Bachelorarbeit, 2018
73 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Rechtspopulismus: Begriffsklärung
3. Aktueller Rechtspopulismus: Kontextualisierung
4. Typologisierung der Erklärungsansätze zum Phänomen des Rechtspopulismus
4.1 Problemdiagnosen und Krisentheorien der zeitgenössischen liberalen Demokratie
4.1.1 Postdemokratie
4.1.2 Über das Verschwinden des Politischen
4.1.3 Kritische Reflektion und Zwischenfazit
4.2 Die Verwerfungen eines zu rasanten gesamtgesellschaftlichen Wandels als Motor für Unsicherheit und Unbehagen – Oder: Die drei Dimensionen der Modernisierungsverlierer
4.2.1 Modernisierungsverlierer: Sozioökonomische Dimension des materiellen Verlusts
4.2.2 Modernisierungsverlierer: Kulturelle Dimension des ideellen Verlusts
4.2.3 Modernisierungsverlierer: Politisch-Institutionelle Dimension
4.2.4 Kritische Reflektion und Zwischenfazit
4.3 Gelegenheiten als Sprungbrett
4.4 Parteienwettbewerb bzw. Angebotsorientierter Erklärungsansatz
4.4.1 Die Fehler und Versäumnisse der etablierten Parteien
4.4.2 Das politische Geschick der rechtspopulistischen Parteien
4.4.3 Kritische Reflektion
5. Ergebnisse und Fazit
6. Literaturverzeichnis
7. Erklärung über die selbstständige Ausfertigung der Arbeit
In den vergangenen vier Jahren, quasi seit den Europawahlen 2014, ist eine immer gleiche mediale Grunddynamik zu beobachten gewesen. In den Wahlprognosen vor einer Wahl, wie Landtagswahlen, Bundestagswahlen oder die jeweiligen Parlamentswahlen anderer EU-Mitgliedsstaaten, wird immer wieder früh deutlich, dass ein signifikanter Wahlerfolg für eine rechtspopulistische Partei zu erwarten ist. Die Beunruhigung über diese Entwicklung ist nicht nur in der Öffentlichkeit und im Alltag deutlich zu spüren, sondern auch in der Politikwissenschaft nicht zu übersehen.
Inmitten dieses spannungsgeladenen politischen Klimas wird daher von den unterschiedlichsten Medien unentwegt gefragt, was der Grund für diese Entwicklung ist. Ergo: Aus welchen Gründen ist der Rechtspopulismus aktuell so erfolgreich? Dafür werden dann entweder die immer gleichen Experten oder führende Politiker einer der etablierten Parteien befragt. Oder es werden Reporter gezeigt, die in einer beliebigen Innenstadt oder auf Marktplätzen „normale“ Bürger danach fragen wen sie gewählt haben oder wen sie wählen möchten und wenn diese bereits eine rechtspopulistische Partei gewählt haben wieso sie eben diese gewählt haben. Viele Befragte antworten darauf sehr häufig, dass sie aus Protest eine rechte oder rechtspopulistische Partei gewählt haben oder noch wählen werden, da sie mit der Politik der letzten Jahre der etablierten Parteien unzufrieden sind.
Für einen Studierenden der Politikwissenschaft erscheint diese vermeintliche Erklärung als zu oberflächlich. Denn die viel erkenntnisversprechendere Frage ist, woher diese Unzufriedenheit und die flächendeckende und schichtenübergreifende Motivation zum politisch rechts orientierten Universalprotest kommt. Was sind also die tieferliegenden Ursachen dieser Unzufriedenheit und dieses Protestwählens? Aus Interesse an dieser Frage erfolgte die erste über die klassischen Medien hinausgehende Auseinandersetzung mit dem Thema des aktuellen Rechtspopulismus im Rahmen eines Seminars im Wintersemester 2016/2017 mit dem Titel „Neuer Rechtspopulismus im Spiegel radikaler und liberaler Demokratietheorien“. Diese auf zwei Erklärungsansätze begrenzte Auswahl ließ jedoch auch noch einige Fragen offen. Aus dieser Erkenntnis reifte daher der Entschluss dieses Thema weiter zu verfolgen und schließlich im Rahmen der hier vorliegenden Bachelorarbeit zu vertiefen.
Recklinghausen, im Frühling 2018
Saleem Arif
Rechtspopulistische Parteien sind aktuell in nahezu allen Ländern Europas auf dem Vormarsch und in Wahlen äußerst erfolgreich. Dieser aktuelle Rechtspopulismus, der sich spätestens seit dem Wahlerfolg der in der Fachliteratur unisono als rechtspopulistisch bezeichnete Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) bei der Bundestagswahl im September 2017 auch in Deutschland etabliert hat, stellt dabei eine spezifische Herausforderung für die Demokratie dar.[1]
Die naheliegendste Frage, die auch immer wieder in der schier unüberschaubaren Fülle an Fachliteratur zum Thema Rechtspopulismus thematisiert wird, ist daher sicherlich, die nach den Gründen für den Erfolg des Rechtspopulismus. Geht man dieser Frage nach und betrachtet dazu mit einem offenen interdisziplinären Blick alle Seiten der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur, wird schnell klar, dass es nicht die eine anerkannte Antwort darauf gibt, was die Ursache für den aktuell so starken Rechtspopulismus ist, sondern dass es viele verschiedene Erklärungsansätze gibt, die sich mit der Thematik aus einem jeweils spezifischen Blickwinkel befassen und wie Scheinwerfer jeweils verschiedene Einzelaspekte hervorheben. Da lässt sich leicht der Überblick verlieren. Ein Überblickswerk, dass all die unterschiedlichen Ansätze zusammenbringt und systematisiert gibt es aber bisher nicht.
Diese Arbeit macht es sich daher zur Aufgabe die Lücke in der Literatur zu schließen und einen Überblick zu schaffen. Es wird darum gehen die verschiedenen Erklärungsansätze zu kategorisieren. Die zahlreichen Faktoren, die für den Aufstieg des Rechtspopulismus verantwortlich gemacht werden, werden aus der Literatur herausgefiltert, gebündelt und Kategorien zugeordnet. Diejenigen Erklärungsansätze, die konzeptionell nah beieinanderliegen müssen so nicht mehr als einzelne voneinander unabhängige Forschungsbeiträge betrachtet werden. Entlang der einzelnen Kategorien werden die Erklärungsansätze vorgestellt, ohne die Theorien der jeweiligen Autoren jedoch vollständig zu rekonstruieren. Außerdem werden die jeweiligen Erklärungen für Rechtspopulismus im Sinne einer kritischen Reflektion, d.h. im Hinblick auf Vorzüge und Schwächen der jeweiligen Theorie sowie im Hinblick auf den Theorien innewohnende Hintergründe und Vorannahmen analysiert bzw. kommentiert. So sollen u.a. das große Ganze und die teils heftigen fachwissenschaftlichen Debatten sichtbar werden. Mit dieser Reflektion soll jedoch nicht das Ziel verfolgt werden, über ein Ausschlussverfahren am Ende eine feste universell richtige Lösung aus den verschiedenen Ansätzen herauszufiltern. Dies ist wohl auch nicht möglich, zumal die verschiedenen Ansätze nicht als konkurrierende, sondern eher als sich gegenseitig ergänzende Perspektiven betrachtet werden sollten. Daher soll vielmehr im Vordergrund stehen dem Leser im Dickicht der Ansätze und Bezeichnungen ein möglichst umfassendes Gesamtbild zu verschaffen und ihn mit der Bewertung dieser Ansätze nicht allein zu lassen. Die Typologisierung der Erklärungsansätze dient damit dazu den Ursachen zum Erfolg rechts-populistischer Parteien unter Berücksichtigung möglichst vieler Perspektiven auf den Grund zu gehen, um so einen Beitrag dazu zu leisten dieses aktuell so weit verbreitete omnipräsente und facettenreiche Phänomen des Rechtspopulismus besser, d.h. ganzheitlicher, zu verstehen.[2]
Um das gesteckte Ziel zu erreichen, wird zuallererst zur späteren Einordnung und Beurteilung dieser politischen Entwicklung eine merkmalbasierte Bestimmung des Begriffs Rechtspopulismus erarbeitet. Im nächsten Schritt wird das Thema des aktuellen Rechtspopulismus kontextualisiert. Im vierten Kapitel erfolgt dann die oben beschriebene Typologisierung der Erklärungsansätze zum Rechtspopulismus. Das abschließende Ergebniskapitel soll dann den Zweck erfüllen, die Ergebnisse zu resümieren und das Gesamtbild der Zusammenstellung der verschiedenen Erklärungsansätze prägnant darzustellen.
Eine möglichst klare Definition des Begriffs Rechtspopulismus herauszuarbeiten ist keine einfache Aufgabe. Auch wenn es dahingehende Versuche einiger Autoren (z.B. Mudde 2004: 543; Hartleb 2011: 20) gibt, so gibt es weiterhin keine allgemeingültige Definition (Wolf 2017: 2). Vorbehaltlos einig sind sich die Fachautoren nur darin, dass es sich um einen „schillernden“ oft „inflationär“ oder missbräuchlich verwendeten Begriff handelt, der wahlweise „nebulös“, „unpräzise“ und „uneindeutig“ ist (u.a. Spier 2014; Hartleb 2005: 4, 10, 27). Das liegt mitunter an der starken quasi-chamäleonhaften Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit des Rechtspopulismus (Priester 2016: 546; Küpper et al. 2015: 24f). Gleichwohl gibt es einige wesentliche Eigenschaften, die für ein Verständnis des Begriffs essentiell sind.
