Für neue Kunden:
Für bereits registrierte Kunden:
Masterarbeit, 2015
53 Seiten, Note: 1,3
1. Einleitung
2. Zur Notwendigkeit der Lesemotivationsförderung in der Grundschule
3. Terminologische Auseinandersetzung
3.1 Lesefreude, Leseinteresse, Lesemotivation
3.2 Konzepte zur Lesemotivation im Vergleich
4. Für die schulische Praxis relevante Erkenntnisse aus Lesemotivationsforschung und Lesedidaktik
4.1 Zur Lesemotivationsstudie von Richter und Plath
4.2 Gestaltung einer gesamtschulischen Lesekultur
4.3 Lesemotivationsförderung im Deutschunterricht
4.3.1 Aufforderung zum Schmökern
4.3.2 Offener Leseunterricht
4.3.3 Auswahl der Unterrichtslektüre
4.3.4 Praxis des Vorlesens
4.3.5 Vorlesegespräche und der Einsatz von Bilderbüchern
4.3.6 Förderung von Anschlusskommunikation
4.4 Entwicklung eines Selbstkonzepts als Leser In
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
Lesen ist bekanntermaßen mehr als die Zusammensetzung von Buchstaben zueinem Wort und das damit verbundene Erkennen dessen. Der wirkliche Sinn von Lektüre erschließt sich Leser Innen erst, wenn sie den Inhalt mit ihrer Lebenswelt,ihrem Weltwissen und ihren bisherigen literarischen Erfahrungen in Verbindungbringen können (vgl. Pfaff-Rüdiger 2011, 17). Nach Hurrelmann ist Lesen einÄkonstruktiver Akt der Bedeutungszuweisung zu einem Text, der in einem Hand-lungszusammenhang steht, so dass auf Leserseite nicht nur Vorwissen und kog-nitive Fähigkeiten (samt Lesestrategien) gefragt sind, sondern auch motivational-emotionale und kommunikativ-interaktive Bereitschaften und Fähigkeiten“ (Hur-relmann 2007 zitiert in Pfaff-Rüdiger 2011, 18). Lesen wird inzwischen aber nichtnur wissenschaftlich behandelt, sondern seit einigen Jahren auch in der Gesell-schaft diskutiert. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen wird es nicht seltenÄmit Bildung gleichgesetzt und damit normativ aufgeladen. […] Lesekompetenzgilt als Kulturtechnik, als eine Schlüsselkompetenz für den Umgang mit anderen Medien, für den Zugang zu Informationen und für die Teilhabe an der Gesell-schaft (ebd.).
Ob man Lesen nun als Kulturtechnik, Schlüsselkompetenz oder auch kulturelle Praxis versteht, unumstritten ist eines: Lesen lernt man nur durch andere, die Erziehung zum Leser und damit die Lesesozialisation spielen eine große Rolle.Einen entscheidenden Beitrag leistet dabei die Grundschule, welche sich in Deutschland zunehmend der herausfordernden Aufgabe der Leseförderung an-nimmt.
Leseförderung ist Profisache und Herzensangelegenheit in einem. Aus der Lernforschung wissen wir, dass die Begeisterung von Lesevorbildern am Lesen generell oder über ein bestimmtes Buch den Effekt der Leseförderungdeutlich erhöht. Begeisterung alleine reicht aber natürlich nicht aus. Wer Le-seförderung betreibt und die Lesesozialisation der Kinder klug begleitenmöchte, benötigt auch Wissen. Wissen darüber, was die Lesesozialisationalles umfasst, was sie unterstützt, welche Ziele sie hat und welche Lesestof-fe und Umgangsformen mit Kinderliteratur im Entwicklungsverlauf jeweilsnützlich und gut sind. (Becker 2012, 246)
Im Sinne dieses Zitates soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit erörtert werden,welche Möglichkeiten sich an Grundschulen zur Realisierung von Leseförderung,speziell Lesemotivationsförderung, anbieten. Zu diesem Ziel wird zu Beginn die Notwendigkeit der Lesemotivationsförderung auf der Basis der Erkenntnisse ausder Lesesozialisationsforschung erläutert, worauf im Anschluss die terminologi-sche sowie konzeptuelle Annäherung an das Konstrukt der Lesemotivation folgt.
