Masterarbeit, 2017
49 Seiten, Note: 2,3
I. Einleitung
II. Die Ausgangspunkte von Aristoteles und Seneca
ILI. Der Freundschaftsbegriff: φιλία -amiciţia
Π.2. φιλία und amiciţia vor und nach Aristoteles und Seneca
11.3. Aristoteles und seine Ethiklehre
11.4. Seneca und seine Schriften
III. Der Freundschaftsbegriff bei Aristoteles und Seneca
IILI. Was ist Freundschaft?
111.2. Die Notwendigkeit von Freunden
111.3. Freunde finden, Freundschaft schließen
111.4. Freundschaft will gepflegt werden
111.5. Wenn die Freundschaft ein Ende nimmt
111.7. Der Tod eines Freundes
111.8. φιλία und φίλησις, amiciţia und amor
8 זח Sklaven- humiles amicii
111.9. Auswirkung der Darstellungsform
IV. Zusammenfassung
V. Literaturverzeichnis
Was es bedeutet, mit einem anderen Menschen befreundet zu sein, erleben wir von Kindesbeinen an, und dennoch scheint es beinahe unmöglich, die Frage ״Was versteht man unter Freundschaft?“ aus dem Stehgreif zu beantworten. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Frage nach dem Wesen der Freundschaft auch unter den in der antiken Ethik erörterten Fragestellungen einen festen Platz einnahm. Unsere frühsten Zeugnisse davon reichen bis auf Empedokles zurück, der sein Verständnis der φιλία und φίλησις jedoch noch nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen beschränkte.[1] Das änderte sich erst mit Xenophon und Platon, dessen Dialog Lysis jedoch noch in einer Aporie[2] endete. Erst Aristoteles gelang es mit den Büchern VIII und IX der Nikomachisehen Ethik, eine systematische Freundschaftslehre zu verfassen, die es bis dahin in dieser Ausführlichkeit und Detailliertheit noch nicht gab.
Die vorliegende Arbeit widmet sich nun der Fragestellung, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Freundschaftslehre sich zwischen dem ״alten“ Stoiker Aristoteles und dem ״neuen“ Stoiker Seneca aufzeigen lassen. Zunächst soll ein allgemeiner Einblick in den Freundschaftsbegriff der Antike gegeben werden, bevor Aristoteles und Senecas Freundschaftslehren nacheinander unter den Aspekten des Wesens der Freundschaft, der Notwendigkeit von Freunden und ihrer Auswahl, das Schließen, Führen und Enden einer Freundschaft sowie die Fragen, was die Liebe von der Freundschaft unterscheidet und ob eine Freundschaft zwischen Sklaven und ihren Herren möglich ist, betrachtet werden. Dabei werden sich die Untersuchungen bei Aristoteles hauptsächlich auf die Bücher VIII und IX der Nikomachischen Ethik beschränken und bei Seneca auf die Epistulae Morales. Die anderen Schriften der Autoren werden jeweils nur punktuell herangezogen werden.
Bevor die Betrachtung des Freundschaftsbegiffs sich auf die Darstellungen von Aristoteles und Seneca beschränken wird, soll zunächst eine allgemeine DarStellung des Bedeutungsfeldes der Begriffe φιλία - amiciţia sowie deren etymologischen Verwandten φίλος - amicus und φίλεΐν - amare gegeben werden.[3] Die φιλία definiert Platon als ομονοια ύπέρ καλών και δικαίων (Plat.def. 413,A), sie beschreibt sowohl das Verhältnis zu anderen Personen, das sich nochmals unterteilen lässt in das zum Geliebten (φιλία φυσική), zum Kameraden (φιλία έταιρική) und zum Fremden (φιλία ξενική)[4], als auch das Verhältnis zur eigenen Person. Als φιλία bezeichnete man allgemein Beziehungen, die sich auf gegenseitige Sympathie gründeten, unabhängig davon, wie nah einem die Personen tatsächlich standen.[5] Abgeleitet ist es von dem Verb φίλεΐν, das dem lateinischen amare oder probare entspricht.[6] Es bezeichnet ebenfalls generell den Austausch von Nettigkeiten, ebenso die eher von Respekt und Gehorsam geprägte Liebe zu Gottheiten und die Bevorzugung von Dingen oder Tätigkeiten. Eine Färbung im Sinne von ερος bekam es erst nach Homer. Als φίλος schließlich gilt deijenige, der jemand anderem Zuneigung entgegenbringt oder sie erfährt im Gegensatz zum klar feindlieh konnotierten πόλεμος. In der gesprochenen Sprache fand es Verwendung als Anredefloskel ohne tiefreichende Bedeutung.