Zunächst ist Populismus ein sehr wertgeladener, negativ konnotierter Begriff, der als „politischer Kampfbegriff“, „Stigmawort“ oder sogar als „Schimpfwort“ in der „politischen Alltagspolemik“ häufige Verwendung findet (Hartleb 2005: 9; Hartleb 2011: 18; Spier 2014; Decker 2015: 64). Das gilt für den Populismus in der rechten Variante auch aufgrund der historischen Erfahrungen des Nationalsozialismus wohl noch stärker als für die linke Variante, denn auch „Hitler war ein begnadeter Rechtspopulist“ – so Frank Decker (2013: 303). Der Populismus-Vorwurf als diffamierende Fremdzuschreibung meint im Alltagsverständnis das rücksichtslose „Streben nach Popularität“ im Sinne der Gunst der Massen durch unsachliche dem Volk nach dem Mund redende Politik (Hartleb 2011: 18; Spier 2014). Diese „Anbiederung an populäre politische Positionen, die den vermeintlichen Mehrheitswillen der Bevölkerung repräsentieren“ (Decker 2015: 64), kennzeichnet damit ein Stilmittel oder eine Strategie zur Kommunikation und Mobilisierung, die es versteht auch mittels gezielt inszenierter Tabu-brüche Stimmungen aufzuheizen und „latent vorhandene Ängste“ zum Zwecke größtmöglicher Aufmerksamkeit zu schüren. Die potenzielle Umsetzbarkeit der politischen Forderungen spielt dabei keine Rolle (Spier 2014; Hartleb 2011: 18). Die als Populist auftretende Person oder Partei sieht sich trotz des Schimpfwortcharakters dieser Zuschreibung in einer genuin positiven Rolle, ist sie doch diejenige, die die „Probleme der „kleinen Leute” versteht, sie artikuliert und direkt mit dem „Volk” kommuniziert“ (Hartleb 2011: 18). Diese von Populisten hervorgehobene Gegenperspektive liegt im Kern in der Wortherkunft des Begriffs Populismus begründet, denn das lateinische Wort ‚populus‘ bedeutet ‚Volk‘ (Wolf 2017: 3; Nestler 2016: 3). Damit steht der Populismusbegriff in direktem Bezug zum Begriff ‚Demokratie‘, was bekanntlich – in einer einfachen Übersetzung des Altgriechischen – die ‚Herrschaft des Volkes‘ beschreibt (Schmidt 2010: 17; Vorländer 2013: 4). Populisten werden daher nicht müde auf diese augenscheinlich „enge Verbindung zur demokratischen Idee“ (Decker 2013: 314) zu verweisen.
Diese bis hierhin dargelegte Beschreibung des Populismusbegriffs genügt aber nicht, um auch den „wissenschaftlichen Inhalt des Begriffs“ (Decker/Lewandowsky 2017: 24) vollständig zu erfassen. Diese Betrachtung von Populismus als komplexitätsreduzierendes Stilmittel bzw. „lediglich als ausschließen-de und diskriminierende Mobilisierungsstrategie“ (Grabow/Hartleb 2013:18) erfasst Populismus nur in seiner schlichtesten Form (vgl.Wolf 2017:7). Zudem verharmlost diese Sichtweise den Populismus als einfache Verhaltensweise, die punktuell oder temporär auftritt aber nicht konsistent sein muss. Für die Analyse von parteiförmigen, d.h. organisiertem, Populismus ist dies jedoch nicht hilfreich.
Viele Autoren heben daher ergänzend hervor, dass dem organisierten Populismus eine sogenannte „dünne Ideologie“ zugrunde liegt (vgl. Mudde 2004: 544; Spier 2014).[3] Damit ist gemeint, dass „[i]m Unterschied zu den sogenannten Hochideologien (Liberalismus, Sozialismus) des 19. und 20. Jahrhunderts Populisten kein ideologisches System [vertreten], aus dem sich bestimmte Programmatiken ableiten lassen, sondern lediglich ein ideologisch dünnes […] Deutungsschema, das die Welt moralistisch als Dualismus von gutem Volk und korrupten Eliten wahrnimmt“ (Priester 2016: 534). Populismus funktioniert demnach „wie eine Ideologie ohne Weltanschauung“, bei der die Inhalte variabel sind (Hartleb 2005: 13). Das zentrale ideologische Merkmal von jeglichem organisierten Populismus ist also die provokative und polarisierende Unterscheidung von zwei vermeintlich in sich „homogene antagonistische Gruppen [..], das ‚reine Volk‘ und die ‚korrupte Elite‘ (Mudde 2004: 543).
Mit der ‚Elite‘ oder dem ‚Establishment‘ sind sämtliche dem jeweils aktuellen Status-Quo zugehörigen gesellschaftlichen und politischen Gruppen (z.B. allgemein ‚die Politiker‘, Universitäten, Gewerkschaften) gemeint, die von Populisten gemeinhin als korrupt, abgehoben, inkompetent, verantwortungslos, machtbesessen, als von Eigeninteressen geleitet und dabei den Willen des Volkes missachtend charakterisiert werden (u.a. Wolf 2017: 11). Die Regierung, alle etablierten Parteien, sowie insbesondere die
supranationale EU, aber oft auch traditionelle Medien (Stichwort: ‚Lügenpresse‘), werden dabei als be-sonders verdorbene Vertreter der Eliten herausgehoben (Schellenberg 2017:14ff; Priester 2012:9).
Während die ‚Elite‘ also in „verschwörungstheoretischer Manier als Verräter des eigentlichen Volkswillens“ gebrandmarkt wird, verkörpert auf der anderen Seite das von den Populisten adressierte ‚einfache Volk‘ ‚das Gute‘ (Decker/Lewandowsky 2017: 24f). Es bildet im Sinne der Populisten eine „homogene Einheit“ und dient als „identitätsstiftendes Ideal“ (Decker 2015: 64). Volk ist in diesem Sinne keinesfalls mit Bevölkerung gleichzusetzen. Durch das deutliche „Wir-gegen-die-da-oben“, d.h. die protestgeladene „Anti-Establishment-Orientierung“ (Decker/Lewandowsky 2017: 25; vgl. auch Buti 2017: 4), gehören nur die nicht näher definierten ungehörten einfachen Leute zum Volk, die als von der Elite bevormundete, anständige, hart arbeitende, gesetzestreue, patriotische Menschen beschrieben werden, zum Volk (vgl. Mudde 2004: 557; Priester 2017 8, 11). Diese Art der romantischen Überhöhung und diese unspezifische Definition von Volk dient dazu ein möglichst breites Spektrum an Zielgruppen anzusprechen und ein Zugehörigkeitsgefühl zu konstruieren (Spier 2014).
Für Populismus charakteristisch ist in diesem Zusammenhang der Überhöhung der einfachen Leute auch das Berufen auf „eine Art höhere Weisheit des Volkes“ (Priester 2008: 22). Aus der Perspektive der Populisten ist der „‚gesunde Menschenverstand‘ (common sense) der zentrale „Bezugspunkt des Volkswillens“ (Richter 2017). Der ‚Commons Sense‘ beruht „auf Alltagserfahrung, Tradition und lebensweltlichem Konservatismus“ (Priester 2008: 22) und soll sogar dem „Reflexionswissen von Intellektuellen […] überlegen“ sein (Priester 2012: 4), was einen Populisten tendenziell unzugänglich für rationale oder logische Argumente macht. Was sich nämlich an einer Stelle (z.B. im Privaten) bewährt habe – so ein häufiges populistisches Argument mit Rückgriff auf den common sense – das könne woanders (z.B. im Öffentlichen) ja als Lösung nicht falsch sein (Decker/Lewandowsky 2009).
Im Rechtspopulismus kommt ein weiterer wesentlicher Exklusionsmechanismus in Bezug auf den identitätsbildenden Volksbegriff hinzu: Das ‚Wir‘ gegen ‚die-da-draußen‘, d.h. die aggressive Abgrenzung gegen all diejenigen, „die anhand von ethnischer, kultureller, nationaler oder religiöser Zugehörigkeit als »fremd« identifiziert werden, aber auch um Gleichstellung kämpfende Menschen und Frauen (»Feministinnen«)“ (Küpper et al. 2015: 25; vgl. Spier 2014; Decker/Lewandowsky 2017: 24f). Zu den als fremd und dadurch nicht zugehörig markierten Personengruppen gehören insbesondere aber auch Kriminelle und sogenannte „Sozialschmarotzer”, außerdem in einem weit gefassten Sinn pauschal Ausländer aller Art, sowie Muslime (Hartleb 2011: 21; Schellenberg 2017: 16; Wolf 2017: 14).
„Politische und soziale Teilhaberechte“ reserviert der Rechtspopulismus auf diese Weise „nur für die eigene, autochthone Bevölkerung“ (Priester 2012: 3; Priester 2016: 546). Neben dem homogenen elitären „Bevormundungskartell“ des Establishments (Priester 2012: 9) dienen dem Rechtspopulismus also typischerweise auch „marginalisierte Bevölkerungsgruppen“ als Feindbild und Sündenbock für alle von den Anhängern des Rechtspopulismus angeprangerten Missstände (Spier 2014; Wolf 2017: 16). Diese vermeintlichen Feinde stellen in der Vorstellungswelt der Rechtspopulisten eine ernste „potenzielle Bedrohung für das Gemeinwohl“ (Schellenberg 2017: 14) aber auch eine Bedrohung für das Kon-
strukt der nationalen Identität dar (Decker 2015: 64). Die antagonistische Haltung gegen diese nicht Zugehörigen äußert sich vor allem in der „Bedienung von Ressentiments und Vorurteilen“ (Boettcher 2011: 1) sowie einer oft „ausgeprägte[n] Fremdenfeindlichkeit“ (Spier 2014), beispielsweise in Form von Anti-Islam-Kampagnen oder Warnungen vor der angeblich „drohenden Islamisierung Europas“ (Wolf 2017: 14; Decker/Lewandowsky 2009). Auf dieser Grundlage wird auch der sogenannte ‚Nativismus‘ als ein wichtiger ideologischer Bestandteil des Rechtspopulismus identifiziert. Der Nativismus stehe „für eine illiberale (aber nicht zwingend rassistische oder völkische) Spielart des Nationalismus, die für einen in kultureller Hinsicht möglichst homogenen Nationalstaat eintritt, diesen also von „fremden“ Personen und Ideen freihalten will“ (Decker 2015: 65).
