Bachelorarbeit, 2018
51 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung oder auch: Über die Notwendigkeit vor den Kopf gestoßen zu werden
2. Ich – Die Ausländerin oder auch: Simmels Fremder reist an
2.1 Wenn selbst die einfachsten Dinge schwierig werden: Der Untergang meines common sense
2.2 Eine Performance des Andersseins: Wir Austauschstudenten aus dem Globee Dorm
3. Der Lernprozess einer Fremden: Ein Balanceakt zwischen Anpassung und zweifelhafter Loyalität oder auch: Die Assimilation beginnt
3.1 Mein Beitritt in einen koreanischen Studentenclub: Wie ich durch das Erlernen des Nunchis auf Akzeptanz von Koreanern traf
3.2 Mein Dilemma: Wenn Objektivität lästig und Loyalität zweifelhaft wird
4. Kennen Sie schon Ji-Won? oder auch: Eine assimilierte Fremde aus der Ferne
4.1 So ähnlich und doch so unterschiedlich zugleich: Die anderen Ausländer und ich
4.2 Von der Assimilation zu Inklusion und Marginalität: Wir marginal men der Neuzeit
5. Ich – Der kulturelle Bastard oder auch: Ji-Won kehrt nach Deutschland zurück
6. Fazit und soziologischer Ausblick oder auch: Der Fremde des 21. Jahrhunderts als Idealtypus hyperkultureller Identitäten
Literaturverzeichnis
Die Ihnen vorliegende Arbeit wäre ohne die Unterstützung vieler Menschen nie entstanden und so möchte ich ihre Namen gerne zu Papier bringen.
Ich bedanke mich bei Herrn Robert Mitchell, der mich nicht nur bei meinem Vorhaben nach Südkorea zu gehen mit einem Empfehlungsschreiben unterstützte, sondern sich auch direkt nach meiner Rückkehr der Betreuung und Begutachtung dieser Arbeit annahm und mir stets konstruktive Kritik entgegenbrachte, die das Anfertigen dieser erheblich erleichterte.
Ein großer Dank geht auch an Frau Annegret Werner und die Hankuk University of Foreign Studies, die es mir nicht nur ermöglichten einen meiner größten Wünsche des Auslandssemesters zu verwirklichen, sondern mich während dieser Zeit ebenfalls stets unterstützen. Dank Ihnen wurde ein ferner Ort zu meinem zweiten Zuhause.
Natürlich möchte ich mich an dieser Stelle auch bei all meinen Freunden Tanya Kim, Rachael Willies, Angela Meyer, José, George Davis, Dahoon Kim, Subin Oh, Caleb Oh, Min Hwangbo, Nahyun Kim, Jae-eun Kim, Minhye Seok, Taekyung, Heady Fortuna, Taylor Hemmington, Jung-ah An und bei dem Team von Beatholic bedanken, da durch sie die vielen Anekdoten in dieser Arbeit entstanden sind. Ich dürfte viel über die Welt, über andere Kulturen und vor allem über mich selbst lernen.
Dass ich mit einem Lächeln im Gesicht auf meine Zeit an der Johannes Gutenberg- Universität zurückschauen werde, verdanke ich vor allem meinen guten Freunden Dominik Freund, Sophia Miller, Leyla Gür, Franziska Spoerl und Annika Pietrus mit denen ich alle Hürden des Studentendaseins Hand in Hand durchlaufen konnte und die mir auch nach meiner Rückkehr eine große Stütze waren.
Natürlich möchte ich mich auch bei meinen Eltern und der Familie bedanken. Sie haben mich bei all meinen waghalsigen Ideen unterstützt, hatten auch beim Verfassen dieser Arbeit stets ein offenes Ohr für mich und waren an guten wie in schlechten Tagen mein Fels in der Brandung.
Wie dankbar ich bin, werde ich vermutlich nie in Worte fassen können.
Diese Arbeit widme ich ihnen.
