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Diplomarbeit, 2015
50 Seiten, Note: 1
Vorwort
1 Einleitung
2 Der Fall Marta Hillers’
2.1 Wer war Marta Hillers?
2.2 Das Tabuthema Vergewaltigung nach 1945
3 Marta Hillers’ „Eine Frau in Berlin“
3.1. Entstehungsgeschichte des Buches
3.2. Die Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945 – Marta Hillers’ Rolle als Vergewaltigungsopfer plündernder Rotarmisten
3.3. Der Tagebuchcharakter des Buches – hat er literarischen Anspruch?
3.4. Sachbuch, zeitgeschichtliches Dokument oder Pamphlet?
4 Die Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte des Buches
4.1. Die englische Erstausgabe 1954 und die deutsche Erstauflage 1959
4.2. Wiederauflage des Buches 2003
4.3 Bekanntwerden der Identität der Autorin und Zweifel an der Authentizität der Schilderungen
4.4 Vergewaltigung als Kriegsverbrechen seit dem Jahr 2008
4.5 Verfilmung des Buches 2008 unter der Regie von Max Färberböck und mit Nina Hoss in der Hauptrolle
5 Schlussfolgerungen
6 Literaturverzeichnis:
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Erinnerungen von Marta Hillers und dem Thema Kriegsvergewaltigungen. Bei der Suche nach einem entsprechendem Thema für meine Diplomarbeit, wusste ich von Anfang an, dass sie etwas mit Kriegsverbrechen zu tun haben sollte. Ich wollte ein Thema haben, dass sowohl als historisch angesehen werden kann, zugleich aber immer noch aktuell und in den heutigen Medien anwesend ist. Kriegsverbrechen gibt es natürlich nicht erst seit dem Jahr 1939, doch ich bin der Meinung, dass der Zweite Weltkrieg an sich besonders interessant ist, weil er sich in manchen Aspekten immer noch auf die heutigen Zeiten und Generationen auswirkt.
Meine Absicht war es nicht nur Vergewaltigungen während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit mittels Zahlen darzustellen. Ich wollte diese Fakten mit etwas authentischem verbinden. Dabei kam mir die Autorin Marta Hillers und ihr Tagebuch in den Sinn. Es passte hervorragend zu meinem Thema und zeichnete sich mit wahrer Echtheit und einem Spektrum an Gefühlen und Emotionen aus. Mein Ziel war es die schrecklichen Taten die während des Zweiten Weltkries stattfanden, den Menschen die diese Arbeit einmal lesen werden, näher zu bringen. Im Fokus sollten die Vergewaltigungen stehen, da sich bisher, politisch gesehen, beim diesen Thema nicht viel getan hat. Ich hoffe, dass alle die diese Arbeit lesen werden, sich mit dem Thema Kriegsvergewaltigungen ein bisschen näher beschäftigen werden und die herausragende Persönlichkeit von Marta Hillers kennenlernen werden. Es wäre eine Schande, wenn diese tolle Frau in Vergessenheit geraten würde.
Fast jeder Mensch weiß mittlerweile, dass der Zweite Weltkrieg schreckliche Konsequenzen mit sich trug. Nicht nur in politischer und ökonomischer Weise hatte die Zeit fatale Folgen. Menschen die während der Zeit gelebt haben, mussten schreckliche psychologische Schaden erleiden. Viele von ihnen wurden getötet und diejenigen die das Glück hatten zu überleben, standen nach dem Krieg vor der schweren Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung der Nationalsozialistischen Zeit.
