Bachelorarbeit, 2018
52 Seiten, Note: 1,0
1.1. Eigenschaften des Sozialkonstruktivismus. 4
1.2. Wissen und Alltagswirklichkeit 5
1.2.1. Entstehung subjektiver Realität 5
1.2.2. Interaktion und Kommunikation. 6
1.2.3. Von Worten zu Wissen. 7
1.3. Gesellschaftliche Ausprägungen. 9
1.3.1. Institutionalisierung. 9
1.3.2. Legitimation. 11
1.4. Internalisierung und Identität 12
1.4.1. Primäre und sekundäre Sozialisation. 12
1.4.2. Identitätsbildung. 13
1.5. Die Kommunikationsgesellschaft. 13
2...... Facebook als soziale Plattform.. 16
2.1. Facebook: Zahlen und Relevanz. 16
2.2. Inhalte, Aufbau und Rezeption. 18
2.2.1. Aufbereitung versus Herkunft 19
2.3. Algorithmen als Gatekeeper. 20
2.3.1. Bewusstsein über den Algorithmus. 21
2.4. Forschungsstand und Status quo. 22
2.4.1. Emotionsbeeinflussung über Facebook. 22
2.4.2. Filterfunktion des Algorithmus. 23
3...... Qualitative Untersuchung möglicher Filterblasen. 27
3.1. Forschungshypothese und Verfahren. 27
3.1.1. Qualitative Sozialforschung. 28
3.2. Praktische Umsetzung und Leitfaden. 29
3.3. Explorative Untersuchung auf Facebook. 31
3.3.1. Die Alternative für Deutschland (AfD) 31
3.3.2. Die Linke. 32
3.3.3. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 34
3.3.4. Fazit und Ergebnisse. 35
4...... Interpretation und Deutung. 36
4.1. Medienpsychologie und Algorithmus-Architektur. 36
4.2. Bildung und Demokratie. 37
4.3. Sozialkonstruktivismus in den Filterblasen. 39
4.3.1. Das politische Spektrum auf Facebook. 43
4.4. Effektivität und Grenzen. 46
5...... Fazit und Auswirkungen. 47
IV..... Literaturverzeichnis. 49
„Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“
„Es ist nicht so, dass sozialkonstruktionistische Ideen Wahrheit, Objektivität, Wissenschaft, Moral oder das Selbst zerstören. Was in Frage gestellt wird ist vielmehr die Art, in der wir diese Begriffe bisher verstanden und in die Praxis umgesetzt haben. [...] Letztendlich ermöglicht uns der soziale Konstruktivismus, die Vergangenheit in einer für die Zukunft überaus vielversprechenden Weise zu nutzen“ (Gergen, 2002, S. 49) .
Peter L. Berger und Thomas Luckmann proklamieren in ihrem Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, dass die Wissenssoziologie die Prozesse „zu untersuchen hat“, in denen gesellschaftliche Konstruktionen Wirklichkeit formen (Berger/Luckmann/Plessner, 2016, S. 1) . Diesem Auftrag widmet sich auch die hier vorliegende Arbei, in dem sie Auswirkungen analysiert, die potenzielle Filterblasen und Echokammern algorithmischer Natur ( Kapitel 2.3) in sozialen Netzwerken und auf gesellschaftlicher Ebene haben könnten. Der Sozialkonstruktivismus eignet sich ferner besonders für die Untersuchung eines sozialen Mediums, weil er Alltagswissen in den Mittelpunkt seiner Forschung stellt:
Berger et al. kritisieren, dass in der akademischen Forschung nur bestimmte Subgruppen an Experten „zum Geschäft mit »Ideen« bestellt“ sind – „zur Fabrikation von Weltanschauungen“. Dagegen wird eingeworfen, dass jedermann im täglichen Alltag Anteil an der Struktur und Gestaltung der Welt hat. „Etwas freundlicher gesagt, wenige befassen sich mit der theoretischen Interpretation der Welt, aber alle leben in einer Welt“ (ebd., S. 16).
