Fachbuch, 2019
51 Seiten
1 Einleitung
2 Merkmale der modernen westlichen Gesellschaft
2.1 Leistungsfähigkeit, Erfolg und Selbstoptimierung als Credo der modernen Bevölkerung
2.2 Die Entzauberung der Welt – Rationalisierung, Säkularisierung und Gefühllosigkeit
2.3 Individualisierung als zentraler Trend in der modernen Gesellschaft
3 Tod und Sterben in der modernen Gesellschaft
3.1 Der Wandel des Todes- und Sterbeverständnisses
3.2 Die neue Sichtbarkeit des Todes
4 Trauer in der modernen Gesellschaft
4.1 Der natürliche Umgang mit Trauer
4.2 Gesellschaftliche Faktoren, die einen natürlichen Umgang mit Trauer erschweren
4.3 Unterdrückte Trauer und ihre Folgen
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Während eines Praktikums in einem österreichischen Kinderhospiz fragte mich ein vierjähriger Junge, dessen großer Bruder aufgrund einer angeborenen Behinderung im Sterben lag, ob Weinen etwas Böses sei. Ich fragte ihn, wie er denn auf diesen Gedanken komme und er antwortete: „Immer wenn ich im Kindergarten weinen muss, weil Frederik stirbt, tröstet Sabine mich und sagt mir, dass ich tapfer sein muss und nicht weinen soll“. Dieser Satz des kleinen Jungen, der schon in seinem jungen Alter erfahren musste, dass die moderne westliche Gesellschaft nur wenig Verständnis für die Trauer und das Zeigen damit einhergehender Gefühle aufweist, stimmte mich sehr nachdenklich und wurde zum Anlass dieser Bachelorarbeit.
Als ich mich im Rahmen dieses Praktikums näher mit dem Tod, dem Sterben und der Trauer auseinandersetzte, wurde mir bewusst, welch großen Teil unseres Lebens diese Themen einnehmen und wie wenig dennoch darüber gesprochen wird. Der Tod, so lautet eine weitverbreitete These, werde in unserer Gesellschaft verdrängt. Dass anonyme Bestattungen immer beliebter werden und heutzutage hauptsächlich in Institutionen wie dem Krankenhaus oder Pflegeheim gestorben wird, erscheint logisch. Warum auch sollte man seine kostbare Lebenszeit mit Gedanken an den Tod und das Sterben verschwenden, wenn man doch das Glück hat, in einer vom Fortschritt geprägten Spaßgesellschaft, in der negative Gefühle keinen Platz haben, zu leben? Sogyal Rinpoche, der Gründer der buddhistischen Gemeinschaft Rigpa, hat vielleicht die Antwort auf diese Frage: Indem wir im Bewusstsein der Vergänglichkeit und Sterblichkeit leben, lernen wir „unser Leben nicht zu verschwenden. Wir gewinnen eine ungeahnte Freiheit, Gelassenheit und Frieden. Wir lernen Prioritäten zu setzen und ‚verlieren‘ keine Zeit“ (zitiert nach Gudjons, 1996, S. 11).
Wie wohltuend es sein kann über den Tod und das Sterben sprechen zu dürfen, konnte ich während meines Praktikums im Kinderhospiz erleben. Den Betroffenen, den Eltern und Geschwistern sowie weiteren Familienmitgliedern wurde hier ein geschützter Rahmen geboten, in dem es möglich war, die individuelle Trauer und die mit ihr einhergehenden Gefühle und Reaktionen offen zu zeigen. Immer wieder berichteten Betroffene, dass sie diese Möglichkeit des freien Auslebens ihrer individuellen Trauer sowie die akzeptierende und anerkennende Haltung des Hospizteams sehr wertschätzen, woraufhin sich mir die Frage stellte, ob und vor allem warum ihnen diese Möglichkeit in ihrem „realen“ Leben verwehrt bleibt.
