Bachelorarbeit, 2018
38 Seiten, Note: 1,3
1. Einleitung
2. Einführung in den Begriff der Paradoxie
2.1 Merkmale von Paradoxien
2.2 Umgang mit Paradoxien
2.2.1 Eigentliche und uneigentliche Verwendungsweise des Begriffs
2.2.2 Persönlicher Umgang mit einer paradoxen Situation aufgrund ihrer Wirkung auf das eigene Befinden
3. Das Paradoxe bei Kafka
3.1 Der Jäger Gracchus
3.2 Der Gruftwächter
3.3 Der Process
3.3.1 Exposition
3.3.2 Paradoxien
3.3.3 Zwischenfazit
3.4 Zusammenfassung der Erkenntnisse
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Sekundärliteratur:
Über der Metrostation Národní in Prag steht eine elf Meter Hohe Büste Kafkas, bestehend aus 42 beweglichen Ebenen, die stetig rotieren und, egal wie oft und in welche Richtung sie sich drehen, immer wieder das Gesicht Franz Kafkas bilden. Wie in einer Art Metamorphose verwandelt sich das Gesicht stets aufs Neue ohne sich tatsächlich zu verändern. Würde man die Rotation der Büstenteile pausieren, so hätte man regelmäßig mindestens zwei Gesichter vor sich. Sie ist in ihrer Komplexität und Zwiespältigkeit eine exakte Illustration der Persönlichkeit Kafkas. Indem sie viele Gesichter in einer Person vereint, sich selbst zwischen diesen hin und her reißt und in einer endlosen Metamorphose gefangen ist, veranschaulicht sie den inneren Gefühlszustand des Autors in einer solchen Klarheit, wie sie bei Kafka nur in seinem Schreibstil existiert. Sie ist, um es in einem Wort zu sagen, paradox. Und zwar so paradox wie Kafka an sich. Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Analyse des Paradoxen bei Kafka, bzw. in seinen Werken. Vorrangiger Gegenstand der Untersuchung ist dabei die Frage, ob sich in der Art, wie Kafka Paradoxien verwendet, Strukturen und damit eine Intention erkennen lassen, oder ob die intensive Verwendung von Paradoxien lediglich Ausdruck der Präferenz des Schriftstellers für das Paradoxe als Stilmittel ist. Die Beantwortung dieser Frage erfolgt im Wesentlichen in zwei Schritten. Zunächst wird der Begriff des Paradoxen erörtert um eine präzise Arbeitsgrundlage für ein häufig nur vage definiertes Konzept zu schaffen. Dazu werden neben dem Begriffsursprung auch die Merkmale sowie der Umgang mit dem Paradoxen analysiert. Darauf aufbauend untersucht der Hauptteil der vorliegenden Arbeit die Verwendung von Paradoxien im Schreibstil Kafkas. Da der enge Rahmen einer Bachelorarbeit eine Analyse des gesamten Schaffens Franz Kafkas nicht zulässt, fokussiert sich die vorliegende Arbeit exemplarisch auf drei seiner Werke: die Erzählung Der Jäger Gracchus, Kafkas einziges Drama Der Gruftwächter und sein Roman Der Process. Die gewonnenen Erkenntnisse aus dem ersten und zweiten Teil werden in einem abschließenden Fazit mit Hinblick auf die Leitfrage zusammengefasst. In Bezug auf Kafka stellt sich die verwendete Primärliteratur sowohl aus einer historisch-kritischen Ausgabe, als auch einer Leseausgabe des Fischer Verlags und der Erstveröffentlichung von Max Brod zusammen. Dass bei der Erzählung und dem Drama nicht ausschließlich auf die historisch-kritische Ausgabe zurückgegriffen wurde, hat den Hintergrund, dass aufgrund ihrer fragmentarischen Form, deren Schreibprozess über eine größere Zeitspanne erfolgte, ein zusammenhängendes Schriftstück für die Interpretation erforderlich war. Trotzdem wurde die historisch-kritische Ausgabe auch hier konsultiert und ggf. aufgeführt, wann immer der Inhalt in dem zusammengestellt Text entstellt wurde, wie es bei Max Brod der Fall war.
