Bachelorarbeit, 2018
52 Seiten, Note: 1,5
1 Einleitung
2 Das Stillleben
2.1 Definition, Entwicklungsgeschichte und Artenvielfalt
2.2 Reputation damals und heute
2.3 Bildbeschreibung und Analyse von Stillleben aus der flämischen Tradition: Willem Kalf, Stilleben mit Nautiluspokal und Porzellandose, Öl auf Leinwand,
2.4 Bildbeschreibung und Analyse von Stillleben nach der Digitalisierung: Arvida Byström, Personal Project,
3 Kalfs Stillleben versus Byströms Stillleben
4 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der verwendeten Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
Abbildungsnachweis
Mit dem gesellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Wandel, sowie im Zuge des technischen Fortschritts, hat das Stillleben eine formale und inhaltliche Änderung erfahren. Anhand des Vergleichs zwischen einem in der flämischen Tradition stehenden Stillleben von Willem Kalf (Abb. 1) und dem fotografischen Stillleben von Arvida Byström (Abb. 2) wird in dieser Bachelorarbeit nicht nur erarbeitet, was für ein inhaltlicher Wandel stattgefunden hat, sondern auch welche formalen Änderungen die Digitalisierung mit sich brachte. Beide Werke zeigen „Objekte, die als Dinge einen lebensweltlichen Bezug haben und mit Emotionen und Werten, Handhabungen und Anschauungen verknüpft wiederum im Bild isoliert, ästhetisch aufgeladen, erneuert, verändert werden“.1 Auf den ersten Blick scheint in dem fast dreihundert Jahre späteren Stillleben nur der Nautiluspokal vom Smartphone ersetzt worden zu sein. Was für eine Symbolik hat die Frucht in dem Ölgemälde und was für eine in dem fotografischen Werk? Dabei ist nicht von Belang, dass das Stillleben von dem niederländischen Künstler zur Malerei und das Stillleben von Arvida Byström zum Genre der Fotografie gehört. In folgendem Zitat wird die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts, ausgehend vom Bildgehalt, mit dem Medium der Fotografie, ausgehend verglichen:
„Dutch art having been a "sort of photo-
graphy of their great seventeenth-century, of the people
and the things, the feelings and the habits, of all that was
going on at the time.“2
Hier ist die mimetische Wiedergabe gemeint, die die Gegenstände durch ein besonderes Beherrschen von techne realistisch zeigt. Das Medium Fotografie ermöglicht eine noch genauere Wiedergabe des Gesehenen. Das Stillleben hat in der zeitgenössischen Kunst die Gattungsgrenzen übersprungen und seine Potenziale auch jenseits der Malerei entfaltet.3 So stellt der Fotograf Wolfgang Tillmanns, der sich unter anderem dem Sujet Stillleben annimmt, den wiederkehrenden Anspruch, seine Werke sollten „nicht medienspezifisch, sondern wie Malerei betrachtet werden (...)“.4 Der Fokus dieser Bachelorarbeit liegt also auf dem Sujet Stillleben. Um die Symbolik im Stillleben von 2016 deuten zu können, bedarf es eines modernisierten, einheitlichen Kunstlexikons. Da dieses noch nicht existiert, stützt sich diese Bachelorarbeit auf die Definitionen in Hartmanns großem Kunstlexikon von 1965 und auf die bildtheoretischen Erörterungen in den Publikationen „Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei“ von Victor I. Stoichita von 1998 und „Stilleben. Das Übersehene in der Malerei.“ von Norman Bryson von 2003. Eine Überprüfung von Byströms Fotografie auf die Bedingungen Stoichitas, die er für ein Stillleben stellt, erfolgt innerhalb der Analyse des Werks. Meine These ist, dass die Metapikturalität in Byströms Stillleben ein neues Extremstadium erreicht hat. Da man das „Auftreten des Stillleben nur verstehen kann, wenn man die an seinem Anfang stehende Reflexion über die Darstellung selbst in Betracht zieht“5, beginnt die Arbeit mit der Geschichte der Geburt des Stilllebens, geht über zu seiner Reputation von damals und von heute, stellt eines der Stillleben aus dem Goldenen Zeitalter vor und ordnet zuletzt das Stillleben von Byström in die Tradition der transhistorischen Gattung, Stillleben, ein.
