan im Vergleich zum biologischen Vorbild der Lotuspflanze.
Abbildung 6: Darstellung der bionischen Kabinentrennwand von Airbus.
Abbildung 7: OctopusGripper - technischer Greifer nach Vorbild der Octopustentakeln der Firma Festo.
Abbildung 8: Anzahl der veröffentlichter Methoden zur Vereinfachung des Bionikprozesses pro Jahr.
Abbildung 9: Screenshot der Onlinebibliothek von www.asknature.org.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese Masterarbeit im Studiengang "MBA - General Management" an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin des Autoren Dominik Siemon befasst sich mit einer wissenschaftlichen Abhandlung zum Thema "Stand und Perspektiven der Integration von Bionik in die Produktentwicklung".
Bionik in der Produktentwicklung steht für die Übertragung von biologischen Prozessen, Materialien, Strukturen, Funktionen, Organismen oder Erfolgsprinzipien in technische Anwendungen.[1] Die Einbeziehung der Bionik in die Produktentwicklung gilt als erfolgsversprechend und relevant, da sich Millionen von biologischen Vorbildern über 3,8 Milliarden Jahre evolutiv entwickelt haben[2] und auf allen stets ein erheblicher Selektionsdruck wirkte, der dazu führte, dass nur optimal an ihre Umwelt angepasste Systeme überdauerten.[3] So beziffert Wilhelm Barthlott, emeritierter Professor für Botanik, Biodiversität und Bionik sowie der Begründer des Lotuseffekts, ungefähr zehn Millionen lebende Prototypen, die als Blaupause für technische Entwicklungen dienen können.[4] Ebenso sieht Prof. Fredmund Malik, dass die "wirklich spannenden Ergebnisse [...] künftig zweifellos aus den biologischen Wissenschaften kommen”.[5]
Produktentwicklungen, welche besonders in Deutschland durch die Integration von Bionik entstanden, haben sich in vielen unterschiedlichen Branchen etabliert[6] und leisten einen wichtigen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Institutionen. Bei zahlreichen bionischen Produktentwicklungen konnten beispielsweise signifikante Materialeinsparungen, Langlebigkeit oder innovative Produkteigenschaften erreicht werden, wodurch Ressourcen und Kosten eingespart werden.[7] Als klassische Beispiele der Bionik gelten der bereits erwähnte Lotuseffekt für selbstreinigende Oberflächen, welcher den zwölf wichtigsten deutschen Innovationen der vergangenen Jahrzehnte zugeordnet wird[8] oder der Schwimmanzug "Speedo", dessen Struktur der Haifisch-Haut nachempfunden ist und dadurch einen sehr geringen Strömungswiderstand im Wasser aufweist.[9] Aufgrund dieses Potentials besteht industrieseitig ein großes Interesse an bionischen Lösungsansätzen[10], welches durch die mittlerweile immer kürzer werdenden Produktlebenszyklen noch verstärkt werden dürfte.[11]
Auch auf der Forschungsebene ist die Bionik ein Thema von stetig wachsender Bedeutung. So wurden weltweit zuletzt beinahe 3000 wissenschaftliche Veröffentlichungen pro Jahr zu diesem Thema publiziert.[12] Dabei nimmt die deutsche Forschung eine Spitzenposition ein.[13]
Jedoch sieht der Bioniker und Privatdozent Ernst Küppers gemessen an der Anzahl, der in den letzten 30 Jahren entwickelten bionischen Lösungsansätze, nur wenige bionische Produkte, die sich am Markt nachhaltig etablieren und durchsetzen konnten.[14] Diesen subjektiven Eindruck bestätigen Wanieck et al. mit ihrer Untersuchung von 303 bionischen Entwicklungen, von denen lediglich 28 Prozent kommerziell vermarktet werden.[15]
