Bachelorarbeit, 2016
46 Seiten, Note: 1,3
1. Einleitung
1.1 Ziel und Forschungsfragen
1.2 Methodologie
2. Historischer Hintergrund: 68er Bewegung
2.1 Internationale Unruhen
2.2 Mexiko
2.3 Roberto Bolaño
3. Theorien der memoria
3.1 mémoire collective nach Maurice Halbwachs
3.2 Gedächtnis nach Paul Ricœur
3.3. kulturelles Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann
3.4 Literatur als Gedächtnismedium
4. Literarturwissenschaftliche Analyse
4.1 Zusammenfassung des Romans und bisheriger Forschungsergebnisse
4.2 Memoria individual
4.3 Memoria colectiva
4.4 Amuleto als medialer Rahmen des Erinnerns
5. Resümee und Ausblick
6. Literaturverzeichnis
Die vorliegende Arbeit thematisiert einen Begriff, der in vielen Disziplinen wie der Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und zuletzt der Literaturwissenschaft immer mehr Bedeutung gewinnt und nicht mehr wegzudenken ist – das Gedächtnis, la memoria. Im Speziellen nähert sich diese Arbeit dem Thema in Verbindung mit politischen Ausschreitungen und kollektivem Trauma unter Berücksichtigung der Funktion der Literatur.
Aktuell sind die politischen Unruhen die Vorwürfe gegen die Türkei, die Presse- und Meinungsfreiheit der Bevölkerung einzuschränken. Die seit 2013 anhaltende Protestwelle begann in Istanbul und richtet sich seither gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die immer stärker werdenden autoritären Züge der Regierung bewirken, dass die Bürger zunehmend an Demonstrationen und Protesten teilnehmen. Dabei trafen sie in Vergangenheit wiederholt auf Polizeigewalt, die sich unter anderem durch Tränengas und Wasserwerfer ausdrückt. Besonders problematisch ist die Situation der Journalisten in der Türkei. Vermehrt entstehen Vorwürfe und Anklagen gegenüber dieser Berufsgruppe, der beispielsweise „Beleidigung des Staatspräsidenten“ oder "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" zu Last gelegt und oftmals anschließend festgenommen werden. Die türkische Journalistin Pinar Ögünc fasst zusammen: „Die vielen Verfahren [...] haben inzwischen nie dagewesene Ausmaße erreicht“.[1] Erdoğans Regierung duldet keine kritischen Berichterstattungen und arbeitet daher gezielt gegen die Presse- und Meinungsfreiheit.
Die Brutalität und Härte der Vorgehensweise gegen Zivilisten in der Türkei erinnert stark an die Beendigung der Massenproteste in Mexiko im Jahr 1968, das im Massaker von Tlatelolco endete. Im Hintergrund der Olympischen Spiele in Mexiko im gleichen Jahr wurden keine Unruhen geduldet, die das Bild eines modernen und weltoffenen Mexikos ruinieren könnten. Kurzerhand wurde eine der zahlreichen Studentenproteste, die sich aufgrund der Solidarisierung der breiten Bevölkerung gegen die Polizeigewalt zu Massenprotesten entwickelte, am 2. Oktober 1968 im Stadtteil Tlatelolco von Mexiko-Stadt blutig niedergeschlagen. Die gesellschaftlichen und psychischen Folgen einer gewaltsamen und brutalen Zeit wird im Roman Amuleto (1999) von Roberto Bolaño thematisiert und mithilfe von Erinnerungen auf individueller und kollektiver Ebene zum Ausdruck gebracht.
Im Vordergrund der vorliegenden Bachelorarbeit steht die Analyse des Romans Amuleto (1999) von Roberto Bolaño. Ziel der Arbeit ist es, verschiedene Gedächtniskonzepte aufzuzeigen und diese im Hintergrund der historischen Schwerpunkte des Romans – die Besetzung der Universidad Nacional Autónoma de México durch die mexikanische Regierung und das Massaker von Tlatelolco – darzustellen. Weiterhin sollen die Gedächtniskonzepte in Hinsicht zweier Adressaten zugeordnet werden (dem Individuum und der Gemeinschaft), sodass anschließend die Funktion der Literatur für die Gedächtnisbildung diskutiert wird.