Ausgehend von diesen Überlegungen wurde die Frage „Erlaubt die moderne Gesellschaft einen natürlichen Umgang mit Trauer“ zur Leitfrage meiner Bachelorarbeit, welche ich im Folgenden bestmöglichst beantworten möchte. Dazu werden zunächst einige typische Merkmale der westlichen Welt beschrieben, um unsere moderne Gesellschaft ein Stück weit charakterisieren zu können. Anschließend werde ich mich mit dem Thema Tod und Sterben in der modernen Gesellschaft und insbesondere mit den Fragen, wie sich das Todes- und Sterbeverständnis von der Antike bis zur heutigen Zeit gewandelt hat, wie die moderne Gesellschaft mit diesen Themen umgeht und ob die These, der Tod werde heutzutage verdrängt, tatsächlich noch haltbar ist, beschäftigen. Das 4. Kapitel schließlich, das Hauptkapitel dieser Arbeit, handelt von der Trauer in der modernen Gesellschaft, wobei ein besonderes Augenmerk auf die gesellschaftlichen Faktoren, die einen natürlichen Umgang mit Trauer erschweren, gelegt wird.
Ziel dieser Arbeit ist es, die Frage, ob die moderne Gesellschaft einen natürlichen Umgang mit Trauer erlaubt, zu beantworten. Da die Arbeit zu einem besseren Verständnis und einer Sensibilisierung für das Thema Trauer führen soll, werde ich mich verstärkt auf die Probleme, mit denen Trauernde in unserer Gesellschaft konfrontiert werden, konzentrieren. Positiv zu interpretierende Merkmale unserer Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Trauer und Trauernden werden dabei aufgrund des beschränkten Rahmens dieser Arbeit nur in geringem Maße beleuchtet.
Die Frage, was unsere moderne westliche Gesellschaft auszeichnet, ist nicht einfach zu beantworten. Während sich traditionelle Gesellschaften relativ einfach über ihr politisches Modell oder ihre religiöse Überzeugung charakterisieren lassen, lässt sich die aktuelle Gesellschaft wohl am besten mit dem Wort „Komplexität“ beschreiben. In ihr ist kaum noch eine übergeordnete Einheit bestimmen, sie ist dagegen in verschiedene Untersysteme, wie beispielsweise Politik, Recht, Bildung, Ökonomie usw. ausdifferenziert (Kervégan, 2014). Nach Ansicht des britischen Soziologen Anthony Giddens (1995) leben wir in einer Gesellschaft, die von zwei besonders mächtigen Institutionen der Moderne gekennzeichnet ist: Die Existenz eines industriell-kapitalistischen Marktes sowie der Einfluss von Wissenschaft, Technologie und Demokratie. Der Begriff der „modernen Gesellschaft“ begründet sich auf einer Abgrenzung von traditionellen Gesellschaften und wird eng mit der Durchsetzung eines vernunftbestimmten, rationalen Handelns sowie mit Prozessen der Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung verbunden.
Theoretiker1, die sich mit der Frage nach den Merkmalen der modernen westlichen Gesellschaft auseinandersetzen, sind sich einig, dass unsere Gesellschaft ein Produkt vieler miteinander verwobener politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Umwandlungsprozesse ist (Pauli, 2014). Aufgrund der Komplexität unterschiedlicher bestehender Theorien, deren ausführliche Beschreibung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, werde ich im Folgenden lediglich einige bekannte Merkmale der modernen westlichen Gesellschaft, die im Zusammenhang mit dem Thema „Trauer, Tod und Sterben“ stehen, kurz erläutern.