Das Wort amiciţia ist laut Cicero von amor abgeleitet und neben caritas eine seiner Übersetzungen von φιλία.[7] Etymologisch lassen sich beide Wörter vermutlich auf das Lallwort *ama zurückführen, das ein von Kindern verwendetes Kosewort für ihre Mütter war.[8] Im persönlichen Umfeld bezeichnet sie die Zuneigung zu einer bestimmten Person aufgrund ihrer guten Eigenschaften, die von dieser Person aus denselben Gründen erwidert wird. Diese Beziehung ist geprägt von Übereinstimmung in den wichtigen Fragen des Lebens[9], gegenseitigem Wohlwollens und Fürsorge[10] und galt als die wichtigste und verbindlichste der zwischenmenschlichen Beziehungen. Im öffentlichen Kontext bezeichnete man, weniger eng gefasst, die nicht-feindlichen Beziehungen zu anderen Staaten als amiciţia. Als amicus bezeichnete man im privaten wie öffentlichen Kontext Personen, zu denen man, sei es durch Blutsverwandtschaft, sei es durch ein Klientelverhältnis o.ä., in Verbindung Stand. Die Bezeichnung amicus deckt sich somit weitgehend mit dem griechischen φίλος. Das Verb amare schließlich bezeichnet, wieder parallel zu φίλειν, das Wertschätzen einer Person oder Sache, ist jedoch von den Verben, die dies ausdrücken können[11], das mit dem größten Nachdruck.
Vergleicht man die griechischen und lateinischen Freundschafts-Wortfelder, lässt sich zwischen ihnen eine weitgehende Übereinstimmung feststellen. Auffälliger hingegen ist der Unterschied zur Verwendungsweise unserer deutschen Begriffe ״Freund“ und ״Freundschaft“. Während im Griechischen und Lateinischen sowohl Familienangehörige als auch Personen, die in einer klaren Hierarchie zueinander standen, als ״Freund“ galten, ferner sowohl solche, die man persönlich und gut kannte, als auch solche, die der Gruppe oder dem Volk, zu dem man gehörte, lediglich nicht feindlich gesonnen waren, bezeichnen wir Familienangehörige, unsere Vorgesetzten oder Politiker nicht als ״Freunde“. Und selbst bei denen, die dann noch verbleiben, treffen wir die Unterscheidung zwischen ״Bekannten“, mit denen man nur unregelmäßig und eher oberflächlich verkehrt,[12] und den eigentlichen ״Freunden“, die wir mitunter täglich treffen, sehr gut kennen und mit denen wir unsere persönlichsten Anliegen besprechen können.[13] Unser heutiges Verständnis von Freundschaft ist somit sehr viel enger umgrenzt als das der Griechen und Römer, auch wenn soziale Netzwerke wie Facebook gerne das Gegenteil suggerieren.[14]
Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle die amiciţia popouli Romani׳. Ausgehend von der Annahme, dass es unter den Menschen eine naturgegebene Freundschaft gibt,[15] beschreibt sie im politischen Kontext die Verbundenheit zwi- sehen den Römern und auswärtigen Völkern, die oftmals - wie schon das griechi- sehe φίλος- nur zum Ausdruck brachte, dass man dem so bezeichneten Volk nicht feindlich[16] gesonnen war. Ab dem 2. Jhdt. wurde sie als amiciţia populi Romani zu einem wichtigen politischen Instrument der Römer. Durch das Bezeichnen ihrer socii als amici gaben sie der Beziehung eine positive Konnotation, obschon es sich deutlich um ein Abhängigkeitsverhältnis von der Weltmacht Rom handelte. Konkret äußerte sich diese ״Freundschaft“ in Form von militärischer Kooperation und Rechtsschutz von römischer Seite aus. Den Römer gewährte sie die Kontrolle über und die Loyalität der amicorum, während die amici selbst vom militärischen Schutz profitierten. Dabei konnten die Ebenen persönlicher und politisch motivierter Freundschaft verschwimmen, pflegte die römische Oberschicht doch persönliche Freundschaften zu Mitgliedern nicht-römischer Führungsschichten.[17]