Den Hauptteil der Arbeit bildet die Auseinandersetzung mit den schulischen Mög-lichkeiten, die Lesemotivation der Schüler Innen aufzubauen, sie zu stärken undkontinuierlich aufrechtzuerhalten. Dabei wird zwischen den Ebenen Schule,Deutschunterricht und Kindliches Subjekt unterschieden und in erster Linie aufsolche Praxisanregungen eingegangen, welche eine intrinsische Lesemotivationfördern.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, zu verdeutlichen, an wie vielen Stellen Lesemotiva-tionsförderung im schulischen Kontext in Anlehnung an Beckers Zitat zu einer Profisache gemacht werden kann, jedenfalls dann, wenn sich Lehrkräfte, auch in Zusammenarbeit mit externen Partner Innen, kontinuierlich vergegenwärtigen,dass die Tätigkeit des Lesens eben mehr ausmacht, als lediglich das Beherr-schen der Fähigkeit, Buchstaben zu einem Wort zusammenzusetzen.
In den eingangs zitierten Worten von Becker wird von den Lehrkräften nebendem Herz, sozusagen der Begeisterung für Literatur, auch Wissen eingefordert,wenn sie die Leseförderung bei Kindern und Jugendlichen vorantreiben möchten.Dabei stellt die Deutschdidaktikerin besonders die Kenntnisse über die Lesesozi-alisation in den Vordergrund, also eine Auseinandersetzung mit dem ÄProzess,durch den ein Mensch zum Leser wird, indem er eine stabile Lesemotivation ent-wickelt und die geeigneten Lesestrategien erlernt, um mit Texten umgehen zukönnen“ (Pfaff-Rüdiger 2011, 19). Aufbauend auf diese Definition, die deutlichmacht, wie eng das Lesenlernen mit dem Lesenwollen verknüpft ist, wird im Fol-genden dargestellt, über welches Wissen Lehrkräfte hinsichtlich der Lesesoziali-sation verfügen sollten und warum es fundamental notwendig ist, Lesemotivationin der Grundschule zu befördern.
Da die Lesesozialisation wie bereits angedeutet nicht nur die Entwicklung der Lesefertigkeit sondern auch Aspekte wie ÄImaginationsfähigkeit und - in einemumfassenden Sinne - auch den Erwerb emotionaler und sozialer Verhaltensmus-ter“ beinhaltet (Becker 2012, 246), ist es unumgänglich, auf die Frage, wie ein Mensch zum Leser wird, weit vor dem Schuleintritt nach Antworten zu suchen.Als entscheidendes Fundament der Lese- und Mediensozialisation im Kindesalterbezeichnet Wieler Äreale sprachliche Interaktionserfahrungen des Kindes in Fami-lie und Unterricht“ (Wieler 2010, 233) und nennt mit Bezug auf Hurrelmann Ädaselterliche Vorbild und Erziehungsverhalten, das Familienklima und das Kommu-nikationsverhalten der Familienmitglieder als wesentliche Bedingungen für diekindliche Mediennutzung (einschließlich des Lesens)“ (ebd.). Entsprechendübereinstimmender Forschungsmeinung kann an dieser Stelle verkürzt festgehal-ten werden, Ädass die Familie unter den Sozialisationsinstanzen der Meson-Ebene (dazu gehören Familie, Schule, peer group) nicht nur [als] die früheste,sondern auch die wirksamste Instanz der Lesesozialisation“ gilt (Hurrelmann2004, 169) und damit die Ausbildung von Lesemotivation sowie die Etablierungeiner stabilen Lesepraxis bei Kindern stark und nachhaltig beeinflusst (vgl. ebd.).Verdeutlicht man sich jedoch den Fakt, dass die alltägliche, familiale Kommunika-tionspraxis in erheblichem Maße von der Zugehörigkeit zu dem jeweiligen sozia-len Milieu abhängig ist, wie Wieler 1997 eindeutig in ihren Vorlesestudien bele-gen konnte, müssen sich vor allem die Mitwirkenden der Institution Schule über ihre bedeutende Rolle im Rahmen der Lesesozialisation bewusst werden, um der evidenten Ungleichverteilung von Bildungschancen in Deutschland durch Lernchancen im Umgang mit Buch-, Erzähl- und Schriftkultur schon im Elementarbereich entgegenzuwirken (vgl. Wieler 2010, 235).