Paradoxien (Sg. Paradoxon, Paradox(e), Paradoxie, paradox (adj.)) sind, um zunächst die Etymologie abzudecken, auf das altgriechische Wort παράδοξος 'entgegen der Erwartung', ausπαρά 'gegen' und δοξα 'Meinung, Erwartung' zurückzuführen.1 Erstmalig in der Antike verwendet, wurde der Begriff dort eingesetzt, um sonderbare, befremdliche und von der allgemeinen Meinung oder Erwartung abweichende Sachverhalte oder Aussagen über Sachverhalte zu beschreiben. Wenngleich es zur Zeit der Scholastik keine Verwendung fand, erlebte es bereits in der Renaissance eine Wiedergeburt und prägte Theologie, sowie Philosophie und Dichtung. Seine Bedeutung behielt es auch in der Aufklärung und der Romantik bei, wo es von den Aufklärern vor allem dazu angewandt wurde, deren Publikum zu neuen Erkenntnisse zu bringen, während der Romantiker durch Paradoxien „seine Sehnsucht nach dem Untergrund aller Dinge“2 ausdrückte.3 Hier lässt sich bereits konstatieren, dass die Zuständigkeit der wissenschaftlichen Disziplinen für das Paradoxe variierte, während sich die Bedeutung des Begriffs über die Jahrhunderte nicht veränderte.
Im 20. Jahrhundert wurde die Verantwortung für das Paradoxon vor allem von der Logik und Mathematik übernommen, was aus deren Wunsch heraus entstand, Lösungen für Paradoxien zu finden. Ihr Anliegen beruhte auf der Überzeugung, das Paradoxon sei „nur ein Zwischenfall oder ein Zufall, der sich durch Unterscheidung und weitere Nachforschung vermeiden läßt“4. Vertreter der Disziplinen Ästhetik und Trauerspiel betonten dagegen den Wert des Paradoxons für die Darstellung und das Erkennen der Wirklichkeit: „Wer dem P.en gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus; denn die Wirklichkeit kann den Zufall nicht ausschließen, der das planmäßige Handeln der Menschen durchkreuzt“5.
Was ist es, das Paradoxien so interessant und beunruhigend zugleich wirken lässt? Man stelle sich zum Beispiel das Lügner-Paradox vor. In diesem geht es um die Frage, obman dem Satz: „Dieser Satz ist falsch“ einen Wahrheitswert zuordnen kann. Denn wenn man ihm den Wahrheitswert 'falsch' zuordnet, hat der Sprecher die Wahrheit gesagt, was den Satz wiederum wahr werden lässt. Ordnet man dem Satz den Wert 'wahr' zu, wird er falsch, da der Sprecher nicht die Wahrheit gesagt hat. Irritierend an diesem Paradoxon ist, dass es einen Widerspruch aufführt, der aus der Anwendung allgemein anerkannter und gültiger Methoden korrekten logischen Schließens folgt6. Damit geraten „Begründbarkeit und Effektivität als die zwei Grundcharakteristika rationaler Problemlösungen [...] in Widerspruch“, woraus wiederum folgt, dass Paradoxien auf diese Weise „anscheinend unverrückbare und selbstverständliche Wahrheiten außer Kraft [setzen S. M.]“7.