Im Fokus meiner Forschung steht der kommunizierende Mensch, das soziale Medium Facebook und die Untersuchung realer Gegebenheiten und Bedingungen bzw. deren anschließende Ausdeutung. Es geht gleichwohl um die Verknüpfung einer soziologischen Theorie mit einem modernen Medium der Digitalisierung und Vernetzung. Natürlich soll gewahr sein, dass die sozialkonstruktivistische Perspektive nur eine Möglichkeit der Betrachtung darstellt und keinen absoluten Wahrheitsanspruch erhebt, dies liegt per definitionem fern.
Im ersten Kapitel wird neben dem Primärwerk „Der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“, sowie themenverwandter soziologischer Literatur, stark auf das 2017 erschienene Werk „Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit“ des Soziologen Hubert Knoblauch referenziert. Er ergänzt die sozialkonstruktivistische Theorie um Aspekte, aus denen im Rahmen dieser Arbeit eine hybride Variante zur Analyse meiner Forschungsergebnisse verwendet wird. Knoblauch geht es bei seinem theoretischen Ansatz um eine „Akzentverschiebung“ auf die kommunikativen Prozesse. Diese Verlagerung vom enorm sprachlichen Fokus des Originals von Berger et al. führt zu einer modernisierten Sichtweise in Anbetracht der technologischen Kommunikationsmittel und Strukturen der heutigen Zeit (Keller/Reichertz/Knoblauch, 2013, S. 11).
Hierbei findet eine Mixtur statt, bei der das Soziale „nicht mehr als Zusatz des Subjekts verstanden“, aber auch andersherum das Subjekt „nicht zugunsten des Sozialen aufgegeben werden“ soll (Knoblauch, 2017, S. 73) . Beides bedingt einander, so Knoblauch, und seine Schlussfolgerung ist der entstehende Schwerpunkt auf dem kommunikativen Handeln ( Kapitel 1.5). „Allgemein akzeptiert ist die Erkenntnis, daß »Daten« »Fakten«, daß sie kommunikative Konstrukte sind“, so proklamieren Tänzler et al. und richten ihr Augenmerk schlussfolgernd auf die Frage „wie Daten genau konstruiert werden“ (Tänzler/Knoblauch/Soeffner, 2006, S. 9). Die vorliegende Thesis gibt einen Einblick in die spezifische kommunikative Entwicklung solcher Daten innerhalb der potenziellen Filterblasen eines sozialen Mediums.
Wie schon beschrieben, liegt das Augenmerk des Sozialkonstruktivismus in der „Alltagswelt“, denn diese werde von „jedermann als wirklicher Hintergrund subjektiv sinnhafter Lebensführung hingenommen“. Ebenso verdankt diese Welt den „Gedanken und Taten“ ihrer Bewohner die Existenz (Berger/Luckmann/Plessner, 2016, S. 21 f.).
Es geht hierbei um einen gemeinsamen „Wissensvorrat“ und eine „gemeinsame Auffassung“ von dem, wie die Wirklichkeit sei. Hierbei sprechen Berger et al. von „Jedermannswissen“, einem „Wissen, welches ich mit anderen in der normalen, selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein habe“ (ebd., S. 26). Dies kann also auch repräsentativ sein für die Informationen, die auf sozialen Netzwerken alltäglich ausgetauscht und diskutiert werden. Wie dieses Wissen entsteht und etabliert wird, ist Thema dieses Kapitels.
Simon beschreibt zudem die „Verdichtung von Beschreibungen“ als vorteilhaften Aspekt gemeinsamer Wirklichkeitskontruktion, denn deren „ökonomische Effekt“ sei, dass keine „Faktenaufzählungen“, Erklärungen und Bewertungen mehr nötig sind. Stattdessen existiere ein Grundstock an gemeinsam anerkanntem Wissen. Hierbei sei die Konstruktion eine effektive Lösung. Der Autor warnt allerdings ebenso vor den möglichen Folgen, denn zwischen „Beschreibung und/oder Wahrnehmung von Daten und der Erklärung ihres Zustandekommens“ müsse unterschieden werden. Die „Handlungskonsequenzen von Weltbildern orientieren sich nur selten an Daten, sondern weit mehr an deren Erklärung und Bewertung“ (vgl. Simon, 2017, S. 72) .
Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt stellen „Objektivationen“ dar. Als Objektivation kann jeder „subjektiv sinnvolle Vorgang“ gewertet werden, aus dem die „intersubjektive Welt entsteht“ (vgl. Berger/Luckmann/Plessner, 2016, S. 22) .
Laut Berger et al. ist Grundlage und „Prototyp“ einer jeden gesellschaftlichen Interaktion die „Vis-à-vis-Situation“. Alle Interaktionsformen würden auf der Begegnung von Angesicht-zu-Angesicht beruhen, hierbei sei eine stetige Reziprozität vorhanden, bei der via des Austauschs von Mimik, Gestik und Sprache im „Hier und Jetzt“ ein „stetiger Austausch von Ausdruck“ stattfinde (vgl. ebd., S. 31) .
Je höher die Entfernung zur direkten Kommunikation sei, desto größer werde die Anonymität und die Möglichkeit einer Typisierung des Handelns. „Die Wirklichkeit der Alltagswelt verfügt über Typisierungen, mit deren Hilfe ich den Anderen erfassen und behandeln kann“ (ebd., S. 32 f.). In „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ wird ferner gedeutet, dass beschriebene Direkt- oder Indirektheit der Kommunikation sowie persönliche Nähe und Beziehung zwischen den Kommunizierenden Einfluss auf die erfolgenden Typisierungen nehmen.
„An einem Pol dieses Gebildes befinden sich diejenigen Anderen, mit denen ich häufige und enge Kontakte pflege, mein innerer Kreis sozusagen. Am anderen Pol stehen höchst anonyme »Abstraktionen«, die ihrem Wesen nach niemals für Vis-à-vis-Interaktion erreichbar sind“ (ebd., S. 36).
Hierbei läge die Grenze der Beziehungen zueinander nicht zeitlich determiniert. So existieren auch Relationen zu Vor- oder Nachfahren, welche das Erleben prägen.
Die Relevanz der Beziehungen würde durch den Interessengrad und die vorherrschende Intimität zueinander beeinflusst, welche Berger et al. als die „Anonymität meiner Erfahrung des anderen“ bezeichnen, welche entweder stärker oder schwächer ausgeprägt wäre (vgl. ebd., S. 35). Hubert Knoblauch (2017) erweitert in seinem Werk „Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit“ die Begrifflichkeit der „gesellschaftlichen Interaktion“ auf ein triadisches Konzept mit klarer Zuweisung von Rollen in den Kommunikationsprozessen. Das Kernelement seines Konzepts stellt Reziprozität dar. Doch hier erschöpft sich sein Ansatz noch nicht in „zweistelliger Relation“ zwischen mindestens zwei kommunizierenden Subjekten. Der dritte Parameter in Knoblauchs Konzeption ist die Objektivierung. Diese kann stellvertretend für die Interaktion in Form von Gestik oder das verwendete Medium stehen. Der Prozess kann Kraft der Reziprozität als „Handeln verstanden werden“. Es entsteht eine „dreistellige Relation“ des kommunikativen Handelns (vgl. Knoblauch, 2017, S. 112) .
Bisher ging es um das Erleben der Alltagswirklichkeit, welches geprägt ist von Objektivationen verschiedenster Art, das heißt Bezugnahmen und Kontextualisierungen von Objekten, Personen, Handlungen und Ähnlichem. Zweiter Schwerpunkt lag in der „gesellschaftlichen Interaktion“ bzw. Kommunikation, in deren Verlauf Menschen Objektivationen nutzen, austauschen und gemeinsame Wissensschätze (re)produzieren und interpretieren. Knoblauch jedoch belässt es nicht bei diesem noch vagen und sehr frei interpretierbaren Modell, sondern entwarf das oben gezeigte triadische Kommunikationsmodell. Die Kommunikation „bilde den Kondensationskern der Subjektivierung, also dessen, was Identität, Person und Individuum genannt wird“ (ebd., S. 118) .