In den Erfurter Studien, auf die in Kapitel 4 ausführlicher eingegangen werdensoll, erfassten Richter und Plath die kindlichen Voraussetzungen für den Umgangmit den verschiedenen Medien. In ihren Ausführungen bestätigen sie zwar die Entwicklung des Dominanzverlustes der Printmedien, stellen gleichzeitig aberfest, dass das gedruckte Wort nicht seine grundlegende Bedeutung für die Bil-dung und Persönlichkeitsentwicklung verloren habe (vgl. Richter/ Plath 2005, 5).Mit Bezug auf internationale Vergleichsstudien, in erster Linie der PISA-Studievon 2001, plädieren die Autorinnen der Erfurter Studie für eine längst überfälliggewordene Auseinandersetzung mit den motivationalen Aspekten des Erfolgsvon Lernprozessen, genauer gesagt den Möglichkeiten und Grenzen der Ent-wicklung von Lesemotivation in der Grundschule. Dabei stützen sie sich beson-ders auf ein PISA-Ergebnis: 42% der befragten deutschen Schüler Innen gabenan, Änicht mit Vergnügen zu lesen - ein Anteil, der von keinem vergleichbaren Land übertroffen wird“ (ebd.). Dieser Befund stellt für die Autorinnen eine plausib-le Begründung dafür dar, im Deutschunterricht der Grundschule insbesonderedas Literarische Lernen zu fördern, welches sowohl die Entwicklung von Lesefer-tigkeit, den Aufbau von Lesekompetenz als auch den der literarischen Kompe-tenz umfasst (vgl. ebd., 25). Das Schaffen von Grundlagen auf der motivationa-len Ebene in all diesen Bereichen könne nach Richter und Plath als das funda-mentalste Ziel des Unterrichts in der Primarstufe bezeichnet werden (vgl. ebd.,120). Der bereits mit Bezugnahme auf Wieler angesprochene Zusammenhangzwischen der sozialen Schicht und der Lesekompetenz wird auch im Rahmen der Erfurter Studie thematisiert. Konkret warnen die Autorinnen vor zukünftigen Prob-lemen, welche mit der demografischen Entwicklung in Deutschland einhergehen:ÄWenn in Akademikerfamilien immer weniger Kinder geboren werden, dürfte die Anzahl der Kinder zunehmen, die nur in der Schule und in öffentlichen Räumen Impulse zum Lesen erfahren“ (ebd., 6).
In der Handreichung zur Leseförderung in der flexiblen Schulanfangsphasemacht das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) aufeine mögliche erste Lesekrise zu Schulbeginn aufmerksam, welche mit Verweisauf Rosenbrock und Nix als eine Phase der Lesesozialisation beschrieben wird, in der bei vielen Kindern die Selbstlesefähigkeiten noch lange hinter den gege-benenfalls schon weit entwickelten literarischen Verstehens- und Genussfähig-keiten zurückbleiben. Um die Entstehung solcher Krisen zu vermeiden, so die Autoren der Handreichung des LISUM, Äist es wichtig, vom ersten Schultag andie Vermittlung basaler Lesefähigkeiten mit der Ermöglichung bedeutsamer Le-seerfahrungen und -erlebnisse zu verbinden. Die Kinder müssen erkennen kön-nen, dass sich ihre Anstrengungen lohnen, damit sie persönliches Interesse ent-wickeln, Texte selbst lesen zu wollen“ (LISUM 2012b, 7). Mit einem Zitat des Kinderpsychologen Bruno Bettelheim werden diese Forderungen folgenderma-ßen zusammengefasst: ÄErlebt [das Kind] das Lesen als etwas Interessantes,Wertvolles und Erfreuliches, so wird ihm die Mühe, die das Lesenlernen kostet,im Vergleich zu den Vorteilen, die es einbringt, kein zu hoher Preis sein“ (ebd.).Abschließend zu den Ausführungen zur Notwendigkeit der Lesemotivationsförde-rung in der Grundschule soll in Anlehnung an Richter und Plath festgehaltenwerden, welche Gefahr besteht, wenn sich Didaktiker Innen und Pädagog Innenmit der Lesekompetenzförderung beschäftigen: nicht zuletzt durch die Ergebnis-se der internationalen Vergleichsstudien wird das Lesen im institutionellen Rah-men vor allem auf seine kognitive Dimension beschränkt. Vielfach wird die Verfü-gung