Unter dem Begriff „Vergangenheitsbewältigung der NS-Zeit“ werden mehrere Aspekte gefasst, angefangen bei den Strafrechten, durch die geschichtswissenschaftlichen und ethischen hindurch, bis zu der sozialen und psychologischen Aufarbeitung dieser Zeit. In Deutschland kann man bei dem Umgang der bundesdeutschen Gesellschaft mit der NS-Vergangenheit von vier Phasen sprechen. Die erste von ihnen fing sofort nach Kriegsende an und dauerte nur drei Jahre. Während dieser kurzen Zeit stand die Säuberung im Fokus, wobei das Gesetz des Handelns auf Seiten der Siegermächte lag. Die zweite Phase umfasste die langen Jahre der Verharmlosung, in der Leugnung dominierten und die NS-Täter Amnestie bekamen. Die nächste Phase der Vergangenheitsbewältigung wurde erst im Jahr 1963 dank dem Auschwitz-Prozess eingeleitet. Die Leute begannen sich mit dem Holocaust und seinen Folgen auseinanderzusetzen. Diese Zeit dauerte bis zum Jahr 1985. Die letzte Phase umfasst die heutigen Zeiten und dient weniger dem Erinnerungskampf, sondern die Erinnerungskultur aufrecht zu erhalten.1
Bis heute wollen viele Politiker den Leuten wahr machen, dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Herrschaft im weitesten Sinne gelungen ist. Doch das stimmt leider nicht. In Wirklichkeit sind sehr viele Verbrechen des NS-Regimes vertuscht worden oder es gelang nach dem Krieg nicht, die Täter von Morden und Vergewaltigungen, zu verurteilen.2 Auch auf psychologischer Ebene, belasten die Taten der Nazis immer noch die heutigen Generationen. Vor allem Frauen die die sexuellen Übergriffe überlebt haben, müssen immer noch mit den schrecklichen Erlebnissen leben und werden nie vergessen was man ihnen einst angetan hat. Auch immer mehr Kinder und Enkel von NS-Tätern suchen Hilfe suchen Hilfe um besser mit den Verbrechen ihrer Vorfahren klarzukommen.3
Eine Hilfe für die Opfer kann die Nachkriegsliteratur zum Thema Vergewaltigungen und andere Kriegsverbrechen darstellen. Dank solchen Büchern wie „Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945“ von Marta Hillers oder „Westend“ von Annemarie Weber. Beide Werke stellen glänzende literarisches Dokumente dar, in denen nichts beschönigt wird und die Wahrheit über die Nachkriegszeit gezeigt wird. Die Sieger des Krieges werden ganz klar als Vergewaltiger bezeichnet und Aufforderungen wie zum Beispiel „Frau komm“, werden zu Synonymen von Männergewalt, der unzählige Mädchen und Frauen zum Opfer fielen.4
Das Hauptziel dieser Arbeit ist es die Themen Abrechnung mit dem Nationalsozialismus und dem Krieg, Gefangenschaft und Heimkehr, Flucht und Vertreibung, Befreiung, Besatzung und Vergewaltigung zu besprechen. Das soll anhand der Erinnerungen von Marta Hillers geschehen. Dank den Tagebucheinträgen soll gezeigt werden, was zahlreichen deutsche Bürgerinnen angetan wurde und wie viele von ihnen um ihr Überleben kämpfen und Strategien entwickelten, um den nächsten Tag zu erleben. Dabei soll auch nicht die Person von Marta Hillers außer Acht gelassen werden. Es ist wichtig ihren Werdegang zu präsentieren, um danach besser ihre Gefühle und Gedanken in ihren Erzählungen besser verstehen zu können.
Ein weiteres wichtiges Ziel ist es zu ermitteln, in wie weit sich das Tagebuch von Marta Hillers auf die heutigen Zeiten ausgewirkt hat. Es soll auch der Zusammenhang zwischen Hillers Tagebuch und den politischen Bestimmungen, betreffend der Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen, gezeigt werden.
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Person Marta Hillers und den Vergewaltigungen, die während der Kriegs- und Nachkriegszeit stattfanden. Es soll sowohl eine kurze Biographie der Autorin präsentiert werden wie auch ihre Verdienste bei der Offenlegung dieses Tabuthemas Welche psychischen und physischen, aber auch ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen hatte die Vergewaltigung für die betroffenen Frauen, Konsequenzen, die ebenso wie die Vergewaltigung selbst zu damaligen Zeiten ignoriert wurden? Die katastrophalen Folgen der Vergewaltigung und die enormen Zahlen der Opfer sollen in diesem Kapitel benannt werden.