Aristoteles wie Seneca konnten bereits auf zahlreiche Theorien und Abhandlungen zum Thema ״Freundschaft“ zurückgreifen. Schon Platon ließ sie in seinem Werk Lysis eine zentrale Rolle spielen. Sokrates, Lysis und Menexenos diskutieren darin, wie man zum Freund wird, indem sie die Auffassungen noch älterer Philosophen gegenüberstellen: So habe Empedokles die Auffassung vertreten, dass Gleiches einander befreundet sei, was falsch sei, da zwei schlechte Personen zwar charakterlich gleich, aber dennoch außer Stande seien Freundschaften einzugehen. Außerdem könnten sie sich gegenseitig nicht ergänzen, weswegen die Freundschaft keinem von beidem nützlich wäre. Heraklits Ansatz, dass Gegensätzliches einander befreundet sei, erscheine so zwar plausibler, werfe aber das Problem auf, dass alles einander widerstrebende wie Nässe und Trockenheit oder Hell und Dunkel ebenfalls Gegensatzpaare seien und unter Gegensätzlichen daher auch keine Freundschaft bestehen dürfte. Der Dialog endet aporetisch und man kann lediglich festhalten, dass für Platon das Streben nach etwas die Ursache der Freundschaft darstellt und er die Liebe als deren vollendete Form auffasst.[18]
Epikur gründete seinen Freundschaftsbegriff auf der These, dass es keine durch ein Naturrecht gewährte Gerechtigkeit unter den Menschen gebe. Freundschaftliche Beziehungen seien nur in den Bereichen sinnvoll, wo staatliche Gesetzte keine genauen Handlungsrichtlinien bieten. Nichtsdestoweniger sei die Freundschaft der wichtigste Faktor für das Erlangen der eigenen Glückseligkeit. Epikur versuchte die Freundschaft als einen vom Nutzen unabhängigen Selbstwert zu etablieren. Der Wert der Freundschaft bestünde in dem Wissen, dass man den Nutzen, den Freunde einem bieten können, jederzeit in Anspruch nehmen könne.[19]
Zeitlich zwischen Aristoteles und Seneca verortet, verfasste Cicero schließlieh den Dialog Laelius de amiciţia. Hierin erläuterte er, in deutlicher Anlehnung an die bei Aristoteles erörterten Fragen, dass Freundschaften nur unter Guten möglich sei, sie in der Liebe und nicht im Nutzen ihren Ursprung hätten, und diskutierte, welche Charaktere untereinander befreundet sein könnten, ob alt eingesessene oder neue Freundschaften vorzuziehen seien und ob und wie zwei Personen verschiedenen Ranges untereinander befreundet sein könnten.[20]
Aristoteles (384322־ v.Chr.) wurde in Stageira geboren und studierte ab 367 an Platons Akademie in Athen. Dort lernte und lehrte er jeweils zehn Jahre lang bis zu dessen Tod, worauf er in Kleinasien, auf Lesbos und bis 335 als Lehrer des späteren Alexander des Großen am makedonischen Königshof lehrte. Daraufhin kehrte er nach Athen zurück und gründete dort am Lykeion seine eigene Schule, an der er bis zu seinem Tod lehrte. Die an der Schule betriebene Forschung lässt sich thematisch kaum eingrenzen,[21] zu seinen Schülern gehörten u.a. Theophrast und Eudemos. Nach dem Tod Alexanders 323 wurde er in einem Schauprozess der Gottlosigkeit angeklagt und floh nach Chalkis, wo er ein Jahr darauf verstarb.