über Lesekompetenz als eine elementare Bedingung für einen sinnvollen Umgang mit den neuen Medien und als Zugang zu den verschiedenen Wissens-gebieten im Rahmen der Unterrichtsfächer beschrieben und damit vornehmlichals Äinstrumentalisierte Tätigkeit und als Weg zum allgemeinen Wissenserwerbbegriffen“ (Richter/ Plath 2005, 19). Dabei würden, so die Autoinnen der Erfurter Studie, die Literarizität und die besonderen Funktionen künstlerischer Literaturaus dem Blick geraten (vgl. ebd.). In den Ausführungen zu den Möglichkeitenschulischer Einflussnahme auf die Lesekompetenz, im Speziellen der Lesemoti-vation, sollen in der vorliegenden Arbeit daher vor allem die Erkenntnisse präsen-tiert werden, welche das Lesen in der Grundschule nicht ausschließlich auf sei-nen instrumentellen Zweck reduzieren und Freude, Lust und Motivation nicht nurals Mittel zur Erreichung dieses Ziels begreifen.
Um dieser Absicht im Folgenden auch terminologisch korrekt nachkommen zukönnen, soll im nächsten Kapitel kurz auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiteneingegangen werden, welche in der Deutschdidaktik und Lesesozialisationsfor-schung verwendet werden. Auffällig ist dabei, dass nicht selten die Rede vonbanalisierten Wendungen wie Leselust und ähnlichen Verlockungen ist, welche letztendlich Äden wissenschaftlichen Anspruch und die Notwendigkeit theoretisch begründeter Verfahren [verdecken], die mit der Entwicklung von Lesemotivation verbunden sind“ (vgl. Richter/ Plath 2005, 20).
Eine einheitliche theoretische Fundierung zum Konzept der Lesemotivation ist inder Forschungsliteratur nicht zu finden (vgl. Pfaff-Rüdiger 2011, 31). Vielmehr isteine stets neu- und andersartige Herangehensweise zu beobachten, wenn sichmit diesem zentralen Konstrukt auseinandergesetzt wird. Im Folgenden kommtes zu einer kurzen Definition der drei Begriffe, welche in entsprechenden Ausfüh-rungen der Lesemotivationsforschung und Fachdidaktik wohl am häufigsten ein-gesetzt sind. Im Anschluss daran werden unterschiedliche Herangehensweisenan das Lesemotivationskonzept dargestellt, entsprechende Grenzen aufgezeigtund schlussendlich eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Lesemotivati-on als die für diese Arbeit grundlegende ausführlicher erläutert.
Der erste Terminus, welcher häufig in Verbindung mit dem Begriff Lesemotivationgenannt, aber nie synonym zu ihm verwendet wird und daher an dieser Stelle fürsich selbst definiert werden soll, ist der der Lesefreude (vgl. LISUM 2012a, 57;Garbe 2014, 81 ). In Abgrenzung zur Lesemotivation könnte Lesefreude (ähnlichdem Begriff der Leselust) beschrieben werden als ausschließlich emotionaler Zugang zu der Welt des Literarischen (vgl. Richter/ Plath 2005, 19), welcher nichtselten in Verbindung mit lesemotivierenden Aspekten wie Neugierde wecken und Leseinteresse befördern erwähnt wird (vgl. ebd., 30). Hinsichtlich einer dem sozi-alen Kontext entsprechenden Zweiteilung von Lesekulturen, wie sie beispielswei-se Naujok thematisiert, wäre das Phänomen der Lesefreude eher der nicht-schulischen, privaten Lesekultur zuzuordnen und stünde damit in klarer Abgren-zung zur schulischen Lesekultur, die - nach der Alltagstheorie von befragten Le-sepat Innen - vordergründig die anspruchsvolle und professionelle Tätigkeit der Förderung der Beherrschung von Lesefertigkeiten beinhaltet (vgl. Naujok 2012,152). Richter und Plath grenzen Lesefreude bewusst von dem Begriff Lesespaßab: ÄWährend ‚Lesespaß‘ eher an ein momentanes Ereignis, einen Moment ko- mischer Erregung denken lässt, verbindet sich mit ‚Lesefreude‘ ein tieferer Zugang, ein ‚Eintauchen‘ in ein literarisches Geschehen, das intensivere innere Beteiligung garantiert“ (Plath/ Richter 2008, 10).