Diese vergleichsweise geringe Anzahl an kommerziell erfolgreichen Bionikprodukten könnte am hohen Fehlerpotenzial bei bionischen Produktentwicklungen liegen.[16] Die wissenschaftliche Fachliteratur sieht den Grund dafür vor allem in mangelnden methodischen Ansätzen[17] bzw. deren fehlende, strukturierte Aufarbeitung.[18] Der Großteil der wissenschaftlichen Literatur ist ingenieurswissenschaftlich geprägt und beschränkt sich zumeist auf die Darstellung der Ergebnisse von erfolgreichen bionischen Produktentwicklungen. Darüber hinaus gibt es zum tatsächlichen Stand der Integration von Bionik in der Produktentwicklung in der deutschen Praxis sowie deren Schwierigkeiten bei der Implementierung lediglich in der Arbeit von Jordan eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Dieser hatte mit Hilfe von Fragebögen den Ablauf von vier Entwicklungsprojekten beschrieben und analysiert. Aufgrund der geringen Anzahl ausgefüllter Fragebögen kann hier jedoch nicht von repräsentativen Ergebnissen gesprochen werden.[19]
Diese Masterarbeit zielt daher darauf ab, den aktuellen Stand und die Perspektiven der Integration von Bionik in die Produktentwicklung auf Basis der wissenschaftlichen Literatur sowie mit Hilfe von Expertenbefragungen zu erarbeiten. Die Hypothese dieser Arbeit ist, dass die Bionik trotz großen Potentials in der praktischen Produktentwicklung unterrepräsentiert ist. So sollen die Schwierigkeiten der Integration in der Praxis identifiziert und mögliche Lösungsansätze diskutiert werden. Die Ergebnisse der Literaturstudie sowie der Befragungen sollen zudem verglichen werden, woraus abschließend Handlungsempfehlungen abgeleitet werden sollen, ob und wie die Bionik künftig (besser) in die Produktentwicklung integriert werden kann.
Diese Masterarbeit beginnt zunächst mit einem Einleitungskapitel, welches die Motivation und Zielsetzung sowie Struktur und Methodik der Arbeit darlegt. Nach einer Begriffsbestimmung und Verständnisdefinition der Schlagwörter Bionik und Produktentwicklung in Kapitel 2, soll im folgenden Kapitel 3 ein umfassender Überblick zur Integration von Bionik in die Produktentwicklungen gegeben und die dazu existierende Literatur weitgehend zusammengefasst werden. Hierbei wird zunächst der aktuelle Stand der Integration der Bionik in der Produktentwicklung beleuchtet, drei Best Practice Beispiele näher erläutert und anschließend auf methodische Vorgehensweisen bei der bionischen Produktentwicklung eingegangen. In Kapitel 4 werden anschließend die Schwierigkeiten der bionischen Produktentwicklung erörtert und im Unterkapitel 4.2 die Expertenbefragungen als Problemlösungsansatz aufgezeigt. Mit Hilfe dieser Expertenbefragungen soll der tatsächliche Stand, die Schwierigkeiten, Lösungsansätze und Perspektiven der Integration von Bionik in die Produktentwicklung in der Praxis identifiziert werden. Die Ergebnisse dieser Befragungen werden in Kapitel 5 dargestellt. Im sechsten Kapitel folgt eine Diskussion der Befragungsergebnisse sowie ein Abgleich der Ergebnisse der Befragungen mit den Ergebnissen der Literaturrecherche aus Kapitel 3 und 4. Abschließend sollen in Kapitel 7 die Perspektiven der bionischen Produktentwicklung diskutiert werden, indem ein Ausblick und Handlungsempfehlungen für Entscheidungsträger formuliert werden, ob und wie die Bionik künftig (besser) in die Produktentwicklung integriert werden kann. Die Masterarbeit endet in Unterkapitel 7.3 mit einer kurzen Zusammenfassung und einem Fazit der Arbeitsergebnisse. Am Ende der Arbeiten finden sich die Angaben zu Quellen und Literatur sowie der Anhang und die Eigenständigkeitserklärung.
Die Begriffsbestimmung und Verständnisdefinition der Schlagwörter Bionik und Produktentwicklung in Kapitel 2 werden auf Basis einer wissenschaftlichen Literaturrecherche erarbeitet. Dazu werden neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen vor allem Sachbücher zu Rate gezogen.