Sandkühler zufolge liegt genau darin der Wert der Paradoxien, da sie einen guten Prüfstein „für die Angemessenheit der Anwendung von Begriffen sowie für die Richtigkeit bzw. Kohärenz von ganzen Theorien […]“8 bilden. So gelten sie etwa insbesondere in der Philosophie als Falsifikationsinstanzen, „weil sie auf Defekte in unseren Begriffsbildungen, Theorien oder Normen(systemen) bzw. in ihren Anwendungen hinweisen […]“9. Allerdings muss man an dieser Stelle einwenden, dass es sich bei Paradoxien auch teilweise schlichtweg um Fehlschlüsse handeln kann, die bei genauerer Betrachtung und intensiverer Untersuchung aufgelöst werden können.10
Neben der bereits erläuterten Widersprüchlichkeit, die sich aus der Konklusion der Prämissen ergibt, ist das Paradoxon, zumindest nach Auffassung Von Krockows, auch in sich selbst paradox, da es der Ablehnung der öffentlichen Meinung bedarf, „auf deren Anerkennung es gleichwohl immer angewiesen bleibt, um sich gegen die öffentliche Meinung als ein P. [Paradoxon S. M.] öffentlich behaupten zu können. Das P. zieht viele Hörer an, indem es dieselben abstößt“11. Damit einhergehend liegt ein weiteres Merkmal von Paradoxien darin, dass sie nur vor dem Hintergrund eines Korpus von Bedeutungen existieren können, deren Geltung als selbstverständlich vorausgesetzt wird.12
Gegenwärtig verwendet man den Begriff in zweierlei Hinsicht. Die ursprüngliche Bedeutung, nach der Paradoxien „Sachverhalte oder Aussagen über Sachverhalte [darstellen S. M.], die der allgemeinen Meinung oder Erwartung zuwiderlaufen und deshalb zunächst unverständlich bleiben“13, bleibt als eigentliche, engere Verwendung des Begriffs erhalten. Dem gegenüber steht die uneigentlichere Verwendung, also die, die man benutzt, wenn man es mit der Definition des Wortes nicht sonderlich genau nimmt: „Etwas paradox zu nennen, bedeutet dann so viel wie: es ist merkwürdig, seltsam, erstaunlich, absurd, abwegig, verrückt oder auch kurios, so wie die Aufforderung, man möge sich doch mal langsam beeilen, oder die Rede vom der [sic!] Vater, der seinen Sohn unverwandt anstarrt, oder auch die Kinderfrage, warum schlafen ein Tätigkeitswort ist“.14 Damit unterscheiden wir gegenwärtig zwischen höherwertigen und niederwertigen Paradoxien. Das kann darauf zurück zu führen sein, dass bei der uneigentlichen Verwendung des Begriffs paradox auch durch ein Synonym wie etwa kurios oder seltsam ersetzt werden kann. In dem Kapitel über Paradoxien in den Werken Kafkas werden beide Verwendungsformen beachtet und herausgearbeitet, obgleich man die Unterscheidung in der Verwendung zu seiner Zeit noch nicht traf. Kafka verwendet das Paradoxon sowohl für das Skurrile und Undurchschaubare, als auch für dasjenige, das der allgemeinen Meinung oder Erwartung zuwiderläuft.