Ein weiteres Wesensmerkmal des Rechtspopulismus ist seine Rückwärtsgewandtheit. Er versucht ein romantisch verklärtes „überholtes Gesellschaftsbild [zu] konservieren“ (Decker 2015: 65) bzw. einen „status quo ante“ wiederherzustellen (Priester 2008: 32) und verleiht so der „Präferenz für das Gewohnte, das Nationale, das Vertraute“ (Hillebrand 2015: 9) Ausdruck. Die Vergangenheitsorientierung äußert sich etwa in Forderungen nach einem stärker autoritären Staat, der im Sinne einer Law-And-Order-Politik mittels konsequentem und kompromisslosem Durchgreifen „symbolhaft für Recht und Ordnung sorgen soll“ (Hartleb 2005: 4f, 20; vgl. Küpper et al. 2015: 25f; Spier 2014; Nestler 2016: 3).
Zur ‚dünnen Ideologie‘ des Populismus gehört als weiteres zentrales Kennzeichen, dass sich Rechtspopulisten nicht nur als „politischer Fürsprecher und Vorkämpfer des (einfachen) Volkes“ (Nestler 2016: 3) gerieren und sich als Anführer einer „Rebellion der schweigenden Mehrheit“ ansehen (Mudde 2004: 557), sondern sich als die einzig „wahre Stimme des Volkes“ präsentieren (Schellenberg 2017: 15). Dieser vermeintlich wahre Volkswille ist dabei nicht empirisch ermittelt, sondern gilt den Populisten als „a priori festsitzend“ (Hartleb 2005: 14) und als „klar identifizierbarer Wille eines homogenen Volkes“, der nur umgesetzt werden müsse (Müller 2016: 28). Müller sieht in dieser Haltung „alleinig das authentische Volk zu vertreten“ eine notwendige Bedingung für die Bestimmung von Populismus. Während die zuvor genannten Kennzeichen von Populismus nicht zu missachten sind, so sei Müller (2016: 24, 28) zufolge ein Populist nur derjenige, der „den Anspruch stellt, er und nur er vertrete das wahre Volk – mit der Folge, dass politische Mitbewerber eigentlich alle illegitim seien, beziehungsweise dass Bürger, die dem populistischen Führer die Unterstützung verweigern, gar nicht wirklich zum Volk gehören“. Gemäß dieser Logik des „moralischen Alleinvertretungsanspruch“ ist Populismus antipluralistisch und daher tendenziell immer auch antidemokratisch, da das Volk in einer Demokratie immer nur im Plural auftrete (ebd.: 26, 28; vgl. Müller 2016b; Buti 2017: 4).
Diese antipluralistische Eigenschaft bedeutet allerdings nicht, dass es sich bei rechtspopulistischen Par-
teien um demokratie- oder verfassungsfeindliche Parteien im Sinne von Anti-System-Parteien handelt.
Rechtspopulismus ist trotz allem in einem „rechtsstaatlichen Spektrum“ (Wolf 2017: 14; Nestler 2016:
5) anzusiedeln und ist daher nicht mit Rechtsextremismus, der durch Akzeptanz von Gewalt, einer ge-
schlossenen Weltanschauung und einer Gegnerschaft zum System gekennzeichnet ist, zu verwechseln. Auch wenn es durchaus Überschneidungen geben kann und die Grenzen oft fließend sind, so sind es doch zwei eigene Parteienfamilien (Priester 2016: 542; Hartleb 2005: 27; Decker 2013: 302).[4] Typisch für die Parteienfamilie des Rechtspopulismus ist des Weiteren, dass er sich als Protestbewegung präsentiert und den „Begriff ‚Partei‘ als Selbstbezeichnung ihrer Organisation“ vermeidet. Dieses Vorgehen spiegelt sich in der Namensgebung der Parteien (z.B. Bund, Liga, Liste, Front, Alternative) wider und soll Glaubwürdigkeit und Nähe zum ‚Volk‘ suggerieren sowie die klare Abgrenzung zu den etablierten Parteien verdeutlichen (Spier 2014; vgl. Decker 2013: 301).
Da viele der rechtspopulistischen Parteien in Europa vor allem in den Anfangsjahren und der Etablierungsphase in außerordentlicher Weise von der Wirkung einer charismatischen Führungspersönlichkeit profitierten (Le Pen beim Front National, Berlusconis Forza Italia in Italien, Geert Wilders PVV in den Niederlanden, Jörg Haider für die FPÖ Österreich), führen zahlreiche Autoren (z.B. Spier 2014; Decker/Lewandowsky 2009) auch die charismatische Führerschaft in Person eines politisch geschickten und rhetorisch begabten, eloquenten Anführers als zentrales Merkmal des Rechtspopulismus an. Dieses von Hartleb (2011: 20) als „personelle Dimension“ umschriebene Merkmal werde aber eher überschätzt (vgl. Priester 2012b: 72ff; Müller 2016: 26), denn es ist mitnichten eine hinreichende Eigenschaft einer rechtspopulistischen Partei, beweist die AfD doch zu deutlich, dass es keines charismatischen Anführers bedarf um als rechtspopulistische Partei erfolgreich zu sein.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Rechtspopulismus die Gesamtheit der Elemente Politikstil, Mobilisierungsstrategie und dünne Ideologie ist.
Dass sowohl im Titel dieser Arbeit als auch in der Überschrift dieses dritten Kapitels von ‚aktuellem Rechtspopulismus‘ und nicht wie etwa bei Hartleb (2005: 6) oder bei Decker (2015: 58) von „neuem Rechtspopulismus“ die Rede ist, ist bewusst so gewählt und offenbart damit eine wesentliche Prämisse dieser Arbeit. Denn – so formuliert es Ernst Hillebrand (2015: 7) – „das Anwachsen rechtspopulistischer Bewegungen ist ein sehr viel älteres Phänomen [,das i]n vielen Ländern […] bereits vor mehr als einem Vierteljahrhundert [begann]“. Laut Decker (2015: 57ff; vgl. auch Decker 2017: 43ff) hat sich die Parteienfamilie der rechtspopulistischen Parteien seit Mitte der 1980er Jahre[5] herausgebildet und sich seitdem schrittweise entwickelt. Beispiele für Parteien, die entweder um diese Zeit entstanden sind oder um diese Zeit verstärkt in die politische Arena drängten, sind der Front National aus Frankreich, die Lega Nord aus Italien, der Vlaams Blok aus Belgien und die FPÖ aus Österreich.
Statt jedoch als „flüchtige Protesterscheinungen“ (ebd.) wieder zu verschwinden, verstanden es diese Parteien sich allmählich zu etablieren und eine signifikante Wählerschicht aufzubauen. Rechtspopulismus begann sich auf andere europäische Länder auszubreiten (ebd.), sodass rückblickend seit den 1990er Jahren von „einem flächendeckenden Phänomen“ (ebd.: 58) gesprochen werden kann. So wurde etwa 1993 die rechtspopulistische und EU-kritische Partei namens „United Kingdom Independence Party“, kurz „UKIP“, gegründet. Lange blieb diese Partei auch aufgrund des strikten Mehrheitswahlrechts im Vereinigten Königreich auf der parlamentarischen Ebene eher unbedeutend, obwohl sie es ansonsten verstand aus der Rolle der außerparlamentarischen Opposition heraus großen Einfluss auf öffentliche politische Debatten zu nehmen. Dass in dieser Partei jedoch ein durchaus bedeutendes Wählerpotenzial steckt wurde spätestens nach den Europawahlen 2014, bei denen die UKIP als stärkste britische Partei hervorging, offensichtlich (Chwalisz 2015: 1-4; vgl. Goodwin 2015).
Weitere Beispiele aus den 1990er Jahren sind die 1994 gegründete Partei „Forza Italia“ aus Italien und die „Schweizerische Volkspartei (SVP) in der Schweiz. In den 2000er Jahren folgte beispielsweise noch „die niederländische Liste Pim Fortuyn, aus deren Konkursmasse 2006 die von Geert Wilders angeführte Partij voor de Vrijheid hervorging“ (Decker 2015: 59). Auch in nordeuropäischen (z.B. Norwegen, Finnland, Dänemark) und osteuropäischen Staaten (z.B. Ungarn, Bulgarien, Polen) machten sich rechtspopulistische Parteien sukzessiv einen Namen. In den skandinavischen Ländern seien „rechtspopulistische Parteien längst ein fester und umfassender Bestandteil des Parlaments“ und in Osteuropa stehe der Populismus inzwischen sogar vielmehr „im Zentrum und nicht an der Peripherie des Parteiensystems“ (Boettcher 2011: 3f; vgl. Decker 2017: 43f). Dem Rechtspopulismus ist es also gelungen sich in allen Teilen Europas nachhaltig auszubreiten (vgl. Schellenberg 2017a; Lochocki 2012: 31; Grabow/ Hartleb 2013: 12f).[6] Die Bandbreite der Beispiele zeigt deutlich, dass der Rechtspopulismus nicht nur in wirtschaftlich eher schwächeren Staaten Osteuropas grassiert, sondern genauso sehr auch in wirtschaftlich robusten Staaten, „erfolgreich sein und die politische Agenda (mit)bestimmen“ kann (Hillebrand 2015:11; vgl. Decker 2015: 63; Perger 2015: 128).[7]
Obwohl es auch in Deutschland schon lange vor der Gründung der AfD rechtspopulistische Parteien gab, blieb Deutschland lange Zeit eine europäische Ausnahme (Häusler/Roeser2015: 149). Keine der rechtspopulistischen Vorgängerparteien schaffte es sich dauerhaft in der politischen Arena zu behaupten. Kurz nach für diese Parteien vielversprechenden Wahlergebnissen bei Kommunal- oder Landtags-wahlen verschwanden die Parteien wieder in der Bedeutungslosigkeit oder lösten sich sogar ganz auf.[8] Alle scheiterten sie an einer Kombination aus innerparteilichen Konflikten, einer zu starken Radikalisierung und dem damit verbundenen Verlust ihrer Glaubwürdigkeit beim Wähler (vgl. Hartleb 2015).