Ähnlich verhält es sich im folgenden Kapitel 3, welches einen Überblick zur Integration von Bionik in die Produktentwicklungen gibt und die existierende Literatur weitgehend zusammenfasst. Neben der konventionellen wissenschaftlichen Literatur wird in diesem Kapitel auch vermehrt Grauliteratur (wie Unternehmenswebseiten, Zeitungsartikel und Publikationen von Verbänden) genutzt, um einen umfassenden Einblick zum aktuellen Stand der Integration der Bionik in der Produktentwicklung sowie Best Practice Beispiele wiedergeben zu können.
Die in Kapitel 4 dargestellten Schwierigkeiten der bionischen Produktentwicklung basieren wiederum zum Großteil auf der Recherche wissenschaftliche Literatur und beschreibt die Expertenbefragung als Problemlösungsansatz, welche in Kapitel 5 folgt.
Als Experten werden Sachverständige, Kenner oder Fachleute bezeichnet, also Personen, die über besondere Wissensbestände[20] und langjährige Erfahrung[21] verfügen. So wurde für die Expertenbefragungen in dieser Masterarbeit zunächst eine Internetrecherche zu Personen mit Bionikexpertise durchgeführt. Der Großteil der befragten Experten entspringt der Mitgliederdatenbank des Bioniknetzwerkes BIOKON. Das sogenannte BIOKON-Personenregister umfasst unterschiedlichste Akteure aus Wissenschaft und Wirtschaft.[22] Außerdem wurden die Verfasser wissenschaftlicher Literatur und Unternehmensnachrichten mit Bionikbezug, die im Rahmen der sonstigen Literaturrecherche gefunden wurden, angeschrieben. Darüber hinaus wurde eine Personensuche mit den Suchkriterien "Bionik", "Biomimetik", "Bionics" und "Biomimetics" bei den Online-Karriere-Netzwerken Xing[23] und LinkedIn[24] durchgeführt, um passende Experten zu identifizieren. Anschließend wurden insgesamt 74 Personen persönlich per E-Mail angeschrieben und um Mithilfe an dieser Masterarbeit gebeten. Bei der Auswahl der angeschriebenen Experten wurde auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Personen aus der Industrie, aus der Wissenschaft sowie von Verbänden und Institutionen geachtet (vgl. Tab.1)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Angeschriebene Bionik-Experten und deren Zugehörigkeit.
Das Anschreiben sowie der angehängte Fragebogen, der den Experten per E-Mail zugeschickt wurde, ist im Anhang dieser Arbeit einsehbar (Anhang 1 und 2). Bei der Erstellung des Anschreibens wurde auf eine neutrale, verbindliche, informierende und motivierende Formulierung geachtet. Es wurde eine empfohlene Beantwortungszeit von maximal fünfzehn Minuten genannt, um eine möglichst hohe Zahl an Antworten zu bekommen, jedoch (für einen Experten) genug Zeit zu lassen, um die Fragen substantiell beantworten zu können. Um eine möglichst große Zahl an Rückläufern zu bekommen, wurde den Experten die Wahlmöglichkeit zwischen einer schriftlichen Beantwortung per E-Mail oder einem persönlichen Telefonat dargelegt. Für Experten, die namentlich nicht genannt werden wollen, wurde außerdem eine Anonymisierung ihrer Antworten in dieser Masterarbeit angeboten. Desweiteren wurde den Experten eine Zusendung der Arbeitsergebnisse versprochen, wenn Interesse daran besteht.
Da Experteninterview ist eines der am häufigsten eingesetzten qualitativen Verfahren zur Wissensgenerierung in der industriesoziologische Forschung[25] und ist bei einer korrekten methodischen Anwendung ein sehr voraussetzungsvolles und ausgesprochen aufwendiges Instrument zur Datenerhebung, welches hohe Kompetenzen voraussetzt.[26] Deshalb wurde in dieser Arbeit auf einen vereinfachten Fragebogen mit vier standardisierten Kernfragen zurückgegriffen, der jedem Experten schriftlich zugesandt wurde. Die Fragen wurden dabei neutral und direkt formuliert.