Marta Hillers war eine deutsche Journalistin, die dank ihres Buches „Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945“ posthum internationalen Erfolg erreichte und Menschen auf der ganzen Welt an ihren Erfahrungen während dersowjetischenBesatzung in Berlin am Ende desZweiten Weltkrieges teilnehmen ließ.5
Marta Hillers wurde am 26. Mai 1911 als Tochter des Betriebsleiters Johannes Hillers und seiner Frau Petronella in Krefeld geboren. Als sie fünf Jahre alt war, wurde ihr Vater an der Kriegsfront bei Verdun getötet und die Mutter musste nun ihre drei Kinder allein großziehen. Das Mädchen besuchte zuerst die Grundschule, danach von 1925 bis 1930 das Realgymnasium. Einen Beruf erlernte sie zunächst nicht, sie wollte erst Praxiserfahrungen in Krefelder und Düsseldorfer Firmenbüros sammeln. Vom September 1931 bis zum Mai 1933 unternahm sie zahlreiche Reisen. Sie besuchte Armenien, Russland, die Türkei, Polen, Georgien, Griechenland, Sizilien, Italien und arbeitete nebenbei als Fotografin für europäische und amerikanische Zeitungen. Während dieser Zeit lernte sie fließend Russisch und Französisch zu sprechen.6
Als Marta Hillers ihre Reisen beendet hatte, kehrte sie nicht sofort nach Deutschland zurück. Sie entschied sich, vom Mai 1933 bis zum Juli 1934 Geschichte und Kunstgeschichte an der Sorbonne in Paris zu studieren. Nach einem Studienjahr reiste sie in ihr Heimatland zurück, erst nach Süddeutschland, dann nach Berlin. Sie zog in die Wohnung ihres Vetters Hans Wolfgang Hillers, in die Berlinerstrasse 2 im Stadtteil Tempelhof. Nunmehr begann sie zielgerichtet eine Karriere als freie Journalistin. Zu ihren Aufgaben zählte das Schreiben von Artikeln und Reportagen für den „Berliner Lokal-Anzeiger“ und das Verfassen von Erzählendem für Zeitschriften und Provinzzeitungen. Eine der damals wichtigen veröffentlichten Reportagen war „Heimat Landstraße. Zwei Mädel mit Fernfahrern unterwegs. Von Trude Sand und Marta Hillers“. 7
Marta Hillers war nicht nur mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit für den „Berliner Lokal-Anzeiger“ und die Provinzzeitungen beschäftigt, sondern sie schrieb auch für die „Neue Gartenlaube“ und „Berliner Hausfrau“. Zusätzlich erledigte sie von Februar 1940 bis zum März 1941 Büroarbeiten im Verlag der Deutschen Arbeitsfront. Ab April 1941 arbeitete sie im „Hilf-Mit-Werk“, wo sie Artikel für Broschüren zur Erziehung der Jugend in Nazi-Deutschland schrieb. Sie nahm unter anderem am „Hilf-mit!“-Wettbewerb der deutschen Jugend im Jahr 1940/41 teil, dessen Ziel es war, den Nachwuchs für die Marine zu begeistern. Allgemein scheint sie jeden Auftrag mit Begeisterung angenommen zu haben.8
Mit großer Wahrscheinlichkeit war Marta Hillers kein aktives Mitglied der NSDAP. Noch im Jahr 1938 gab sie an, in einer Jugendgruppe der NS-Frauenschaft tätig gewesen zu sein, doch zehn Jahre danach, während der Befragungen durch die Amerikaner, leugnete sie ihre Mitgliedschaft. Was nun die Wahrheit war, bleibt ungeklärt.9
Nach dem Krieg wollte Marta Hillers ihre Arbeit für die Jugend wieder aufnehmen und arbeitete bei der „Illustrierten Jugendzeitschrift“, deren erste Nummer im Oktober 1945 herauskam. Die Zeitschrift diente vor allem der Umerziehung und Lebensbewältigung der deutschen Jugend. Im August 1948 wurde Marta Hillers Chefredakteur der Zeitschrift, die bald darauf mit den Schwierigkeiten der Blockade zu kämpfen hatte.10