Aristoteles Werk ist nur fragmentarisch erhalten. Während seine Material- Sammlungen[22] verschollen sind, sind uns seine Lehrschriften größtenteils überliefert. Anders als sein Lehrer Platon unterteilte Aristoteles seine Lehre in zahlreiche Einzeldisziplinen mit jeweils eigenen Grundannahmen und Vorgehensweisen. Er gliederte seine Philosophie in den theoretischen und praktischen Bereich und ers- teren nochmals in die Metaphysik, die sich mit dem Unveränderlichen, und die Physik, die sich mit dem Veränderlichen befasst. Hierbei deckt er alle erdenklichen (natur-)wissenschaftlichen Themen, von der Sprachtheorie über die Hirn- melserscheinungen bis hin zur Seele, ab. Die Ausgangspunkte sind hierbei die Un- tersuchung von Veränderungen, ihren Ursachen und die Frage nach dem Anfang von Kausalketten, dem ״Unbewegten Beweger“. Ferner befasste Aristoteles sich mit ethischen Fragestellungen, die in 3 Werken -der ״Nikomachisehen Ethik“, der ״Eudemischen Ethik“ und der ״Großen Ethik“ - überliefert sind.[23] Er geht davon aus, dass jegliches Handeln auf ein Ziel ausgerichtet ist und so zu einem glücklichen Leben beiträgt. Zielgerichtetes Handeln, an dessen Ende das Erreichen eines erstrebten Guts steht, kann in Bemühungen um äußere und um innere Güter unterteilt werden. Zu den äußeren Gütern gehören neben Reichtum und Ehre auch die Freunde. Die inneren lassen sich nochmals unterteilen in die inneren Güter des Körpers wie Gesundheit und Stärke sowie in die inneren Güter der Seele, zu denen die Tugenden und der Charakter zählen. Diese Güter werden aber nicht um ihrer selbst Willen erstrebt, sondern weil sie zu dem obersten Gut, der εύδαιμονία, verhelfen.[24] Und was darf als Tugend gelten? Aristoteles definiert sie als Charatereigenschaft (έξις [EN 1106a,22.b,36), die man sich durch Übung aneignen muss und die sich erst in aktiver Ausübung realisiert. Nach der μεσάτης- Lehre stellen Tugenden die Mitte zwischen zwei lasterhaften, weil extremen Verhaltensweisen dar.[25]
Den Ausgangspunkt der in den Ethiken behandelten Themen bildet also die Frage, was zur εύδαιμονία verhilft und wie man sie erreichen kann. Neben der Freundschaft gehören für Aristoteles ein freier Wille (έκούσιον), Gerechtigkeit (αρετή), Selbstbeherrschung (σωφροσύνη) -vor allem gegenüber der Lust (ήδονή[26] ) - und politische Fragen[27] dazu. Die drei Ethiken überschneiden sich thematisch größtenteils. Die Freundschaft thematisiert Aristoteles in den Büchern VIII und IX der Nikomachischen Ethik, am Anfang des siebten Buches der Eude- mischen Ethik und in den Kapiteln 11-17 des zweiten Buches der Großen Ethik.[28]
Lucius Anneus Seneca (ca. 065־ n.Chr.) wurde vermutlich in Corduba geboren und gehörte einer geachteten Ritterfamilie an.[29] Nach seiner Ausbildung in Rom war er als Anwalt tätig und erlangte mit Hilfe seiner Tante die Quaestur. Im Jahr 41 n.Chr. wurde er von Messalina, der Frau von Kaiser Claudius, in eine gegen Iulia, der Schwester von Kaiser Caligula, gesponnene Intrige verwickelt und des Ehebruchs mit dieser angeklagt. Er musste für über sieben Jahre nach Korsika in die Verbannung[30]. Nach seiner Rückkehr und ihrem Tod wurde er Dank Agrippina, Clausius' neuer Ehefrau, Praetor und Erzieher des jungen Nero. Im Zuge der pisonischen Verschwörung, von der er vermutlich höchstens wusste, wurde er nach deren Scheitern 65n.Chr. zum Selbstmord verurteilt.