In Vorbereitung auf die Telefonate mit den drei Experten, die die Fragen telefonisch beantworten wollten, machte sich der Autor zunächst mit dem Fachgebiet vertraut, erarbeitete sein Forschungsinteresse und nutzte den Fragebogen als Leitfaden für das Telefoninterview. Während des Telefonats protokollierte der Autor die Aussagen der Experten, fasste nach dem Telefonat die wesentlichen Punkte zusammen und schickte dem Experten die zusammengefassten Aussagen zur Prüfung und Freigabe zu. Missverstandene Aussagen wurden anschließend korrigiert. Die übrigen beantworteten Fragebögen erhielt der Autor schriftlich per E-Mail und hatte die Möglichkeit, Verständnisfragen schriftlich zu klären.
Für die Auswertung der beantworteten Fragebögen wurde methodisch die zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring genutzt. Diese hat zum Ziel, die Antworten durch Paraphrasierung (erster Schritt), Generalisierung (zweiter Schritt) sowie Auswertung und Interpretation (dritter Schritt) in komprimierter und vergleichbarer Form im Hinblick auf die Forschungsfragen auswerten und interpretieren zu können.[27] Die Forschungsfragen zielten auf die persönlichen Einschätzungen der Experten zum tatsächliche Stand der Integration der Bionik in die Produktentwicklung, die dabei auftretenden Schwierigkeiten, dafür denkbare Lösungsansätze und die zukünftigen Perspektiven ab.
Im sechsten Kapitel wurden die Befragungsergebnisse diskutiert und mit den Ergebnissen der Literaturrecherche aus Kapitel 3 verglichen.
Im abschließenden Kapitel 7 wurden die Perspektiven der bionischen Produktentwicklung reflektiert und auf Basis der vorherigen Kapitel und daraus abgeleiteter Erkenntnisse ein Ausblick und Handlungsempfehlungen für Entscheidungsträger formuliert, ob und wie die Bionik künftig (besser) in die Produktentwicklung integriert werden kann. Die Masterarbeit endet mit einer Zusammenfassung und einem Fazit der Arbeitsergebnisse sowie der nachfolgenden Angabe von Quellen und Literatur sowie den Anhängen.
Der Begriff Bionik ist eine Wortschöpfung aus den Begriffen Biologie und Technik und wurde ursprünglich von Jack E. Steele - Luftwaffenmajor der US-Airforce - erstmals im Jahr 1960 auf einer Konferenz in der Wright-Patterson Air Force Base in Dayton (Ohio/USA) namentlich (in englischer Sprache = bionics = biology and technics) genannt.[28] Die Bionik beschäftigt sich mit der Übertragung von biologischen Systemen und Prinzipien auf technische Anwendungen, indem grundlegende Lösungsprinzipen, die sich in der Natur evolutiv entwickelt haben, als technische Problemansätze genutzt werden.[29]
Gemäß der VDI-Richtlinie 6220 (Bionik - Konzeption und Strategie - Abgrenzung zwischen bionischen und konventionellen Verfahren/Produkten) verbindet Bionik in interdisziplinärer Zusammenarbeit Biologie und Technik mit dem Ziel, durch Abstraktion, Übertragung und Anwendung von Erkenntnissen, die an biologischen Vorbildern gewonnen werden, technische Fragestellungen zu lösen.[30]
Im Gegensatz zur Biotechnologie beschäftigt sich die Bionik nicht mit der direkten Nutzung biologischer Strukturen oder ganzer Organismen, sondern versucht vielmehr diese (in Teilen) nachzuahmen und technisch nutzbar zu machen. Neben dem Begriff Bionik existieren mit Biomimikry, Biomimetik oder Bionic Engineering [31] weitere Begriffe, die synonym verwendet werden. Alle liegen der Annahme zugrunde, dass sich aufgrund des evolutionären Druckes in der Natur über 3,8 Milliarden Jahre optimierte Strukturen und Prozesse entwickelt haben, von denen die Technik lernen kann.[32] Neben den heute über 2,5 Millionen identifizierten Arten[33] werden insgesamt weitere 7,5 Millionen noch nicht beschriebene Arten beziffert, die zusammen einen enorm großen Ideenpool für technische Problemlösungen zur Verfügung stellen.[34] Dieser Ideenpool ist so ergiebig, weil sich Arten in jedem verfügbaren Lebensraum auf der Erde (und sei es ein noch so unwirtlicher) angesiedelt haben und dabei physikalische (z.B. Temperatur), chemische (z.B. pH-Wert) oder biologische (interspezifische Konkurrenz) Herausforderungen meistern mussten, die mit technischen Herausforderungen vergleichbar sind.