Nach Giddens (1995) ist das Hauptmerkmal, das die Gegenwartsgesellschaft von den Gesellschaften früherer Zeiten unterscheidet, die beschleunigte Geschwindigkeit, welche ihren Ursprung im Zeitalter der Industrialisierung hat und durch die digitale Revolution sowie durch die Globalisierung verstärkt wurde. Im Zuge dieser kam es zu einer ersten Phase nationaler und internationaler Konkurrenz, wodurch Arbeitsprozesse verstärkt unter dem Gesichtspunkt maximaler Effizienz evaluiert wurden und die Idee von individueller Leistungskraft einen enormen Aufschwung erhielt. Dieser Trend zeigte sich besonders deutlich in der Entwicklung verschiedener Leistungstests zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So wurde in dieser Zeit der erste Intelligenztest entwickelt, durch Berufseinstellungstests wurden die geeignetsten Bewerber ausgewählt und in den Schulen gab es die ersten standardisierten Prüfungen, wodurch die individuelle Leistungskraft auf einmal objektiv festgestellt werden kann und in Form von Zeugnissen festgeschrieben wird. In Folge dieser Leistungsbewertung ist seither eine Unterteilung in Gewinner und Verlierer, also in jene, die den Test bestehen und jene, die unterliegen, möglich, wodurch das Leistungsprinzip als Erfolgsnorm hochgehalten wird, Erfolg sich zu einer Kategorie ökonomischer und gesellschaftlicher Statusverteilung entwickelt und nur derjenige, dem es gelingt, seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern, als erfolgreich angesehen wird (Leitner, 2012).
Um in dieser von Wettbewerb geprägten Leistungsgesellschaft bestehen zu können, lautet das Credo der modernen arbeitenden Bevölkerung „Selbstoptimierung“, welche über herausragende Noten und einen ausgeschmückten Lebenslauf erreicht werden kann. Selbstoptimierung ist zudem als Antwort auf die zunehmend wahrgenommene Unsicherheit in der Gegenwart zu verstehen, die in der Arbeitswelt durch befristete Verträge und im Alltag unter anderem durch Flüchtlingsfragen oder durch Finanzkrisen entsteht. Die drei Elemente Beschleunigung, Unsicherheit und Selbstoptimierung charakterisieren Feitsch (2016) zufolge das Leben in der modernen Leistungsgesellschaft und gehen einher mit Dauerstress, Erschöpfung und wahrgenommener Überforderung.
Im Jahr 1917 entwickelte der Soziologe Max Weber das Konzept der „Entzauberung der Welt“, welches den Sieg der Rationalisierung und Intellektualisierung über „das Vormoderne, die Welt des Mystischen, der Dämonen, Hexen und Magie“ (Klatt, 2017, S. 1) beschreibt. Diese zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung, wie wir sie besonders deutlich seit dem Zeitalter der Aufklärung erleben, bedeutet das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt (Weber, 1992, S. 87).
Durch diese Rationalisierung und Entzauberung der Gesellschaften der westlichen Zivilisation ergab sich auch jener Prozess der Säkularisierung (Verweltlichung), der den allmählichen Bedeutungsverlust und das langfristige Verschwinden von Religion, vom christlichen Glauben und von der Kirche bezeichnet. Die christliche Religion hat also ihre Rolle als „Deuter von Wahrheit und Stifter von Glauben und Werten verloren […], das christliche Heilsversprechen ist für viele unverständlich und belanglos geworden […] [und] wissenschaftliches Wissen [erklärt] nun der Welt den Tod, dessen Unvermeidlichkeit und Endgültigkeit eingeschlossen – und veranlasst damit zu einem pragmatischen Umgang“ (Thieme, 2018, S. 70 f.). Neben einem durch die Rationalisierung begründeten Glaubensverlust und einer Entwertung christlicher Traditionen, legte die Rationalisierung außerdem die Grundlage für die heutige kapitalistische Gesellschaftsform, die die Menschheit mit überwältigendem Zwang bestimmt und sie zum Funktionieren zwingt, was über das Ausschalten von Gefühlen und Emotionen bekanntlich am besten erreicht wird. Die moderne westliche Gesellschaft hat sich, um es mit den Worten von Max Weber (2006) auszudrücken, zu einer Gesellschaft, bestehend aus „Fachmenschen ohne Geist [und] Genußmenschen ohne Herz“ (Weber, 2006, S. 177 f.) entwickelt, die sich einbilden, „eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben“ (Ebd., S. 178).