Sein Werk umfasst Reden, Tragödien, die naturwissenschaftlichen Naturales Quaestiones und philosophische Schriften, die den größten Anteil ausmachen. Zu ihnen zählen die Abhandlungen De ira, die seinem Bruder Novatus gewidmet ist, De dementia, De beneficiis und die Epistulae morales ad Lucilium. Letzteres gilt aufgrund des Umfangs von 124 fiktiven Lehrbriefen, die Seneca seinem Freund und Neffen[31] Lucilius gewidmet hat, als dessen Hauptwerk und gewährt einen tiefen Einblick in seine Philosophie[32]: Seneca will die Menschen zu einem Leben gemäß der Natur {secumdum naturam [и.a. 5,4]) anleiten, welches den Seelenfrieden garantierten soll. Neben konkreten Vorschriften und nachahmenswerten Beispielen entwirft er dafür das Idealbild des sapiens, welchem zwar jedermann nacheifern soll, das aber -auch für Seneca selbst- unerreichbar ist. Der Tod selbst mahne zu dieser Lebensform, da niemand auf die Länge seines Lebens, nur auf dessen Tugendhaftigkeit Einfluss habe. Diese sei das einzige und höchste Gut {summum bonum [и.a. 92,5]). Neben ihr gibt es die indifferenten Güter, wie Z.B. Gesundheit oder auch die Freunde, die das Leben zwar angenehmer machen, deren Verlust für den sapiens jedoch bedeutungslos sind, da er sich stets darüber im Klaren ist, dass er diese jeden Augenblick verlieren kann, und sich dementsprechend verhält. Er ist im Besitz der Ataraxie, der vollkommenen innerlichen Unabhängigkeit von den indifferenten Gütern. Seneca folgt in diesem Punkt also der neuen Stoa, die im Gegensatz zur alten Schule dem sapiens zumindest die Erlaubnis, indifferente Güter zu haben, erteilt. Die Frage, was das für unser Verhältnis zu unseren Freunden bedeutet, behandelt Seneca in den Briefen vertieft unter verschiedenen Gesichtspunkten:
- Was zeichnet eine vera amiciţia[33] aus? (epist. 3)
- Wie viele Freunde braucht der sapiens?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Aber auch in seinen anderen Werken kommt er immer wieder auf die Freundschaftsthematik zurück. Ferner ist uns noch fragmentarisch die Schrift Quomodo amiciţia continencia sit erhalten, in er darstellt, wie man sich streiten und vertragen soll.
Die Wahl des Lucilius als fiktiven Adressat der Briefe und somit als Identifikationsfigur für die realen Leser der Briefe ist wohlbedacht: Lucilius ist Epikūre- er, vertritt somit eine philosophische Haltung, die der Senecas entgegengesetzt ist und stellt für diesen daher einen Schüler dar, der überzeugend und motivierend belehrt werden muss. Dies gelingt ihm, indem er sich nicht stur auf stoische Lehren und Lehrer beschränkt, sondern auch die Lehren anderer philosophischer Schulen wie die der Epikureer anführt, freilich in abgewandelter und auf die stoi- sehe Lehre zugeschnittener Form.[34] Gleichzeitig bietet er seinen Lesern, ungeachtet derer philosophischen Vorprägung, mit Lucilius eine Möglichkeit zur Identifikation: Die Stoiker unter den Lesern sind intrinsisch motiviert und möchten mit Lucilius dazulemen, die anderen können sich in dem Nicht-Stoiker Lucilius wiedererkennen und sind bereitwilliger, sich aus dessen Blickwinkel trotzdem auf die stoische Philosophie einzulassen.
Laut Aristoteles hat die Freundschaft ihren Ursprung in dem allen Lebewesen angeborenen Bedürfnis (φύσει τ' ένυπάρχειν [EN 1155a,16]) nach der Gemeinschaft mit Artgenossen,[35] welches beim Menschen jedoch am deutlichsten ausgeprägt ist,[36] des Weiteren in dem Verhältnis, in dem ein jeder zur eigenen Person steht:[37] Man sucht sich Freunde unter seinesgleichen.[38] Freundschaft ist ein an sich erstrebenswertes Gut.[39] In welchem Verhältnis die Freundschaft zur Tugend steht, ist umstritten: An einer Stelle sagt Aristoteles, dass sie förderlich sei Freundschaften zu schließen[40], an anderer, dass es sich um eine Emotion handle.[41] Ferner, dass die Freundschaft mit der Tugend - in nicht genau beschriebener Art und Weise - verbunden sei.[42] Gegen letztere Aussage kann man einwenden, dass es, wenn Freundschaft eine Tugend wäre, es auch eine zu ihr gehörende ״Freund- schafts-Charaktereigenschaft“ gebe müsse.[43] Nach Aristoteles μεσότης-Lehre schließlich ließe die Freundschaft sich als Mitte ״zwischen aufdringlicher Gefallsucht... und abwehrender Selbstverhärtung...“ [Müller (1972), 1106] beschreiben.