Für die Durchführung des Ziels sollen bereits existierende Theorien verwendet werden, beispielsweise die des französischen Soziologen Maurice Halbwachs und des französischen Philosophen Paul Ricoeur. Zudem werden weitere Reflexionen über das Gedächtnis von Jan und Aleida Assmann aufgeführt. Vor diesem Hintergrund sind folgende Forschungsfragen interessant und relevant: Wie gestaltet sich die memoria individual der Protagonistin Auxilio? Ausgehend von der memoria individual, welche anderen Formen der memoria lassen sich finden und in welchem Zusammenhang stehen diese zueinander? Welche Rolle spielt Literatur, ins Besonderes Amuleto, bei der Gedächtnisbildung?
Im diesem Abschnitt werden die Schritte dargelegt, die beschreiben, wie die vorliegende Arbeit durchgeführt wird.
Um einen ersten Einblick in die Thematik des Romans zu bekommen, wird im folgenden Abschnitt der historische Kontext dargestellt (2. Historischer Hintergrund: 68er Bewegung). Dabei wird das Kapitel unterteilt: das Unterkapitel 2.1 Internationale Unruhen präsentiert die Proteste und Gegenaktionen, die weltweit für Aufmerksamkeit sorgten. Dabei werden exemplarisch fünf Unruhen aufgezeigt. In 2.2 Mexiko liegt der Fokus der Protestbewegungen auf den Studentenprotesten und dem Massaker von Tlatelolco in Mexiko-Stadt, die den historischen Schwerpunkt in Amuleto verkörpern. 2.3 Roberto Bolaño ist dem chilenischen Autor des zu analysierenden Werks gewidmet. Hier wird sein Leben unter anderem in Bezug auf die Gewalt, die ihn persönlich zu Lebzeiten umgaben, näher erläutert.
Im dritten Abschnitt (3. Theorien der memoria) wird der theoretische Rahmen skizziert. Dabei wird in 3.1 mémoire collective nach Maurice Halbwachs die Thesen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs dargelegt, der die soziale Komponente der memoria betont. In 3.2 Gedächtnis nach Paul Ricœur wird die Theorie des individuellen Gedächtnisses nach dem französischen Philosophen Paul Ricœur präsentiert. Im Anschluss wird das kulturelle Gedächtnis der deutschen Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann erfasst (3.3. kulturelles Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann).
In der Analyse (4. Literarturwissenschaftliche Analyse) findet der zuvor dargestellte theoretische Rahmen der memoria Anwendung. Dabei findet eine Einteilung statt. Die inhaltliche Darstellung des Romans in 4.1 Zusammenfassung des Romans und bisheriger Forschungsergebnisse soll die Lektüre der Analyse erleichtern sowie bisherige Forschungsgebiete aufzeigen. In 4.2 Memoria individual wird das individuelle Gedächtnis mithilfe der Erinnerungen der Protagonistin Auxilio abgebildet und auf die Fragestellung Bezug genommen, wie sich diese gestaltet. In 4.3 Memoria colectiva wird ausgehend von der memoria individual, auf die memoria colectiva geschlossen und aufgezeigt, welche Verbindung zwischen diesen besteht. Weiterhin wird der Roman in Bezug auf seine Funktion als gedächtnisbildende Einheit untersucht (4.4 Amuleto als medialer Rahmen des Erinnerns).
Abschließend werden in 5. Resümee und Ausblick die Ergebnisse der Analyse zusammengefasst und weitere Forschungsfragen beantwortet.
Als Grundlage für die Textanalyse dient die erste Ausgabe aus dem Anagrama-Verlag in Barcelona Amuleto von Roberto Bolaño aus dem Jahre 1999.
Bevor der historische Hintergrund im Folgenden dargestellt wird, soll darauf hingewiesen werden, dass die vorliegende Arbeit verschiedene Sprachen enthält, die sich vor allem in Zitaten der Primärliteratur und Sekundärliteratur widerspiegeln. Daher werden für die Begriffe memoria individual und memoria colectiva, wie sie im Thema enthalten sind, dementsprechende Übersetzungen auf anderen Sprachen auftauchen, die allerdings keine inhaltliche Differenzierung ausdrücken sollen.