[35] Dabei spielen die in der Natur selektionskritischen Faktoren Ressourcen- und Energieeffizienz eine zentrale Rolle. Mithilfe dieser bionischen Vorbilder können bereits existierende Produkte optimiert oder durch zum Teil gänzlich neue Lösungsansätze, sogenannte Sprunginnovationen, erreicht werden. Basiert eine bionische Innovation auf einer konkreten technischen Fragestellung, für die ein Vorbild in der Biologie gesucht wird, bezeichnet man diesen Ansatz als technology-pull. Führt hingegen eine biologische Grundlagenforschung zu einer technischen Innovation, welche ohne spezifische Fragestellung identifiziert wurde, spricht man von biology-push. Für die komplexen Anforderungen einer bionischen Produktentwicklung bedarf es profundem Know-how aus unterschiedlichen Disziplinen, sodass heutzutage meist Naturwissenschaftler, Ingenieure oder auch Architekten und Designer interdisziplinär zusammenarbeiten.[36]
Dabei ist die Bionik keine reine Erscheinung der Neuzeit, sondern es ist zu vermuten, dass Menschen bereits seit Anbeginn der Menschheit die Natur als Vorbild genommen und versucht haben, Erkenntnisse aus der Natur für sich technisch nutzbar zu machen. Als Wegbereiter der modernen Bionik wird Leonardo da Vinci gesehen, der besonderes Interesse am Vogelflug zeigte und daraus technische Analogien in Form von Flügelklappen oder eines Flugapparates entwickelte.[37] (vgl. Abbildung 1)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Skizze einer Flugmaschine von Leonardo da Vinci.[38]
Die Bionik entwickelte sich dann ab den 1950er Jahren zu einer aufstrebenden Disziplin und fand als modellbasierte Bionik zunächst im Flugzeug-, Fahrzeug- und Schiffbau Anwendung, indem auf Basis der Ähnlichkeitstheorie Modellgesetze zur Übertragung von Prinzipien biologischer Vorbilder in technische Anwendungen abgeleitet wurden. In den 1960er Jahren wurden durch den Einfluss der Kybernetik für die Biologie und die Technik gemeinsame sprachliche und methodische Standards etabliert, was ein elementarer Baustein für den Wissenstransfers innerhalb der Bionik darstellte. Durch neue Methoden der Mess- und Fertigungstechnik wurde die Bionik in den 1980er Jahren um Nano- und Mikroanwendungen, wie den Lotuseffekt, erweitert. In den 1990er Jahren folgten Impulse aus den Disziplinen Informatik, Nanotechnologie, Mechatronik und Biotechnologie, wodurch viele technische Nachahmungen von komplexen biologischen Systemen erst möglich wurden.[39] Heutzutage haben sich die Anwendungsfelder der Bionik noch einmal erweitert, entsprechen im Wesentlichen der Fachgruppengliederung des Bionik-Kompetenznetzes und umfassen nun unter anderem die Bereiche Architektur und Design, Leichtbau und Materialien, Oberflächen und Grenzflächen, Fluiddynamik, Robotik und Produktionstechnik, Sensorik und Informationsverarbeitung, Bionische Optimierungsmethoden, Organisation und Management sowie Bionische Medizintechnik.[40] Die Übergänge zwischen diesen Fachbereichen können jedoch als fließend bezeichnet werden. Außerdem entspringen der sehr dynamischen Bionikforschung stets neue Forschungszweige, welche zu einer Erweiterung dieser Klassifizierung führen.[41]
Der Begriff Produktentwicklung hat sich in seiner Bedeutung und seinem Umfang im Laufe der Zeit gewandelt[42] und beschreibt heutzutage den Prozess, in dem ein Produkt auf Basis einer Idee geplant, entwickelt, erprobt, produziert und angeboten wird. Das in einem solchen Prozess entwickelte Produkt dient der Erfüllung von Bedürfnissen des Menschen bzw. des Konsumenten.[43] Gemäß der VDI Richtlinie 2220 (Produktplanung - Ablauf, Begriffe und Organisation) obliegt der Produktentwicklung daher die herausfordernde Aufgabe, ein geeignetes Lösungskonzept für die Erfüllung einer geforderten Produktfunktion sowie dessen Herstellung zu erarbeiten.[44]
Die in dieser Arbeit relevanten technischen Produkte definieren sich als künstlich erzeugte geometrisch stoffliche Gebilde, welche einen bestimmten Zweck und eine Funktion erfüllen, indem sie physikalische, chemische und/oder biologische Prozesse bewirken. Bei technischen Produkten handelt es sich meist um mehrgliedrige Erzeugnisse, die unterschiedliche Komplexitätsgrade aufweisen können. Die Komplexität wird durch die Anzahl und Unterschiedlichkeit der Elemente sowie durch die Anzahl und die Vielfalt der Relation der Elemente bestimmt.[45] Dabei sind Produkte heutzutage meist erheblich komplexer als beispielsweise ein Faustkeil, welcher wahrscheinlich eines der ersten "technischen Produkte" der Menschheitsgeschichte war.