Jedoch an mangelndem Wählerpotenzial bzw. mangelnder „Mobilisierbarkeit für typische rechtspopulistische Themen – von Einwanderungspolitik über Kriminalitätsbekämpfung bis EU“ – lag das Scheitern dieser kleinen rechtspopulistischen Parteien laut Hartleb (2015) nicht (vgl. auch Spier 2016: 258). Auch die je im Abstand von zwei Jahren veröffentlichten „Mitte-Studien“[9] geben wiederholt Hinweise darauf, dass schon lange vor der Gründung der AfD im Jahr 2013 bundesweit ein nennenswertes Wählerpotenzial für eine rechtspopulistische Partei vorhanden ist. So heißt es im Ergebnispapier der Studie von 2012, dass anhand „eindeutiger empirischer Befunde“ seit Jahren erkennbar ist, dass „rechtsextremes Denken in Deutschland kein Randproblem, sondern eines der Mitte der Gesellschaft ist“, sowie, dass „rechtsextreme Haltungen in allen Teilen der Gesellschaft in erheblichem Maße anzutreffen sind“ (Brähler et al. 2012). Diese Tendenz habe in den vergangenen Jahren sogar zugenommen (Bebnowski 2015: 1). Der Unterschied zu den anderen europäischen Ländern ist demnach schlicht, dass das vorhandene Wählerpotenzial in Deutschland lange Zeit nicht effektiv ausgeschöpft worden ist und so eine sogenannte „rechtspopulistische Lücke“ (Häusler/Roeser2014: 5) entstanden ist. Hartleb (2015) erkennt zwar an, dass Rechtspopulisten in Deutschland in einem für sie schwierigen gesellschaftlichen Klima agieren müssen, da sie sich „in einem durch die NS-Vergangenheit höchst empfindlichen öffentlichen und medialen Umfeld, in dem sie leicht stigmatisiert werden können“, durchsetzen müssen (vgl. auch Decker/Lewandowsky 2009). Dennoch sieht Hartleb (2015) in dem Scheitern der oben genannten rechtspopulistischen Parteien eher deren eigenes „Unvermögen“ (vgl. auch Decker 2000).
Mit Gründung der AfD im Jahr 2013 hat sich dies auch in Deutschland geändert. Erstmalig hat es in Deutschland eine rechtspopulistische Partei trotz des deutschlandspezifischen Hemmnisses an verschiedene Protestthemen anknüpfend nicht nur kurzzeitig in die Schlagzeilen geschafft. Im Gegenteil: Die AfD hat es inzwischen geschafft sich trotz gesellschaftlichen Widerstands bundesweit mit hohen Zustimmungswerten zu etablieren. Nachdem sie schon bei der Bundestagswahl 2013 nur knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, erreichte sie ein Jahr später mit mehr als 7% den Einzug ins Europaparlament (vgl. Häusler/Roeser 2015: 7; Holtmann 2017: 165) und ist mittlerweile nicht nur in nahezu alle Landesparlamente eingezogen (Oppelland 2017). Das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2017 hat die AfD sogar zur drittstärksten Partei im Bundestag gemacht (vgl. Bundeswahlleiter 2017). Aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre ist daher davon auszugehen, dass sich nun auch in Deutschland eine rechtspopulistische Partei dauerhaft etablieren wird (vgl. Hillebrand 2015: 7; Holtmann 2017: 170f). Einige Autoren sprechen mit Blick auf diese Entwicklung daher von einer „Normalisierung“ der Parteienlandschaft nach „Jahren der Ausnahme“ (Nestler 2016: 21).
Was oft ausgeblendet wird, ist jedoch der „politische Entstehungskontext“ (Häusler/Roeser 2014: 31), welcher dem rasanten Aufstieg der AfD vorangegangen ist. Die eingehende Betrachtung dieses Entstehungskontextes (ausführlich hierzu: Bebnowski 2015: 19ff) zeigt, dass es sich hier nicht um ein plötzliches Ereignis beginnend mit der Gründung der Partei handelt, sondern um ein „Resultat eines Prozesses mit längerer Vorlaufzeit, der durch unterschiedliche Think-Tanks und politische Initiativen gesteuert wurde“ (Bebnowski 2015: 38). Demnach war die „Gründung der AfD ein generalstabsmäßig geplanter Prozess, kein spontanes Zusammenfließen schwarmintelligenter konservativer Graswurzeln“ (ebd: 34). Die AfD verkörpere daher letztlich „die Krönung einer langfristigen Entwicklung“ (ebd: 30). Die ersten nennenswerten Erfolge in den ersten zwei Jahren nach der Gründung konnte die AfD sogar trotz eines damals noch nicht ausgereiften Parteiprogramms und trotz heftigen innerparteilichen Flügelkämpfen verbuchen (Häusler/Roeser 2015: 7). Am Höhepunkt dieser Flügelkämpfe kam es im Sommer 2015 zur Spaltung innerhalb der AfD mit dem Austritt des Parteivorsitzenden und Gründungsmitglied der Partei, Bernd Lucke, sowie einigen anderen einflussreichen Funktionären des wirtschaftsliberalen Flügels der Partei. Infolgedessen kam es zu einem „Erstarken des rechten Flügels“ (Nestler 2016: 9ff; vgl. Wissmann 2015: 24ff) und damit zu einer inhaltlich klaren „Verschiebung nach rechts“ (Nestler 2016: 2; vgl. Holtmann 2017: 166). Wirtschaftsliberale Themen, wie die Kritik an der Euro-Rettungspolitik, rückten mehr und mehr in den Hintergrund und wichen dominierenden Wahlkampfthemen wie Migrations-politik und Muslime (vgl. Häusler/Roeser 2015: 10) sowie der Betonung „nationaler Identität“ (Nestler 2016: 12). Einige Beobachter aus Wissenschaft und Medien (z.B. Hartleb 2015) prognostizierten aufgrund dieser Radikalisierung kurzzeitig sogar ein Scheitern der Partei. Stattdessen war seitdem „ein deutlicher Aufstieg in den Umfragen“ (Nestler 2016: 2) zu beobachten.
Insgesamt zeichnet sich die AfD vor allem dadurch aus, dass sie öffentliche Debatten zuspitzt und „neben deutlicher Kritik am Regierungshandeln vor allem Angst und Wut in der Bevölkerung [kanalisiert und mobilisiert]“, ohne dabei jedoch „machbare Lösungsansätze“ anzubieten (Nestler 2016: 15, 20). Als Partei, die vom populistischen Element lebt, inszeniert sie sich vor allem als „Protestvehikel“ gegen die etablierten Parteien und „Sprachrohr“ für zahllose sehr heterogene Gruppen von Unzufriedenen innerhalb der Bevölkerung (ebd), sodass mittlerweile „hinsichtlich der Wechselwähler“ von einer rechtspopulistischen „Catch-All-Partei“[10] gesprochen werden kann (Häusler/Roeser 2015: 148f).
Die Entwicklung des Rechtspopulismus ist also nicht neu und keineswegs plötzlich in Erscheinung getreten. Dies gilt auch für Deutschland. Das „neue“ an diesem Rechtspopulismus in den letzten Jahren ist lediglich seine Qualität bzw. sein größerer realpolitischer Erfolg. Seit den Europawahlen im Jahr 2014 hat die Entwicklung vielerorts noch einmal einen Schub bekommen. Die rechtspopulistischen Par-teien verbuchen bei Wahlen mehr und mehr Stimmenanteile, was wiederum insbesondere zu Lasten der Wahlergebnisse der großen etablierten Parteien geht (Hillebrand 2015: 7).
Angesichts dieses nicht kurzen Entwicklungsprozesses ist die zentrale Prämisse dieser Arbeit, dass für den europaweiten Aufstieg des Rechtspopulismus nicht so sehr kurzfristige gesellschaftspolitische Ereignisse verantwortlich sind, sondern dass die Ursachen vielmehr langfristig-struktureller Natur sind (vgl. Hillebrand 2015: 10; Inglehart/Norris 2016: 9).[11] Rechtspopulismus stellt also ein „multifaktorielles Phänomen“ dar, das vielfältige Erklärungsansätze ermöglicht (Decker 2013: 313).
Wie lässt sich also dieser in ganz Europa verbreitete „populistische Zeitgeist“ (Mudde 2004) erklären? Welche tieferliegenden strukturellen Bedingungsgeflechte liegen dem Erfolg des Rechtspopulismus zugrunde und wie sind diese zu bewerten? Diesem Fragenkomplex soll nun mithilfe der Typologisierung der Erklärungsansätze zum Phänomen des organisierten Rechtspopulismus nachgegangen werden. Die verschiedenen Typen bzw. Kategorien, die im Folgenden nacheinander vorgestellt und kritisch reflektiert werden, sind – der Definition von Typologisierung entsprechend (Kluge 2000) – das Ergebnis eines intensiven und sorgfältigen „Gruppierungsprozesses“, der ohne gründlichen Studiums der breitgefächerten sozialwissenschaftlichen Literatur nicht möglich gewesen wäre; denn erst so konnte die ganze Bandbreite an Erklärungsansätzen zutage gefördert werden.