Unter Individualisierung versteht man einen „Veränderungsprozess, in dessen Verlauf sich bei einer wachsenden Zahl von Menschen institutionelle Bindungen aufgelockert haben und sich zugleich eine verstärkte Ausrichtung des Denkens und Handelns an der eigenen Person und Lebensgestaltung ergeben hat“ (Hillmann, 2007, S. 363). Im Zuge der Individualisierung wurden überkommene Traditionen und Gewissheiten infrage gestellt, gesellschaftliche Normen und Werte wurden überdacht und die Gestaltung von Lebensentwürfen liegt seither in den Händen des Individuums, wodurch sich ein Mensch als selbstbestimmtes, autonomes Subjekt erfahren und sich aus eigenem Willen für eine Identität entscheiden kann. Zurückzuführen ist der Prozess der Individualisierung vor allem auf drei Entwicklungen, die sich in den 1960er-Jahren vollzogen haben: Die bis in die 1980er-Jahre anhaltende Wohlstandssteigerung, dank der sich alle kontinuierlich ein bisschen mehr leisten konnten, die Verkürzung der Arbeitszeit, die den erwerbstätigen Gesellschaftsmitgliedern mehr Freizeit bescherte sowie die Steigerung des Bildungsniveaus, die immer mehr Menschen die Chance des sozialen Aufstiegs bot (Hillmann, 2007). Der Individualisierungsprozess ging zwar mit vielen Gewinnen und Vorteilen für das Individuum einher, jedoch sind auch die unübersehbaren Schattenseiten der Individualisierung nicht zu vernachlässigen. Diese betont beispielsweise der Psychologe und Autor Ernst-Dieter Lantermann (2016) und stellt in seinem Buch „Die radikalisierte Gesellschaft“ fest, dass mit der wachsenden Eigenverantwortung zwangsläufig auch das Lebensrisiko steigt, da jeder Zugewinn an individuellen Freiheiten mit einem Zuwachs an Ungewissheiten und Unsicherheiten der Lebensführung einhergeht und Individuen sich in Ausnahmesituationen, wie beispielsweise nach dem Tod nahestehender Personen, von der Gesellschaft im Stich und alleingelassen fühlen.
Der moderne Tod hat nichts, das ihm Transzendenz verleiht oder sich auf andere Werte bezieht. […] In einer Welt der Tatsachen ist der Tod nur eine Tatsache mehr. Da er aber eine unangenehme Tatsache ist, […] versucht die ‚Philosophie des Fortschritts‘ […] seine Existenz hinwegzuzaubern (Paz, 1998, S. 62).
In unserer modernen, aufgeklärten und naturwissenschaftlich orientierten Welt, die nach den Idealen der Jugendlichkeit, Gesundheit und Leistungsfähigkeit strebt, ist für das Thema „Tod und Sterben“ kein Platz mehr. Die Angst vor der eigenen Sterblichkeit und die Angst davor, nahestehende Personen zu verlieren, führt dazu, dass diese Themen aus der Gesellschaft verdrängt werden. Aufgrund moderner Entwicklungen wie Medikalisierung, Ökonomisierung und Institutionalisierung, findet Sterben heutzutage hauptsächlich in abgeschirmten Räumen statt und Todes- und Trauerrituale geraten immer mehr in Vergessenheit. Obwohl jeder Mensch im Laufe seines Lebens mit den Themen Sterben, Tod und Trauer konfrontiert sein wird, der Tod also ständiger Begleiter des Lebens ist, wird er zumindest in den westlichen Industriegesellschaften kaum wahrgenommen, geleugnet oder verdrängt.
Im Gegensatz zu der modernen westlichen Gesellschaft, die den Tod weitestgehend verdrängt, war der Tod in den Zeiten vor unserer Zeit Teil des Lebens, „er wurde angenommen oder abgelehnt, als Zeremonie begangen oder bitter beklagt“ (Winau, 2015, S. 4). Der französische Historiker Phillippe Ariés hat sich in seinen Büchern „Studien zur Geschichte des Todes im Abendland“ (1976) und „Geschichte des Todes“ (2009) mit der Frage befasst, wie Generationen vor uns mit Tod und Sterben umgegangen sind. Aufgrund seiner Nachforschungen unterschied er fünf epochale Einstellungen zum Tod: Der gezähmte Tod, der eigene Tod, der lange und nahe Tod, der Tod des Anderen und der ins Gegenteil verkehrte Tod. Dabei betrachtet er vier Kriterien - das Bewusstsein, das der Mensch von sich selbst hat, die Strategien der Gesellschaft, sich gegen die wilde Natur zu verteidigen, der Glaube an ein Leben nach dem Tod und der Glaube an die Existenz des Bösen - für die Wandlung des Bezugs zum Tod als entscheidend.