Der Begriff der „Objektivation“ ist vielfältig: Es kann sich um Objekte handeln, um Medien, alles, was „dem Erzeuger als auch anderen Menschen als Elemente ihrer gemeinsamen Welt »begreiflich«“ (vgl. Berger/Luckmann/Plessner, 2016, S. 36 f.) ist. Objektivationen repräsentieren somit subjektive Assoziationen und Empfindungen über lokale und zeitliche Grenzen hinau s und werden in Zeichensysteme übertragen. Die Vielfalt der Systeme reicht von der Gestik, über Mimik, Körperbewegungen (wie Tänze) und symbolische Systeme, wie zum Beispiel bei Artefakten, bis hin zur Sprache. Hierbei haben Zeichen gemein, dass sie „objektiv eingängige Objektivationen“ darstellen, „die über subjektive Intentionen im »Hier und Jetzt« hinausreichen“ (ebd., S. 38). Berger et al. führen beispielhaft die Waffe an, welche ursprünglich für die Jagd bestimmt sei, aber in militärischem Kontext symbolhaft für „Aggressivität und Gewalt“ stünde.
Die Sprache hat in „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ besonderen Wert. Sie sei das „wichtigste Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft“ (ebd., S. 39) . Ein Kernaspekt, der von den Autoren an dieser Stelle genannt wird, ist die Transzendenzfähigkeit von Sprache: Sie könne über den Moment, in dem gesprochen wird, hinauswirken. Sinn und Bedeutung können zukünftige wie vergangene Ereignisse umfassen, via Technologien Entfernungen überbrücken und in medialer Form Jahre bis Jahrhunderte überdauern. Der Sinn von Sprache sei die Speicherung von Wissen und Erfahrungen, um sie kommenden Generationen zu vermitteln. Allerdings limitiere „Sprache“ auch, weil sie ein geschlossenes System mit fixen Regeln sei. Alles außerhalb der Logik von Syntax, Rhetorik und Rechtschreibung ist nicht artikulierbar, ferner sei Sprache stark kontextbezogen. „Sprache versorgt mich mit Vorfabrikationen für die ständige Objektivation meiner zunehmenden Erfahrung“ (ebd., S. 40 f.). Berger et al. erwähnen hierbei passend Typisierungen und „Kategorien“, die allgemeingültig und somit verbindend seien, zumindest von jedem, der auch in die „Kategorie“ fiele. Gerade die Alltagssprache, Sprichwörter und Verallgemeinerungen wären hierbei gemeint. Diese haben Anonymität, können jeden betreffen und ordnen somit die Welt in einfache Schemata und Muster. „So subsumiert die Sprache spezielle Ereignisse ständig unter allgemeine Sinnordnungen, die objektiv und subjektiv wirklich sind“ (ebd., S. 41).
Gergen (2002) merkt in diesem Kontext an, dass wir bei der Beurteilung von Botschaften in Kategorien wie wahr oder falsch nicht den kommunikativen Inhalt bewerten, sondern die Wörter. Die Wörter seien dabei in einem gewissen Kontext mehr oder weniger angebracht, das heißt in verschiedenen Verhaltens- oder Vokabular-Umgebungen akzeptierter oder weniger effektiv. Hierbei würden zwischenmenschliche Beziehungen eine Schlüsselrolle tragen – denn Wahrheit könne verschieden ausgelegt werden und sei ein sehr subjektiver Begriff (vgl. Gergen, 2002, S. 53 f.) . Der Autor führt zudem an, dass Sprache an sich nicht die Realität beschreibe, sondern in Kontext gesetzt an Realität gewönne. Verschiedene Sprachen werden hierbei in verschiedenen Gruppen als unterschiedlich glaubwürdig wahrgenommen, so beispielsweise akademische Ausdrucksweise unter Wissenschaftlern gegenüber dem Alltagsjargon. Hierbei gebe es keine eindeutige Beziehung zwischen Welt und Wort, nur eine Vielzahl mannigfaltiger Beschreibungsmöglichkeiten (vgl. ebd., S. 50 f.) . Dies bedeutet, dass je nach Kontext eine Beschreibung von der tatsächlichen Wahrheit abweichen kann, diese verzerrt und eine Abbildung der originären Wirklichkeit übermittelt, deren Akkuratesse nicht zwingend verbindlich gegeben ist.