Das politische Klima während der 68er Bewegung ist im Zusammenhang mit Amuleto von großer Bedeutung. Um den begrenzten Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, werden exemplarisch fünf weltweite Ereignisse um und in 1968 näher abgebildet, von denen wie Muñoz-Casallas bekräftigt am meisten herausragen: der Pariser Mai, der Prager Frühling und die Bürgerrechtsbewegungen in den USA.[2]
„Paris, Berlin, Frankfurt, New York, Berkeley, Rom, Prag, Rio, Mexico City, Warschau - das waren die Stätten einer Revolte, die um den gesamten Erdball ging, und Herzen und Träume einer ganzen Generation eroberte.“[3]
Der damalige Aktivist und heutige Politiker Daniel Cohn-Bendit bezieht sich hier auf das magische Jahr 1968, das international als Symbol für Protestbewegungen, Revolutionsstimmung, Auf- und Umbrüche sowie Gewalt und Unterdrückung seitens offizieller Stellen steht. „Das Jahr 1968“, fügt er hinzu, „war, im wahrsten Sinne des Wortes, internationalistisch“[4].
Die Bürgerrechtsbewegung in den USA ist nicht nur eine der am meisten herausragenden Protestbewegungen, sondern zugleich ein Vorläufer der Ereignisse von 1968.[5] Im Hintergrund des Busboycotts 1955/56 in Montgomery, Alabama, und der Festnahme der dunkelhäutigen Rosa Parks, die sich weigerte, ihren Sitzplatz einem Fahrgast mit weißer Hautfarbe zu überlassen, erlangte die gewaltlose Bewegung gegen die Rassentrennung nationale Aufmerksamkeit. Unter Martin Luther King wurde die gesetzliche Rassentrennung abgeschafft sowie das Wahlrecht und die Gleichberechtigung der Schwarzen eingeführt.[6] Mit der Ermordung Martin Luther Kings im April 1968 erreichte die Bewegung einen letzten Höhepunkt, als in vielen Städten der USA ein Aufstand ausbrach.[7]
Darüber hinaus sind die studentischen Protestbewegungen in 1968 nicht zu vernachlässigen. Im Zuge des Übergangs zur Massenuniversität, in den USA wie international, hat sich eine Jugend aus der weißen Mittelschicht politisiert. In der Free Speech Movement an der Universität Kalifornien in Berkeley forderte sie Rechte und studentische Beteiligung in inneruniversitären Angelegenheiten, darunter auch um die Mitgestaltung des Curriculums. Im Hinblick auf die Entscheidung des Präsidenten Johnsons, die Zahl der amerikanischen Truppen im Vietnamkrieg zu erhöhen, erlangte der Ort „Universität“ seine historische Bedeutung als Zentrum einer stetig größer werdenden Antibewegung.[8]
Im geographischen Sinne trennen sie mehrere tausend Kilometer, auf revolutionärer Ebene liegen die USA und Frankreich sehr nah beieinander. In Frankreich von 1968 sorgte der Pariser Mai für Schlagzeilen: durch Studenten ausgelöste Unruhen, die zu Massenprotesten wurden, im Frühjahr 1968 ganz Frankreich erschütterten. Die ursprünglichen Forderungen nach Verbesserung der Studienbedingungen und die Kritik am französischen Konservatismus fanden bei der konservativen Regierung mit Staatspräsident Charles de Gaulle kein Gehör. Daraufhin brachen zu Semesterbeginn 1967 an einigen Universitäten Studentenstreiks aus, „nicht zuletzt an der noch jungen Universität von Nanterre, die erst kurz zuvor aus der Sorbonne ausgegliedert worden war“.[9] Auf der Tagesordnung standen zahlreiche Besetzungen universitärer Gebäude und die Behinderung des Lehrbetriebes. Nach Schließung der Universität verlagerten sich die Proteste ins Zentrum der Stadt, die Polizei verhaftete etwa fünfhundert Studenten. Aufgrund der Entsetzung über die Härte der Strafmaßnahmen und Brutalität des polizeilichen Vorgehens und des großen Solidaritätsgefühls erreichten die anfänglich kleinen Studentenstreiks die breite Masse: Studenten anderer Universitäten, Eltern, Gewerkschaften.[10]
Im Gegensatz dazu steht der Prager Frühling, der eine Reformbewegung gegen das kommunistische Regime in der damaligen Tschechoslowakei verkörpert. Mit der Öffnung der Massenmedien und damit einhergehend der vorangetriebenen Medienfreiheit konnte sich eine Öffentlichkeit entwickeln, die eigene Forderungen in die politische Debatte einbrachte.[11] Diese Forderungen, unter anderem nach einer ernsthaften Demokratisierung des politischen Systems und das Streben nach Rechtstaatlichkeit, kostete dem damaligen Präsidenten Antonín Novotný seine Regentschaft.[12] Auch unter dem „Sozialismus mit Anlitz“[13] von Alexander Dubček wird die Bewegung im Laufe der Zeit intensiver und entfaltet sich so zu einer Massenbewegung. In den Sommermonaten wird die Öffentlichkeit „selbstbewusster, formiert sich und fängt an, Druck auf das Zentrum der politischen Macht und die Apparate der Kommunistischen Partei auszuüben“.[14] Bis August 1968 wurde das Gesamtprogramm des neuen Systems fertiggestellt und beim 14. Parteitag sollten die geplanten Neuwahlen vollends von den kommunistischen Fesseln befreien. Dieser Versuch blieb allerdings vergebens. Mit Truppen und Panzern wurde die Aktion unterbrochen.