Von der Antike bis ins frühe Mittelalter bestimmte eine vertraute Einstellung zum Tod den Umgang mit diesem. Der Tod war als menschliches Schicksal Teil des Lebens, organisiert und öffentlich inszeniert. Er wurde sowohl vom Sterbenden als auch von der Gemeinschaft als furchtbare Notwendigkeit hingenommen, dem durch den fest verankerten Glauben an die Erbsünde und dem Glauben an die Wiederauferstehung ein Sinn verliehen wurde. Ariés selbst beschreibt diese Einstellung der damaligen Menschheit, für die der Tod vertraut, nahe und abgeschwächt war, als „schroffen Gegensatz zur unsrigen, bei der der Tod uns Angst einflößt, bis zu dem Grade, daß wir nicht mehr wagen, ihn beim Namen zu nennen“ (1976, S. 25).
Zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert trat nach Ariés (1976) der eigene Tod in den Fokus der Aufmerksamkeit. Mit Entstehung einer neuen Gesellschaftsstruktur nach der Bevölkerungszunahme, der Stadtkultur als neue Lebensform und der damit einhergehenden Individualisierung, wurde dem Tod allmählich ein dramatischer und persönlicher Sinn verliehen. Es entstand ein neues Selbstbewusstsein, der Glaube an eine gemeinschaftliche Auferstehung rückte in den Hintergrund und durch die Einführung der Beichte in der Kirche und der damit einhergehenden Verinnerlichung der Frömmigkeit galt das eigene Leben nicht mehr als vorherbestimmt, sondern das Schicksal oblag nun in hohem Maße der eigenen moralischen Verantwortung. Ganz nach dem Motto: „Wer nicht genug Gutes getan hat […], der wird verdammt sein“ (Baur, 2005, S. 304) wurde das „Konzept einer göttlichen Bilanz entwickelt, die nach dem Tod eines jeden einzelnen erstellt wurde […] und damit war der Gedanke an den Tod nicht mehr von einem Gefühl der Ruhe und des Friedens begleitet, sondern von Ängsten“ (Lehners, 2005, S. 29).
Ein erneuter Wandel des Todesbildes vollzog sich ab dem 16. Jahrhundert. Im Unterschied zum „Modell des eigenen Todes“, ist der Augenblick des Todes nun weniger wichtig und der Wert des Lebens entscheidet sich nicht erst in drohender Todesnähe, sondern vielmehr ist das ganze Leben eine Vorbereitung auf den Tod. Die folgende Epoche der Aufklärung war geprägt von Vernunft, rationalem Denken und Wissenschaft, was sich auch im Umgang mit Tod und Sterben zeigte: Der tote Körper wurde zum Gegenstand der Wissenschaft, Vorahnungen des nahenden Todes wurden als Wahnvorstellungen eines Kranken abgetan und es begann eine „Entthronung und Desakralisierung des Todes“ (Ariés, 2009, S. 394). In diesen Entwicklungen und in den Versuchen, das Sterben durch Fortschrittsglauben zu zähmen, sieht Ariés die Ursprünge der Angst vor dem Tod. Man begegnete dem Tod folglich mit Zurückhaltung und scheinbarer Gleichgültigkeit, Begräbnisse nahmen einfachere Formen an und die Trauer wurde nicht mehr zur Effektentlastung eingesetzt, sondern spielte nunmehr „die Rolle einer Trennwand zwischen dem Tod und dem Menschen“ (Ariés, 1982, S. 418).