Im Jahr 1954 wurde ihr Tagebuch erstmals anonym in englischer Sprache von C.W. Ceram veröffentlicht. Eine deutsche Ausgabe wurde im Jahr 1959 publiziert. Das Buch stellt einen Bericht über das Alltagsleben derBerlinerwährend dersowjetischenBesatzung am Ende desZweiten Weltkrieges dar, besonders ist von den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee die Rede. Aufgrund der überraschend schlechten Kritiken und negativen Reaktionen entschied sich Marta Hillers, die weitere Herausgabe des Buches zu stoppen. Dieses Verbot blieb zu ihren Lebzeiten bestehen, denn erst im Jahr 2003 wurde eine Neuauflage herausgebracht, die - im Gegensatz zur Erstausgabe - enormes Lob erhielt. Es sorgte auch für reichlich Diskussionen, da man die Authentizität der dargestellten Ereignisse bezweifelte und sich fragte, ob Hillers wirklich die Autorin dieses Werkes war.11 Ein Gutachten von Walter Kempowski bestätigte, dass die originalen Tagebuchaufzeichnungen der Wahrheit entsprechen.12
Ihre journalistische Karriere beendete Marta Hillers selbst, als sie in den fünfziger Jahren einen Eidgenossen heiratete und in die Schweiz zog. Dort lebte sie in der Stadt Basel bis zu ihrem Tod im Juni 2001.13
Vergewaltigung ist eines der größten Tabuthemen des 20. Jahrhunderts. Vor allem die Massenvergewaltigungen während der Kriegszeiten ist ein Phänomen, das oftmals marginalisiert und als unvermeidliche Konsequenz des Krieges angesehen wird. Die Scham und die Lust zu vergessen führen dazu, dass dieses Thema häufig mit Desinteresse betrachtet und historisch wenig bedeutungsvoll erachtet wird.14
Die offiziellen Gründe von Vergewaltigungen in Kriegs- und Besatzungszeiten sind unterschiedlich, je nach der Wertigkeit des jeweiligen Krieges. Manchmal handelt es sich bei solchen Gewalttaten um Rache, ein anderes Mal ist es die Frustration oder das Gefühl der Sinnlosigkeit, das einen Militär zu diesem Gewaltakt motiviert. Zu beachten ist aber, dass alle Vergewaltiger von Prinzip gleich sind. Es sind nämlich
„sonst im Zivilleben ganz normale Männer, die im Krieg das tun, was Männer in Kriegen bisher immer getan haben, jeder auf seine Weise, in seinem Rahmen und mit seinen persönlichen Zielen“.15
Wenn es um Nazi-Deutschland und die Übergriffe auf deutsche Frauen im und nach dem Krieg geht, gibt es furchterregende Daten. Mindestens 860.000 deutsche Frauen und Mädchen wurden gegen Kriegsende und während der unmittelbaren Nachkriegszeit von den alliierten Soldaten und Besatzungsangehörigen sexuell missbraucht. Diese Ereignisse passierten in ganz Deutschland, sowohl im Osten als auch im Westen des Landes. Hauptsächlich waren es entweder sowjetische, französische, amerikanische oder britische Soldaten, aber auch Serben, Belgier, Polen oder Tschechen nutzten die Eroberung und Besatzung von Deutschland, um sich an den Frauen zu vergehen. Die Uniformen der Täter waren zwar verschieden, doch ihre Taten waren dieselben.16