Laura-Isabelle Heyll
Wiesbaden, 10.1.2018
„Sage mir, was dir fremd ist, und ich sage dir, wer du bist“
-Schäfer / Schlöder 1994: 71
Als ich mich im Sommer 2016 dazu entschloss in ein Flugzeug zu steigen, meine Familie und Freunde, meine Routine und all das Bekannte und Vertraute in Deutschland zu lassen, war mir ehrlich gesagt nicht bewusst in welches Abenteuer ich mich stürzen würde. So mancher mag meinen, dass die Jahre, die ich vor meiner Abreise mit dem Wälzen von Texten Bordieus, Simmels, Goffmans und Luhmanns verbracht hatte, mich auf ein so großes Abenteuer am anderen Ende der Welt vorbereitet hätten. Ich meine wir sind doch wohlbelesene Soziologiestudenten oder? So können wir mit Statistiken erklären warum das deutsche Abitur immer mehr an Wert verliert, mit der Rational-Choice Theorie warum Menschen in manchen Situationen eigentlich eher irrational handeln und selbst die einfachsten Dinge wie Fahrstuhlfahren in ein komplettes Wirr-Warr an Beobachtungen und Theorien verwandeln. Schließlich nannte Max Weber all dies, unser soziologisches Wissen mit dem wir scheinbar die Wirklichkeit erklären können, nicht umsonst ‚die Entzauberung der Welt’, nicht wahr?
Und dennoch warf mich nichts mehr in eine absolute existenzielle Krise als eben genau diese angeblich entzauberte Welt höchstpersönlich. In anderen Worten: Obwohl ich die anfänglichen Probleme eines jeden Soziologiestudenten bewältigt, mich wie Indiana Jones durch den Dschungel der Theorien geschlagen und schließlich das angsteinflößende Monster namens ‚Statistikklausur’ furchtlos besiegt hatte, sah ich mich der fremden Welt dort draußen komplett ausgeliefert. Diese warf mich nun wie der schlecht programmierte Endboss eines noch schlechter programmierten Nintendo Spiels der 1990er zu Boden, ließ mich jegliches zuvor gelernte soziologische Wissen vergessen und nun wie mein verwirrtes 19-Jähriges Ich, das damals aus purer Naivität überhaupt ein Studium der Soziologie wagte, zurück.
Wie es dazu kam? Ganz einfach: Ich ging für zwei Semester ins Ausland. Mein Flugticket brachte mich jedoch nicht nach Norwegen, Spanien oder Amerika. Nein, meine Boeing 777 landete am 25. August 2016 in Seoul, der Hauptstadt Südkoreas. Gewappnet mit einem koreanischen Vokabular aus gefühlten 15 Wörtern und meiner harterarbeiteten soziologischen Brille (ich erinnere nochmal an den Dschungel aus Theorien und das Monster aus der Statistik Hölle) sah ich mich nun perfekt vorbereitet auf die nächsten 10 Monate im Ausland (später sollte sich herausstellen, dass ich jedoch für 14 Monate bleiben würde). Mein Ego meinte damals doch allen Ernstes ich wäre nun auf jeglichen Culture Shock und jeglichen Moment der Verwirrung perfekt vorbereitet. Doch um dies schon mal vorweg zu nehmen: Ein Blick in ein Soziologiebuch gleicht nicht hundertprozentig einem Blick in die Wirklichkeit dort draußen. Für Sie ist das keine neue Erkenntnis, nicht wahr? Und dennoch bitte ich Sie mich zu begleiten. Blättern Sie weiter, lassen Sie die 8.582 Kilometer zwischen Mainz und Seoul zurück und begleiten Sie mich auf meiner Reise ans andere Ende der Welt. Sehen Sie dies als ein Experiment. Ein soziologisches Experiment an niemand geringerem als mir selbst. Ein Experiment, das aufzeigt wie Soziologie in der Praxis funktioniert. Dabei steht das Thema Fremdheit stets im Vordergrund. Was geschieht mit dem Individuum, wenn es plötzlich zum Fremden wird? Wie entwickelt es sich in der fremden Umgebung und welche Rolle spielen dabei die anderen Individuen der Aufnahmegesellschaft? Wie erlernt der Fremde jene zivilisatorischen und kulturellen Muster der unbekannten Gruppe? Welchen Einfluss hat dies auf seine Identitätsbildung und wie wird aus dem einstigen Fremden letztlich ein kultureller Bastard, gefangen zwischen zwei Welten?