Den zweiten zu definierenden Begriff stellt das Leseinteresse dar. Nach Schulzbaut die Ausbildung von Leseinteressen auf die Entwicklung von Lesebedürfnis-sen. Ihrem Erachten nach richte sich das Bedürfnis jüngerer Kinder, lesen zuwollen, vor allem auf die Tätigkeit des Lesens selbst. Unabhängig von (erwach-senen) kompetenten Anderen Bücher, Geschichten, Comics und andere Texterezipieren zu können, führe im besten Fall zu einer positiven Belegung der erstenwirklich eigenen Erfahrungen mit Literarischem, welche die Ausprägung des Wunsches nach neuen Erfahrungen bedingt. Im Zuge des Kreislaufes Bedürfnis - Bedürfnisbefriedigung - neues Bedürfnis innerhalb der Grundschulzeit würdedann, so Schulz, Leseinteresse entstehen, also eine Ausrichtung des Lesens aufbestimmte Bücher, literarische Formen, Themen, Genres oder auch auf bestimm-te Autor Innen (vgl. Schulz 2001, 586). Dieses sehr stark auf bestimmte Objektekonzentrierte Leseinteresse mündet nach Richter und Plath in ein bestimmtes Verhalten (z.B. das Lesen bestimmter Textsorten), welches sich Ä - auch in Ver-bindung mit der Darstellung einzelner Ursachen - bestenfalls beschreiben [ließe]“(Richter/ Plath 2005, 21). Im Gegensatz dazu seien der ÄBegriff des Motivs unddie mit ihm gekennzeichnete Erscheinung […] dazu geeignet, bestimmte mani-feste Handlungen und Einstellungen zu erklären“ (ebd.) und damit besondershilfreich hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der Einflussnah-me auf die Lesemotivation von Kindern.
Das Motiv beziehungsweise die Motivation gelten nach Heckhausen als über-dauernde Disposition für zielgerichtetes Handeln. Genauer bezeichnet er die Mo-tivation als Sammelbegriff Äfür vielerlei Prozesse und Effekte, deren gemeinsa-mer Kern darin besteht, dass ein Lebewesen sein Verhalten um der erwarteten Folgen willen auswählt und hinsichtlich Richtung und Energieaufwand steuert.[…]“ (Heckhausen 1989, 9ff.). Damit können Intentionen und Ziele, die ein Indivi-duum mit seinem Handeln verfolgt, als Motivation festgestellt werden (vgl. Rich-ter/ Plath 2005, 21).
Wie bereits einleitend Erwähnung fand, fehlt in Bezug auf das Konzept der Le-semotivation eine einheitliche, theoretische Fundierung. Nur in Ansätzen können die Auseinandersetzungen verschiedener Forscher klären, woher Lesemotivation rührt und wie Handeln und Motivation zusammenhängen. Um die möglichen Perspektiven aufzuzeigen, aus denen Lesemotivation beleuchtet werden kann, sollen nun einschlägige Konzepte vorgestellt und kurz diskutiert werden. Diese basieren auf folgenden Begriffen (vgl. Pfaff-Rüdiger 2011, 31ff.):
- Leseerfahrungen
- Lesefunktionen
- Lesemodi
Unter dem Stichwort der Leseerfahrungen führten Hurrelmann, Hammer und Nieß 1993 eine der ersten großen Studien zur Lesemotivation in Deutschlanddurch. Dabei erhoben sie die Motivation über die Erfahrungen, die Kinder mitdem Lesen machen. Die damalige Forschungshypothese könnte folgenderma-ßen formuliert werden: positive Leseerfahrungen motivieren Kinder zum Weiter-lesen, weil die Kinder die positiven Erfahrungen wieder erleben möchten - nega-tive Erfahrungen bewirken wiederum, dass Kinder weniger oder gar nicht mehrlesen (vgl. ebd.). Im Mittelpunkt dieser Erhebung standen hinsichtlich der Anzahlder Nennungen die sozio-emotionalen Erfahrungen, da diese, so zeigten es auchandere Lesestudien, aufgrund ihrer Kopplung mit einer bestimmten Lesesituationleichter erinnert werden2 (vgl. ebd., 35).