Die Erfahrung, dass Freunde einem dennoch nicht ausschließlich durch ihr bloßes Dasein als Gut erscheinen, führt Aristoteles zur Unterteilung[44] der Freundschaften in drei Arten:[45]
- Die vollkommene Freundschaft (τελεία ... φιλία [EN 1156b,7]) zeichnet sich dadurch aus, dass sie allein um ihrer selbst willen (τφ φιλείσθαι δε καθ' αύτό χαίρουσιν· [EN 1159a, 25]) besteht und in ihr alle Voraussetzungen einer Freundschaft zugleich erfüllt sind (ταύτη δέ πάνθ' ύπάρχει τα είρημένα καθ' αύτούς· [EN 1156b,21]), was bedeutet, dass sie nur von einem tugendhaften Menschen zu einem ebensolchen geschlossen werden kann (... δι' αύτούς δέ δήλον οτι μόνους τούς αγαθούς· [ΕΝ 1157a,18f.]). Sie wünschen einander selbstlos[46] das Gute[47] und stellen die eigenen Belange nicht über die des Freun- des[48] - selbst bei Ehrenämtern lassen sie dem Freund den Vortritt[49]. So leben sie ihre Tugend - und an ihr wiederum erkennt man den wahren Freund: και έτι τούς αύτούς οιονται άνδρας αγαθούς είναι καί φίλους (EN 1155a,31). Da zwei Menschen, um miteinander befreundet sein zu können, sich im Charakter ähneln müssen, es von tugendhaften Menschen allerdings nicht viele gibt, tritt eine solche Freundschaft selten auf.[50] Sie steht qualitativ über der Nutzfreundschaft: είδη δέ τής φιλίας πλείω, καί πρώτως μέν καί κυρίως τήν των άγαθων η αγαθοί, τάς δέ λοιπάς καθ' ομοιότητα· (ΕΝ 1157a,3032־).
- Die Nutzfreundschaft zeichnet sich aus durch persönliche Vorteile (παρ' άλλήλων αγαθόν [EN 1156a,llf.]), die die Partner aus ihr schöpfen. Sie schätzen sich nicht um ihrer Person willen (ού καθ' αύτούς [EN 1156a, 11]), sondern für die geleisteten Dienste, und sind daher nur der Beizeichnung nach Freun- de.[51] Folglich brechen Nutzfreundschaften leicht auseinander, sobald diese Dienste nicht mehr geleistet werden müssen oder können.[52] Ferner ist das Konfliktpotential erhöht, weil jeder Partner darauf bedacht ist, selbst den größeren Vorteil zu schöpfen und fürchtet, der Freund könne ihm etwas vorenthalten.[53] Deswegen ist es notwendig, hinsichtlich der Dienstleistungen genaue Absprachen zu treffen (... καθ' ομολογίαν δέ τί άντί τίνος [ΕΝ 1162b,27f.]): Der Partner, der einen Gefallen erweist, rechnet damit, eine gleichwertige Gegenleis- tung[54] zu erhalten, und dieser Erwartung soll der Empfänger von sich aus gerecht werden, sofern er dazu in der Lage ist.[55] Da der gegenseitige Nutzen dort am größten ist, wo die Partner sich in wesentlichen Merkmalen unterscheiden und sich daher ergänzen, entsteht eine Nutzfreundschaft hauptsächlich zwi- sehen Personen verschiedener Lebensumstände (έξ εναντίων... ή διά το χρήσιμον γίνεσθαι φιλία...· [ΕΝ 1159b, 12f.]) sowie unter älteren Personen (εν τοίς πρεσβύταις [EN 1156a,24]). Hinsichtlich der Frage, wie vieler Freunde man um des Nutzens willen bedarf, empfiehlt Aristoteles ein Mittelmaß (... μήτ' άφιλον είναι μήτ' αΰ πολύφιλον... [ΕΝ 1170b,22f.]). Eine Unterart der Nutzfreundschaft ist die Satzungsfreundschaft, die auf festen Abmachungen beruht.[56] Auch die Gastfreundschaft zählt Aristoteles zu den Nutzfreundschaf- ten.[57]
- Die Lustfreundschaft unterscheidet sich von der Nutzfreundschaft darin, dass bei ihr die Partner sich an unterschiedlichen Gesichtspunkten erfreuen.[58] Sie tritt hauptsächlich unter jungen Leuten auf, da diese sich gerne den Leidenschaften hingeben (ή δε των νέων φιλία δι' ήδονήν είναι δοκεί· [ΕΝ 1156a,29f.]), sodass sie nicht scharf von der sinnlichen Liebe (καί ερωτικοί δ' oí νέοι· [EN 1156b, lf.]) zu unterscheiden ist. Wer oder was bei ihnen als lustvoll gilt, kann sich jedoch rasch ändern (άμα γάρ τω ήδεί ή φιλία μεταπίπτει, τής δέ τοιαύτης ήδονής ταχεία ή μεταβολή [ΕΝ 1155a,351155־b, 1]), sodass diese Freundschaften mitunter am selben Tag geschlossen und aufgekündigt werden (...πολλάκις τής αύτής ήμέρας μεταπίπτοντες [ΕΝ 1156b,3f.]). Dafür werden sie umso intensiver gelebt: Die Partner möchten möglichst ständig beieinander sein, da sie darin den Sinn ihrer Freundschaft sehen (συνημερεύειν δέ καί συζήν ούτοι βούλονται· γίνεται γάρ αύτοίς το κατά τήν φιλίαν ούτως [ΕΝ 1156b,4- 6]).