Schließlich ist die Diskussion der Fremdheit in der Soziologie nun auch nichts Unbekanntes. So legte Georg Simmel 1908 mit seinem Werk ‚Exkurs über den Fremden’ den Grundbaustein der Migrationssoziologie und auch Alfred Schütz folgte 1944 mit seiner ähnlich betitelten Abhandlung über den Fremden und seine Aufnahme in der neuen Umgebung. Zwei weitere Soziologen, die hier in den späteren Kapiteln eine wichtige Rolle spielen werden sind Robert E. Park, der Gründer der Chicagoer Schule der Soziologie und sein Schüler Everett V. Stonequist, die mit ihrem Konzept des marginal man einen der wichtigsten Beiträge in der Kultursoziologie leisteten. Auch Harmut Esser beschäftigt sich in seinem Werk ‚Aspekte der Wanderungssoziologie’ mit der Assimilation und Integration des Fremden. Und dennoch lassen sich kaum detaillierte Berichte über das Fremdsein aus erster Hand finden. Anders gesagt: Lassen Sie mich selbst zum von Simmel und Schütz beschriebenen Fremden werden und Ihnen erklären was es mit dem Phänomen der Fremdheit auf sich hat und vor allem – wie ich dadurch die Mitgliedschaft im Club der kulturellen Bastarde erlangte. In Zeiten der Globalisierung, in der das Stichwort ‚Flüchtlingskrise’ kaum noch aus den Nachrichten wegzudenken ist, es viele Schüler, Studenten und Fernwehgeplagte ins Ausland zieht und wir durch die neuen Medien immer mehr mit fremden Kulturen und Gesellschaften konfrontiert werden, ist das Thema Fremdheit aktueller denn je. Dass die Erfahrung des Reisens auch Einfluss auf die Identität und den Zusammenschluss von Individuen hat wird durch die Konzepte des marginal man und kulturellen Bastards, edgewalkers und der Third-Culture-Kids deutlich.
So habe ich also nun alle Fotos, Videos, Tagebuch- und Blogeinträge der letzten 14 Monate zusammengetragen, meinen gesamten Auslandsaufenthalt als detailreiche Mindmap und komplex verzweigtes Soziogram aufgezeichnet und Literatur von Schütz und Esser über Stonequist bis zu Mead durchgearbeitet. Mit meinen emotionsgeladenen Erinnerungen auf einem Blatt Papier aufgeschrieben und mit Fotos meiner koreanischen Freunde vor mir liegend, die mir während dieser Zeit unbewusst mehr über das Leben und die Soziologie beibrachten als sie jemals verstehen werden, treten wir nun diese soziologische Reise an. Anstatt jedoch wahllos in irgendwelche Situationen und Themengebiete hineinzuspringen, beginnen wir ganz vorne. Nämlich am Anfang unserer Reise: Die Ankunft eines 21-jährigen eurasischen Mischlingskindes (lassen wir die politische Korrektheit hier mal bei Seite, denn das bin ich nun mal) am Flughafen Incheon in Südkorea.
August 2016 – Dezember 2016
„[…] der Fremde ist nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt […]“ lautet eines der bekanntesten Zitate Georg Simmels in seinem Werk ‚Exkurs über den Fremden’ (Simmel 1992 [1922]: 764). Auf den folgenden Seiten möchte ich den Fremden also als ein Individuum definieren, das sich über die Grenzen der eigenen Gesellschaft heraus- und in eine fremde Gesellschaft mit fremden Normen und Werten, Sitten und Gebräuchen hineinbegibt. Die räumliche Nähe des Fremden und seine gleichzeitige Verkörperung des Unbekannten prägt die Beziehung zwischen dem Neuankömmling und den anderen Individuen und wird als ständiger Balanceakt aus Nähe und Distanz beschrieben (Simmel 1992 [1922]: 765).
Einer ähnlichen Definition bedient sich auch Alfred Schütz zwanzig Jahre später. So beschreibt er den Fremden als Individuum, das in Hoffnung von einer anderen sozialen Gruppe geduldet und akzeptiert zu werden, sein Verhältnis zu deren Zivilisationsmustern und Kultur zu definieren versucht (Schütz 1972 [1944]: 53). Genauso wie bei Simmel auch, ist der objektive Blick, den der Fremde auf die neuen Zivilisationsmuster besitzt, eines seiner beziehungsprägenden Charakteristika (Schütz 1972 [1944]: 68; Simmel 1992 [1922]: 766).