Nach Pfaff-Rüdiger reiche diese Untersuchung der Leseerfahrungen nicht aus,um zu beantworten, warum Kinder und Jugendliche gerne lesen. Es fehle unteranderem der Rückbezug auf ihre Bedürfnisse und ihre Lesemotive (vgl. ebd., 31).Darüber hinaus scheint die angesprochene Kategorisierung lediglich Erfahrungenbeziehungsweise Handlungen anzusprechen, die die Leser Innen aus sich selbstentwickelt haben. Ein Buch weiterlesen zu wollen, weil es glücklich macht, span-nend ist oder es lesen zu wollen, weil der ästhetische Genuss befriedigt - all diessind Ausprägungen eines inneren Antriebes (vgl. ebd.). Kinder lesen aber bei-spielsweise auch, so zeigte es etwa die Erfurter Studie, um ihren Eltern näher zukommen (vgl. Richter/ Plath 2005, 58).
Das Konzept der Lesefunktionen (vgl. Groeben 2004) geht über die Leseerfah-rungen hinaus und fragt nach den Folgen der Lektüre für den Leser und für die Gesellschaft. Beispiele für jene Funktionen wären die folgenden: ein(e) Leser Inliest einen fiktionalen Text, um sich zu unterhalten (Prozess) und erfüllt dabei die Funktion der Stärkung von Empathie auf der personalen und die der Aufrechter-haltung des kulturellen Gedächtnisses auf der sozialen Ebene; ein(e) Leser Inliest einen non-fiktionalen Text, um sich zu informieren und erfüllt dabei die Funk-tion der Meinungsbildung auf der personalen und die des Verstehens von gesell-schaftlichen Strukturen auf der sozialen Ebene (vgl. Pfaff-Rüdiger 2011, 33). Der Funktionsbegriff macht folglich auf den kausalen Zusammenhang einer Hand-lung, welche in dem Fall das Lesen darstellt, und ihrer Folgen aufmerksam. Die-sem Konzept nach wird Lesen also immer zu einem persönlichen oder gesell-schaftlichen Zweck und unter bestimmten Umständen für ein konkretes Ziel ein-gesetzt. Diese Herangehensweise klammere, so die Kritik Pfaff-Rüdigers, bei-spielsweise das Lesen als Zeitvertreib aus (vgl. ebd., 32). Darüber hinaus schei-ne die ausschließliche Zuordnung der fiktionalen Texte zu dem Ziel der Unterhal-tung als zu absolut, da auch fiktionale Texte informativ sein können. Ebenso istdie Zuordnung nicht-fiktionaler Text - unterhaltende Funktion gleich denkbar undsollte gerade in Bezug auf die kindliche Lektüre nicht vernachlässigt werden (vgl.Eggert/ Garbe 2003, 13; Philipp 20010, 593 ).
Ein weiteres Konzept, welches sich dem Konstrukt der Lesemotivation nähernsoll, baut auf der Differenzierung sogenannter Lesemodi auf. Dieser von Werner Graf geprägte Terminus verweist auf verschiedene typische Kombinationen, die Lesemotivation und Lesekompetenz miteinander eingehen können. Erfasst wur-den die insgesamt sieben Lesemodi4 im Rahmen einer Studie auf einer Material-basis bestehend aus 1000 Lektürebiografien von jungen Erwachsenen, genauergesagt Student Innen.