„Objektivierung“ stellt die Position des dritten Elements im dreistelligen Model von Knoblauch ( Abbildung 1 ) dar. Dieser merkt zwar an, dass der Begriff der Objektivierung von Berger et al. stark sprachlich ausgelegt würde, dennoch allerdings ein Hauptgrund sei, an der Theorie des Sozialkonstruktivismus festzuhalten. Die Objekivierung sei das verbindenden Element zwischen der Intension des Subjekts und seinem Handeln (Knoblauch, 2017, S. 84) . Knoblauch ergänzt zudem, dass auch „Dinge, Technologien, Medien und Materialitäten“ als Objektivierungen der sozialen Wirklichkeit gelten, nicht nur verbale oder schriftliche Zeichensysteme. „Erst mit dem Blick auf körperliche Prozesse, Dinge und materielle Abläufe können wir erklären, was das Soziale ist, ohne es, wie bei Sprache oder Diskurs, schon voraussetzen zu müssen“ (ebd., S. 72). Schlussgefolgert können auch soziale Medien wie Facebook als Objektivierung(en) gewertet werden, auf denen wiederum Metaebenen des Diskurses und der Diskussion mit Objektivierungen in Form der Kommunikation auftreten, dabei allerdings ganz eigenen Regeln des Mediums folgen, beispielsweise der Selektion von Inhalten über Algorithmen.
Der Begriff der „Objektivationen“ muss von den bisher genannten „Objektivierungen“ abgegrenzt werden. Die „Objektivation“ stellt eine „Versachlichung“ von etwas dar, „das mit dem Handeln verbunden ist“ (vgl. ebd., 161 ff.) . Berger at al. bezeichnen die Summe von sprachlichen Objektivationen bestimmter Gebiete unserer Gesellschaft, zum Beispiel von Berufsgruppen, als „semantische Felder“. Hierin seien alle alltäglichen Situationen beschrieben und kategorisiert. Was vom Kollektiv als „wichtig“ erachtet wird, wird in jenen semantischen Feldern entschieden. Die hierbei entstehenden Informationen werden „Wissensvorrat“ genannt und als kulturelle Fakten von „Generation zu Generation weitergegeben, und das Individuum kann sich in seiner Alltagswelt bedienen“ (vgl. Berger/Luckmann/Plessner, 2016, S. 43) . Elementar an dieser Stelle wird auch die Wechselseitigkeit betont, jedes Subjekt wisse um die Gültigkeit und Allgemeinheit des „Wissensvorrats“.
„Auf welche Weise entsteht gesellschaftliche Ordnung überhaupt? Die allgemeinste Antwort wäre, daß Gesellschaftsordnung ein Produkt des Menschen ist, oder genauer: eine ständige menschliche Produktion. Der Mensch produziert sie im Verlauf seiner unaufhörlichen Externalisierung. Gesellschaftsordnung ist weder biologisch gegeben noch von irgendwelchen biologischen Gegebenheiten ableitbar. [...] Sie besteht einzig und allein als ein Produkt menschlichen Tuns. [...] Sowohl nach ihrer Genese (Gesellschaftsordnung ist das Resultat vergangenen menschlichen Tuns) als auch in ihrer Präsenz in jedem Augenblick (sie besteht nur und solange menschliche Aktivität nicht davon abläßt, sie zu produzieren) ist Gesellschaftsordnung als solche ein Produkt des Menschen “ (ebd., S. 55).