Dass die Deutschen die interessanteste Beute darstellten, ist vor allem auf die Handlungen von Adolf Hitler zurückzuführen. Aufgrund der unzähligen Toten durch den deutschen Expansions- und Rassenwahn, wie auch durch die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in den von ihr besetzten Ländern, war die Motivation der Alliierten, das deutsche Volk zu bestrafen und zu foltern, noch grösser. Die Soldaten wollten nicht nur ihre sexuelle Macht unter Beweis stellen oder Befriedigung erreichen, sondern vor allem Rache begehen. Es war ihnen gleichgültig ob es junge, alte, schöne, dicke, schwangere oder im Sterben liegende Frauen waren. Sie alle sollten für Adolf Hitler büßen.17
Natürlich wurden nicht nur in Deutschland Frauen und Mädchen vergewaltigt. Auch Wehrmachtsangehörige haben in den von ihnen besetzten Ländern Frauen Gewalt angetan. Die sexuellen Übergriffe wurden dann in der Nachkriegszeit ein globales Problem, das mit der patriarchalen Geschlechterordnung zusammenhängt. Laut dieser wurden die Frauen als Kriegsbeute angesehen. Alle Armeen haben sich diesen Kriegsverbrechen schuldig gemacht, und es gibt kein am Krieg beteiligtes Land, das von diesen Taten verschont blieb, auch wenn ihr Ausmaß verschieden aussah. Französische Frauen wurden von amerikanischen und deutschen Soldaten vergewaltigt, Polinnen von deutschen und sowjetischen Militärs und so weiter, bis sich der Kreis schloss. Der Mythos des Kriegers schrieb es vor, den Triumph mit einer sexuellen Eroberung zu feiern, egal, welcher Nationalität die Frau zugehörig war. Das bedeutete, dass nicht nur Frauen aus dem Zivilleben Vergewaltigungen ausgeliefert waren, sondern auch entlassene Zwangsarbeiterinnen oder befreite Gefangene aus den Konzentrationslagern. Es war eine wahre Vergewaltigungswelle. 18
Wenn man die Vergewaltigungen Ende des Zweiten Weltkrieges speziell am Beispiel von Berlin näher betrachtet, kann man den 22. April 1945 als Beginn des Martyriums für eine Vielzahl von Frauen benennen. An diesem Tag überquerte der erste sowjetische Panzer die Stadtgrenze von Berlin. Zeitzeugen sprechen davon, dass bis zu 800.000 Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee in Berlin stattgefunden haben.19 Wenn das wirklich stimmt, würde das bedeuten, dass fast jeder Soldat der Roten Armee, eine Frau zweimal vergewaltigt oder jeder dritte oder vierte Rotarmist diese Tat öfter als zweimal begangen hat. Die offiziellen Angaben zu diesen Handlungen sehen vollkommen anders aus, sie werden nämlich auf etwa 100.000 beziffert. Die Zahl ist deshalb so klein, da viele Frauen mehrfach vergewaltigt wurden und auch viele anschließend Selbstmord begangen haben. Zahlreiche Opfer hatten Angst, ihre Vergewaltigung anzuzeigen, sie öffentlich zu machen, sie schämten sich, sich in medizinische Behandlung zu begeben oder sogar es ihren engsten Familienangehörigen zu erzählen.20
Das Thema der Vergewaltigung wurde schon lange vor dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Nazi-Deutschland von der deutschen Propaganda benutzt:
„Mit vorgehaltener Waffe zieht diese Soldateska von Haus zu Haus und stiehlt Uhren und Schmuck, verlangt Schnaps und Zigaretten. Am Abend durchsuchen die innerasiatischen Wüstlinge der Wohnungen nach jungen deutschen Frauen und Mädchen, schänden sie unter brutalster Gewaltanwendung“.21