Als kompetente(r) Leser In gilt eine Person nach Graf dann, wenn sie weiß, wel-chen Modus sie in einer konkreten Situation einsetzen muss, um ihre gewünsch-ten Bedürfnisse oder Interessen zu befriedigen (vgl. Pfaff-Rüdiger 2011, 33). Ei-nen der sieben Lesemodi bildet beispielsweise der Modus der Textrezeption als Lernen, welcher mit dem Begriff der Pflichtlektüre gleichgesetzt werden kann. Diebefragten Personen gaben bezüglich des Lesens im Bildungs- und Arbeitszu-sammenhang an, die Notwendigkeit des Lesens kaum in Frage zu stellen (vgl. Graf 2004, 31). Pflichtlektüre stellt ein zielgerichtetes Handeln dar, welches um-gesetzt wird, indem funktional und strategisch gelesen wird (vgl. ebd., 35). Zwarweist das generell vorherrschende Deutungsmuster der Pflichtlektüre kontrapro-duktive Effekte hinsichtlich der privaten Lektüre zu, nicht ganz selten werden be-scheinigten ihr die befragten Personen aber auch produktive Auswirkungen aufdas private Lesen. Grafs Deutung besagt, dass die Pflichtlektüre in der Lage sei,Interesse zu wecken und dadurch das Lesen über den Pflichtmodus hinaus zumotivieren. Durch die Schulung der Lesekompetenz, besonders durch den Er-werb von Lesestrategien, können privat auch komplexere Texte mit Genuss ge-lesen werden. Ein Übergang von der Pflichtlektüre zum privaten Leseerlebnisstehe folglich in enger Verbindung mit einer Steigerung der Lesekompetenz (vgl.ebd., 122).
Im klaren Gegensatz zum Lesen im Sinne der Textrezeption als Lernen steht der Modus des Intimen Lesens. Dieser bildet eindeutig eine Form der befriedigenden Lektüre, welche sich selbst motiviert (vgl. ebd., 31) und, obschon die Leser Innen,die Bücher zur Unterhaltung schätzen, ihre Art und Weise des Lesens selbst je-weils individuell beschreiben, dennoch deutliche gemeinsame Strukturen auf-zeigt: das besondere Merkmal des Lesens ist der hohe Grad der emotionalen Involviertheit der Leser Innen, ‚Eigenes‘ vermischt sich im Kopf mit ‚Fremdem‘,das harmonische Leseerlebnis führt zu einer Verschmelzung von Leser In und Buch (vgl. ebd., 49). Schilderten die Interviewten ihre Lektüre, bezogen sie sich,so Graf, vor allem auf die Schilderung des Kontextes und ihres Verhaltens, analy-tisch interessant sei dabei die Beschreibung der Lesesituation (vgl. ebd., 50). Eindritter Modus, welcher an dieser Stelle auf Grund seiner Bedeutung für den schu-lischen Kontext erörtert werden soll, stellt das Lesen als Partizipation dar. Andersals beim intimen Lesen, bei dem das Alleinsein mit dem Buch ein zentrales Merkmal bildete (vgl. ebd.), ist das Lesen als Partizipation bestimmt durch diesoziale und kommunikative Dimension (vgl. ebd., 71). Leser Innen in diesem Mo-dus organisieren die Lektüre als literarische Teilnahme am öffentlichen Diskursbeziehungsweise als Teilnahme am literarischen Leben. Der Modus Ärelativiertund differenziert nachhaltig die Vorstellung vom ‚einsamen Leser‘, da diese Re-zeptionsweise weitgehend in den sozialen Kontext integriert ist und aus dieser Integration die Motivation bezieht“ (ebd., 75). Grafs Einschätzung nach zeige Lesen als Partizipation zahllose Realisierungsmöglichkeiten für eine freiwillige,stabil motivierte Lektürepraxis (vgl. ebd., 71).