Ein Perspektivenwechsel des Todesverständnisses vollzog sich im 19. Jahrhundert. Die Familie wurde zum wichtigsten Bezugspunkt ihrer Mitglieder und ersetzte damit „sowohl die traditionelle Gemeinschaft als auch das Individuum des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit“ (Ariés, 2009, S. 783). Gefürchtet wurde sich nicht mehr vor dem eigenen Tod, sondern vor dem der anderen und der damit einhergehenden Trennung von einem geliebten Menschen. Gleichzeitig verlor die Gesellschaft die Angst vor der Hölle. Der Tod bedeutete zwar Trennung aber nicht das Ende des Verstorbenen, er wurde weder als „hässlich noch [als] furchterregend noch [als] böse“ (Baur, 2005, S. 306) aufgefasst. Durch eine solch innige Verbindung mit den Verstorbenen etablierte sich ein neuer Totenkult: Massengräber wurden abgeschafft, Gräber mit Grabsteinen versehen und Friedhöfe zum beliebten Ausflugsziel. Im Zuge dieser Emotionalität und Empfindsamkeit kam es außerdem zu einer Individualisierung der Trauer und schon damals fand das Sterben hauptsächlich im Privaten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt (Baur, 2005).
Der wohl deutlichste Bruch in unserer Sterbekultur lässt sich im Übergang zu der Periode des „ins Gegenteil verkehrten Todes“ erkennen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts verliert der Tod seine soziale Komponente, er wird verdrängt und verschwindet zunehmend aus der Gesellschaft (Lehners, 2005). Diese Verleugnung und Tabuisierung der Themen „Tod und Sterben“, kann durch verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen und historische Ereignisse erklärt werden.
Eine der wichtigsten Entwicklungen im 20. Jahrhundert ist die annähernde Verdopplung der durchschnittlichen Lebenserwartung. Noch vor einhundertfünfzig Jahren lag diese bei nur 35 bis 40 Jahren. Aufgrund schlechter Hygiene und Ernährung sowie eines unzureichenden ärztlichen Versorgungssystems war der schnelle Tod durch Infektionskrankheiten, denen besonders Säuglinge und Kinder, aber auch junge Erwachsene zum Opfer fielen, die Regel. Durch verbesserte Lebensverhältnisse und Fortschritte in der Medizin haben sich die Todesursachen im letzten Jahrhundert drastisch verändert. Rund 80 Prozent der Deutschen sterben heute an Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, an Krebs oder an degenerativen Alterserkrankungen. Ein langer Sterbeprozess, oft verbunden mit Schmerz, Leid und Einsamkeit ist in unserer modernen Gesellschaft Normalität (Wilkening, 1998). Der Tod in jungen Jahren ist selten geworden, er ist „zum ersten Mal in der Geschichte unserer Gesellschaft […] zur eigentlichen Angelegenheit von alten und hochbetagten Menschen“ (Streckeisen, 2001, S. 29) geworden. Diese Reduktion der Sterblichkeit in jungen Jahren stellt einen großen Fortschritt dar, bedeutet aber auch, dass man mit Tod, Sterben und Sterbenden seltener in Berührung kommt und somit der selbstverständliche Umgang damit verlernt wird (Heller, 2000).
Im Zuge der Aufklärung hat die Wissenschaft zunehmend an Bedeutung gewonnen, Religion und der trostspendende Glaube an ein Leben nach dem Tod wurden dagegen immer unwichtiger und die romantische Weltvorstellung wich einer kühlen Sachlichkeit. Gefühle werden in einer Zeit der „Großstadtmenschen“, in der „jeder sich selbst am nächsten ist und mit seinem Nachbarn nie ein Wort gewechselt hat“ (Busch, 2010, S. 5) kaum noch öffentlich zum Ausdruck gebracht. Ariés (2009) zufolge liegt das daran, „dass man […] heutzutage die Perfektion des Absoluten abverlangt […], das Vertrauen zwischen den Menschen [also] entweder total oder gleich Null [ist]“ (S. 785). Der Mangel an Emotionalität hat dazu geführt, dass Gefühle immer weniger zum Ausdruck kommen und somit auch das Sprechen über den Tod zu einer unerträglichen Belastung geworden ist.
Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen steht eine gewisse Privatisierung des Sterbens. In unserer beschleunigten, von hohem Lebenstempo geprägten und leistungsorientierten Gesellschaft gibt es keine Zeit und keinen Platz mehr für den Tod. Die Allgemeinheit (und ihre Produktivität) soll davon nicht gestört werden, sie soll „ihre Aufgaben ohne emotionale Anteilnahme und ohne Hindernis“ (Ariés, 2009, S. 753) fortsetzen können. Das funktioniert am besten, indem man den Tod reguliert und organisiert und die Sterbenden in Krankenhäuser oder Alten- und Pflegeheime auslagert, wo sie die Gesellschaft nicht behindern können.
Seit den 1950er-Jahren ist der Tod im Krankenhaus zur Regel geworden. Aus einer Studie der DAK Gesundheit aus dem Jahr 2016 geht hervor, dass gut 75 Prozent aller Deutschen im Krankenhaus oder Pflegeheim sterben und das, obwohl lediglich 6 Prozent tatsächlich den Wunsch äußern, in einer solchen Institution zu sterben. Diese Verlagerung des Sterbens in Institutionen ist verbunden mit einer Trennung von persönlichen Bezugspersonen und dem sozialen Umfeld, was die soziale Isolation und die Einsamkeit des Sterbenden nochmals verstärkt. Da sich der ökonomische Grundgedanke unserer Gesellschaft auch schon im Gesundheitswesen durchgesetzt hat, werden hier Rationalisierungsprozesse angewendet, die auf Effizienz und Effektivität zielen, wodurch die individuellen Bedürfnisse des Sterbenden in den Hintergrund gedrängt werden. Hinzu kommt, dass sich die Patienten in einem fremden System den Regeln des Pflegepersonals zu unterwerfen haben, wodurch ein Abhängigkeitsverhältnis entsteht und ein Mensch mit eigener Persönlichkeit in die Rolle des zu behandelnden Patienten gedrängt wird. Der Sterbende erhält den Status einer Abnormität, dem aufgrund der Möglichkeiten der modernen Medizin beim Sterben zu helfen und Leiden zu lindern, aber auch das Leben trotz schwerer Erkrankung verlängern zu können, kaum etwas anderes übrigbleibt, als sich der Weisheit der Ärzte anzuvertrauen (Thönnes, 2013). Aufgrund der Monopolstellung der Mediziner und der Technisierung des Todes, wird „die Deutungsmacht, was der Tod ist, […] den technischen und wissenschaftlichen Experten übergeben“ (Knoblauch, 2007, S. 191). Durch die Rationalisierung der Gesellschaft, den ökonomischen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritt und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust von Religion und dem Glauben an ein Leben nach dem Tod, wird der Tod sinnlos (Feldmann, 2010). Er gilt heute als etwas Endgültiges und somit als ein Scheitern der Medizin, er ist kein natürliches Phänomen mehr, sondern „ein Fehlschlag, ein business lost“ (Ariés, 2009, S. 751). Mit allen Mitteln wird daher versucht, dem Tod zu entgehen und ihn, sei es auch nur für wenige Stunden, hinauszuzögern. Unsere moderne Gesellschaft mit ihren vielen Eigenarten sucht sich einen neuen Weg im Umgang mit Tod und Sterben.
Im Zeitalter der Industrialisierung, Rationalisierung und Individualisierung wird, wie die Lebensführung im Allgemeinen, auch der Tod anonymer. Der Tod in der Moderne wird aus dem Rahmen der Familie in professionelle Institutionen verlagert, von denen die Gesellschaft möglichst ferngehalten werden soll. Mit dem Verschwinden des Todes aus dem Alltag geraten Umgangsweisen mit Tod und Sterben, die sich über Jahrtausende tradiert haben, in Vergessenheit, weshalb unsere Kultur neue Wege im Umgang mit diesen Themen schaffen muss. Ökonomisierung, Institutionalisierung, Medikalisierung sowie die kollektive Verdrängung des Todes stellen den modernen Versuch dar, den Tod und somit auch die Angst vor diesem, ein Stück weit zu beherrschen.