Wenn in dieser Masterarbeit der Begriff Produktentwicklung (mittels Integration von Bionik) verwendet wird, geht es entgegen der oben genannten und umfassenderen Definition vor allem um die Bausteine Planung und Entwicklung mit denen der Produktentwicklungsprozess beginnt. Die Schritte Erprobung, Produktion und Vertrieb werden nur untergeordnet betrachtet. Den Planungs- und Entwicklungsschritten kommt eine zentrale Bedeutung zu, da in diesen Phasen die Voraussetzungen für das fertige Produkt bestimmt werden. So umfassen die Planungs- und Entwicklungsschritte zahlreiche einzelne Handlungsschritte, wie zum Beispiel das Herleiten von Produktanforderungen, die Erarbeitung von Lösungsalternativen sowie deren Bewertung und Auswahl.
Sowohl bei der Entwicklung eines neuen Produkts als auch bei einer Änderung, Anpassung oder Verbesserung eines bereits existierenden Produkts ist der Prozessschritt der Produktentwicklung in erster Linie ein gedanklicher Prozess. Dabei erfordert der gesamte Produktentwicklungsprozess von den daran beteiligten Personen, zum Beispiel Entwicklern, Ingenieuren und/oder Bionikern, ein ausgeprägtes Fakten- und Methodenwissen sowie heuristische Kompetenzen. Durch die Internationalisierung und Globalisierung der Produktmärkte werden Unternehmen zudem vor die Aufgabe gestellt, in immer kürzeren Abständen neue oder verbesserte Produkte zu entwickeln, welche gegenüber bereits existierenden Produkten stetige Verbesserungen mit sich bringen. Der daraus resultierende Druck nach Produktverbesserungen und Innovationen erhöht wiederum die Herausforderungen, denen sich die Produktentwickler stellen müssen.[46]
Im folgenden Kapitel wird ein umfassender Überblick zur Integration von Bionik in die Produktentwicklung gegeben, indem der aktuelle Stand der Integration zusammengefasst wird, drei Best Practice Beispiele näher erläutert werden und im dritten Unterkapitel auf die methodischen Vorgehensweisen bei der bionischen Produktentwicklung eingegangen wird.