Auch wenn das Konzept der Lesemodi hilfreiche Einsichten in Lesemotivations-prozesse zu bieten scheint, lassen sich dennoch Grenzen bezüglich der Anwen-dung von Grafs Erkenntnissen auf die Auseinandersetzung mit der Lesemotivati-onsförderung bei Kindern aufzeigen. In Hinblick auf die befragten Personen darfkeineswegs vernachlässigt werden, dass alle über einen akademischen Hinter-grund verfügten, die Einsichten folglich tendenziell milieugebunden sind (vgl.Pfaff-Rüdiger 2011, 34) und sich damit nicht zwangsläufig auf die Lesebiografienvon jüngeren Schüler Innen anwenden lassen. Schon in Hinblick auf die Pflicht-lektüre, deren Notwendigkeit erwachsene Leser Innen laut Graf eher nicht hinter-fragen, lässt sich vermuten, dass Schüler Innen die entsprechende Zukunftsbe-deutung des schulisches Lesestoffes weitaus weniger reflektieren (können) undsich Pflichtlektüre aufgrund ihrer emotionalen, negativen Assoziation daher docheher kontraproduktiv auf die Lesemotivation im Allgemeinen auswirkt. Darüberhinaus ist hinsichtlich der angesprochenen These, Pflichtlektüre steigere die Le-sekompetenz und damit verbunden die Lesemotivation, für den schulischen Kon-text die Gefahr festzustellen, dass eine tatsächliche Lesekompetenzentwicklungbei vielen Kindern so langsam vonstatten geht, dass sich positive Effekte auf die Lesemotivation allein dadurch nur sehr schwer oder gar nicht ergeben könnten.
Aus den drei vorgestellten Lesemotivationskonzepten hat Pfaff-Rüdiger eine weitere Möglichkeit entwickelt, sich mit dem Konstrukt der Lesemotivation auseinanderzusetzen. Da diese die wesentlichen Erkenntnisse der Forschungsliteratur überzeugend zu vereinen scheint und ohne Probleme auch auf die Leseförderung bei Kindern anzuwenden ist, wird sie im Rahmen der in dieser Arbeit vorgenommenen Präsentation der Möglichkeiten schulischer Einflussnahme auf die Lesemotivation als theoretisches Fundament dienen.
Pfaff-Rüdigers Konzept basiert auf einer Unterscheidung zwischen drei Formender Lesemotivation, nämlich der kognitiven, der sozialen und der emotionalen(vgl. ebd., 34ff.). Die kognitive Lesemotivation, welche dem institutionellen Kon-text zugeordnet ist, kann in den meisten Fällen mit dem Lesen als Pflicht gleich-gesetzt werden. Diese von außen auf Leser Innen wirkende Motivation stellt imschulischen Kontext eine alltägliche Erfahrung vieler Schüler Innen dar. Dabeikann sie zweckrational eingesetzt werden, etwa um Prüfungserfolge zu erzielen.Ebenso denkbar ist aber auch der instrumentelle Einsatz, nämlich in dem Fall, indem ein(e) Leser In ein Buch selbstbestimmt zur Informationsbeschaffung in die Hand nimmt.
[...]
1 U.a. in diesen Quellen heißt es: ÄVom ersten Schultag an haben Lehrkräfte die Aufgabe, jedes Kind auf seinem Weg zur Leserin bzw. zum Leser zu begleiten. Wichtige Ziele sind dabei - neben dem Erwerb der Lesefertigkeit - ‚der Aufbau und die Sicherung der Lesemotivation, die Vermittlung von Lesefreude und Vertrautheit mit Büchern sowie die Entwicklung und Stabilisierung von Lesegewohnheiten‘“ (LISUM 2012a, 57, mit Verweis auf Hurrelmann 1994); ÄDie Arbeit an Kompetenzen kann weitgehend geschlechtsneutral oder geschlechtsübergreifend erfolgen, die Förderung von Lesefreude, Lesemotivation und stabilen Lesegewohnheiten sollte dagegen diebekannten Genderunterschiede berücksichtigen.“ (Garbe 2014, 8).
2 Weitere Kategorien bilden die intellektuell-kognitive, die hedonistische und die ästhetisch-reflexive.
3 Philipp spricht an dieser Stelle nicht die Lektüre von traditionellen Sachbüchern aus Gründen der Unterhaltung an, welche bei Kindern mit entsprechenden Leseinteressen ohne Frage zu beobachten ist, sondern meint mediale Mischformen wie Edutainment und Infotainment, die die vermeintliche Grenze zwischen vermeintlich gegensätzlichen Zwecken der Lektüre verwischen.
4 Neben den im Folgenden genannten zählen dazu außerdem: Instrumentelles Lesen, Konzeptlesen, Lesen zur diskursiven Erkenntnis und Ästhetisches Lesen