Angesichts der Beschreibungen, wie die moderne Gesellschaft mit den Themen Tod und Sterben umgeht, kann man behaupten, dass unsere Gesellschaft „eine todesvergessene Gesellschaft ist, die den Tod verdrängt“ (Hoffmann, 2011, S. 152). Paradoxerweise zeigen aber genau diese Themen eine erstaunliche Präsenz im öffentlichen Diskurs. Gibt man beispielsweise das Stichwort „Sterben“ bei Google ein, erhält man über 700.000 Ergebnisse, es vergeht kaum ein Tag an dem im Fernsehen, Rundfunk oder in den Tageszeitungen nicht vom Sterben die Rede ist und Krimis und Thriller zählen in Deutschland zu den beliebtesten Film- und Literaturgenres (Blinkert, 2003). Auch auf medizinischer Dimension zeichnen sich in den letzten Jahren bedeutsame Änderungen im Umgang mit dem Tod ab. Unter Fachleuten und innerhalb der Bevölkerung wird über die Debatte um das „gute Sterben“ diskutiert, wobei man sich einig ist, dass jenes Sterben, das nicht verdrängt, sondern bewusst und im gewohnten, familiären Umfeld erlebt wird, als „gutes Sterben“ bezeichnet werden kann. Mit derartigen medizinethischen Debatten scheint das Redeverbot, mit welchem der Tod lange Zeit belegt war, ein Stück weit aufgehoben zu werden und der Tod fungiert nicht länger als ein absolutes Tabuthema, wie es noch Mitte des 20. Jahrhunderts der Fall war (Anderson, 2018). Dank dieser begrüßenswerten Entwicklungen muss die Verdrängungsthese des Todes auf den Prüfstand gestellt werden, denn „all diese Argumentationslinien moderner Selbstkritik wirken ein wenig antiquiert. Sie verfehlen die reale Vielfalt der tatsächlichen Erscheinungsformen des Todes ebenso wie die Spielarten seiner philosophischen und ästhetischen Diskussion“ (Macho, 2012; zitiert nach Ebd., S.19 f.). Die verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen, durch die es zu einer deutlicheren Wahrnehmung von Tod und Sterben gekommen ist, fassten Thomas Macho und Kirsten Marek (2007) unter dem Begriff „neue Sichtbarkeit des Todes“ zusammen, der sich schnell als Formel in akademischen und wissenschaftlichen Diskussionen etabliert hat, wodurch Sterben und Tod derzeit immer häufiger zum Thema in medizinischen und psychologischen Forschungsprojekten oder in sozialwissenschaftlichen Analysen wird (Anderson, 2018).
Bei dieser neuen Sichtbarkeit des Todes handelt es sich vordergründig um eine neue Sichtbarkeit des Sterbens und des toten Körpers, die Trauer sowie trauernde Hinterbliebene bilden dabei jedoch „eine Art blinden Fleck im Feld der neuen Sichtbarkeiten“ (Schaub, 2016, S. 141). Trauer stellt im Vergleich zu den Themen Tod und Sterben den Bereich dar, der am langsamsten und nur in wenigen, ganz bestimmten Kontexten öffentlich wahrnehmbar wird und von der Gesellschaft noch immer gerne tabuisiert wird. Dieser „blinde Fleck“, also das Thema „Trauer in der modernen Gesellschaft“ wird im Folgenden genauer betrachtet und die Fragen, inwieweit die moderne Gesellschaft einen natürlichen Umgang mit Trauer erschwert und mit welchen Folgen das Verdrängen und Unterdrücken von Trauer für das Individuum sowie für die Gesellschaft einhergeht, sollen in diesem Zusammenhang bestmöglichst beantwortet werden.
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1 In der folgenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts.
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