„Die Suche der Gesellschaft nach Erneuerung und Ausweg aus der Krise wurde am 21.08.1968 durch die militärische Intervention von fünf Armeen des Warschauer Pakts unter der Führung der Sowjetunion gewaltsam unterbrochen.“[15]
Beim Einmarsch sind fast 100 Tschechen und Slowaken ums Leben gekommen sowie etwa 50 Soldaten der Interventionstruppen.
Richten wir den Blick nach Lateinamerika von 1968, dessen Protestbewegungen den nordamerikanischen oder europäischen in nichts nachstehen. Beflügelt von der noch jungen kubanischen Revolution von 1959, mobilisierten Studenten unter anderem in Brasilien und Uruguay gegen autoritäre Regimes. In Brasilien kritisierten sie vor allem die Militärdiktatur, die mit harten Repressionen den unter der Regierung João Goulart Anfang der 1960er Jahre eingeleiteten Reformprozess unterbrochen hatte.[16] UNE, eine linke Studentenunion, verkörperte eine Vereinigung des Widerstandes gegen die Diktatur. Auslöser für eine breitere Mobilisierung war eine Universitätsreform im Jahr 1968 mit dem Ziel der Übernahme des amerikanischen Bildungssystems, der Verkürzung der Studienjahre sowie der Streichung einiger Fächer, wie Philosophie und Politische Bildung. Die Kämpfe verschärften sich und hatten die ersten Todesopfer zu Folge. Die Repression wurde härter, die Polizei drang in Universitäten ein und nahm die UNE-Führung fest. Künftig wurden alle politischen Gruppierungen und Versammlungen verboten und viele Grundrechte abgeschafft. Sich bewaffneten Gruppen anschließen sahen viele als einzigen Ausweg an.[17]
In Uruguay hingegen lebte die Bevölkerung in einer Demokratie, die jedoch von einer tiefen Wirtschaftskrise geprägt war. Durch die Erhöhung der Busfahrpreise im Frühjahr 1968 brach eine Welle studentischer Proteste aus, die Besetzungen von Universitäten und Streiks mit sich zogen. Nach ersten Zusammenstößen zwischen Protestierenden und der Polizei solidarisierten sich auch Arbeiter mit den Studenten und der Widerstand radikalisierte sich. Nun forderten sie ebenso „die Verstaatlichung des Transportwesens und die Aufhebung der Notstandgesetze“.[18] Infolgedessen gab es auch hier einige durch die Polizei getöteten Studenten, so dass die Stadtguerilla Tupamaros zunehmend einen merkbaren Zuwachs an neuen Mitgliedern vernahm.[19]
Nach der Darstellung dieser beispielhaften Protestbewegungen in 1968 lassen sich diverse Gründe der Unzufriedenheit der Weltbevölkerung erkennen. Diese waren kultureller, sozialer, politischer sowie wirtschaftlicher Natur.
Um sich dem Inhalt des zu analysierenden Romans zu nähern, werden im nächsten Kapitel die historischen Ereignisse von 1968 in Mexiko aufgezeigt.