Die Angst wurde durch die NS-Medien weiter geschürt und als Element des Vernichtungsplan der deutschen Rasse verwendet. Anfangs waren vor allem sowjetische Soldaten die Vergewaltigungstäter, jedoch nach der ersten Phase der Eroberung wurden die Amerikaner zu den von Frauen am meisten gefürchteten Männern. Ihre Vergewaltigungen hatten den Charakter einer Machtdemonstration. Sie passierten auch an „heiligen Tagen“, also Sonntagen, die eigentlich zu beten und Kirchgängen gedacht waren, oft waren die Vergewaltiger alkoholisiert:
„Vergewaltigung der Frau war an der Tagesordnung. Es war egal, ob es Kinder oder Greisinnen waren. Eine 14-jährige musste ihren Kopf auf einen Stein legen und mehrere Männer über sich ergehen lassen, die sie mit einer Geschlechtskrankheit infizierten. Die Frauen waren wehrlos und damit rechtlos. Nacht für Nacht schrien Frauen nach dem Kommandanten, der natürlich nirgends zu finden war“.22
Die Soldaten hatte keine Angst vor den Konsequenzen ihrer Taten, geschweige denn vor den Behörden. Sowohl die Sowjets als auch Amerikaner gingen sogar soweit, dass sie sich speziell vorübergehende Räumlichkeiten einrichteten, um dort über mehrere Tage hinweg die verschiedensten Frauen sexuell zu missbrauchen. Es war ein Spaß für sie, eine Abwechslung nach den Kriegsjahren. Manche Männer betrachteten das als eine Art Sport und rühmten sich der Zahl der Vergewaltigungen, bei denen sie Täter waren.23
Manchmal geschah es auch, dass Frauen und Mädchen brutal von einer ganzen Gruppe alliierter Soldaten in aller Öffentlichkeit vergewaltigt wurden, wobei sie Soldaten eine Warteschlange bildeten. In einigen Fällen erreichten diese Gewalttaten noch einen weiteren Höhepunkt: die Körper der vergewaltigten Frauen wurden aufgeschlitzt oder sie wurden sofort nach der Vergewaltigung per Kopfschuss getötet.24
Eine der spektakulärsten Gruppenvergewaltigungen fand Oktober 1945 in Frankfurt am Main statt. Es war einer der wenigen Missbräuche, die durch die alliierte Armee überprüft worden sind. Beschuldigt wurde damals der amerikanische Soldat Walter M.C., Gefreiter des 204. Feldartilleriebataillons. Man warf ihm vor, gemeinsam mit vier anderen Soldaten in Frankfurt am Main zwei deutsche Frauen mit Waffengewalt in ein Haus gedrängt und vergewaltigt zu haben. Der Vorfall sprach sich schnell in Militärkreisen herum, bis sogar General Dwight D. Eisenhower, der damalige Oberbefehlshaber der alliierten europäischen Truppen, davon hörte. Als es zur Anhörung kam, behauptete der Soldat Walter M.C., dass die Vergewaltigungsvorwürfe in Wahrheit eine Lügenpropaganda der deutschen Frauen war, um die amerikanische Armee zu destabilisieren. Solchen Männern gegenüber hatten die vergewaltigten Frauen kaum eine Chance, überhaupt angehört zu werden, geschweige denn, dass man ihnen Glauben schenkte.25
Interessant erscheint die Tatsache, dass die Siegermächte zwar unterschiedliche Strategien in der Eroberung Nazi-Deutschlands und im Umgang mit der deutschen Bevölkerung hatten, aber die Vergewaltigungen genauso begangen haben. Die Faktoren, die die soldatische „Vergewaltigungskultur“ förderten, waren gleich. Es war vor allem das Bild der deutschen Frau und das Geschlechtermodell der damaligen Zeit, die zur sexuellen Gewalt gegen Frauen führten.26