Das Stillleben zeigt leblose, alltägliche Gegenstände wie Lebensmittel, Blumenarrangements, Becher und Früchte – meist vermeintliche Überreste eines opulenten Mahls – in lebensechter Nachbildung. Wie die Gattungsbegriffe Historie, Landschaft und Genre, beschreibt der Gattungsbegriff Stillleben in erster Sinnschicht seinen Bildgegenstand. Es werden aber nicht „unbelebte Gegenstände, sondern lebende Dinge in Ruhe“ gezeigt.6 Seinen Ursprung als eigenständiges Bild hat das Stillleben in der Mitte des 17. Jahrhunderts und ist in den heutigen Niederlanden zu verorten. Auch etymologisch kommt es von dort: stilleven, stillstaand leven und stilligend leven.7 Der deutsche Künstler und Kunstschriftsteller Joachim von Sandrat schreibt 1675 in seiner „Teutschen Academie der Edlen Bau-, Bild-, und Mahlerey-Künste“ von „stillstehenden Sachen“.8 In Frankreich wurde ein Jahrhundert danach der Begriff „nature morte“ geprägt, welcher das missverständliche Paradoxon von „toter Natur“ aufwarf. Eberhard König liefert in seiner Abhandlung über das Stillleben von 1996 mehrere Definitionen, von denen die aus dem „Lexikon der Kunst“ die Umfassendste ist:
„[..] Als Stilleben bezeichnet man die bildhaft abgeschlossene Darstellung mehrerer kleinerer Gegenstände, deren Auswahl und Gruppierung nach inhaltlichen (oft symbolischen) und ästhetischen Gesichtspunkten erfolgte. Zuweilen beleben Insekten und kleinere Tiere das Bild, auch die Anwesenheit des Menschen ist möglich. Der Übergang zu Interieur, Tierstück und Genre ist mitunter fließend. Man unterscheidet nach den Gegenständen [...] Blumen-, Bücher-, Fisch-, Früchte-, Frühstücks-, Jagd-, Küchen-, Markt-, Masken-, Musikinstrumente- und Waffenstilleben, auch abstrakte Bilder tragen gelegentlich die Bezeichnung Stilleben.“9
Die Nennung von abstrakten Bildern, die die Bezeichnung Stillleben haben können, holt das Stillleben aus dem 17. Jahrhundert in die Epoche der Moderne, in der die Verformung der Gegenstände im Vordergrund stand und nicht ihre Symbolik. Es gibt verschiedene Arten von Stillleben. Sie sind am Bildgehalt zu erkennen und in der obigen Definition aus dem „Lexikon der Kunst“ aufgezählt sind. Bezeichnungen, wie „fruytagie“ (Früchtestück), „bancket“ oder „ontbijt“ (Bankett-, Frühstücksbild), kursierten vor der Geburt des Begriffs „Stillleben“.10 Bei dem berühmten Gemälde „Totes Rebhuhn mit Armbrustbolzen und Hentzen“ (1504) (Abb. 3) des venezianischen Malers Jacopo de’Barbari, der 1503/04 Hofmaler des Kurfürsten Friedrich III des Weisen von Sachsen war, handelt es sich beispielsweise um ein Jagdstück, da es ein erlegtes Rebhuhn als Jagdbeute zum Bildgegenstand hat. Das kleinformatige Gemälde (52 x 42,5 cm) gilt als das erste, eigenständige Stillleben, wobei es wohl als Verkleidung eines Jagdschrankes diente.11 An einem einzelnen Nagel an einer einfarbigen Holzwand hängen ein erlegtes Rebhuhn, ein Paar Eisenhandschuhe und ein kostbar verzierter Armbrustbolzen. Sowohl die illusionistische Art der in den Betrachterraum ragenden Jagdgegenstände, als die Eigenheit, dass Signatur und Jahresangabe auf einem gemalten Zettel als Teil des Bildes erscheinen, tragen zu einer Täuschung bei und führten dazu, dass die Betrachter von damals, für die diese Malweise eine absolute Neuheit war, versucht waren nach den Gegenständen zu greifen. Deshalb und weil Jacopo de’Barbari die Gegenstände in natürlicher Größe gemalt hat, sie also für echt gehalten werden konnten, ist