Berger et al. beginnen bei der Erklärung von „Institutionalisierung“ bei der „Menschwerdung“. Denn die biologische Entwicklung sei nicht wie beim Tier im Mutterleib vollendet, sondern würde nach der Geburt stattfinden. In dieser Zeit steht der heranwachsende Mensch bereits in Kontakt mit seiner Um- und Außenwelt – in „Wechselbeziehungen verschiedenster und kompliziertester Art. […] Der Vorgang der Menschwerdung findet in Wechselwirkung mit einer Umwelt statt. Das heißt, der sich entwickelnde Mensch steht in Verbindung nicht nur mit einer besonderen natürlichen Umwelt, sondern auch mit einer besonderen kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung, welche ihm durch »signifikante Andere« vermittelt wird, die für ihn verantwortlich sind“ (ebd., S. 50 f.). Die, im einleitenden Zitat genannte, „Externalisierung“ ist der Ausdruck des Menschen in Form kommunikativen Handelns: das Artikulieren des eigenen Selbst in wechselseitiger Beziehung mit Umfeld und Umgebung. Diese kommunikative Grundveranlagung gründe in der Natur des Menschen, denn er ist durch seine biologischen Anlagen dazu genötigt, sich in Gesellschaft zu organisieren und seine Fähigkeiten aufeinander abzustimmen, um eine stabile, für ihn lebensfreundliche, Umwelt zu erschaffen . Die Gewöhnung wird als nächstes Schlüsselelement angesehen, denn mit ihr können wir Handlungsabläufe standardisieren und vereinheitlichen, was Energie und Aufwand einspart. Dieser Prozess wird als „Habitualisierung“ bezeichnet und bildet die Grundlage für Institutionalisierungen (ebd., S. 56 f.).
„Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. Für ihr Zustandekommen wichtig sind die Reziprozität der Typisierung und die Typik nicht nur der Akte, sondern auch der Akteure. Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut. Sie sind für alle Mitglieder der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe erreichbar. Die Institution ihrerseits macht aus individuellen Akteuren und individuellen Akten Typen “ (ebd., S. 57 f.).
Zusätzlich zur Typisierung von Handlungen in Akten und Akteuren wird bei der Erschaffung von Institutionen essenziell der historische Prozess gesehen. Dieser Hintergrund ist wichtiger kultureller Bestandteil, der Verständnis für die gebildeten Institutionen erschaffe. Auch wird betont, dass die normativen Handlungsmuster, die hier geprägt werden, nicht alle theoretisch-möglichen Optionen in Betracht ziehen, sondern gezielt reglementieren und limitieren (ebd., S. 58 f.) . An selber Stelle wird auch erwähnt, dass Institutionen Kontrolle in Form von Sanktionen und Zwangsmechanismen üben, hierbei gilt es natürlich zwischen den Größen und Ausmaßen des institutionalisierten Sachverhalts zu differenzieren. Eine staatliche Institution übt andere Zwänge aus, als ein normatives Verhalten in einer sozialen Situation, welches eine Erwartungshaltung gegenüberstellt. Eine soziale Situation Angesicht-zu-Angesicht (Direktheit) bedingt anderen Umgang der Kommunizierenden als ein Dialog über ein Online-Medium (Indirektheit). Die historische Ebene kann so verstanden werden, dass unsere Kultur und Geschichte ein entscheidender Teil des Selbstverständnisses des einzelnen Individuums und prägender Teil seiner Identitätsbildung ( Kapitel 1.4.2) werden, somit im Bewusstsein bindend und verbindlich wirken. Reichertz (2010) differenziert zudem zwischen Organisation und Institution, denn beide Termini beschreiben zwar ähnliches, seien aber nicht stellvertretend verwendbar. Eine Organisation „werde nämlich hier verstanden als spezieller Unterfall von Institutionen“ (vgl. Reichertz, 2010, S. 43) .
„Zur Institutionalisierung transformiert sich die Typik des Handelns erst, wenn sie gegenüber Dritten als typisch vorgeführt oder von Dritten als typisch erwartet wird. Deshalb können Institutionen nicht plötzlich entstehen, sondern sie sind gesellschaftlich erarbeitet und verbürgt“ (vgl. ebd., S. 44) . Hierbei merkt Reichertz außerdem an, dass es in erster Linie nicht um Verhaltenserwartungen ginge, die Institutionalisierungen erkennbar machen, sondern um „reziproke Typisierungen“. Die Handlungen und deren Akteure als klare – auch von Dritten akzeptierte und antizipierte Gegebenheit – sind hierbei für Reichertz entscheidend.
Knoblauch (2017) betont die Reziprozität und Erwartbarkeit des Verhaltens, welche auf dem vorher beschriebenen Aufbau an Wissensvorräten und Typisierungen beruht.