Paradoxien faszinieren mit ihrer, einem Rätsel gleichenden Struktur und verlocken dadurch, sich mit ihnen zu beschäftigen. Doch bereits hier wird es kompliziert. Denn herausfinden zu wollen, wie mit Paradoxien umzugehen ist, bedeutet zu fragen, was ein rationaler Umgang mit etwas Irrationalem ist. Die vermutlich offensichtlichste Antwort darauf lautet: Man kann sie entweder akzeptieren oder versuchen sie zu lösen. Da es in der menschlichen Natur liegt, Rätsel und Probleme, mit denen man sich konfrontiert sieht, entweder zu meiden, oder zu versuchen diese zu lösen, würden die allermeisten wohl diesen Ansatz wählen. Sauer und Lang erklären dies damit, dass dem Menschen ein Leben mit Paradoxien unannehmbar scheine, weil es als inakzeptabel betrachtet werde, nicht nach der Wahrheit zu streben.15 Da hier jedoch, zumindest bei denjenigen Paradoxien, die nicht einfach durch genaueres Hinsehen gelöst werden können, wenig Aussicht auf Erfolg besteht, wird dies früher oder später in Missmut enden, oder, wenn man der Legende Glauben schenken will, wie bei Philetas von Kos gar im frühzeitigen Tod durch Schlafentzug. Akzeptanz ist dagegen etwas, das vielen aus dem von Sauer und Lang genanntem Grund schwer fällt. Bei so tiefgreifenden Paradoxien, wie zum Beispiel der des Lügners, welches Philetas um den Verstand brachte, bleibt uns allerdings teilweise keine andere Wahl, als den Widerspruch zu akzeptieren. Um sich dann wiederum in Akzeptanz statt in frusterfüllter Resignation wiederzufinden, hilft es, der Paradoxie einen Wert für uns oder unsere Gesellschaft zu entnehmen. So seien sie Kannetzky zufolge dadurch, dass sie Widersprüchliches artikulieren, ein wichtiges Medium aber auch Resultat der Reflexion.16 Resultat seien sie deshalb, da man Paradoxien nicht nur erfinden, sondern auch entdecken könne. Und zwar genau dann, „wenn Theorien systematisch ausgearbeitet und ihre Folgerungen und Anwendungen entfaltet werden“17. Damit bilden sie „das Resultat eines tieferen Verständnisses der bis dahin als selbstverständlich gültig unterstellten Annahmen, aus denen sie resultieren“18. Ein solches tieferes Verständnis hilft dabei, die unterschiedlichen Bedeutungsebenen eines Werkes aufzuschlüsseln und kritisches Denken zu fördern. So kann Der Process beispielsweise als Darstellung eines undurchsichtigen Gerichtsprozesses gelesen werden, oder aber, wie die diversen Paradoxien nahelegen, auch weitere Bedeutungsebenen beinhalten. Das Paradoxe ist es, was den Leser immer wieder zu neuer Reflexion und Interpretation des Textes lockt. Als Medium der Reflexion werden sie beispielsweise in der Satire verwendet. Dort werden paradoxe Situationen und Aussagen bewusst überspitzt dargestellt, um auf Missstände aufmerksam zu machen, bzw. um diese zu verdeutlichen. Man könnte argumentieren, dass auch Kafka Paradoxien als Form von Satire verwendete, etwa wenn sich sein Protagonist in Der Process gegen eine Anklage verteidigen muss, gegen die er sich gar nicht verteidigen kann, da der Anklagegrund ihm durch das gesamte Werk verschlossen bleibt. Dieses Paradoxon wird dabei so überspitzt dargestellt, dass man nicht umhin kommt, in ihm einen tieferen Sinn auf einer anderen Bedeutungsebene zu suchen.
Abschließend lässt sich konstatieren, dass es im Umgang mit Paradoxien im Wesentlichen zwei Strategien gibt: Man kann sie meiden, bzw. akzeptieren oder versuchen sie aufzulösen. Für wissenschaftliche Analysen wie die der vorliegenden Arbeit, die sich kritisch mit Paradoxien im Kontext der Literatur befasst, gebietet es paradoxerweise die Vernunft, sich auf das Unvernünftige einzulassen.