dieses erste Stillleben ein Trompe l’oeil.12 Nach dem Kunstwissenschaftler Victor Stoichita ist das Trompe-l’oeil eine der drei Grundbedingungen, die das Stillleben konstituieren.13 Bis 1776 fehlte in Deutschland ein Begriff für diese neue pikturale Gattung. Erst spät hat sich der Begriff „Stillleben“ für die Benennung der Darstellung unbewegter Dinge, vornehmlich in der Malerei, herausgebildet. Vor Jacopo de‘ Barbaris Jagdstück, das durch seinen illusionistischen Charakter als Belustigung der Jagdgäste gedient haben mag14, existierten Stillleben nur als Teil von einem Gemälde. Zum Beispiel traten sie im Bildvordergrund als Rahmen oder Nische einer sakralen Szene auf. Die Nische bietet einen „begrenzten, dreidimensionalen Raum zum Aufstellen von Dingen“.15 Dieser bezieht sich aber immer auf die Darstellungsoberfläche und die Dinge darin lassen sich nur in Bezug auf das zentral Dargestellte definieren.16 Ein Beispiel für ein Gemälde, das mit einem vorgetäuschten pikturalen Rahmen (Nische, Wandvertiefung, etc.) versehen ist, ist „Christus wird ans Kreuz geschlagen“ von Nicolas Spierinc (Abb. 5). Gegenüber der illusionistisch gemalten Nische steht das Mittelbild mit der offenkundig sakralen Szene in einer ganz anderen Malweise und Tiefenwirkung. Hier ist auch gut zu sehen, dass der Rahmen Teil unserer Welt ist, das Bild aber eine Öffnung auf eine andere Wirklichkeit.17 Die beiden pikturalen Gattungen, das Stillleben und die Landschaft existieren hier nur als Beiwerke (parerga) der sakralen Szene, was zeigt, dass nur das religiöse Bild in der Mitte traditionell Gegenstand der Malerei war.18 Als Beispiel für ein Werk, das ein Extremstadion der metapikturalen Spannung bezeichnet, dient Pieter Aertsens „Christus bei Martha und Maria“ (Abb. 4), da darin eine Verschärfung der Verdoppelung von Bild und Bild-Beiwerk, sowie fanum und profanum vorliegt.19 Da das Stillleben, das neben anderen profanen Gegenständen von einem Schinken dominiert wird, hier fast die ganze Bildoberfläche für sich einnimmt und die religiöse Szene in die hintere linke Ecke gedrängt ist, ist der Schritt vom profanum zum fanum fast gemacht. Das gesamte Werk misst 60 x 101,5 cm, also sind die Gegenstände in natürlicher Größe dargestellt. Zu den Gegenständen gehören unter anderem der fast die ganze Bildfläche einnehmende, lebensgroße Schinken und ein Schränkchen, dessen Tür illusionistisch in den Bildrand ragt. Die profanen Gegenstände sind auf einem Tisch angeordnet, der parallel zum Bildrand verläuft und als Sprungbrett von unserer Welt in die Darstellung fungiert. Sowohl die Ausrichtung des Schinkens, der Verlauf der Fliesen auf dem Tisch, die Linien des Schränkchens als auch die der Tücherstapel, weisen auf die sakrale Szene in der hinteren, linken Bildhälfte hin. Die Aussage des religiösen Bildes bezieht sich auf den Gegensatz von vita activa und vita contemplativa, wobei die vordere Bildzone „natürlich“ zu ersterer Welt gehört.20 Das Stillleben, also das „profane Bild“ verdrängt die sakrale Szene jedoch nicht ganz. Es erfüllt auch nur zwei der drei Bedingungen, die Stoichita dem Vorkommen eines Trompe-l’oeils voraussetzt: Die Gegenstände sind zwar in ihrer natürlichen Größe gemalt und dringen illusionistisch in den Betrachterraum vor, aber sie sind noch nicht vollständig dargestellt.21 Die Emanzipation des Stilllebens als „Beiwerk“ ist von da an nicht genau bestimmbar. Stoichita zeigt als Beispiel für ein wirklich unabhängiges Stillleben ein aus dem XVII. Jahrhundert des deutschen Malers Georg Flegel (Abb. 6), auf dem einige der Gegenstände eines vermeintlichen Mahls illusionistisch über den Rahmen des Bildes ragen. Der Bildgegenstand ist autonom, hält aber an der „ästhetischen Grenze“ fest.22 Zusammenfassend für die Etappen, die das Stillleben bis zu seiner Autonomie durchlaufen hat, dient hier folgendes Zitat des deutschen Kurators und Kunsthistorikers Max J. Friedländer:
„Zuerst im Andachtsbilder die Aufgabe, tote Dinge als Attribute einzuführen… Sodann die willkommene Gelegenheit innerhalb des Kirchenbildes die schlummernde Lust am Stilleben zu wecken. Später, um die Mitte des 16. Jahrhunderts, so von Pieter Aertsen, wird der biblische Vorwurf zum Vorwand genommen, um Küchen oder Märkte darzustellen mit dreist in den Vordergrund gerückten Vegetabilien und Fleischstücken. Endlich, im 17. Jahrhundert, tritt das Stilleben auf, ohne sich zu entschuldigen, ohne sich zu verkleiden.“23
Neben den Stillleben, wie Jagd-, Küchen- oder Marktstück, die den Bildinhalt des Bildes benennen, tragen vielerlei Sondergattungen mit Symbolgehalt zur Artenvielfalt der Stillleben bei. So ist ein Stillleben, das einen menschlichen Totenschädel zeigt als Vanitas-Sinnbild einzuordnen, da der symbolische Sinn des Totenschädels, auch memento-mori -Symbol genannt, die Vergänglichkeit und der Tod ist und er vor „Sinneslust, Eitelkeit und dem Streben nach vergänglichen irdischen Gütern“ mahnt.24 Die vanitas ist nach Stoichita eine der drei Grundbedingungen, die ein Stillleben in jeweils divergierender Gewichtung konstituieren. Neben dieser „Vorstellung der „Eitelkeit“ der Dinge“25 würden die illusionistische Darstellung (das oben bereits erwähnte Trompe-l’oeil) und der metapikturale Charakter die anderen zwei Konstanten bilden.26 Anhand der Entwicklungsgeschichte des Stilllebens, das sich wortwörtlich aus der Nische des christlichen Bildes gelöst hat, ist der Ursprung des Symbolgehalts der dargestellten Objekte zu erkennen. Da diese Objekte bis zum 17. Jahrhundert immer nur in einer Einfassung einer sakralen Szene auftauchten, hatten sie traditionell einen symbolischen Bezug auf ebendiese. Die Objekte im Vordergrund verstärken oder „verdoppeln“ die Aussage der sakralen Szene im Mittelgrund.27 Norman Bryson schließt sich Stoichitas Auffassung an und spricht von „Zeichen in einem semantischen Raum“28, deren Analyse das Stillleben als Gattung lohnenswert macht. In diesem Zusammenhang war es Erwin Panofsky, der erstmals von einem „versteckten Symbolismus“29 sprach. So symbolisieren zum Beispiel Trauben, Birnen und Äpfel in Obststillleben seiner Deutung nach, das Blut Christi.30 Im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert seien die religiösen Deutungen von einer humanistischen Sicht verdrängt worden, sodass den Stillleben eher ein moralisierender Charakter nachgesagt wurde.31 Neben der ikonographischen Analyse der Bilder, diente vermehrt eine weitergehende ikonologische Analyse zur Entschlüsselung von Symbolbedeutungen.32 Eddy de Jongh knüpfte an den von Panofsky für die Altniederländische Malerei eingeführten Begriff des „versteckten Symbolismus“ („disguised symbolism“) an und sah die Notwendigkeit die Sinnschichten, die sich hinter der Wirklichkeitsdarstellung verbargen mithilfe der Emblembücher zu entschlüsseln.33 Neben der reinen Form ist für die Interpretation der einzelnen Sinnschichten wichtig, in welchem gesellschaftlichen