Die Definition des Fremden basiert meistens auf der Zuschreibung des ‚unbekannten’. So bezeichnen wir im Alltag alles, was für uns unbekannt ist als fremd. Wir unterscheiden zwischen fremden Kulturen, fremden Sprachen, fremden Gerichten und Fremden als Individuen, denen wir auch im Alltag über den Weg laufen. Durch die deutliche Unterscheidung zwischen dem Bekannten und Unbekannten wird also deutlich, dass der Fremde nur existieren kann, wenn wir uns dem Nicht-Fremden bewusst sind - ganz nach dem Motto: „Sage mir, was dir fremd ist, und ich sage dir, wer du bist!“ (Schäfer / Schlöder 1994: 71). Mit diesen Definitionen im Hinterkopf möchte ich nun in diesem Kapitel die ersten Monate eines typischen Fremden in einer neuen Umgebung illustrieren.
Es beginnt mit der Ankunft von Simmels Fremden, der nach einem zwanzigstündigen Flug mit ein paar Kleidungsstücken und dem gesunden Menschenverstand gewappnet auf die erste Krise eines jeden Wandernden trifft: Den Kulturschock.
Mittwoch, der 24. August 2016
So hatte ich kurze Zeit sp ä ter mein Zimmer gefunden, meinen Koffer ausgepackt und versucht mit meiner Mitbewohnerin das Eis zu brechen. Ihr Name war Tanya, eine 1,60m gro ß e Russin mit koreanischen Wurzeln und rötlichen Faustbäckchen. Es war schon ihr 5. Semester an der Uni, was die Masse an B ü chern ü ber ihrem Schreibtisch erkl ä rte und somit auch ihr 5. Semester im Studentenwohnheim, hatte sie mir kurze Zeit sp ä ter, als ich das erste Mal erschöpft auf meinem Bett lag, erzählt. Sie hatte bereits über zehn Mitbewohner ein- und ausziehen sehen, was im Nachhinein ihre Gelassenheit am Einzugstag erklärte und gab mir eine kurze Willkommensrede darüber, was mich in den nächsten Monaten wohl so erwarten würde: „Die meisten Austauschstudenten bleiben nur für ein Semester oder nur für die Ferien. Viele gehen relativ zügig wieder nach Hause. Liegt am Kulturschock oder so. Nicht alle können mit Koreanern umgehen. Außerdem mögen viele das scharfe Essen nicht. Und Koreaner sind immer ehrlich. Wenn sie finden, dass du heute nicht gut aussiehst, dann sagen sie dir das. Und wenn sie sagen dein Gesicht sei klein, dann sieh das als Kompliment. Bedank’ dich aber nicht. Das ist unhöflich.“ Sie hielt kurz inne. „Wie auch immer. Du wirst bald sehen, dass die Dinge hier anders laufen als bei dir zu Hause“, sagte sie letztendlich, ihren Mund nun zu einem ermutigenden Lächeln verzogen, „aber ich bin mir sicher du packst das!“ Sie schob sich wieder ihre Kopfhörer in die Ohren, wandte sich ihrem Laptop zu und schien mich im nächsten Moment auch schon wieder vergessen zu haben.