Die für andere Menschen gewiß unglaublichen Schwierigkeiten, die ich beim Reden mit Menschen habe, haben darin ihren Grund, daß mein Denken oder besser mein Bewußtseinsinhalt ganz nebelhaft ist, daß ich darin, so weit es nur auf mich ankommt, ungestört und manchmal selbstzufrieden ruhe, daß aber ein menschliches Gespräch Zuspitzung, Festigung und dauernden Zusammenhang braucht, Dinge, die es in mir nicht gibt.19
Kafkas Texte sind dem Leser aufgrund seiner sehr klaren und strukturierten Schreibweise leicht zugänglich und doch hat man es schwer, einen Zugang zu finden, da der Inhalt so verworren ist, dass man sich über Sinn und Zweck des Ganzen im Unklaren ist. Dass er sich dessen bewusst war, geht aus dem eben aufgeführten Tagebucheintrag vom 24. Januar 1915 hervor. Während seine Schriftstücke einerseits zur Interpretation herausfordern, entziehen sie sich andererseits jedem Versuch, ihnen eine bestimmte Bedeutung zu entnehmen.20 Sie sind also gewissermaßen offen und verschlossen, verlockend und abweisend zugleich und damit bestens geeignet, für eine Untersuchung über Paradoxien. Das Undurchschaubare ist auch der Grund dafür, warum Kafka oftmals auf Ablehnung stößt. Zu groß ist die Frustration über das scheinbar zusammenhangslose Wirrwarr, das jede Interpretation unmöglich macht. Nicht selten unterstellen Kafkas Kritiker ihm gar eine mangelnde Intention beim Schreiben, ganz so als sei er ebenso konzeptlos und verwirrt wie seine Protagonisten. Neumann urteilt ein Stück weit ähnlich, mit der Ausnahme, dass er Kafka keine mangelnde Intention unterstellt. Für ihn sind Kafkas Texte bestückt mit zusammenhangslosen gleitenden Paradoxien21, welche sich von gewöhnlichen Paradoxien darin unterscheiden, dass, während bei diesen Satz und Gegensatz identischen Prämissen zu Grunde liegen, die 'gleitenden Paradoxien' von einer unergründbaren Prämisse zur nächsten 'gleiten'. Mit anderen Worten beschreibt Neumann damit „jene für Kafkas Texte charakteristischen Formen semantischer Verschiebungen, Umkehrungen und Abweichungen, die einer Fixierung des jeweiligen Textsinns im Wege stehen und letztlich zur kontinuierlichen Desorientierung des Lesers führen“22. Da Neumann damit einen Zentralen Aspekt von Kafkas Darstellungsstrategie aufzeigt, spielt seine Meinung für diese Arbeit eine herausragende Bedeutung und wird im Fazit nochmals aufgegriffen.
Neumanns Position steht die von Pfaff gegenüber. Er stellt die Vermutung auf, Kafka könne schlichtweg „Lust am Versteckspiel“ gehabt haben, oder er wollte „semantische und rhetorische Kunstfertigkeit beweisen und naive Leser ins Boxhorn jagen“23. Jahraus erklärt die Verwirrung, die Kafkas Werke stiften, damit, dass sie einerseits das Leben, wie wir es kennen, darstellen, dieses aber immer wieder mit Ereignissen bricht, die der Logik und unserem rationalen Verstand diametral entgegenlaufen. Kafka versucht demnach zwei konträre Ebenen zu einer zusammenzufügen, wodurch die gängige und wohlbekannte Kontinuität des Erzählens ausbleibt.24
Nun stellt sich die Frage, wie man mit Kafkas Schriften verfahren solle. Aufgrund der bereits festgestellten paradoxen Strukturen innerhalb seiner Werke und dem daraus resultierenden Interpretationsdrang existieren heute unzählige Schriften, die das ehrgeizige Ziel verfolgen, Kafkas Werken einen tieferen Sinn zu entnehmen. Der wohl am häufigsten verwendete Interpretationsansatz ist der autobiographische und psychoanalytische, was auf die zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen Kafka und seinen Protagonisten, sowie ihre oftmals ähnlichen Themengebiete zurückzuführen ist. Diese Interpretationsansätze haben ihre Berechtigung, da in einigen Teilen Parallelen zwischen Kafka und seinen Protagonisten unbestreitbar sind, wie zum Beispiel in seinem Brief an den Vater. Sie können jedoch auch sehr ermüdend wirken, da sie das Werk eines zweifellos herausragenden Schriftstellers in gewisser Weise auf autobiographische Züge reduzieren. Das Problem, das sich aus einem festen Interpretationsansatz ergibt, ist dass Kafka damit in eine bestimmte Schublade gesteckt wird, schließlich hat jede Interpretation ein bestimmtes Ziel vor Augen, auf das das interpretierte Werk und oftmals auch das gesamte Werk Kafkas hinauslaufen muss. Das soll nicht heißen, dass Interpretationen generell überflüssig oder gar unerwünscht sind, im Gegenteil, schließlich führen sie zu der Auseinandersetzung mit einem Text und dadurch zu einem tieferen Verständnis. Um sich aber eine gewisse Offenheit zu bewahren, ist es Niehaus zufolge hilfreich, sich nicht auf eine Enträtselung der Texte zu konzentrieren, sondern vielmehr zu analysieren, wie der Text in seiner Rätselhaftigkeit funktioniert.25 Konkret bedeutet das für diese Arbeit, dass in den folgenden Kapiteln, die sich auf die Untersuchung der Verwendung von Paradoxien in ausgewählten Werken Kafkas fokussieren, weniger die Interpretation von Paradoxien, als vielmehr die Paradoxien an sich im Vordergrund stehen. Alle Paradoxien sollen dabei herausgearbeitet und auf ihre Eigenschaften hin geprüft werden. Ziel ist es, herauszufinden, ob sich in der Art, wie Kafka Paradoxien verwendet, Muster erkennen lassen.