„Im mexikanischen Gedächtnisspeicher schnurrt das Chiffre ‚68’ meist auf jenen furchtbaren 2. Oktober zusammen, an dem den Protesten ein jähes, blutiges Ende gesetzt wurde“.[20] Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid bezieht sich in diesem Zitat auf das Massaker von Tlatelolco, das 1968 in Folge der damaligen Studentenproteste an friedlich demonstrierenden Studierenden seitens die Regierung verübt wurde. In ihrem Werk La noche de Tlatelolco. Testimonios de historia oral (1971) stellt die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska nach Aussagen von Augenzeugen, Überlebenden, politischen Gefangenen und deren Angehörigen eine Chronik zusammen. Im ersten Teil der Aufzeichnung Ganar la calle sind Äußerungen zusammengefasst, die die Proteste und Spannungen auf den Straßen Mexikos vor dem Massaker thematisieren. Ende Juli entstehen die ersten größeren Reibungen zwischen Polizei und Demonstranten, als einerseits „Grenadier forces end an intramural fight between high school students“ und andererseits „Grenadiers stop a pro-Cuban revolution student demonstration“.[21] Die Studenten mobilisierten sich gegen die Polizeigewalt, dessen Kritik wiederum größer wurde, als Infanterietruppen sich mithilfe von Bazookas den Zugang zu einer escuela preparatoria verschafften und dabei prachtvolle Pforten aus dem Barock zersprengten. Es blieben „muchos heridos entre los estudiantes [...] y detenciones masivas“[22] zurück.
Ein Brief an Le Monde vom 7. Oktober 1968 erklärt die Motive der mexikanischen Aufstände im Unterscheid zu den des Pariser Mais:
„Se trata de un conflicto muy distinto al de mayo en Francia. En México no hubo prácticamente reivindicaciones escolares o académicas; sólo peticiones políticas; liberación de presos políticos, disolución del cuerpo de granaderos, destitución del alcalde de la ciudad, del jefe de la seguridad. [...] ¿Puede hablarse de sólidas tradiciones democráticas cuando de hecho no hay más que un partido político? ¿Cuando en las cámaras no se admiten candidatos de otro partido o sólo se aceptan algunos para dar la engañosa apariencia de una oposición?“[23]
Der Widerstand verschärfte sich und weitere Kritik gegen den politischen Autoritarismus und Repression unter der unangefochtenen Staatspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI) und den Mangel an Meinungsfreiheit brach aus. Mit Gustavo Díaz Ordaz bekam das Land 1964 jedoch einen Präsidenten, dessen Regierungsstil sich vor allem durch ihren „autoritären, ja repressiven Charakter“ auszeichnete.[24]
Nach der Solidarisierung anderer Universitäten, Arbeitern, Mütter und Vätern sowie zahlreichen Demonstrationen in der Größenordnung von mehreren 100.000 Protestierenden stürmten am 18. September 10.000 Soldaten die Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), nahmen etwa 500 Studenten fest und besetzten die Universität für zwei Wochen.[25] Mit der Invasion verletzte die Regierung die politische und akademische Autonomie, die die Universität 1929 ausrief. Universitäten wie die UNAM wurden damals zum Symbol des freien Wortes und der Autonomie, zu „kritischen Freiräumen und Keimzellen des Protests“.[26] Die Studenten sahen in dieser Unabhängigkeit einen Teil ihrer politischen Identität und schätzen diese sehr wert.[27]
Am 2. Oktober 1968 folgt schließlich der Höhepunkt der Protestbewegungen in Mexiko: das Massaker von Tlatelolco. Im Zuge der Olympischen Sommerspiele 1968, die wenige Tage vor dem 12. Oktober in Mexiko eröffnet wurden und bei dem sich der „Gastgeber [...] als selbstbewusste und weltoffene Moderne präsentierte“[28], fasste Präsident Díaz Ordaz die Aufstände als ein Störfaktor auf und vermutete ausländische Aufrührer und kommunistische Verschwörer am Werk. Um die nationale Sicherheit zu garantieren sowie Ordnung und Ruhe zu schaffen, drohte der Präsident zunächst mit gewaltsamer Beendigung der Unruhen. Anschließend hielt er seine Drohung ein und verursachte damit die blutige Niederschlagung der Bewegung.[29]