Eine äußerst dominante Argumentationslinie zur Erklärung des Erfolgs von Rechtspopulismus in Europa sind zahlreiche sich aber jeweils auf die zeitgenössische liberale parlamentarisch-repräsentative Demokratie beziehende Problem- und Krisendiagnosen. Die Analyse stehen dabei nicht in Konkurrenz zueinander, lassen sie sich doch alle unter dem Stichwort ‚Krise der Demokratie‘ zusammenfassen.[12] Der Grundtenor dieser Vielzahl an Krisendiagnosen ist der Hinweis auf mehr oder minder schwerwiegende Dysfunktionalitäten der modernen Demokratien. Diese Defizite der heutigen Demokratien sind eine wesentliche Ursache für Unzufriedenheit und Politik- sowie Parteienverdrossenheit auf Seiten der Bürger. Mit Bezug auf Rechtspopulismus bedeutet dies: Sein Erfolg ist eine unmittelbare Folge auf diese Unzulänglichkeiten bzw. Fehlentwicklungen sowie deren direkten und indirekten negativen Aus-
wirkungen. Rechtspopulismus ist demnach ein Krisensymptom (vgl. Priester 2012: 7).[13]
Allgemein gesprochen äußert sich dieses Ursachenbündel, die Krise der Demokratie, darin, dass zentrale demokratische Ideale in den heutigen modernen Demokratien unerfüllt bleiben oder zumindest nur noch sehr schwach ausgeprägt sind. Eine laut Holtmann (2017: 22) stets von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilte Kritik ist etwa, dass „Parteien nur auf die Stimmen der Wähler aus seien und nach Beendigung des Wahlkampfes schnell den Kontakt zum Volk wieder verlören“. Diese Einschätzung vieler Bürger ist ein Kennzeichen eines Mangels am demokratischen Ideal der Responsivität, womit „die weitgehende Übereinstimmung ‚der Politik‘ mit den Wünschen der Wähler“ gemeint ist (Geißel 2004: 1239). Diesem sehr anspruchsvollen Ideal zufolge müssten die politischen Repräsentanten also das Ziel verfolgen möglichst viele Präferenzen der Bürger durch entsprechende politische Entscheidungen zu realisieren (Ritzi/Schaal 2010: 10, 14). Dies gelinge den etablierten Parteien und ihren Politikern jedoch nur noch in ungenügendem Maße (vgl. Diehl 2016: 16), was laut Priester (2017: 10) auch daran liegt, dass Parteien immer seltener „ihre Funktion als Interessenvertretungsorgane zwischen Staat und Gesellschaft wahr[nehmen]“. Je weniger Präferenzen der Bürger konkret umgesetzt werden, desto schlechter stehe es aber um die Qualität der Demokratie.
Die demokratische Gegenwart zeichne sich statt durch Responsivität eher durch „responsible government aus“. Damit ist im kritischen Sinne ein „demokratischer Paternalismus“ gemeint, „der die Bürger ‚zu ihrem Besten‘ auf Kosten ihrer politischen Selbstbestimmung bevormundet“. Solches Handeln und die damit zusammenhängende Nichtbeachtung der von den Wählern erwarteten Responsivität erzeuge quer durch alle Bevölkerungsschichten und unterschiedlichsten Milieus ein Gefühl der Machtlosigkeit und Enttäuschung, führe somit zu erheblichem Vertrauensverlust in die Politik und trage letztlich zur allgemeinen Politikverdrossenheit[14] bei (Ritzi/Schaal 2010: 10, 14; vgl. Brodocz et al. 2008: 21). Der Mangel an Responsivität, der auch Ausdruck einer zunehmenden „Entfernung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten“ ist, mündet schließlich auch in das Gefühl vieler Bürger von den etablierten Parteien entweder schlecht oder gar nicht mehr repräsentiert zu sein (Krise der Repräsentation) (Diehl 2016: 16). Dieses nationenübergreifende Phänomen der „nachhaltig gestört[en Beziehung] zwischen politischen Eliten und der Bürgerschaft“ (Kleinert 2012: 18) ist laut Diehl letztlich der „Nährboden für Antipolitik, Populismus, Rechtspopulismus und -extremismus“ (2016: 12). Die Schuld für diesen Mangel an Responsivität sieht Schaal (2008: 353) im seit den 1980er Jahren ökonomisch-politischen Neoliberalismus, der einerseits die „normative Attraktivität“ dieses wichtigen demokratischen Ideals gesteigert habe, aber andererseits die „Realisierungsmöglichkeiten von Responsivität“ unterminiere.
Ein weiteres Merkmal für die die Demokratie betreffende Krise ist die zunehmende „Verengung von Regierungshandeln auf eine bürokratische Praxis des Aushandelns zwischen privaten und staatlichen Akteuren“. An die Stelle von ‚government‘ sei eine ‚technokratische governance‘ getreten (Priester 2008: 35; Schaal 2010: 4), in der die Exekutive und demokratisch nicht legitimierte Experten stark an Einfluss gewonnen und die Parlamente deutlich an Macht verloren haben (vgl. z.B. Kersting et al. 2008: 42ff; Oberreuter 2012: 28; Wöhl 2016). Diese „Verlagerung der Entscheidungsmacht von den gewählten Volksvertretungen zu Regierungen und Verwaltungen“ sei ein „Megatrend [,der] sich für alle westlichen Demokratien feststellen [lasse]“ (Holtmann 2017: 34; vgl. auch Wöhl 2016).[15] Einerseits werden sie von informellen, intransparenten und technokratischen „Politik-Netzwerken“ und „supranationalen Institutionen“, wie z.B. IWF, Zentralbanken, NGOs, Lobbygruppen u.a.m., entscheidend beeinflusst und kontrolliert (ebd.; Nanz/Leggewie 2016: 10; Kersting et al. 2008: 43f). Andererseits wird dieser Machtverlust zusätzlich durch die Abgabe von Aufgaben bzw. Souveränitätsrechten an die oft nur indirekt legitimierte supranationale Ebene (EU) verstärkt.
Holtmann bezeichnet die Kompetenzverlagerung auf die europäische Ebene als einen „Verlust an politisch-parlamentarischer Kontrolle und politischer Verantwortung nationaler parteipolitisch geprägter Institutionen“ (2017: 34f; vgl. Priester 2017: 10).[16] In dieser kritischen Betrachtung bleibe den nationalen Parlamenten (u.a. als Folge der europäischen Integration) europaweit zwar formal die Entscheidungsbefugnis, de facto seien sie jedoch ohne bedeutenden Einfluss bzw. in vielen Bereichen quasi handlungsunfähig (Gramm/Pieper 2010: 373, 377f, 382f). Untermauert wird diese Einschätzung dadurch, dass all diese Aspekte der Machtverschiebung immer öfter dazu führen, dass die in außerparlamentarischen Expertengremien und Kommissionen sowie die in exekutiven Kreisen auf nationaler und supranationaler Ebene getroffenen Absprachen, Entscheidungsfindungsprozesse und Gesetzesformulierungen nachträglich „gesetzliche Verbindlichkeit [erlangen], ohne aus allgemeiner Diskussion und Partizipation“ des Parlamentes hervorgegangen zu sein.[17] Die nationalen Parlamente werden so in eine „unauflösliche Ratifkationssituation“ gedrängt (Oberreuter 2012: 28; vgl. Wöhl 2016: 42ff), die sie zugespitzt formuliert „zu Notaren des Exekutivwillens“ werden lassen (Holtmann 2017: 34).[18]
Aus all diesen problemhaften Beschreibungen begründet sich letztlich nicht nur eine „Kontroll- oder Kompetenzkrise“ (Kersting et al. 2008: 43), sondern in letzter Konsequenz auch eine in den vergangenen Jahren größer gewordene Krise der Legitimation demokratischer Herrschaft (Oberreuter 2012: 27; vgl. auch Holtmann 2017: 34), da gemäß dem demokratischen Ideal nur vom Parlament getroffene verbindliche politische Entscheidungen eine gesicherte Legitimation besitzen. Legitimität fließe Oberreuter (ebd.) zufolge nämlich vornehmlich nicht aus „Parteigremien, Kanzlerwillen, Koalitionsvereinbarungen, Regierungsbeschlüssen oder aus Verabredungen der Bundesregierung mit Ministerpräsidenten“, sondern allein „aus der parlamentarischen Gesetzgebung“. Dass aber eben diese Parlamente „politisch letztverantwortlich sind“ werde „nur noch schwer oder gar nicht mehr erkennbar“, so resümiert Holtman (2017: 34). Folglich fördere all das „das Gefühl, dass Politik undurchsichtig, abgehoben und noch weiter ‚nach oben‘ abgewandert ist“ (ebd.). Daher lässt sich mit diesem Machtverlust des Parlaments auch „die tiefe Vertrauenskrise des Parlamentarismus“, die „nicht nur in Deutschland“ zu beobachten ist, begründen, denn natürlich sind die Bürger „nicht daran interessiert [..] macht- und einflusslos vertreten zu sein“ (Oberreuter 2012: 29).
Problematisch sind diese politischen Entwicklungen auch in Bezug auf einen weiteren Grundpfeiler von Demokratien, nämlich dem der Volkssouveränität, (vgl. Diehl 2016: 14; Gramm/Pieper 2010: 141ff) die im Zuge dieser Verschiebungen deutlich an „Relevanz eingebüßt“ habe (Priester 2017: 9). In den politischen Konstellationen der heutigen Zeit schwindet daher der Glaube vieler Bürger an dem Ideal, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und dass sie als Souverän ihrem politischen Willen durch Wahlen Ausdruck verleihen können (vgl. Priester 2017: 9; vgl. auch GG Art.20 (2)). Stattdessen erleben viele Bürger das Schwinden an politischem Einfluss und den Machtverlust ihrer Repräsentanten samt der damit einhergehenden defizitären Repräsentation als „Kontrollverlust“. Dass der Rechtspopulismus daher mit der Forderung nach einer „Wiedererlangung der nationalen Kontrolle“ einen gesellschaftlichen Nerv trifft, überrascht vor diesem Hintergrund nicht (Priester 2017: 10). Im Gegenteil: Dass Populisten mit ihrem Versprechen unterkomplexer Lösungen in Anbetracht der (durch oben beschriebene Probleme bedingte) Stimmungslagen großen Andrang finden, ist in der Gesamtschau schließlich eher eine logische Konsequenz, (vgl. z.B. Holtmann 2017: 34; Mudde 2004: 555; Priester 2008:35; Priester 2012:7, 10) fällt es den Rechtspopulisten bei diesen Bedingungen doch sehr leicht sich in ihrer Pauschalkritik an den Eliten bestätigt zu fühlen, um dann dieses Gefühl gestenreich in die Öffentlichkeit zu transportieren. Der Rechtspopulismus gilt vielen enttäuschten Bürgern dann als Protestventil für ihre Verdrossenheit und neue Möglichkeit zur Partizipation, verbunden mit der Hoffnung auf radikale Veränderungen und einer vermeintlichen Rückgewinnung von Kontrolle und Souveränität. Der an die etablierten Parteien gerichtete Vertrauensentzug ist bei diesen Bürgern zum Dauerzustand geworden, sodass rechtspopulistische Anti-Parteien-Parteien bei diesen Bürgern einen Resonanzboden als willkommene Alternative vorfinden (vgl. Holtmann 2017: 17).