Kafka ließ seine Aufzeichnungen zu Der Jäger Gracchus in Form mehrerer Fragmente zurück, die erst posthum von Max Brod veröffentlicht wurden. In dem Bestreben, der zukünftigen Leserschaft ganze Werke vorlegen zu können, hat er sie zu einem vermeintlichen Ganzen zusammengefügt und damit teilweise verfälscht. Nichtsdestotrotz lassen sich der Erzählung einige interessante Paradoxien entnehmen, die in dieser Arbeit nicht ausgelassen werden sollen. An Stellen, an denen Brods Veränderungen für die Interpretation relevant sind, wird dies berücksichtigt.
Nennenswerte formelle Auffälligkeiten finden sich außerdem in dem Namen des Jägers: Gracchus ist nämlich die Ableitung von graculus, was im Deutschen mit Dohle übersetzt wird und Dohle wird im Tschechischen wiederum mit kavka übersetzt.26 Dass Kafka autobiographische Elemente wie etwa seinen Namen in seine Werke mit einbaut, ist nicht unbekannt. In einem Brief an Felice Bauer vom 3. Juni 1913 schreibt er über Das Urteil, er habe herausgefunden, dass: „Georg […] so viele Buchstaben [hat] wie Franz, Bendemann besteht aus Bende und Mann, Bende hat so viele Buchstaben wie Kafka und auch die Vokale stehn an gleicher Stelle“27. Die Häufigkeit, mit der Kafka autobiographische Merkmale in seine Schriften mit einbaut, auch wenn er sich dessen während des Schreibprozesses nicht bewusst gewesen sei, wie er es in dem eben aufgeführten Brief beteuerte, öffnet einer autobiographischen Interpretation Tür und Tor. Man könnte, wie Dieterle es vormacht, dann die „die Gestalt und Geschichte des Jägers auf ihren Urheber zurückverweisen – vielleicht insofern, als für Kafka Schreiben in einem Zwischenbereich zwischen Leben und Tod stattfindet?“28. Das Gefühl zwischen dem Bereich der Existenz und Nichtexistenz zu stehen und keinem der beiden Bereiche zugehörig zu sein, kann jedoch auch auf Kafkas schlechten Gesundheitsstatus zurückgeführt werden. Zwar wurde zu dem Zeitpunkt der Entstehung der Jäger Gracchus Erzählung seine Lungentuberkulose noch nicht diagnostiziert, deutlich bemerkbar machte sie sich dennoch bereits. Die ausgiebige Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Weg dorthin kann folglich als Verarbeitungsprozess Kafkas mit dem eigenen Schicksal gelesen werden. Sowohl der Jäger Gracchus, als auch Kafka selbst finden sich im Begriff eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, ohne zu wissen, wann oder wo sie dies tun werden: „Und nun gedenken Sie bei uns in Riva zu bleiben? fragte der Bürgermeister. Ich gedenke nicht, sagte der Jäger […]. Ich bin hier, mehr weiß ich nicht, mehr kann ich nicht tun. Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind […]“29. Aus den weiter oben bereits aufgeführten Gründen sollte man sich, wenn man Kafkas Werk gerecht werden will, allerdings eine gewisse Offenheit gegenüber anderen Interpretationsmöglichkeiten bewahren. Doch zunächst einmal zu den Paradoxien.