Kontext sie entstanden sind, die Art der Darstellung, der Stil und die Rezeption. Aufgrund der Beobachtung eines grundsätzlichen Wandels in der Bildsprache von einer allegorischen zu einer realistischen in der Kunst der Niederlande gegen Ende des 16. Jahrhunderts und Anfang des 17. Jahrhunderts, fällt oft das Schlagwort „Realismus“ bei der Beschreibung von Gemälden dieser Zeit.34 Um die Objekte im Gemälde realistisch und wirklichkeitsgetreu wiedergeben zu können, hat der Künstler in seinem Atelier einen Tisch so gedeckt, dass er die Lichtreflexe und Schatten der Tafelgeräte präzise darstellen konnte.35 Da die Objekte im Stillleben lebensgroß dargestellt sind und täuschend echt aussehen, scheint „Wirklichkeit“ dort am deutlichsten eingefangen.36 Es steht dennoch außer Zweifel, dass die gezeigte „Bildwirklichkeit“ immer eine inszenierte ist. Im 19. Jahrhundert wandelte sich die Auslegung der Dinge und ihrer Wirklichkeit zu einer subjektiven. Cézanne ging beispielsweise fast formalistisch an sein Werk und war auf der Suche nach dem Wesentlichen in den Dingen. In seinen Stillleben sind einfache Dinge, ohne oberflächlich schönen Schein, zu sehen. Picasso hat reale Dinge, wie Zeitungsausschnitte, Sand und Sägespäne zu Collagen zusammengefügt, in denen die Dinge sie an Stelle ihrer Erscheinung emblemhaft bezeichneten.37 Insgesamt ist seit dem 19. Jahrhundert, ausgehend vom Kubismus, eine Formbefreiung in der Stilllebenmalerei zu beobachten. Der Künstler malt die von ihm inszenierten Dinge, die ihm so entschieden unterworfen sind wie kein anderes Sujet, und verformt diese dann beim Abmalen.38 Dabei haben die dargestellten Gegenstände keinerlei Symbolik mehr, sondern allein ihre Form und Verformung stehen im Fokus des Malers und des Rezipienten. Die Arbeit des Stilllebenmalers erfolgt also immer noch nach dem Konzept der imitatio, dem wird jedoch durch Möglichkeiten der Entfremdung und Kolorierung der Dinge unendlich viel Kreativität an die Seite gestellt, sodass ein gewisser Teil der inventio in den Malprozess des Stilllebenmalers des 19. Jahrhunderts einfließt. Zwar standen die Dinge nicht mehr stellvertretend für eine moralisch aufgeladene Nachricht, jedoch war es für die Interpretation der Wirklichkeit der Dinge wichtig zu wissen, wie das Objekt gesehen wurde. Dem banalen alltäglichen Objekt wurde durch seine Herauslösung aus seinem üblichen Umfeld und Kontext ein besonderer Realitätsgrad beigemessen. Dies machte der Dadaist Marcel Duchamp am radikalsten mit seinen ready mades, die auch als „Natura Morta“ bezeichnet werden können, da die Gegenstände nicht beseelt, still liegend oder stehend sind. Allein durch die Auswahl des Objekts durch den Künstler werden sie zu Kunstwerken erhoben, wobei auf „emotionale Sinnlichkeit“ verzichtet wird und nur die „harte kalte Dinglichkeit“ des Objekts dem Betrachter geboten wird.39 Seinen nächsten Entwicklungsschritt erfährt das Stillleben in der Pop Art. Dort werden die alltäglichen Fundobjekte mit lauter und bunter Bildsprache zum Kunstwerk erhoben. Der ästhetische Reiz banaler, ansonsten nur nach ihrem Gebrauchswert beurteilter Konsumgüter nimmt wie bei Warhols Brillo-Kartons wieder zu. Nicht mehr Dinge aus der Natur, sondern überwiegend „mechanische Dinge, standardisierte Konsumgüter, Artefakte unserer technischen Zivilisation“ sind dargestellt.40 In hohem Maße ist bei den Stillleben aus dem 20. Jahrhundert die Vergänglichkeit der künstlich