Die Frauen waren den Vergewaltigungen restlos ausgesetzt, denn in nur sehr wenigen Fällen stellte sich ein Mann vor seine Frau, um sie zu schützen. Bei so einer Tat riskierte er sein Leben. Die meisten Männer versteckten sich hinter ihren Frauen und versuchten, ihr Verhalten irgendwie rechtfertigen. Manche von ihnen versuchten ihr Gewissen zu beruhigen, indem sie den Akt der Vergewaltigung mit dem ihnen bei Protest bevorstehenden sibirischen Zwangslager herunterspielten. Andere Männer fanden, dass ihre vergewaltigten Frauen und Töchter eine Schande waren und dass sie nur noch den Tod verdienten. Sie schickten die vergewaltigten Familienmitglieder in den Tod oder vernichteten gleich ihre ganze Familie, einschließlich sich selbst. Die Scham und Schande, die über die Familie gekommen war, konnte ein Mann aufgrund der Männlichkeitsideologie und dem männlichen Selbstbild nicht ertragen. Ihre Illusionen von Macht und Besitz wurden durch die Schändungen des Siegers vollkommen zerstört. Der Wert der Frau, die als Besitz des Mannes betrachtet wurde, verringerte sich. Ehemänner, Verlobte, Väter und Freunde wandten sich von den geschändeten Frauen ab. Ehen endeten, Verlobungen wurden aufgelöst, Beziehungen hatten keine Chance, sich weiterzuentwickeln. Zu alledem wurden den Frauen Mitschuld an den Vergewaltigungen gegeben. Angeblich würden sie die ausländischen Soldaten selbst provoziert haben.27
Bis heute wird über die Zahl der Vergewaltigungsopfer und der Verbrechen selbst weitgehend geschwiegen. Die misshandelten Frauen sind offiziell keine Opfer des Zweiten Weltkrieges. Es gibt für sie keine nennenswerten Erinnerungsorte, keine Erinnerungsrituale und auch keine Feierlichkeiten zu ihrem Anlass. Es gab auch nie eine Entschuldigung, etwas, was von den heutigen Frauenrechtsorganisationen gefordert wird. Es scheint so, als wäre der Gedanke an die Vergewaltigungsopfer viel problematischer als zum Beispiel die Thematik der Vertriebenen und Flüchtlinge aus dem Osten.
„Da viele Frauen im Kontext von Vertreibung und Flucht vergewaltigt worden sind, mag es sein, dass sie zunächst einem doppelten Schweigegebot unterworfen waren - als Vertriebene beziehungsweise Flüchtlinge und als Vergewaltigungsopfer. Allerdings erfuhren auch Frauen aus kleinsten Dörfern in Bayern, in Südwestdeutschland, in der Pfalz oder in Westfalen dasselbe Schicksal, nur dass meist westliche Soldaten die Täter waren. Auch diese Opfer sprachen nicht über das, was damals geschah“.28
Konsequenz und zugleich traurige Wahrheit ist die Tatsache, dass die bislang ausgebliebenen Auseinandersetzungen mit den massenhaften Vergewaltigungen mit dem Ende des Krieges häufig noch lange nicht vorbei waren. Zahlreiche Opfer mussten noch Jahre später mit den demütigenden Belastungen leben. Besonders betroffen waren die, die infolge der sexuellen Angriffe mit Krankheiten infiziert wurden oder schwanger wurden. Diese Frauen mussten ein Leben lang mit den Konsequenzen der schrecklichen Taten leben und waren nicht im Stande, diese Erlebnisse zu vergessen. Ein Neuanfang nach dem Krieg war unmöglich. Die Frauen wurden von ihrem Umfeld geächtet und es wurde hinter ihrem Rücken über sie geredet und ihr Verhalten kritisiert. Sie mussten in der ständigen Angst leben, dass ihr Ehemann sie verlasen wird und sie allein den Rest ihres Leben verbringen müssen. Andere, die nach der Vergewaltigung schwanger wurden, konnten mit einem sogenannten Besatzungskind keinen Mann mehr finden. Zusätzlich mussten sie allein für das Kind aufkommen und somit alle finanziellen Kosten tragen.29
[...]