Eine zweite Unterteilung trifft Aristoteles hinsichtlich des AbhängigkeitsVerhältnisses, in dem die Freunde zueinander Stehen:
- Zu den Freundschaften, in denen die Partner gleichberechtigt sind, zählen für ihn die vollkommene sowie die Nutzfreundschaft.[59] Diese Gleichheit besteht
[...]
[1] Für Empedokles war die φίλησις als Gegenspielerin zum νεΐκος die vereinigende Kraft des Universums. Vgl. O'Brien (1969) lOlf.
[2] Vgl. Nichols (2009) 153.
[3] Die folgenden Ausführungen stützen sich auf ThLG IX, 814,A-816,D β.ν.φίλεω. 822,A- D s.v. φιλία. 876,A-880,A s.v. φίλος und ThLL s.v. amare, s.v. amiciţia, s.v. amicus sowie LSJ (1996) s.v. φίλεω, s.v. φίλος, s.v. φιλία.
[4] Vgl. ThLG 822,A s.v. φιλία.
[5] So bezeichnete man Familienangehörige wie andere Staaten als φίλοι. Vgl. LSJ (1996) s.v. φιλία.
[6] Vgl. ThLG 822,D s.v. φιλία.
[7] Vgl. ThLG 822,c s.v. φιλία.
[8] Walde (1938) 40 s.v. amo.
[9] Vgl. Cic.Lael. 20.
[10] Vgl. ThLL 1.0.1891.80 s.v. amiciţia.
[11] Als da seien Z.B. diligere, favere und aestimare.
[12] Vgl. Wahrig (2011) 246 s.v. Bekanntschaft.
[13] Vgl Wahrig (2011) 553 S V Freund.
[14] Vgl. Wiedemann (2017) 90 letzter Abschnitt.
[15] Vgl Williams (2008) 13-15.
[16] Wie es an dem Adjektiv in-imicus, ״un-befreundet“ im Sinne von feindlich gesonnen, anschaulich wird. Vgl. ThLL 7.2.1624.7f. s.v. inimicus.
[17] Vgl. Coşkun (2008) 11-13.
[18] Vgl. zu Platons Freundschaftsauffassung Penter/Rowe (2005) 39 -65 und MÜLLER (2003) 6-8.
[19] Vgl. zu Epikurs Darlegungen HOSSENFELDER (1991) 101-109.
[20] Vgl. Meissner (1898) 4-6.
[21] Sie dürften die gleiche thematische Bandbreite wie Aristoteles Lehre selbst aufgewiesen haben.
[22] u.a. über die Verfassungen 158 griechischer Poleis, zur Kulturgeschichte und Botanik. Vgl. Frede (2006).
[23] Vgl. Frede (2006) und Gercke (1896) 1140.
[24] Vgl Rapp (320 07) 1418־.
[25] Vgl EN 1106b,36-1107a,8.
[26] Der eigene Abhandlungen gewidmet sind.
[27] Vgl. Wolf (22007) 20.
[28] Vgl Gercke (1896) 1049f.
[29] Vgl Dingel (2006).
[30] Wobei es sich im die mildere Form, die relegatio, handelte und er das Bürgerrecht behielt. Vgl. Dingel (2006).
[31] Vgl. Merklín (2005) 189.
[32] Vgl Schmidt (1979) 113.