„Todos los testimonios coinciden en que la repentina aparición de luces de bengala en el cielo [… ] desencadenó la balacera”.[30] Nahezu 100.000 Studierende und Anhänger, die sich auf der Plaza de las Tres Culturas im Stadtteil Tlatelolco in Mexikos Hauptstadt friedlich zusammengefunden haben, wurden nach dem Aufblitzen der Lichter von Soldaten, die sich größtenteils in den benachbarten Hochhäusern befanden, unter Beschuss genommen. An die 2.000 wurden festgenommen, viele misshandelt. Eine genaue Angabe über die Zahl der Toten gibt es bis heute nicht, anfangs gab es die Information von 500 bis 1.000 Toten. Die unmittelbaren Zeitungen berichteten von weitaus weniger, so dass bis heute lediglich 39 Ermordete namentlich bekannt sind.[31]
Zeugen berichten von Schreien, Schmerzen, Geweine, Gebeten und dem fortdauernden und ohrenbetäubenden Lärm der hochkalibrigen Waffen. Von Blut auf dem Boden, an den Wänden und in der Luft. All dies verwandelte den Platz in eine Hölle.[32] Elisa Ramirez gesteht: “Auf alles hatten wir uns vorbereitet, auf die Schläge und auf das Gefängnis. […] Nur auf den Tod waren wir nicht vorbereitet”.[33]
Fotos beweisen das Zurückbleiben von zerfetzten jungen Menschen sowie Leichenbergen, die von Lastwagen abtransportiert wurden. Die Plaza de las Tres Culturas soll am folgenden Tag von Schuhen bedeckt gewesen sein, die während einer Absperrung des Platzes klammheimlich entfernt wurden. Aus dieser Verhüllung und Unbestimmtheit resultiert, dass – trotz der beweislichen Grundlage für die Schuld von Armeeangehörigen und eines paramilitärisches Sonderkommandos - bisher niemand ernsthaft zur Verantwortung gezogen wurde. Ein wichtiges Ziel hat das „Ein-Parteien-Regime“ damit für sich erreicht: die Olympiade verlief friedlich und die Protestbewegung fand in diesem Maße nicht mehr statt.[34]
Der historische Hintergrund ist insofern bedeutend, da dieser in Amuleto eine zentrale Rolle spielt. Zudem ist er elementar, um der Analyse des Romans und der Herausarbeitung der Formen der memoria folgen zu können. Vor den Gedächtniskonzepten und der Analyse soll im folgenden Abschnitt kurz auf das Leben des Autors Roberto Bolaño eingegangen werden. Toni Keppeler nennt im nachstehenden Zitat ein mögliches Motiv für das Verfassen von Amuleto:
„Wenn man sich heute an [...] 1968 erinnert, fällt einem allenfalls Bob Beamon ein: Der Mann, der in der Höhenluft von Mexiko-Stadt 8,90 Meter weit sprang und damit einen unglaublichen Weltrekord aufstellte. An das Massaker von Tlatelolco denkt niemand mehr.“[35]
Was macht Roberto Bolaño zu einer der unentbehrlichsten Personen für die lateinamerikanische Literatur unserer Zeit, dessen Werke als „Meilenstein der literarischen Evolution“ (Mangold 2009) bezeichnet werden? „Roberto Bolaño [...] se ha impuesto como uno de los escritores latinoamericanos imprescindibles de nuestro tiempo“[36] schreibt der Verlag Anagrama auf seiner Homepage. Sein Interesse für Mexiko, seine Vergangenheit und Literatur ist so groß, dass er eine nebensächliche zehnseitige Erzählung um Auxilio Lacouture aus seinem preisgekrönten Werk Los detectives salvajes entnimmt und diese in den eigenständigen Roman Amuleto verwandelt, der detailliert den realen Fall einer Frau thematisiert, die 1968 während der Invasion der mexikanischen Regierung in der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) eingesperrt war. Bolaños Leben und dessen Intention, in seinen Werken politische, mythologische und historische Fragen aufzuwerfen wird im folgenden Abschnitt präsentiert.