Mit den Ausführungen in 4.1 ist schon einiges vorweggenommen, was auch das Konzept der „Postdemokratie“ nach Colin Crouch (2008) ausmacht. Da Crouchs politikwissenschaftliche Zeitdiagnose aber das wohl einflussreichste theoretische Konzept zum Themenkomplex einer krisenhaften Demokratie ist und auch von nahezu allen Autoren zustimmend aufgegriffen und diskutiert (vgl. Kleinert 2012: 19), soll das Konzept der Postdemokratie – das als Begriff zwar auch schon vorher auftauchte (z.B. Rancière 1997) jedoch erst durch Crouch große Bekanntheit erlangte – gesondert betrachtet werden. Obwohl Crouchs Zeitdiagnose (2008) einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt und dafür ein breites Spektrum gesellschaftlicher Bereiche in den Blick nimmt, wird der Fokus hier zunächst nur auf den Teil der Postdemokratiediagnose gelegt, der sich konkret mit der politischen Sphäre der Demokratie befasst. Crouchs nicht unumstrittenes Konzept (vgl. z.B. die Kritik von Rölli 2016) beschreibt „wie sich die heutigen Industrienationen vom klassischen Ideal der Demokratie [zunehmend] entfernen“ und bereits entfernt haben (Holtmann 2017: 295). Der Begriff Postdemokratie bezeichnet im Sinne Crouchs:
„ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, gar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten“ (2008: 8).
Crouch beklagt demnach einen „Verfall der Handlungsfähigkeit der Politiker“ aber genauso einen Verlust der Einflussmöglichkeiten seitens der Wähler. Das demokratische Ideal der politischen Gleichheit sieht er als stark gefährdet. Das spiegelt sich in Crouchs zentralen These:
„Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind (sogar [..] weiter ausgebaut werden), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert“ (ebd.: 8, 11-14).
Die Demokratie als politisches System befinde sich also trotz formaler Intaktheit aufgrund der Tatsache, dass „die politischen Eliten und mächtigen Wirtschaftszirkel das Spiel der Macht unter sich aus[machen]“ (Holtmann 2017: 295), in einem ungesunden Zustand. Ferner beschreibt Crouch die Symptome der Postdemokratie als Situationen,
„in denen sich nach einem Augenblick der Demokratie Langeweile, Frustration und Desillusionierung breitgemacht haben; in denen die Repräsentanten mächtiger Interessengruppen, die nur für eine kleine Minderheit sprechen, weit aktiver sind als die Mehrheit der Bürger, wenn es darum geht, das politische System für die eigenen Ziele einzuspannen; in denen politische Eliten gelernt haben, die Forderungen der Menschen zu lenken und zu manipulieren; in denen man die Bürger durch Werbekampagnen »von oben« dazu überreden muss, überhaupt zur Wahl zu gehen“ (2008: 30).
Deutlich gesünder war die Demokratie Crouch zufolge in ihrer Blütezeit ab Mitte des 20. Jahrhunderts
bis etwa der 1970er Jahre, die von vorwiegend keynesianisch wohlfahrtsstaatlicher Politik dominiert war. Ein starker Wohlfahrtsstaat und eine keynesianische Nachfragesteuerung waren nicht nur in Deutschland in dieser Zeit das maßgebliche politische Paradigma. Den Beginn der Entwicklung hin zur Postdemokratie erkennt Crouch in dem Niedergang des Keynesianismus, der Trendwende hin zu vorwiegend mikroökonomisch orientierter neoliberalistisch und marktradikaler Politik ca. ab Ende der 1970er Jahre.[19] Seitdem werde Demokratie hauptsächlich als liberale Demokratie definiert, bei der drei Eigenschaften im Vordergrund stehen, nämlich „Wahlbeteiligung als wichtigster [und einzig wirklich notwendiger] Modus der Partizipation der Massen, große Spielräume für Lobbyisten [..] und eine Form der Politik, die auf Interventionen in die kapitalistische Ökonomie möglichst weitgehend verzichtet“. Die „wirkliche, umfassende Beteiligung der Bürger und die Rolle von Organisationen außerhalb des Wirtschaftssektors [spiele für] die Befürworter dieses Modells“ nur eine untergeordnete Rolle (Crouch 2008: 9-19). Diese Art von kapitalistischer Politik, die Unternehmen und besonders globale Unternehmen zu Schlüsselinstitutionen mit umfangreichem Einfluss (inklusive regelmäßig genutztem Erpressungspotenzial) auf die Demokratie hat werden lassen (ebd.: 42, 45-70), und, die Crouch zufolge (ebd.: 9-19) die Wurzel des verheerenden Zustands der heutigen Demokratien ist,[20] hat sich bis heute massiv im politischen Systems verfestigt, sodass eine erneute Trendwende und damit die Abwendung einer sich fortführenden Postdemokratisierung, die sich als „schleichender, undramatischer Verrottungsprozess“ vollzieht (Schäfer 2009: 179), nicht zu erwarten sei (vgl. Crouch 2008b: 7).
In jüngeren Veröffentlichungen Crouchs stellt er auch einen kausalen Bezug zwischen seiner Postdemokratiediagnose und Rechtspopulismus her. Demnach sei fremdenfeindlicher Rechtspopulismus „dies- und jenseits des Atlantiks“ eine Antwort – im Sinne eines politischen Angriffs – „auf die Vorherrschaft des Neoliberalismus“ (2016: 3) und damit eine der von Crouch (2008: 33f) prognostizierten langfristigen „Erosionserscheinungen“ der Postdemokratie.[21] Verlierer dieser Postdemokratie sind also prinzipiell alle Bürger und das gesellschaftliche Gemeinschaftsgefühl. Alles in allem haben die Bürger als Folge der Postdemokratisierung jegliches Vertrauen in die „selbstreferenziellen [und] ihrerseits vom Rest der Gesellschaft abgetrennt[en]“ politischen Elite (Crouch 2008b: 7) verloren. Viele Bürger vermögen jedoch nicht diese Unzufriedenheit auf konstruktive Art zu artikulieren und ihre Wünsche konkret und ohne Polemik oder Exklusion anderer an die Politik weiterzuleiten, denn parallel ist die Politik ja gerade für diese Menschen wiederum als Folge der Postdemokratisierungsprozesse weniger zugänglich geworden. Die Rechtspopulisten ergreifen die Initiative der Generalkritik, spitzen die aus der neoliberalen Hegemonie hervorgehenden Probleme zu und machen dafür unberechtigterweise die schwächsten Glieder der Gesellschaft zum Sündenbock. Diese Sündenbock-Agitation steigert so die Empfänglichkeit für rechtspopulistische Inhalte, suggeriert diese Strategie doch vielen den verlorengegangenen politischen Einfluss so wiedergewinnen zu können. Die Postdemokratiediagnose macht deutlich, dass die wahre Ursache der Unzufriedenheit der Menschen – die sich symptomatisch als Konjunktur von Rechtspopulismus äußert – in der durch den Neoliberalismus (als ein die Interessen von Unternehmen bevorzugendes Paradigma) vorangetriebenen Postdemokratisierung, die „Gemeinschaften zerstört und auf der ganzen Welt die Verhältnisse instabil werden lässt“ (Crouch 2008: 152), zu suchen ist.[22]
Ein weiterer besonders einflussreicher Beitrag der politischen Theorie zum Themenkomplex der Krise der Demokratie (vgl. Bebnowski 2015: 36; Nonhoff 2007: 7) ist Chantal Mouffes (2010) explizite Kritik am Verschwinden des Politischen. Mouffes Theorie steht in Einklang mit den oben nachgezeichneten Diagnosen, diagnostiziert nämlich auch sie, dass sich die modernen liberalen Demokratien infolge des global hegemonialen Liberalismus in einem Zustand der Postpolitik befinden. Die fokussierte theoretische Betrachtung des ‚Politischen‘ stellt jedoch eine bedeutende Ergänzung dar.
Eines der entscheidenden Probleme für die Demokratie ist nach Mouffe die strikte und grundsätzliche alle Politikbereiche umfassende Orientierung an Rationalität und Konsens, die wie in 4.1 und 4.1.1 beschrieben in ‚technokratischer governance‘ und der stark konsensorientierten Auslagerung von politischen Entscheidungsfindungsprozessen an außerparlamentarische von Experten dominierte Kommissionen ihren undemokratischen[23] Ausdruck findet (vgl. Michelsen/Walter 2013: 16). Außerdem herrsche wegen dieser Rationalisierung bzw. Entemotionalisierung schon seit längerer Zeit eine Politik der Alternativlosigkeit. Da das neoliberal-deliberative Politikverständnis inzwischen so tief im Bewusstsein aller traditionellen Parteien verankert ist werden laut Mouffe andere alternative Politikansätze überhaupt nicht mehr berücksichtigt oder gleich ohne eine echte politische Auseinandersetzung aufkeimen zu lassen pauschal „als Zeichen von Irrationalität und moralischer Rückständigkeit und damit als illegitim“ dargestellt (Mouffe 2010: 111).[24] So werden für eine demokratische Gesellschaft notwendige konfrontative Diskussionen über mögliche Alternativen oder konträre Perspektiven verhindert (ebd.: 43).[25] Diese Politik, die häufig politische Entscheidungen allein mit Sachzwängen begründet und sich symbolhaft der sog. ‚there-is-no-alternative-Rhetorik‘ bedient (Michelsen/Walter 2013: 10), „lässt uns die Bedeutung des Dissens für die demokratische Gesellschaft übersehen“ (Mouffe 2015: 41).