Die Bionik gilt laut dem BIOKON-Netzwerk heutzutage als eine etablierte Innovationsmethode, aus der vor allem in Deutschland eine Reihe von Produkt- und Technologieinnovationen entstanden sind. Aufgrund einer vergleichsweise großen wissenschaftlichen Community sowie Unternehmen, die sich mit dem Thema aktiv auseinandersetzen, gilt Deutschland zu den wichtigsten Forschungs- und Entwicklungsstandorten im Bereich Bionik weltweit.[47] Laut Dienst (2017) besteht industrieseitig ein eindeutiges Interesse nach technologischen Ansätzen auf Basis biologischer Vorbilder.[48] So spricht Jordan (2008) davon, dass die Bionik mittlerweile als einer der Innovationsmotoren und Hoffnungsträger gilt.[49] Gerade hinsichtlich immer kürzerer Produktlebenszyklen besteht industrieseitig Bedarf nach optimierten Produkten, welche idealerweise (wie die Vielzahl bionischer Produktentwicklungen) auch noch eine hohe Umweltverträglichkeit nachweisen können.[50]
Das die deutsche Bionik-Forschung eine Spitzenposition inne hat[51] und die Bedeutung dieser Wissenschaftsdisziplin in den letzten Jahren stetig zugenommen hat, lässt sich auch aus der Anzahl der Veröffentlichungen mit Bionikbezug in der Fachliteratur ableiten. Waren es in den 1970er Jahren noch unter zehn Veröffentlichungen, sind diese mittlerweile deutschlandweit auf über 1000 im Jahr gestiegen.[52]
Sieht man sich vergleichsweise die Zahlen für die weltweiten Veröffentlichungen an, kommt man im Jahr 2013 auf beinahe 3000 Veröffentlichungen mit Bionikbezug, vor allem in den Entwicklungsbereichen Robotik und Materialwissenschaften.[53] Diese positive, weltweite Entwicklung lässt sich grafisch sehr gut mittels des Da Vinci Index 2.0 darstellen. Dieser wurde vom The Fermanian Business & Economic Institute auf Basis des erstmals 2011 veröffentlichten Da Vinci Index entwickelt und ermöglicht, "to measure activity in the field of bioinspiration, monitoring four areas of data: number of scholarly articles, number of patents, number of grants, and dollar value of grants." Die daraus abgeleitete Aktivitätskurve (vgl. Abbildung 2) zeigt einen klaren Anstieg der Aktivitäten im Bereich bioinspiration. Insgesamt nehmen die Aktivitäten im Zeitraum von 2000 bis 2014 um das Sechsfache des Ausgangswerts zu. Trotz des schwachen Abfalls seit 2014 sind die Experten des Institutes der Auffassung, dass "there is still great potential for this field to rebound in the latter half of 2016."[54]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Globale Aktivitätskurve im Bereich "Bioinspiration". Basierend auf dem Da Vinci Index 2.0 des Fermanian Business & Economic Institute. Quelle: The Fermanian Business & Economic Institut.[55]
Sieht man sich die Herkunft der veröffentlichten Fachliteratur im Jahr 2016 an (vgl. Abbildung 3), so kann man erkennen, dass ein Drittel aller Arbeiten aus Europa stammt. Zusammen mit den 17 % der US-Amerikanischen Arbeiten sinkt deren relativer Anteil jedoch jährlich seit der erstmaligen Erhebung in 2013. Starke Zuwächse finden sich hingegen v.a. in Asien und dem Mittleren Osten, welche im Jahr 2016 bereits auf 41 % bzw. 3 % aller Veröffentlichungen kommen.[56]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Relativer Anteil an veröffentlichter Fachliteratur im Jahr 2015 aufgeteilt nach deren Herkunft. Quelle: The Fermanian Business & Economic Institut.[57]
[...]
[1] BIOKON (2017): Faszination Bionik.
[2] VDI (2012): Richtlinie VDI 6220. Seite 2.
[3] Dienst (2016): Einige Fragen zur Bionik im Yachtdesign. Seite 2.
[4] Barthlott et al. (2015): Plant Surfaces. Seite 1.
[5] Stiftung für Bionik (2017): Webseite.
[6] Ilbing (2016): Evolutionsstrategien und evolutionäre Algorithmen in der technischen Entwicklung.
Seite 1.
[7] VDI (2012): Positionspapier – Zukunft der Bionik. Seite 2.
[8] BIOKON (2016): „Mr. Lotuseffekt“ wird 70.
[9] Morawetz (2007): Bionik als Prinzip der Produktentwicklung. Seite 1.
[10] Dienst (2017): Superformance of Surfboard Fins. Seite 1.
[11] Ilbing (2016): Evolutionsstrategien und evolutionäre Algorithmen in der technischen Entwicklung. Seite 1.
[12] Wanieck et al. (2017): Biomimetics and its tools. Seite 53.
[13] Wissenschaftliche Dienste des deutschen Bundestages (2003): Bionik. Seite 5.