Der Begriff Kulturschock wurde 2008 vom Anthropologen Bart Van Leeuwen als „ […] a subjectively experienced lack of connection to the cultural environment“ beschrieben (Van Leeuwen 2008: 151). Durch die neue Umgebung fühlt sich das Individuum in eine Krise geworfen, da jegliches Vertraute und Altbekannte aus der Heimat fehlt. Die Dinge in der neuen Umgebung laufen anders und müssen vom Individuum neu erlernt werden, weshalb es akkulturativem Stress ausgesetzt ist (Dow 2011: 221). Außerdem muss es sich erst an die Umgebung und deren unbekannte Normen und Werteordnungen gewöhnen, kann das Verhalten seiner Mitmenschen oft nicht verstehen oder gar vorhersehen und fühlt sich plötzlich wie ein kleines hilfloses Kind, das alles wieder neu lernen muss. Dieser Stress führt anfangs oft zu Depression, Verwirrung, Unwohlsein und Momenten der Angst (Dow 2011: 221; Van Leeuwen 2008: 151). In seinem Werk ‚Aspekte der Wanderungssoziologie’ beschreibt Esser 1980 den Kulturschock als „[…] plötzliche Erkenntnis des Zusammenbruchs des vertrauten Relevanzsystems der Umgebungsbereiche und des „Denkens-Wie-Üblich […]“ (Esser 1980: 73). Dieses ‚Denken-wie-Üblich’, das Esser hier anspricht und im Alltag oft common sense genannt wird, schauen wir uns im Folgenden genauer an:
Mein grummelnder Magen zwang mich also noch am selben Tag mein Zimmer auf eigene Faust zu verlassen und mich auf die Suche nach etwas Essbaren zu begeben. Nun stand ich also am Haupteingang der Universit ä t, mit einer riesigen Kreuzung vor mir und ganz vielen anders aussehenden Menschen neben mir. Viele trugen Ihre Studentenjacken mit dem Symbol unserer Uni auf dem R ü cken und ihren Namen an der Seite eingraviert, w ä hrend sie super besch ä ftigt auf ihr Smartphone starrten, oder sich mit ihren Freunden unterhielten. Normalerweise h ä tte ich an dieser Stelle einfach jemanden nach Rat gefragt. Doch zu allererst gab es diese riesige Sprachbarriere zwischen uns (mein koreanisches Vokabular glich zu diesem Zeitpunkt noch dem eines f ü nfj ä hrigen Jungens und viele Koreaner k ö nnen schlichtweg kein Englisch) und ich wusste nicht so recht, wie ich mich artikulieren sollte ohne dabei wie ein kompletter Vollidiot zu klingen. Die Frage ‚Entschuldigung, wo isst man denn hier so?’ oder ‚Was esst ihr eigentlich um diese Uhrzeit?’ klingen eigentlich nach ziemlich ü berfl ü ssigen Fragen. So was wei ß doch jeder Mensch, dachte ich mir in dem Moment. Und obwohl man meinen sollte, dass jeder Mensch nun mal wei ß , was er wo und wann und wie zu essen hat, war das f ü r mich in dem Moment eine ernsthafte Frage. In Deutschland h ä tte ich jetzt Nudeln aufgekocht und dazu eine Tomatenso ß e aus der Dose ge ö ffnet oder w ä re schnell zum n ä chsten Supermarkt marschiert. Hier jedoch, kannte ich weder einen Supermarkt, noch wusste ich wie diese aussehen und von Nudeln mit Tomatenso ß e war auch weit und breit keine Spur.
Common sense nach Van Leeuwen wird definiert als ein gemeinsamer Wissensvorrat der Individuen über den ein stillschweigender Konsens herrscht und den Individuen zu alltäglicher unproblematischer Kommunikation verhilft (Van Leeuwen 2008: 150). Auch Alfred Schütz definierte dies 1944 als: „[…] ein Wissen von vertrauenswerten Rezepten, um damit die soziale Welt auszulegen und um damit mit Dingen und Menschen umzugehen, damit die besten Resultate in jeder Situation mit einem Minimum von Anstrengung und bei Vermeidung unerwünschter Konsequenzen erlangt werden können.“ (Schütz 1972 [1944]: 58). Dieser common sense ist der Grund weshalb Individuen innerhalb einer Gesellschaft sicher und ohne ständige Zweifel durchs Leben gehen können und beinhaltet jegliche Zivilisationsmuster, die das Individuum für das Leben innerhalb der Gruppe wissen muss (Schütz 1972 [1944]: 54). So wie mein Beispiel eben gezeigt hat, ist auch das Thema Nahrung eigentlich etwas was unter den common sense fällt. So lernt das Individuum von klein an was als essbar gilt und was nicht, was als lecker zu empfinden ist und welche Gerichte mit einem angeekelten Naserümpfen abzutun sind. Dieses Wissen wird dem Individuum jedoch nicht einfach so in die Wiege gelegt, sondern während der Sozialisation durch andere Individuen, wie die Eltern, Geschwister und Lehrer weitergegeben und reproduziert (vgl. Schütz 1972 [1944]: 57; Van Leuween 2008: 150). Dem Fremden wird also schon hier bewusst, dass sein ‚Denken-wie-üblich’ in der neuen Umgebung nun nicht mehr greift.