[33] Vgl 81,12.
[34] Vgl. Merklín (2005) 190f.
[35] Vgl. ...ταΐς όμιλίαις... δοκεΐ μάλιστ' είναι φιλικά καί ποιητικά φιλίας (ΕΝ 1158аД-4).
[36] Vgl. ... μάλιστατοΐς άνθρώποις ... (EN 1155a,20).
[37] Vgl. ΕΝ 1166a, lf. Zur Unterscheidung zwischen Selbst-und Eigenliebe vgl. s. 19.
[38] Vgl. EN 1170a,13f. Die Frage, wer untereinander befreundet sein kann, wird in Kapitel III.3 genauer beleuchtet.
[39] Vgl. τφ φιλείσθαι δε καθ' αύτό χαίρουσιν· διό δόξειεν αν κρεΐττον είναι τού τιμάσθαι, καί ή φιλία καθ' αύτήν αιρετή είναι (EN 1159a,25-27).
[40] Vgl. EE 1234b,23f: ... ποιήσαι φιλίαν, καί τήν αρετήν διά τούτο φασιν είναι χρήσιμον·
[41] Vgl. Rh 2,4,1380b,35f.
[42] Vgl. EN 1155a,4Í: [s.c. ή φιλία] εστιγάρ αρετή τις ή μετ' αρετής...
[43] Vgl. Rapp U. Cocilius (2011), 255 Ende'
[44] Es ist umstritten, ob Aristoteles die Freundschaften allein hinsichtlich ihrer Funktion, also Tugend, Nutzen bzw. Lust, unterteilt und diese die τέλοι der Freundschaft sind (wie W.Fortenbaugh (1975) argumentiert). Eine andere Sichtweise vertritt Walker (1979) 180-184: Dass Aristoteles die Tugendfreundschaft, die gerade nicht nur die materiellen τέλοι der Nutz- wie Lustfreundschaft umfasst, als die vollkomme betrachtet (EN 1156b,21), spreche dafür, dass er den primären Zweck aller drei Freundschaften nicht im persönlichen Gewinn, sondem in der gelebten Freundschaft selbst sieht.
[45] Vgl. τρία δή τα τής φιλίας είδη... (ΕΝ 1156a,7).
[46] Dass diese Selbsüosigkeit erst bei dem Wunsch, dass der Freund zu einem Gott werde, an ihre Grenze stößt, zeigt T1MMERMANN (1995) 209-215: Dies würde nämlich implizieren, dass das Zusammenleben mit dem Freund und damit die Freundschaft ein Ende finden. Deswegen umfasse das Gute, das man dem Freund wünscht, lediglich die für einen Menschen erreichbaren Güter.
[47] Vgl. τί γάρ όφελοςτής τοιαύτης εύετηρίας άφαιρεθείσης εύεργεσίας, ή γίγνεται μάλιστα καί έπαινετωτάτη προς φίλους; (EN 1155a,7-9).
[48] Vgl. EN 1156b,9f. und 1170b,7f.
[49] Vgl. καί περί τιμάς δέ καί άρχάς ό αύτός τρόπος· πάντα γάρ τφ φίλω ταΰτα προήσεται· (EN 1169a, 29f).
[50] Vgl. EN 1158a,10f.
[51] έπεί γάρ οί άνθρωποι λέγουσι φίλους καί τούς διά τό χρήσιμον, ώσπερ αί πόλεις ... (ΕΝ 1157a,25f).
[52] Vgl. EN 1156a, 19Í22-24.
[53] Vgl EN 1162b, 15-19.
[54] Dabei liegt es im Ermessen des Empfängers, welche Leistung als gleichwertig angese - hen werden kann. Siehe EN 1164b, 10-12.
[55] Vgl. EN 1162b,31-33 und 1163a,13־.
[56] Vgl. εστι δ' ή νομική [s.c.cpriáa] μέν ή έπί ρητοΐς ... (ΕΝ 1162b, 25f).
[57] Vgl. EN 1156a,30f.
[58] Vgl. οι μέν οΰν διά το χρήσιμον φιλουντες άλλήλους ού καθ' αύτούς φιλουσιν, άλλ' ή γίνεται τι αύτοίς παρ' άλλήλων αγαθόν ... (EN 1156a, 10-12).
[59] Vgl. EN 1158b,1.
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