[14] Küppers (2015): Systematische Bionik. Seite: 4-5.
[15] Wanieck et al. (2017): Biomimetics and its tools. Seite 53.
[16] STRICKER (2006): Bionik in der Produktentwicklung unter der Berücksichtigung menschlichen Verhaltens. Seite 63.
[17] Morawetz (2007): Bionik als Prinzip der Produktentwicklung. Seite 1.
[18] Wanieck et al. (2017): Biomimetics and its tools. Seite 57.
[19] Jordan (2008): Methoden und Werkzeuge für den Wissenstransfer in der Bionik. Seite 6.
[20] Kühl et al. (2009): Handbuch Methoden der Organisationsforschung. Seite 33.
[21] Mieg und Näf (2005): Experteninterviews. Seite 7.
[22] BIOKON (2017): Personenregister.
[23] Xing (2017): Erweiterte Suche.
[24] LinkedIn (2017): Suche.
[25] Meuser und Nagel (2009) Das Experteninterview — konzeptionelle Grundlagen und methodische Anlage. Seite 465.
[26] Meuser und Nagel (2009) Das Experteninterview — konzeptionelle Grundlagen und methodische Anlage. Seite 466.
[27] Hiermansperger und Greindl (2003): Durchführung qualitativer Interviews und Auswertung. Seite 53.
[28] Bengelsdorf (2009): Bionik - Stellenwert in der deutschen Industrie. Seite 2.
[29] Eckert (2017): Innovationskraft steigern mit LOBIM. Seite 76.
[30] VDI (2012): Richtlinie VDI 6220. Seite 5.
[31] Dienst (2017): Superformance of Surfboard Fins. Seite 1.
[32] Schüler (2016): Die Biotechnologie-Industrie. Seite 6.
[33] VDI (2012): Richtlinie VDI 6220. Seite 2.
[34] Barthlott et al. (2015): Plant Surfaces. Seite 1.
[35] BIOKON (2017): Faszination Bionik.
[36] BIOKON (2012): Positionspapier. Seite 1.
[37] Jordan (2008): Methoden und Werkzeuge für den Wissenstransfer in der Bionik. Seite 9.
[38] davincileonardo.npage.de (2017): Aufbau der Flugmaschine.
[39] VDI (2012): Richtlinie VDI 6220. Seite 3.
[40] BIOKON (2017): Fachgruppen.
[41] VDI (2012): Richtlinie VDI 6220. Seite 3.
[42] Kern (2005): Verteilte Produktentwicklung. Seite 8.
[43] STRICKER (2006): Bionik in der Produktentwicklung unter der Berücksichtigung menschlichen Verhaltens. Seite 63.
[44] VDI (2017): VDI-Richtlinie: VDI 2220
[45] Schollmeyer (2015): Die Internationalisierung der Produktentwicklung unter Berücksichtigung interkultureller Herausforderungen in China. Seite 11.
[46] STRICKER (2006): Bionik in der Produktentwicklung unter der Berücksichtigung menschlichen Verhaltens. Seite 63.
[47] BIOKON (2012): Positionspapier. Seite 3.
[48] Dienst (2017): Superformance of Surfboard Fins. Beuth Hochschule für Technik Berlin. Seite 1.
[49] Jordan (2008): Methoden und Werkzeuge für den Wissenstransfer in der Bionik. Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg. Seite 4.
[50] Ilbing (2016): Evolutionsstrategien und Evolutionäre Algorithmen in der technischen Entwicklung. Seite 1.
[51] Wissenschaftliche Dienste des deutschen Bundestages (2003): Bionik. Seite 5.
[52] BIOKON (2012): Positionspapier. Seite 3.
[53] Wanieck et al. (2017): Biomimetics and its tools. Seite 59.
[54] Fermanian Business & Economic Institute (2017): The Da Vinci Index & Biomimicry.
[55] Fermanian Business & Economic Institute (2017): The Da Vinci Index & Biomimicry.
[56] Fermanian Business & Economic Institute (2017): The Da Vinci Index & Biomimicry.
[57] Fermanian Business & Economic Institute (2017): The Da Vinci Index & Biomimicry.
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