Verzweifelt entschied ich mich also zu einem convenience store1 auf der anderen Straßenseite zu gehen. Schließlich hatte ich davor in Deutschland mal ein Youtube-video über die koreanischen convenience stores (oder auch pyeonijeom, wie Koreaner sie nennen) gesehen und wusste, dass ich dort auch etwas zu Essen finden würde. Die Ampel zeigte endlich grün für uns Fußgänger und schon setzen sich die Menschenmassen auf allen Straßenseiten in Bewegung. Anders als in Deutschland, wo die Ampel nur für zwei Straßenseiten gilt, gelten die Ampeln an koreanischen Kreuzungen für jede Seite. Den Wartenden steht also nicht nur zur Verfügung von links nach rechts oder von vorne nach hinten zu laufen, sondern auch die Straße diagonal also quasi in einem Kreuz zu überqueren, was an einer so belebten Kreuzung für jeden Neuankömmling wie ein riesiges Chaos aussieht. So stellte sich das Manövrieren meines hungrigen Körpers also deutlich schwieriger heraus als sonst, denn jetzt kamen Menschen aus allen Richtungen auf mich zu. Die Bewegungen der mir entgegenkommenden Menschen richtig zu interpretieren und ohne einen Zusammenstoß elegant auszuweichen, war hier also bereits eine Herausforderung an sich. Erschwert wurde dies auch durch die Mopedfahrer, die das grüne Licht der Fußgängerampel ebenfalls als Aufforderung sahen die Kreuzung zu überqueren. Ich versuchte also nicht nur den anderen Fußgängern auszuweichen, sondern auch den Mopedfahrern und dabei so entspannt zu wirken wie alle anderen auch. Die verzogen nämlich keine Miene und sprangen den rasenden Mopedfahrern nicht erschrocken so wie ich zur Seite, sondern liefen ohne auch nur einen Blick an sie zu verschwenden einfach weiter.
‚Willst du nach links? Ach Mist, fast dagegen gelaufen. Wie peinlich. Und was zum Teufel, woher kommst du denn jetzt? Verdammt...Und ich dachte du willst nach rechts. Warum läufst du denn dann hier entlang?’ ,
war nur ein Auszug des amüsanten Monologes in meinem Kopf. Ich war durch das plötzliche Erscheinen der Mopedfahrer nervös und gleichzeitig peinlich berührt, eben weil mich dies so nervös machte. Nachdem ich also doch einen peinlichen Zusammenstoß und einige verwirrte Blicke später heil auf der anderen Seite angekommen war, kam ich mir doch ein bisschen blöd vor. Selten war es für mich so schwierig gewesen eine Straße zu überqueren.
Schütz beschrieb diesen Moment in dem das Individuum das Andersartig sein der Umgebung entdeckt, als Erschütterung des Vertrauens in die Gültigkeit des habituellen ‚Denken-wie-üblich’ (Schütz 1972 [1944]: 62). Wie mein hagerer Versuch mich in einer neuen Kultur auf Nahrungssuche zu begeben also zeigt, geht der Kulturschock mit einem Untergang des common sense einher. Hier werden diejenigen Zivilisationsmuster, die das Individuum in seiner Heimat durch jahrelange Sozialisation erlernt hatte, mit einem Male zunichtegemacht. Stattdessen sieht es sich nun neuen Zivilisationsmustern gegenüber, die er selbst in Frage stellt, während die anderen Individuen in der neuen Umgebung diese unhinterfragt annehmen und weiterhin produzieren (Schütz 1972 [1944]: 59). Hier möchte ich zudem den Begriff cultural strangeness hinzufügen. Dieser 1999 von Waldenfelds definierte Begriff, bezieht sich auf die Fremdheit, die ein Individuum erfährt sobald es auf fremde Strukturen, Normen, Werte und Verhaltensmuster einer Gruppe stößt (Waldenfels 1999: zit. n. Van Leuween 2008: 154). Auch bei der Konfrontation mit dieser erfährt das Individuum Gefühle der Verwirrung, Depression und des Unwohlseins, die in meinem Fall alle zutrafen.