Dissens und Streit im Sinne einer gewaltlosen politischen Auseinandersetzung, kurzum institutionalisierter Konflikt, all das ist für Mouffe jedoch etwas Urdemokratisches und „für menschliche Gesellschaften konstitutiv“ (Mouffe 2010: 16). Mouffe unterscheidet grundlegend zwischen zwei Ausdrucksformen von Konflikten: ‚Antagonismus‘ (eine auf ein moralisches Gut und Böse beruhende Freund-Feind-Unterscheidung) und ‚Agonismus‘ (eine politisch-gegnerschaftliche Wir-Sie-Unterscheidung). Antagonismen seien „untilgbar“, bestehen also immer. Es sei der Gesundheit der Demokratie zuliebe jedoch stets zu verhindern, dass Konflikte im antagonistischen Modus aufbrechen. Vielmehr sollte es darum gehen die Antagonismen zu zügeln, in einen agonistischen Modus zu überführen und somit dafür zu sorgen, dass ein Konflikt auf legitime Art und Weise im Sinne eines politischen Wettstreits ausgetragen wird.[26] Um dieses Ziel zu erreichen ist es nötig „widerstreitenden Stimmen legitime agonistische Artikulationsmöglichkeiten“ anzubieten. Gelingt das nicht, dann tendiere der Dissens (z.B. auf der Basis nationalistischer, ethnischer oder religiöser Identitäten) zu weniger legitimen Ausdrucksarten bis hin zum Gewaltausbruch. Diese „Umwandlung des Antagonismus in Agonismus“ mache Mouffe zufolge das Wesen des Politischen aus und kann als eine „Hauptaufgabe der Demokratie“ betrachtet werden. Der politische Zeitgeist des Liberalismus versuche jedoch – so Mouffes grundlegende Kritik – die „Untilgbarkeit“ der bestehenden Antagonismen zu leugnen. Dies sei jedoch „nicht nur konzeptionell falsch [und illusorisch], sondern auch mit politischen Gefahren verbunden“ (Mouffe 2010: 8, 12-17, 25, 30, 43). Wenn also immer weniger gestritten wird, politische Konflikte völlig ausgeblendet oder divergierende Standpunkte marginalisiert werden und von rationaler Konsensorientierung überlagert werden, dann wird der Politik das Politische entzogen, denn erst der lebhafte Konflikt sowie der konstruktive Umgang mit diesen unentbehrlichen Auseinandersetzungen mache die Demokratie lebendig und symbolisiert ihre Qualität. In dieser „agonistischen Sphäre des öffentlichen Wettstreits“, die auch maßgeblich bei der Ausbildung von kollektiven politischen Identitäten hilft, sieht Mouffe die absolut notwendige Bedingung einer „effektiven demokratischen Praxis“. Die Schaffung und Aufrechterhaltung dieser Bedingung sollte daher zentrale Aufgabe aller Politik sein (Mouffe 2010: 9f, 24).
Parallel stellt Mouffe fest, dass sich die traditionellen Parteien inzwischen sehr stark angeglichen ha-
ben, sodass Mouffe für die Bürger keine echte Wahl zwischen deutlich voneinander unterscheidbaren Programmen mehr sieht.[27] Eine der Hauptfunktionen politischer Parteien, das Abbilden „unterschiedlicher politischer Stand- und Streitpunkte im öffentlichen Raum“, liegt damit brach (Bebnowski 2015: 36). Statt der politischen Auseinandersetzung, die wenn überhaupt nur noch „schlaff und uninspiriert“ verläuft, überwiegt, so Michelsen/Walter (2013: 11f), eine leidenschaftslose Politik „harmonistischer Wohlfühlrhetorik und überschwänglicher Moralisierung“. Diese Angleichung der Parteien liegt vor allem darin begründet, dass selbst die Parteien des linken Spektrums, insbesondere die sozialdemokratischen Parteien, den Fehler begangen haben die neoliberale Hegemonie und ihre Behauptung von der Alternativlosigkeit unhinterfragt zu akzeptieren. Das zeigt sich daran, dass diese Parteien „sich unter dem Vorwand der »Modernisierung« immer weiter nach rechts bewegt und als »Mitte-links« neu definiert“ haben (Mouffe 2010: 44; vgl. Mouffe 2011). Gleichzeitig haben sich die eher konservativen Parteien nach links bewegt. So sind schließlich „die Grenzen zwischen links und rechts in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker verwischt“ worden (Mouffe 2010: 85).
Die Folgen für das Verschwinden des Politischen in der postpolitischen Situation sind vielfältig. von Blumenthal (2003: 9) hebt etwa hervor, dass eine wesentliche Gefahr für die Demokratie darin besteht, dass diese „Führung im Konsens […] zu einer Entmachtung des Parlaments führt und den Regierungsprozess undurchschaubar macht“. Auch Mouffe erkennt dies, betont aber vordergründig die Kausalität zwischen den von ihr diagnostizierten Problemen und den für sie nicht unerwarteten Erfolg rechtspopulistischer Parteien. Rechtspopulismus ist also eine der „negativen Folgen des Fehlens agonistischer Kanäle für das Austragen von Konflikten“. Das bedeutet, dass die „große Anziehungskraft von »Anti-Establishment«-Parteien in der Unfähigkeit der etablierten demokratischen Parteien gründet, klare Alternativen anzubieten, und [unmittelbare Folge] der heute vorherrschenden Konsensform von Politik“ ist. Diese Art von Demokratie lässt die Bürger depriviert und desillusioniert zurück. Schwelende Konflikte (d.h. Antagonismen, die sich Mouffe zufolge seit Ende der 1980er sogar stark vermehrt haben) können nicht ausgetragen werden, sodass sie dann in einer problematischen Art von Protestverhalten ausarten. Die Wahl rechtspopulistischer Parteien ist damit eine Form des sich zur Wehr setzen von Bürgern, die dies als letzten Ausweg aus der Unmündigkeit betrachten.[28] Die Wähler sehnen sich nach einer alternativen und leidenschaftlicheren Politik, die gegen die Hegemonie des Liberalismus antritt. Dies ist jedoch von den etablierten Parteien (selbst von linken Parteien) nicht zu erwarten (Mouffe 2010: 85-95). Die rechtspopulistischen Parteien sind als Frustventil dagegen nicht nur darin erfolgreich die Alternativlosigkeit infrage zu stellen, sondern auch erfolgreich darin die „genuin politische Logik“ (Jörke 2014: 370f) der klaren Wir-Sie-Abgrenzungen, die etablierte Parteien vermissen lassen, herzustellen (v.a. „zwischen »dem Volk« und den »Konsens-Eliten«“) und so „im Kontext der Opposition [..] einen mächtigen Pol kollektiver Identifikation zu schaffen“ (Mouffe 2010: 85-95). So schüren sie „eine Art Hoffnung, verbunden mit dem Glauben, die Dinge könnten sich ändern“ (ebd.: 94). Alles in allem ist Rechtspopulismus im Sinne Mouffes letztlich eine Konsequenz des Fehlens einer lebhaft geführten demokratischen Diskussion“ (ebd.) und damit allgemeiner formuliert ein Kind der „Mängel des vorherrschenden [Demokratie-]Modells“ (Mouffe 2015: 42).[29]
[...]
[1] Holtmann (2017: 13) spricht in diesem Zusammenhang von einem ernsten „öffentlichen Belastungstest“.
[2] Da der flächendeckend erfolgreiche Rechtspopulismus nicht weniger als das „freiheitlich-demokratische Selbstverständnis“ herausfordere (Herold/Schäller 2016: 262), ist die zweite sich aufdrängende und immer an die Kausalitätsfrage anschließende Frage die, nach den kurz- und langfristigen Strategien zum Umgang mit und zur Eindämmung von Rechtspopulismus. Diese Frage kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht behandelt werden. Zur weiteren Lektüre eignen sich: Decker/Lewandowsky 2017: 32-34; Lochocki 2016; Grabow 2016; Mouffe 2015b.
[3] Hierbei sei auf die Endung des Wortes Populismus (-ismus‘) verwiesen, die schon aus linguistischer Sicht einen höheren Ab-straktheitsgrad, eine „Generalisierung“ (Hartleb 2005: 10) und „ideologische Übersteigerung“ (Decker 2013: 314), signalisiert.
[4] Die Schnittmenge liegt etwa im oben angesprochenen ‚Nativismus’ und die damit zusammenhängenden Exklusionsmechanismen des Rechtspopulismus. Auch in seinem Hang zu Forderungen, die sich unter dem Stichwort ‚Autoritarismus‘ zusammenfassen lassen, findet sich eine Überschneidungslinie zum Rechtsradikalismus (vgl. z.B. Decker 2015: 65).
[5] Priester (2012: 3) datiert den Entwicklungsbeginn des Rechtspopulismus in Europa sogar auf die 1970er Jahre.
[6] Er ist dabei jedoch nicht überall identisch, sondern nimmt – wenngleich es gemeinsame Kernelemente gibt – durchaus vielseitige Ausgestaltungsformen an, (ausführlich: Schellenberg 2017b: 13-18; Hillebandt 2015: 9).
[7] Einige dieser wirtschaftlich starken Staaten (z.B. Österreich, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweden) waren sogar von den Folgen der Weltwirtschaftskrise ab 2007 „vergleichsweise wenig betroffen“ (Decker 2015: 63).
[8] Bekannt wurden u.a. die „Republikaner“ (Gründung 1983; vgl. Decker 2015: 59), die „Schill-Partei“ (nur von 2000 bis 2007, von 2001 bis 2004 aber Teil der Hamburger Landesregierung; vgl. Hartleb 2005: 32ff; Decker 2013: 22-28), die Anti-Euro-Partei „Bund Freier Bürger“ (nur von 1994 bis 2000) und die „Statt-Partei“ (Gründung 1993; vgl. Decker 2000: 245ff).
[9] Seit 2002 führt eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe „alle zwei Jahre repräsentative Befragungen im gesamten Bundesgebiet durch.“ Dabei werden Entwicklungen „der politischen Einstellung, von Rechtsextremismus, Vorurteilen und autoritärer Orientierung dokumentiert und ihre Einflussfaktoren bestimmt“ (Brähler et al. 2016: 7).