Roberto Bolaño wird am 28. April 1959 in Santiago de Chile geboren und verbringt dort seine ersten 15 Jahre. Über seine Kindheit in Chile sagt er folgendes:
“Mi vida ha sido un desastre. Tendría que empezar hablándole de mis padres. […] Pues supongo que mis padres se amaron muchísimo, que hubo entre ellos una fuerte atracción sexual, pero jamás se tendrían que haber casado y mucho menos tener hijos. Yo era el hijo mayor y recibía los misiles de uno y otro lado. Son historias tan tristes, tan destructivas, que pueden resultar hasta cómicas. Pero son insoportables. […] Y separaciones y más separaciones, hasta la definitiva. Cuando yo tenía 15 años abandonamos Chile porque mis padres decidieron reiniciar su aventura existencial en México.”[37]
„Mis padres siempre habían estado separándose y juntándose. Toda mi infancia fue una relación muy tormentosa entre ellos, y México era de cierta manera un pequeño paraíso, un lugar donde ambos pudieran recomenzar.“[38]
1968 in Mexiko angekommen, war kein Paradies in Aussicht: die Ereignisse rund um die Olympischen Sommerspiele, die Präsidentschaft von Gustavo Díaz Ordaz und das Massaker von Tlatelolco. Auch Bolaño bekräftigt, dass der mexikanische Traum für die Familie ausblieb: „cada uno tiene un ideal, pero luego, evidentemente, no sale nada, es lo que pasa siempre que llegas a un país extraño“.[39] Trotzdem passt sich der 15-jährige Bolaño gut an, so dass er behauptet, sich nie unwohl und fremd gefühlt zu haben: „Como yo tenía 15 años, rápidamente me mexicanicé, me sentía totalmente mexicano. Nunca me sentí extranjero en México“.[40]
Im Alter von 16 Jahren beginnt sein rebellischer Charakterzug: er schmeißt die Schule, entwickelt sich zu einem „joven rabioso y feroz“[41] und entscheidet sich für das Schreiben, auch wenn anfänglich „de una manera diletante“.[42] Bolaño sucht die Extremen, sowohl in seinen Lebenserfahrungen sowie in den politischen Interessen: „Yo decidí ponerme a escribir a los 16 años, en México, y además, en un instante de ruptura total, con la familia, con todo, como se hacen estas cosas“.[43] Mit 19 wird er schließlich zu einem „joven destructivo y violento“[44], der „quería hacer la revolución“.[45] Er reist nach Chile, um sich an der revolutionären Bewegung Salvador Allendes zu beteiligen. Diese wird durch den Militärputsch Generals Augusto Pinochet gestürzt und Bolaño für acht Tage inhaftiert.
Nach seiner Rückkehr in Mexiko im Jahre 1974 widmet Bolaño sich der literarischen Arbeit. Er wirkt bei Zeitschriften und Beilagen mit und veröffentlicht Buchrezensionen und Artikel. Im Hintergrund seiner aufständischen Person gründet er 1975 mit linkradikalen Dichter- und Studentenfreunden – unter anderem Mario Santiago Papasquiaro, José Rosas Ribeyro - „a poetry movement against the official culture which he named the Movimiento Infrarrealista de Poesía“[46], um gegen den bestehenden literarischen Kanon zu rebellieren. Bolaño kommentiert die Aktionen der infrarrealistas auf diese Weise: „Nosotros lo que hacíamos era molestar [...] Eso fue el grupo de infrarrealistas”.[47] Sie lehnten sich besonders gegen die Schriftsteller Octavio Paz und Pablo Neruda auf, wobei der erstere als „the representative of Mexico’s official culture, the politically powerful gatekeeper to the Mexican literary establishment“[48] gesehen wurde.
[...]
[1] Ögünc, Pinar (2016): Das eigene Blut auf der Kamera. http://www.zeit.de/politik/ausland/201602/pressefreiheit-tuerkei-diyarbakir-kurdische-gebiete-repression-journalisten/komplettansicht (12.04.2016).
[2] Vgl. Muñoz-Casallas, Diego Andrés (2014). Los detectives salvajes y el problema del sujeto: hacia una descripción de la experiencia en el sistema-mundo. Bogotá: Universidad Nacional de Colombia Biblioteca Digital. S.129.
[3] Cohn-Bendit 1987: 15, zitiert nach Klimke, Martin (2010): 1968 als transnationales Ereignis. In: Rathkolb, Oliver/Stadler, Friedrich (Hg.): Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre. Göttingen: V&R unipress. S. 21.
[4] Ebd.
[5] Huffschmid, Anne (2008): Diesseits des Che Guevara: „68“ in Lateinamerika. In: Erinnerung macht Gegenwart. Münster: Verl. Westfälisches Dampfboot. S.142.
[6] Vgl. Scharenberg, Albert (2008): Die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Nationale und internationale Aspekte ihrer Mobilisierung im Vorfeld von ,1968’. In: Kastner, Jens/Mayer, David (Hg.): Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichterlicher Perspektive. Wien: Mandelbaum Verlag. S. 159ff.