hergestellten Dinge thematisiert, da sich diese und ihr Wert ständig ändern. Da es sich nicht wie bei einem niederländischen Blumenstillleben aus dem 17. Jahrhundert um Blumen handelt, die vergänglich sind, sondern um künstliche, ebenso unbeseelte Objekte, geht es im 20. Jahrhundert um eine andere Art von Vergänglichkeit. Eher ist hier eine Auswechselbarkeit thematisiert, die durch die Massenproduktion von Konsumgütern einen Werteverlust mit sich bringt. Der Pop Art-Künstler setzt diese Veränderung der Dingwelt und das stete Aufkommen neuer Objekte in ästhetische, bunte, bewusstseinserweiternde Motive um, in denen Illusion und Realitätsanspruch miteinander ringen.41 Einer dieser Pop Art-Künstler ist Claes Oldenburg, der in seinem plastischen Stillleben „Restaurant-Objekte, Geistermahl“ (Abb. 9) durch deformierte und zerstörte Gegenstände auf das Vergängliche des Konsumgutes und derer, die es genießen, hinweist.42 Ein Pop Art-Künstler, der die Vergänglichkeit des Genusses durch mit Ölfarbe gemalte Torten thematisiert, ist Wayne Thiebaud. Sein Stillleben „Kuchentheke“ (Abb. 10) von 1963 soll Begehren wecken und hält den kurzlebigen Moment der Schönheit der Kuchen vor dem Verzehr, also vor der Vergänglichkeit, fest.43 Ein weiteres Beispiel für ein Stillleben im 20. Jahrhundert bietet Roy Lichtenstein, einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Pop Art, der mit seinem „Stillleben mit Netz, Muschel und Tau“ (Abb. 11) den Blick auf den ästhetischen Reiz banaler Gebrauchsgegenstände lenkt. Dieses ist ein Bild eines Bildes, da er sein Motiv im Gedruckten, in Comicheften oder in der Reproduktion von Kunst findet und dieses dann durch die Rastertechnik neu auflegt. So wird bei Lichtenstein selbst das Bild zum Gegenstand. Die kritische Auseinandersetzung mit den Dingen, die „unsere zeitgenössische visuelle Überreizung“44 nur noch schwer wahrnehmen lässt, verdeutlicht er so. Das Motiv in „Stillleben mit Netz, Muschel und Tau“ ist fiktiv, jedoch den flämisch-niederländischen Stillleben aus dem 17. Jahrhundert entlehnt, da er deren Aufbau und Ikonographie übernimmt. Dadurch dass Lichtenstein das Motiv der Stilllebenmalerei aus dem 17. Jahrhundert reproduziert, kommerzialisiert er das Kunstwerk und erhebt „,Nicht-Kunst‘ (Comics, Reklame-Designs) zu Kunst“.45 Als Beispiel für eine Stillleben-Fotografie aus dem 20. Jahrhundert, die ein Konsumgut samt Markenaufdruck zeigt, sei Richard Hamiltons „Stilleben“ [sic] von 1965 (Abb. 12) genannt. Es wirkt wie ein großformatiger Ausschnitt eines Tafelbildes, das einen Toaster der Marke „Braun“ (hier: Brown) neben zwei Sektgläsern zeigt. Durch das große Format und das weiche Licht wird dem Betrachter der Eindruck eines Werbefotos suggeriert, auf dem begehrlich schöne Güter locken. Mit diesem Kunstwerk macht Hamilton auf das von der Werbung übernommene stilllebenhafte Arrangement aufmerksam, das ihn für sein Motiv inspirierte. Es lässt sich in diesem „modernen Stillleben“ eine versteckte Sinnschicht hinter der ersten entdecken, mit der Absicht zum lebensverschönernden, konsumierenden Genießen aufzufordern. Gleichzeitig wird das Vergängliche dieser auf Verschleiß getrimmten Konsumobjekte dargestellt.46 In dieser Natura morta ist also zum Einen der bewusstseinserweiternde Effekt der Pop Art zu sehen, bei dem ein Konsumgut in einen anderen Kontext gestellt wird und damit unser gewohntes Bewusstseinsdämmern durchbricht, sowie der Versuch gemacht wird, die