„Die erwartbaren Typisierungen von Handelnden und Handlungen können wir soziale Rollen nennen. Die reziproke Rollenübernahme bildet damit die Grundlage für den wiederholten Vollzug einer arbeitsteiligen Handlung“ (Knoblauch, 2017, S. 223) .
Rollen können unterstrichen und unterstützt werden durch Objekte und symbolische Interaktionen, so zum Beispiel der Hammerschlag des Richters, Uniformen und ähnliches. Ferner gebe es für Institutionen mehr oder weniger strategisch relevante Rollen. Alle Rollen jedoch spielen zusammen und repräsentieren so die gesellschaftlich sinnhafte Welt (vgl. Berger/Luckmann/Plessner, 2016, S. 80) . Beispiele für solche Rollen sind Polizisten, welche unsere Exekutive repräsentieren. Auch Vereine entstehen erst durch Mitglieder und Vorstände, welche die reziproken Handlungsabläufe durchführen, verinnerlichen und realisieren.
Legitimation sei erst dann von Nöten, wenn Generationen, deren Lebenslauf die Erschaffung jener Institutionen nicht beinhaltet, in die bestehenden Strukturen eingeführt werden. Um die Institutionen und vorgegebenen Normen zu begründen und deren Existenz zu legitimieren, bedarf es Erklärungen und Rechtfertigungen (ebd., S. 99 f.) .
„Legitimation »erklärt« die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihrem objektivierten Sinn kognitive Gültigkeit zuschreibt. Sie rechtfertigt die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihren pragmatischen Imperativen die Würde des Normativen verleiht. Daß Legitimation sowohl eine kognitive als auch eine normative Seite hat, darf nicht außer acht gelassen werden. Sie ist [...] keineswegs einfach eine Frage der »Werte«, sondern impliziert immer auch »Wissen«“ (ebd., S. 100).
Berger et al. beschreiben als Basis von Legitimationen einen Wissensfundus von sprachlichen Objektivationen, die von Generation zu Generation vermittelt werden. Die Grammatik und das Vokabular sowie dessen Assoziation und Kontextualisierung „legitimieren eo ipso die Struktur der Verwandtschaft“ (ebd., S. 100 f.) . Legitimierung sei hierbei nicht nur in die Sprache eingebettet, sondern äußere sich anschließend auch im Verhalten miteinander, beispielsweise mit dem Verhalten, das man eben gegenüber der Mutter zeigen sollte. Es geht hierbei um normatives Alltagswissen, welches „normal ist und schon immer so gemacht wurde“. Dies stellt die erste Ebene der Legitimation dar. Auf der zweiten Ebene befinden sich „theoretische Postulate in rudimentärer Form: verschiedene Schemata, die objektive Sinngefüge miteinander verknüpfen. […] Lebensweisheiten, Legenden und Volksmärchen gehören hierhin […]“ (ebd.).
Auf der dritten Ebene der Legitimation stehen explizite Legitimationstheorien, die wie geschlossene Systeme fungieren(ebd.). Beispielhaft kann das Justizsystem mit juristischen Regelwerken angeführt werden – spezielles Sedimentwissen für Spezialisten. Die Legitimation ist für diese Arbeit lediglich von eingeschränkter Relevanz, da sich die zu untersuchenden Einflüsse vorwiegend auf eine Generation auswirken, ergo sich nicht speziell auf die Wissensübertragung im Generationenwechsel beziehen.
Der GRIN Verlag hat sich seit 1998 auf die Veröffentlichung akademischer eBooks und Bücher spezialisiert. Der GRIN Verlag steht damit als erstes Unternehmen für User Generated Quality Content. Die Verlagsseiten GRIN.com, Hausarbeiten.de und Diplomarbeiten24 bieten für Hochschullehrer, Absolventen und Studenten die ideale Plattform, wissenschaftliche Texte wie Hausarbeiten, Referate, Bachelorarbeiten, Masterarbeiten, Diplomarbeiten, Dissertationen und wissenschaftliche Aufsätze einem breiten Publikum zu präsentieren.
Kostenfreie Veröffentlichung: Hausarbeit, Bachelorarbeit, Diplomarbeit, Dissertation, Masterarbeit, Interpretation oder Referat jetzt veröffentlichen!
Kommentare