[7] Vgl. Ebd., S. 170.
[8] Vgl. Ash, Michtell G. (2010): The whole world is watching! 1968 auf dem Campus und in den Straßen der USA. In: Rathkolb, Oliver/Stadler, Friedrich (Hg.): Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre. Göttingen: V&R unipress. S. 101.
[9] Rémond, Réné (1994): Geschichte Frankreichs. Frankreich im 20. Jahrhundert; 1. 1918 - 1958. Band 6. Stuttgart : Dt. Verl.-Anstalt. S. 139.
[10] Vgl. Ebd., S. 140ff.
[11] Vgl. Segert, Dieter (2008): Prag 1968. In: Kastner, Jens / Mayer, David (Hg.): Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive. Wien: Mandelbaum Verlag. S. 123.
[12] Vgl. Ebd., S. 117f.
[13] Teichova, Alice/Teich, Mikuláš (2010): Gedanken über den Prager Frühling. 1968. In: Rathkolb, Oliver / Stadler, Friedrich (Hg.): Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre. Göttingen: V&R unipress. S. 78.
[14] Schneider, Eleonora (1994): Prager Frühling und samtene Revolution. S oziale Bewegungen in Gesellschaften sowjetischen Typs am Beispiel der Tschechoslowakei. Aachen: IZE. S. 107.
[15] Ebd., S. 72.
[16] Vgl. Mayer, David (2008): Vor den bleiernen Jahren der Diktaturen. 1968 in und aus Lateinamerika. In: Kastner, Jens / Mayer, David (Hg.): Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive. Wien: Mandelbaum Verlag. S. 156.
[17] Vgl. Huffschmid, 2008, S. 147.
[18] Ebd., S. 148.
[19] Vgl. Ebd., S. 147f.
[20] Ebd. S. 154.
[21] Trevizo, Dolores (2011): Rural protest and the making of democracy in Mexico, 1968-2000. University Park, Pa : Pennsylvania State Univ. Press. S. 62.
[22] Poniatowska, Elena (1971): La noche de Tlatelolco: testimonios de historia oral. 13. Ed. México D. F.: Ed. Era. S. 276.
[23] Ebd., S. 20.
[24] Tobler, Hans Werner / Bernecker, Walther L. (1996): Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. 3. Lateinamerika im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Clotta. S. 324.
[25] Vgl. Trevizo, 2011, S. 67.
[26] Huffschmid, 2008, S. 144.
[27] Vgl. Trevizo, 2011, S. 58f.
[28] Huffschmid, Anne (2015): Risse im Raum. Erinnerung, Gewalt und städtisches Leben in Lateinamerika. Wiesbaden: Springer VS. S. 191.
[29] Vgl. Trevizo, 2011, S. 67.
[30] Poniatowska, 1971, S. 166.
[31] Vgl. Huffschmid, 2008, S. 146f.
[32] Vgl. Poniatowska, 1971, S. 184.
[33] Huffschmid, 2008, S. 146.
[34] Huffschmid, 2008, S. 147.
[35] Keppeler, Toni (2008): Mexiko 1968. Das Blutbad vor Olympia. http://www.stern.de/politik/ausland/mexiko-1968-das-blutbad-vor-olympia-3089848.html (12.04.2016).
[36] Vgl. Homepage des Verlags Anagrama. http://www.anagrama-ed.es/autor/134 (12.04.2016).
[37] Braithwaite, Andrés (2006): Bolaño por sí mismo: entrevistas escogidas. Santiago, Chile: Ediciones Univ. Diego Portales. S. 79.
[38] Ebd., S. 34.
[39] Saucedo Lastra, Fernando (2005): México en la obra de Roberto Bolaño : memoria y territorio. Madrid: Iberoamericana. S. 18.
[40] Braithwaite, 2006, S. 36.
[41] Saucedo Lastra, 2005, S. 19.
[42] Braithwaite, 2006, S. 79.
[43] Ebd., S. 89.
[44] Saucedo Lastra 2005, S. 20.
[45] Braithwaite, 2006, S. 80.
[46] Goldman, Francisco (2007): The Great Bolaño. In: The New York Review. 19.07.2007. S. 34.
[47] Saucedo Lastra, 2005, S. 25.
[48] Goldman, 2007, S. 34.
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