Wirklichkeit, die uns die Werbung aufzwingt mit unserer eigenen Wirklichkeit zu ersetzen. Von den gezeigten Werken in der Ausstellung „Objects of Desire. The Modern Still Life“ des Museum of Modern Art in New York 1997 ausgehend, sollen diejenigen Objekte zum Stillleben gerechnet werden, die als Kopien realer Objekte ge- oder bemalt oder als Skulpturen hergestellt wurden, weil sie die „Grenze zwischen Realität und Fiktion markieren und provozieren“.47 Die gezeigten Kunstwerke verknüpften die „Sehnsucht nach dem Echten“ mit dem Thema der Konsumkultur.48 Über die zeitgenössischen Adaptionen des Stilllebens ist zu sagen, dass ihnen ein besonderes analytisches Potenzial zukommt, weil im 21. Jahrhundert sowohl Objekt als auch Objektivität als historische und kulturelle Konstruktionen entlarvt sind. Man hat es also nicht allein mit einem kunsthistorischen Wiederaufleben einer altbekannten Gattung zu tun, sondern mit Werken, die Dinge des Alltags und der Natur im Hinblick auf ihre Wirklichkeit und auf ihre Verbildlichung hin thematisieren.49 Die Werbeindustrie und Modefotografie trägt ihren Teil zu der Entwicklung des Stilllebens im 21. Jahrhundert bei, indem sie Sujets und Kompositionen von Künstlern übernimmt. Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz und Fragen nach wahrer Kunst werden laut. Seit der prozesshaften Geburt des Stilllebens ist das Sujet in allen möglichen Ausführungen und mit verschiedenen Schwerpunkten und zu verschiedenen Zeiten visualisiert worden. Nicht linear, sondern monokausal ändern sich mit jedem Neuzugang die Grenzen der Gattung. Norman Bryson stellt heraus: „Das Stilleben stellt nicht nur eine Kategorie der Rezeption und der Kritik, sondern auch der historischen Produktion von Bildern dar.“50
[...]
1 Gockel, Bettina: Einleitung. In: Gockel, Bettina (Hrsg.): Vom Objekt zum Bild. Pikorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600-2000., Berlin: Akademie Verlag, 2011. S. 11.
2 Thoré-Bürger, Theophilé. In: Hecht, Peter: The Debate on Symbol and Meaning in Dutch Seventeenth-Century Art: An Appeal to Common Sense. In: Simiolus. Netherlands quarterly for the history of art, Vol. 16, No. 2/3, Universität Utrecht: Stichting Nederlandse Kunsthistorische Publicaties, 1986, S. 175. URL: <https://www.jstor.org/stable/3780637?origin=JSTOR-pdf&seq=3#metadata_info_tab_contents> (17.09.2018, 18:20 Uhr).
3 Vgl. Gockel, Bettina: Im Zeichen der Kunst. Zeitgenössische Stillleben von Anne Katrine Dolven, Wolfgang Tillmans, Karin Kneffel. In: Gockel, Bettina (Hrsg.): Vom Objekt zum Bild. Pikorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600-2000., Berlin: Akademie Verlag, 2011. S. 245.
4 Ebd., S. 293.
5 Stoichita, Victor I.: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München: Wilhelm Fink Verlag, 1998, S. 44.
6 König, Eberhard und Schön, Christiane (Hrsg.): Stilleben. Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 1996, S. 19.
7 Ebd.
8 Bergström, Ingvar: Dutch Still-life Painting in the Seventeenth Century. London/New York 1956, S. 4.
9 Ebd.
10 Schneider, Norbert: Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit. Benedikt Taschen Verlag, Köln, 1989, S. 7
11 Krén, Emil und Marx, Daniel: Still-Life with Partridge and Gauntlet [1996], URL: < https://www.wga.hu/html_m/b/barbari/stillife.html> (20.06.2018, 21:12 Uhr)
12 König, Eberhard und Schön, Christiane (Hrsg.): Stilleben. Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 1996, S. 17.