[...]
1 Vgl. Von Kutschera, F.: Art. „Paradoxien“, in: Ritter, J. / Gründer, K. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 7 von 13: P-Q. Basel: Schwabe & Co. AG. 1989. S. 82.
2 Ebd., S. 86.
3 Ebd.
4 Ebd., S. 90.
5 Ebd.
6 Vgl. Kannetzky, Frank: Art. „Paradox/Paradoxie“, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. Band 2 von 3 I-P . Hamburg: Felix Meiner Verlag 2010. S. 1901.
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Vgl. Clark, M.: Paradoxien von A bis Z. Aus dem Englischen übersetzt von Volker Ellerbeck. Stuttgart: Philipp Reclam GmbH & Co. KG 2012. S. 180.
11 Von Krockow, Ch.: Der Wandel der Zeiten. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1984. S. 112f.
12 Kannetzky, Frank: Art. „Zur Logik des Seltsamen. Paradoxien und ihre Lösungsstrategien“, in: Gratzer, W. / Neumaier, O. (Hg.): Der Gordische Knoten. Lösungsszenarien in Wissenschaft und Kunst. Wien-Münster: Lit Verlag 2014. S. 31.
13 Von Kutschera, F.: Paradoxien. S. 82.
14 Kannetzky, Frank: Zur Logik des Seltsamen. Paradoxien und ihre Lösungsstrategien. S. 27. Hervorh. im Original.
15 Vgl. Sauer, D. / Lang, C.: Paradoxien der Innovation. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Innovationsforschung. Frankfurt-New York: Campus Verlag 1999. Veröffentlichungen aus dem Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V., ISF München. S. 212.
16 Vgl. Kannetzky, Frank: Zur Logik des Seltsamen. Paradoxien und ihre Lösungsstrategien. S. 28.
17 Ebd.
18 Ebd.
19 Kafka, F.. Tagebücher. Band 3 von 3: 1914-1923. Nach der Kritischen Ausgabe von Koch, Hans-Gerd, et al. (Hg.). Fischer Taschenbuchverlag GmbH. S.73.
20 Vgl. Jahraus, Oliver: Kafka. Leben Schreiben Machtapparate. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2006. S. 178.
21 Vgl. Neumann, Gerhard: Kafka-Lektüren. Berlin-Boston: Walter de Gruyter GmbH 2013. S. 359.
22 Oschmann, Dirk: 4.3 Kafka als Erzähler. In: Engel, M. / Auerochs, B. (Hg.): Kafka Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Weimar, Stuttgart: J. B. Metzler 2010. S. 443.
23 Pfaff, Peter: Kafka lesen. Zur Methode seiner Literatur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg 2018. Vgl. S. 12.
24 Vgl. Jahraus, Oliver: Kafka. Leben Schreiben Machtapparate. S. 174f.
25 Vgl. Niehaus, Michael: Franz Kafka. Erzählungen. Der Kaufmann, Das Urteil, Der Heizer, Vor dem Gesetz u. a.. München: Oldenbourg Schulbuchverlag GmbH 2010. S. 9.
26 Ebd., S. 83.
27 Koch, H.-G.: Franz Kafka. Briefe 1913-März 1914. In: Neumann, G., et al. (Hg.): Franz Kafka. Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Frankfurt am Main: S.Fischer Verlag GmbH 1999. S. 201. Hervorh. Im Original.
28 Dieterle, Bernard: 3.2.10 Kleine nachgelassene Schriften und Fragmente 2. In: Engel, M., et. al. (Hg.): Kafka Handbuch. S. 275.
29 Hermes, Roger: Franz Kafka. Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 2011. 3. Auflage. S. 245.
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