1 Prantl, Heribert: Wenn Geschichte ruhen soll. In: Süddeutsche Zeitung. 19 Mai 2010 http://www.sueddeutsche.de/politik/politik-und-ns-vergangenheit-wenn-die-geschichte-ruhen-soll-1.896034
2 Perels, Joachim: Der Mythos von der Vergangenheitsbewältigung.Die rechtliche Aufarbeitung von Hitlers Verbrechen ist überwiegend gescheitert oder folgte sogar der Logik des NS-Rechts. In: Die Zeit 26. 01.2006 http://www.zeit.de/2006/05/NS_Rechtsstaat
3 Hesse, Geneviève: Vergangenheitsbewältigung. Das schwere Erbe der NS-Zeit. In: Der Tagespiegel. 13.01.2011 http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/vergangenheitsbewaeltigung-das-schwere-erbe-der-ns-zeit/6027916.html
4 Schröder, Christian: Kriegsende in Berlin. Die Angst der Höhlenmädchen. In: Der Tagesspiegel. 14.12.2012 http://www.tagesspiegel.de/kultur/kriegsende-in-berlin-die-angst-der-hoehlenmaedchen/7518352.html
5 Schnabel, Clarissa: Mehr als Anonyma: Marta Dietschy-Hillers und ihr Kreis. Nordestedt 2013, S. 5
6 Bisky, Jan: Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen. Wer war die Anonyma in Berlin? Frauen, Fakten und Fiktionen. Anmerkungen zu einem großen Bucherfolg dieses Sommers. In: Süddeutsche Zeitung. 24. September 2003
7 Bisky, Jan: Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen. Wer war die Anonyma in Berlin? Frauen, Fakten und Fiktionen. Anmerkungen zu einem großen Bucherfolg dieses Sommers. In: Süddeutsche Zeitung. 24. September 2003
8 Ebd.
9 Harding, Luke: Row over naming of rape author. In: The Observer. 5 Oktober 2003
10 Bisky, Jan: Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen. Wer war die Anonyma in Berlin? Frauen, Fakten und Fiktionen. Anmerkungen zu einem großen Bucherfolg dieses Sommers. In: Süddeutsche Zeitung. 24. September 2003
11 Günter, Joachim: Unterstellung ist die beste Verteidigungstaktik. In: Rene Büchner Zeitung. 28 September 2003 http://www.nzz.ch/article94GKK-1.308998
12 Günter, Joachim: Walter Kempowski legt Gutachten vor „Eine Frau in Berlin“. In: Rene Büchner Zeitung. 19 Januar 2004 http://www.nzz.ch/article9CNMS-1.202394
13 Bisky, Jan: Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen. Wer war die Anonyma in Berlin? Frauen, Fakten und Fiktionen. Anmerkungen zu einem großen Bucherfolg dieses Sommers. In: Süddeutsche Zeitung. 24. September 2003
14 Seifert, Ruth: Vergewaltigung und Krieg. Ansätze zu einer Analyse. In: Stiglmayer, Alexandra: Massenvergewaltigung. Krieg gegen Frauen. Freiburg 1993, S. 106
15 Seifert, Ruth: Vergewaltigung und Krieg. Ansätze zu einer Analyse. In: Stiglmayer, Alexandra: Massenvergewaltigung. Krieg gegen Frauen. Freiburg 1993, S. 111
16 Gebhardt, Miriam: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges. München 2015, S. 76
17 Ebd., S. 51
18 Gebhardt, Miriam: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges. München 2015, S. 77
19 Sander, Helke/ Johr, Barbara: BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder. München 1992, S. 15
20 Ebd., S. 46
21 Sander, Helke/ Johr, Barbara: BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder. München 1992, S. 23
22 Erlebnisbericht in Sonderheft Courage Nr. 3 „Alltag im 2. Weltkrieg“, S. 58
23 Gebhardt, Miriam: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges. München 2015, S. 79
24 Grossmann, Anita : A question of silence: the rape of German women by occupation soldiers. In: Moeller, G.Robert: West Germany under Construction. Politics, Society an Culture in the Adenauer Era. Michigan 1997, S. 43
25 Gebhardt, Miriam: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges. München 2015, S. 40
26 Ebd., 80
27 Sander, Helke/ Johr, Barbara: BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder. München 1992, S. 31
28 Gebhardt, Miriam: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges. München 2015, S. 78
29 Gebhardt, Miriam: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges. München 2015, S. 80