13 Stoichita, Victor I.: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München: Wilhelm Fink Verlag, 1998, S. 32.
14 Krén, Emil und Marx, Daniel: Still-Life with Partridge and Gauntlet [1996], URL: < https://www.wga.hu/html_m/b/barbari/stillife.html> (23.07.2018, 17:35 Uhr)
15 Stoichita, Victor I.: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München: Wilhelm Fink Verlag, 1998, S. 33.
16 Vgl. Ebd.
17 Ebd.
18 Vgl. Ebd.
19 Vgl. Ebd.
20 Michalski, Sergiusz: Fleisch und Geist: Zur Bildsymbolik bei Pieter Aertsen Artibus Et Historiae, vol. 22, no. 44, 2001, S. 173. URL: <www.jstor.org/stable/1483718> (Letzter Zugriff: 03.08.2018, 01:02 Uhr).
21 Stoichita, Victor I.: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München: Wilhelm Fink Verlag, 1998, S. 39.
22 Ebd., S. 42.
23 Michalski, Sergiusz. “Fleisch Und Geist: Zur Bildsymbolik Bei Pieter Aertsen.” Artibus Et Historiae, 2001, S. 171. URL: <www.jstor.org/stable/1483718> (Letzter Zugriff: 03.07.2018, 01:21 Uhr)
24 Hartmann, Peter W.: Das grosse Kunstlexikon von P.W. Hartmann. Leobersdorf: Stiepan 1996, URL: < http://www.beyars.com/kunstlexikon/lexikon_8834.html> (10.09.2018, 20:25 Uhr)
25 Vgl. Stoichita, Victor I.: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München: Wilhelm Fink Verlag, 1998, S.33.
26 Ebd., S. 32/33.
27 Vgl. Ebd., S. 39.
28 Bryson, Norman: Stilleben. Das Übersehene in der Malerei. Aus dem Engl. von Spelsberg, Christiane, München: Wilhelm Fink Verlag, 2003, S. 10.
29 Panofsky, Erwin: Early Netherlandish Painting. Its Origins and Character. Cambridge/ Mass. 1953, Vol. I, S. 131 ff.
30 Vgl. Schneider, Norbert: Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit. Benedikt Taschen Verlag, Köln, 1989, S. 17.
31 Vgl. Ebd.
32 Beckmann, Inke: Geflügel, Austern und Zitronen: Lebensmittel in Kunst und Kultur der Niederlande des 17. Jahrhunderts. Darmstadt: Wiss. Buchges., 2014, S. 13.
33 Ebd.
34 Vgl. Jongh, Eddy de: Angenehme Täuschung und angenehmes Dunkel. Ausstellungskatalog Schein oder Wirklichkeit. Realismus in der Niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Emden, Ostfriesisches Landesmuseum, Bremen 2010, S. 15.
35 Vgl. Filipczak, Zirka Zaremba: A new studio practice of Claesz. And Heda. Composing with real objects. Shop Talk. Studies in honor of Seymour Slive presented on his seventy-fifth birthday, Cambridge/Mass. 1995, S. 71 f.
36 Vgl. König, Eberhard und Schön, Christiane (Hrsg.): Stilleben. Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 1996, S. 30.
37 Bott, Gerhard (Hrsg.): Stilleben – Natura Morta (Ausst. Kat.). Verlagshaus Wienand, Köln, 1980, S. 81.
38 König, Eberhard und Schön, Christiane (Hrsg.): Stilleben. Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 1996, S. 74.
39 Vgl. Bott, Gerhard (Hrsg.): Stilleben – Natura Morta (Ausst. Kat.). Verlagshaus Wienand, Köln, 1980, S. 82.
40 Vgl. Ebd.
41 Vgl. Ebd.
42 Vgl. Ebd., S. 94.
43 Vgl. Ebd., S. 95.
44 Vgl. Ebd.
45 Ebd.
46 Vgl. Ebd., S. 93.
47 Gockel, Bettina: Im Zeichen der Kunst. Zeitgenössische Stillleben von Anne Katrine Dolven, Wolfgang Tillmans, Karin Kneffel. In: Gockel, Bettina (Hrsg.): Vom Objekt zum Bild. Pikorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600-2000., Berlin: Akademie Verlag, 2011. S. 266.
48 Vgl. Ebd., S. 268.
49 Vgl. Ebd., S. 269.
50 Bryson, Norman: Stilleben. Das Übersehene in der Malerei. Aus dem Engl. von Spelsberg, Christiane, München: Wilhelm Fink Verlag, 2003, S. 11.
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