„Und? Wie war dein Tag?“, fragte Tanya als ich das Zimmer wieder betrat. Sie saß wie eine Stunde zuvor auch in ihrem grauen Pyjama, ihre schwarzen Haare zu einem Dutt geknotet an ihrem Schreibtisch und wendete ihren Blick nicht von dem flackernden Computerbildschirm vor ihr ab. Ich zog meine Turnschuhe aus und setzte mich auf mein Bett. „Es war...“, ich stockte, „...seltsam. Ich bin vor der Uni fast umgefahren worden. Und alle Leute sind in mich reingerannt. Voll peinlich!“ – „Diese riesigen Kreuzungen sind immer ein bisschen chaotisch. Ganz schlimm wird’s wenn die Kurse offiziell am Montag anfangen“, winkte sie ab und zeigte auf die Tüte vor mir, „ich sehe aber, du hast was zu Essen gefunden, huh Sherlock?“ Ich nickte. „Und willst du mir erzählen wie du dazu gekommen bist?“, bohrte sie weiter. Ich seufzte und schüttelte energisch den Kopf: „Davon will ich erst gar nicht anfangen“-
„Na dann, willkommen in Korea“, lachte Tanya, „so fühlt sich jeder am Anfang. Geht bald wieder weg. Immerhin hast du etwas zum Essen gefunden. Und das nächste Mal“, sie schaute kurz über die Schulter zu mir herüber, „fragst du mich einfach!“ Ich nickte und legte seufzend meinen Kopf aufs Kissen. Da war ich also. Eine 21-jährige junge Frau, die kompetent genug war sich ein Flugticket bis ans andere Ende der Welt zu kaufen, aber offensichtlich weder wusste wo sie etwas Essbares zu finden noch sicher die Straße überqueren konnte. Ich war nur noch verwirrt und erschöpft. Erschöpft vom chronischen Zustand des Stresses und gestresst, weil ich das Gefühl hatte, dass alles plötzlich einfach anders war als ich bis dahin gewohnt war. „So fühlt sich also das Fremdsein an “, schoss es mir durch den Kopf.
Donnerstag, der 22. September 2016
Nachdem der erste Kulturschock auch schon ziemlich schnell überwunden und ich die ersten Kurse an meiner Gasthochschule besucht hatte, fand ich mich eines Abends auf den gigantischen Holztreppen vor dem Hauptgebäude unserer Universität wieder (ein Ort, der mir für immer als Symbol des sinnlosen Binge-Drinkings2 in Erinnerung bleiben würde). Es war einer dieser schwülen Donnerstagabende im September, einer der letzten heißen Tage des Jahres. Leicht beschwipst vom vielen Soju (das beliebteste alkoholische Getränk Südkoreas, ohne das es vermutlich nur halb so viele lustige Geschichten von meinen durchzechten Nächten in Seoul geben würde), saß ich also mit einer Gruppe ebenso beschwipster Austauschstudenten auf dem Campus. Unsere Gruppenkonstellation klang bereits nach Ärger: So gab es zum einen den Waliser George, der mit seinen engelsgleichen blonden Haaren zwar unschuldig aussah, es aber jedes Mal ungewollt aufs Neue schaffte sich wie ein gigantischer Elefant in einem kulturellen Porzellanladen zu verhalten. Neben ihm, an einer Bierflasche nuckelnd saß Rachael, eine feministische Irin aus Cork, die auf eine unglaublich liebenswürdige Weise wie ein Pirat fluchte und deren lautes Lachen selbst am anderen Ende Seouls noch zu hören war. Gerade dazu gestoßen war schließlich Angela, Journalistik Studentin aus New Mexico, die sich jeden Tag um Punkt 1 Uhr beim Mittagessen in der Cafeteria über ihren typisch koreanischen Freund aufregte, während unser ebenfalls nun anwesender Freund José, der ehrlich gesagt manchmal mehr Schönheit als Verstand besaß, von ihrem Temperament eingeschüchtert neben uns unauffällig seine Nudelsuppe schlürfte. „Ich checks nicht!“, durchbrach er schließlich das Schweigen und kickte gekonnt den leeren Plastikbecher seiner Nudelsuppe ins Gebüsch neben uns, „mein Dozent hat heute gemeint, dass ich das Skript für mein Referat komplett auswendig lernen soll. Ey, wer macht denn so was?“ – „Asiaten“, winkte Rachael ab und öffnete eine neue Flasche Soju, „die sind richtige Maschinen beim Lernen. Ich schwöre. Die hauen sich den ganzen Lernstoff rein und kotzen ihn dann beim Lehrer wieder aus. Wir aus dem Westen sind da halt lockerer“. Ich nickte zustimmend.