[10] Auswertungen zur Bundestagswahl 2017, aber auch der Landtagswahlen in den Jahren 2015-2017, zeigen, dass es der AfD gelungen ist, Wähler aus allen politischen Lagern – auch aus den politisch linksstehenden Parteien – sowie eine große Zahl an vorherigen Nichtwählern und Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus für sich zu gewinnen (vgl. wahl.tagesschau.de; Pfahl-Traughber 2017; Oppelland 2017; Niedermayer/Hofrichter 2016).
[11] Das zeigt sich auch daran, dass – wie bei der „rechtspopulistischen Empörungsbewegung“ PEGIDA, die in der AfD parteipolitischen Ausdruck gefunden hat – der Protest oft nicht sach- bzw. themenbezogen ist, sondern sich eher um die „Artikulation allgemeiner Wut und Empörung, das dumpfe Gefühl, dass ‚einiges schief läuft‘ im Land und die öffentliche Zurschaustellung einer ‚Jetzt-reicht’s-Stimmung‘“ dreht (Herold/Schäller 2016: 276; vgl. Klose/Patzelt 2016).
[12] Dabei ist u.a. wahlweise von einer Krise der Demokratie (vgl. Merkel 2015), „Krise der repräsentativen Demokratie“ (Kleinert 2012), Krise der Repräsentation oder von „Unpolitische Demokratie“ (Michelsen / Walter 2013), gar einer „Entpolitisierung“ (Mouffe 2011; Mudde 2004: 555; vgl. Fach 2008) und Krise des Politischen (Mouffe 2010) oder von einer „Aushöhlung der europäischen Demokratie“ (Hillebrand 2015: 8) die Rede.
[13] Es geht hier also um eine qualitative Perspektive. Dies sollte nicht verwechselt werden mit der vom Soziologen Larry Diamond (vgl. 2015; 2008) vertretenen These einer weltweiten Demokratie-Rezession im Sinne eines quantitativen Rückzugs der Demokratie bei gleichzeitiger Zunahme autokratisch geführter Staaten. Diese These, die quasi ein Ende des demokratischen Zeitalters voraussagt, gehe jedoch zu weit und wird als „alarmistisch und anekdotisch“ zurückgewiesen (Merkel 2016: 4).
[14] Als Beleg hierfür wird u.a. angeführt, dass die als Politikverdrossenheit umschriebene Unzufriedenheit von etwas mehr als 10 Prozent um das Jahr 1980 auf konstante etwa 60 Prozent seit den 1990er Jahren gestiegen sei (vgl. Vester 2011: 3).
[15] Bedingt durch die multiplen ‚Krisen‘ seit 2007 (z.B. Wirtschaftskrise Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Terrorabwehr) hat diese Machtverschiebung in den letzten 11 Jahren rasant zugenommen (Holtmann 2017: 34f).
[16] Kritiker sehen daher in der EU einen bedeutenden Baustein für die „schleichende Entdemokratisierung“, da die EU sehr exekutivlastig ist (Brodocz et al. 2008: 17f) und selbst ein stark kritisiertes Demokratiedefizit aufweist (u.a. Schäfer 2006; Follesdal/Hix 2005; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2008).
[17] Konkrete Beispiele aus Deutschland für diese Konsensrunden – die sich in ähnlicher Form auch für andere Nationen finden ließen – sind „das »Bündnis für Arbeit«, die »Energiekonsensgespräche«, die »Rürup-Kommission«, und die »Hartz-Kommission«“ sowie die „mit dem Bologna-Prozess eingeläutete Bildungsreform“, die „wesentlich vom Bertelsmann-Konzern bestimmt wurde und deren Ziele darin bestanden [..] die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu steigern“ (Hetzel/Unterthurner 2016: 9f; vgl. Schaal 2010: 5).
[18] Ferner sieht Oberreuter (2012: 28f) bezogen auf Deutschland etwa im Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie, sowie in der Aussetzung der Wehrpflicht, sogar Beispiele dafür, dass das Parlament nicht nur „von der Regierung auf die Seite geschoben“ wird, sondern dass vom Parlament „verabschiedetes Recht gebrochen oder umgangen wird“. Diese „Marginalisierung des Parlaments“ gefährde die „Integrität des Rechtsstaats“ (ebd.). Auch die in Deutschland v.a. von rechtspopulistischer Seite beklagte sogenannte „Öffnung der Grenzen“ im Herbst 2015 ließe sich vermutlich in dieses Beispielschema einordnen.
[19] Ausschlaggebende Ereignisse für diese Trendwende waren die Inflationskrise, „der Ölpreisschock 1973, die Wahlen von Margret Thatcher (1979) und Ronald Reagan (1981) sowie der Aufstieg der Chicago School of Economics unter Milton Friedman“ (Hetzel/Unterthurner 2016: 12; vgl. auch Crouch 2008: 13-20, 45).
[20] Wöhl (2016: 45) sieht das neoliberalistische Gesellschaftsmodell ähnlich kritisch und argumentiert sogar, dass „der Abbau demokratischer Rechte immer schon immanenter Bestandteil neoliberaler Politik war“. Und Michelsen/Walter (2013: 14) spitzen diese Neoliberalismuskritik zu, indem sie betonen, dass in der „Determinierung des politischen Lebens durch sich selbst überlassene Kapitalmärkte, oder von Ratingagenturen, deren Verdikte ganze Volkswirtschaften lähmen und immer häufiger über das Schicksal von Regierungen entscheiden“ eine der größten „Gefahr[en] für eine vitale Demokratie“ besteht.
[21] Eine vorausgehende Erosionserscheinung könne auch „Demokratiemüdigkeit“ (ebd.) sein, die wiederum auch dem Rechtspopulismus mit seinem antipluralistischen, autoritären Schwarz-Weiß-Charakter in die Karten spielt.
[22] Für eine weitere Vertiefung der Postdemokratiediagnose kann neben Crouch 2008 verwiesen werden auf: Unterthurner/Hetzel 2016; Buchstein/Nullmeier 2006; Crouch 2016b.
[23] „Politische Entscheidungen, die ausschließlich ExpertInnenwissen exekutieren“, seien nämlich „keine politischen Entscheidungen mehr“ (Schaal 2010: 5f). Ähnlich argumentiert Müller (2016d). Dieser erkennt in der von Technokraten propagierten Alternativlosigkeit – es gäbe ja nur eine mögliche „rationale policy“ – eine „antipolitische Haltung“, da diese innere Logik der Entscheidungsfindung antipluralistisch ist.
[24] In der Sphäre des Politischen, so Schaal (2010: 5f), könne es jedoch kein richtiges oder falsches Wissen geben. Moralische Verurteilungen politischer Standpunkte seien demnach in einer Demokratie nicht hilfreich.
[25] Dadurch dass die traditionellen Parteien durch das vorschnelle Nutzen des politischen Kampfbegriffs Populismus als Vorwurf gegen jeden, der sich „gegen die Regeln der Eliten auflehnt“ (Mouffe 2011: 4) alternative politische Standpunkte moralisch abwerten, grenzen sie diese aus der politischen Arena aus und machen so eine echte politische Auseinandersetzung unmöglich. Diese kontraproduktive aber übliche Strategie befeuert nur das Kernargument des Rechtspopulismus, da es die Wahrnehmung der Eliten als abgehoben noch verstärkt und die Sympathisanten der rechtspopulistischen Parteien noch stärker in die ohnehin empfundene Außenseiter- und Opferrolle drängt (vgl. Jörke 2014: 376; Mouffe 2010: 94f).
[26] Den „politisch gezähmten Antagonismus, in dem aus Feinden Gegner geworden sind, die demokratische Grundregeln und -werte anerkennen, beschreibt Mouffe als ‚agonistischen Pluralismus‘ und sieht als dessen wichtigste Konfliktlinie die Spaltung zwischen rechts und links“ (Nonhoff 2007: 11).
[27] Bei Crouch (2008: 32) heißt es dazu kurz: „Parteiprogramme [sowie] die Rivalität zwischen den Parteien selbst [werden] inhaltlich immer farbloser und oberflächlicher.“ Und Michelsen/Walter (2013: 12) betonen, dass eine grundsätzliche Differenz in grundsätzlichen politischen Fragen nicht mehr bestehe. Als Beleg kann eine von Schäfer (2009: 175) angeführte Befragung, der zufolge zwei Drittel der Befragten der Aussage zustimmten, dass „Parteien keine echten Alternativen bieten“. Diese negative Bewertung des Parteienwettbewerbs ist laut Schäfer eine „von allen Gesellschaftsgruppen einhellig geteilte Auffassung“ (ebd.; vgl. auch Volkens/Merz 2015: 95).
[28] Jörke (2014: 371) nennt dies in diesem Zusammenhang auch eine „pathologische Wiederkehr des Verdrängten“.
[29] Während Mouffe in ihrer Theorie nicht ausführlich auf die politische Konstruktion der EU eingeht, stellt Guérot in ihrer Analyse der Beziehung zwischen der EU und Rechtspopulismus heraus, dass die von Mouffe beschriebenen Problemlagen besonders stark in der EU ausgeprägt sind. Guérot geht in Bezug auf die EU daher sogar soweit die Probleme der Postpolitik als Systemversagen zu bewerten und die EU als die Personifizierung der Krise der Demokratie anzusehen. Dieses Versagen sei hauptverantwortlich für den Aufstieg des Rechtspopu-lismus (Guérot 2016). Die EU als supranationale Organisation mit ihrem erheblichen Einfluss auf 27 Mitgliedsstaaten kann daher im Kontext des in diesem Kapitel vorgestellten Erklärungstypus entsprechend als weiterer Beleg und bedeutenden Teil der Krise sowie als verstärkender Faktor für die Krise der Demokratie bewertet werden. Einen eigenen Erklärungstypus erkennt der Verfasser dieser Arbeit in Guérots Kritik an der EU allerdings nicht, ist es doch nicht die EU an sich, die die vielfältigen Verwerfungen produziert, sondern ein auf deliberativem Demokratieverständnis und neoliberaler Hegemonie beruhender genereller politischer Zeitgeist, der eben nicht nur die Nationalstaaten dominiert, sondern auch die Basis der Konzeption der EU ist.
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