Bevor wir hier fortfahren, möchte ich an dieser Stelle sowohl auf symbolische als auch auf ethnische Grenzziehungen eingehen. So werden symbolische Grenzziehungen als Unterscheidungen definiert, die von den handelnden Individuen selbst durchgeführt werden und Artefakte, Handlungen und Personen in Gruppen einteilen und somit zu einem Gemeinschaftsgefühl innerhalb der jeweiligen Personengruppen beitragen (Lamont 1992: 9, Lamomont / Molnar 2002: 168: zit. n. Sachweh 2013: 10). Der Soziologe Michèle Lamont unterschied während seiner Untersuchung der oberen Mittelklassen in Frankreich und Nordamerika 1996 zwischen kulturellen, sozialen und moralischen Grenzen (Lamont 1996: 15), wobei kulturelle Grenzziehungen durch Bildungszertifikate und Intellektualität, soziale Grenzziehungen durch die sozioökonomische Position des Individuums und moralische Grenzziehungen durch Persönlichkeitsmerkmale und Wertevorstellungen gezogen werden (Sachweh 2013: 11). Jedoch können Grenzziehungen auch aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit von Individuen erfolgen und führen auch hier zu einer Unterscheidung zwischen Wir und Sie (Wimmer 2008: 975). Ethnische Grenzziehungen nach Esser werden meistens aufgrund von Sprache, Rasse, Habitus, Religion und Lebensstil gebildet (Esser 1980: 120). Mit der Kategorisierung und daraus folgenden Abgrenzung der eigenen Gruppe, wird von den Individuen automatisch auch die andere Gruppe kategorisiert (Back, 1996, Bond 1986: 260; Clifford, 1986, Hall, 2000: zit. n. Wiltgren 2017: 341). Dies wird deutlich als Rachael und José das Lernverhalten der eigenen Gruppe mit dem der Anderen vergleichen.
Der Unterricht hier in Korea war auch für mich eine Umstellung gewesen. Anders als in den Seminaren an der Mainzer Universität glich der Unterricht hier eher verschultem Frontalunterricht. Meistens saßen wir schweigend in der letzten Reihe (die unter den Austauschstudenten beliebtesten Sitzplätze) während wir gelangweilt auf unser Handy starrten oder bedeutungslose Karikaturen in unsere Hefte zeichneten. „Ich finde eher krass, dass ich in meinem Seminar nicht mal das Referat halten darf!“, warf ich schließlich ein, woraufhin ich überraschte Blicke der anderen erntete, „ernsthaft, heute meinte unsere Lehrerin doch wirklich, dass in der letzten Woche nur die Koreaner vor der Klasse präsentieren dürfen“. José schaute mich verdutzt an. „Und warum?“, fragte er. „Ja weil die Koreaner doch alle anders benotet werden als wir. Die werden auf einer relativen Skala benotet. Und wir auf einer absoluten Skala. Deshalb!“ – „Ist ja heftig. Aber sieh es positiv. Immerhin ersparst du dir den Stress“, kommentierte George und kicherte. „Schule beiseite. Wisst ihr was mir letztens passiert ist? Ich wurde die ganze Zeit von kleinen Kindern begutachtet“, fuhr er fort, „ich stand alleine in der Subway auf dem Weg zum Nachtclub. Nur Koreaner um mich herum. Und dann kam da so `ne Mutter mit drei kleinen Kindern rein. Die haben mich dann auch ständig angeguckt und auf mich gezeigt. Ich glaube der kleine Junge wollte sogar mit mir reden und meinte immer nur: Migook3 ! Migook! Und hat auf meine Haare gezeigt“ – „Das liegt nur daran, dass du weiß bist“, warf unser Mexikaner José ein, „ein typischer Waegukin eben. Wie aus dem Bilderbuch.“ An dieser Stelle sollte ich noch hinzufügen, dass das Wort Waegukin im Koreanischen Ausländer heißt – ein Wort, dass im Laufe unserer Zeit in Korea immer mehr an Bedeutung gewann und ein Wort, mit dem wir uns alle mittlerweile zu identifizieren schienen.
[...]
1 Ein kleiner Laden, vergleichbar mit einem deutschen Kiosk.
2 Vergleichbar mit Trinkgelage, Komasaufen, Besäufnis.
3 Koreanisch: Amerika (미국).
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