Examensarbeit, 2003
141 Seiten, Note: 1,0
1. Problemstellung, Zielsetzung und Gang der Untersuchung
2. Stigma – Begriffsabgrenzung
2.1 Stigma – Doppeldeutigkeit des Begriffs
2.2 Unterteilung von Stigmata (nach Goffman)
2.3 Stigma – ein relationaler Begriff
2.4 Stigma - ein soziales Vorurteil
2.5 Merkmale eines Stigmas – zusammengefasst
3. Stigmatisierung
3.1 Stigmatisierung – ein gesellschaftliches Phänomen
3.2 Zur Entstehung von Stigmata – Stigmatisierungsmechanismus
3.3 Mögliche Ursachen und Funktionen von Stigmatisierung
3.4 Stufen der Stigmatisierung nach Hensle
3.4.1 Stigma-Management
3.4.2 Störungen der Interaktion nach Goffman
3.4.3 Stigma-Durchsetzung: Der Stigma-Ansatz und der Labeling Approach
3.5 Auswirkungen der Stigmatisierung auf die sozialen Rollen und die Identität
3.6 Darstellung verschiedener Identitätskonzepte in Teilaspekten
3.6.1 Das Identitätskonzept von Goffman
3.6.2 Weiterführende Identitätskonzepte
3.6.3 Das Identitätsmodell von Frey
3.6.4 Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Identität
3.6.4.1 Die Selbstwahrnehmung
3.6.4.2 Die Selbstbewertung
3.7 Die beschädigte Identität
4. Institutionalisierte Stigmatisierung
4.1 Gegenstandsbereiche der Stigmatisierung
4.2 Die Schule als Sozialisationsinstanz
5. Typisierung und Stigmatisierung in und durch die Schule
5.1 Stigmatisierung durch die Zuweisung zu verschiedenen Schultypen
5.2 Stigmatisierungsprozesse in der Schule
5.2.1 Lehrererwartungen an die Schülerrolle
5.2.2 Stereotypbildung – gute und schlechte Schüler
5.2.3 Stigmatisierung und Rollenzuschreibung durch die Mitschüler
6. Chronische Erkrankungen
6.1 Veränderung von Krankheitsbildern in der Gesellschaft
6.2 Definition
6.3 Epidemiologie
7. Bedeutung chronischen Erkrankungen für die Lebensgestaltung und Entwicklung von betroffenen Kindern und Jugendlichen
7.1 Mögliche Veränderungen im Leben eines chronisch erkrankten Kindes und seiner Familie
7.2 Entwicklungsaufgaben und Krankheitsbewältigung
7.3 Bedeutung der Peers im Jugendalter
7.4 Psychische Auswirkungen chronischer Erkrankungen
8. Stigmatisierung und Stigmatisierungserleben chronisch kranker Jugendlicher
8.1 Zusammenhang von chronischen Krankheiten und Stigmata
8.2 Stigmatisierungserleben
8.3 Selbststigmatisierung
8.4. Krankheit als Stigma: Ausgrenzung und Schutz
8.5 Sonderkonditionen und ihre Bedeutung am Beispiel Schule
9. Chronische Erkrankungen in der Schule und Stigmatisierung
9.1 Vorurteile in der Gesellschaft als Ursache für Stigmatisierungsprozesse
9.1.1 Adipositas
9.1.2 Hauterkrankungen
9.1.3 Epilepsie
9.1.4 Psychische Störungen
9.2 Bedeutung von Sichtbarkeit bzw. Entstellungsstärke
9.3 Grad und Relevanz der Funktionsbeeinträchtigungen
9.4 Stigmatisierungsmomente im Schulalltag
10. Entwicklung des Fragebogens zum Thema Einschätzung von >Lehrern zum Integrationsstatus von Krankheit betroffener Schüler
10.1 Gliederung und Zielsetzung des Fragbogens
10.2 Möglichkeiten und Grenzen der Befragung
10.3 Verteilung und Rücklauf
11. Auswertung – Einschätzung der Situation chronisch kranker Kinder
und Jugendlicher in der Schule
11.1 Auswertung der bisherigen Erfahrungen der Lehrer
11.1.1 Durch Lehrer wahrgenommene chronischen Beeinträchtigungen während ihrer Schultätigkeit
11.1.2 Chronische Beeinträchtigungen die zu besonderer Unterstützung im Klassenverband führen
11.1.3 Erkrankungsbedingte Diskriminierung
11.2 Auswertung der Einzelfallbeschreibungen der Lehrer
11.2.1 Umgang der Mitschüler mit einem physisch oder psychisch erkrankten oder beeinträchtigten Kind
11.2.2 Ursachen für das Verhalten der Mitschüler
11.2.2.1 Aussehen oder Entstellungsgrad
11.2.2.2 Persönlichkeit und Verhalten
11.2.2.3 Sichtbarkeit
11.3 Reflexionen zu einzelnen Fragebögen
11.4 Inwieweit hilft Vertrautheit und persönlicher Kontakt über ein Stigma hinweg bzw. ist Schule anonym genug, damit Stereotype gebildet werden und erhalten bleiben?
12. Integrationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit krankheitsbedingter Andersartigkeit
12.1 Abbau von Vorurteilen bei Lehrern
12.2 Abbau von Vorurteilen der Mitschüler
12.2.1 Aufklärung und Thematisierung im Klassenverband
12.2.2 Soziales Lernen im Rollenspiel
12.2.3 Klassenübergreifende Projekte
12.3 Differenzierung des schulischen Krankheitsbegriffs
12.4 Unterstützung der Wiedereingliederung bei längeren Fehlzeiten durch Krankenhaus- oder Psychiatrieaufenthalte
13. Abschließende Bemerkungen und Ausblick
Stigmatisierung ist ein fester Bestandteil des täglichen Lebens. Sie kommt in jeder Gesellschaft in Orientierung an den gesellschaftsspezifischen Werten und Normen zum Tragen. Sie geschieht durch formelle und informelle Instanzen und bedeutet für die von Stigmatisierung Betroffenen Diskriminierung und eine Einschränkungen der Lebensqualität und der Lebenschancen. Stigmatisiert werden in unserer Gesellschaft Menschen, die aufgrund sichtbarer oder unsichtbarer Merkmale einer diskreditierten Personengruppe zugeordnet werden können wie z.B. der der Psychiatrieerfahrenen, der delinquenten Jugendlichen, der Ausländer (insbesondere Zigeuner), Alkoholiker, Obdachlosen, Behinderten (insbesondere geistig Behinderten), Drogenabhängigen und z.T. auch noch der der Homosexuellen. Menschen, die sich solchen (Rand-)Gruppen zuordnen lassen, tragen ein sichtbares oder unsichtbares Stigma, das sie von vollständiger sozialer Akzeptanz ausschließt.
Diese Ausarbeitung verfolgt zunächst das Ziel, insbesondere unter Bezugnahme auf Goffman, einen Überblick über das Phänomen der Stigmatisierung zu schaffen. Zu Beginn wird der Begriff „Stigma“ erläutert, auf dessen Basis Stigmatisierungsprozesse, ihre Funktionen und Auswirkungen auf die Interaktion und Identität erklärt werden. Da im weiteren Verlauf der Ausarbeitung insbesondere auch Stigmatisierung in der Schule thematisiert werden soll, es also um Personen geht, die sich noch in der Identitätsentwicklung befinden, erscheint es notwendig, die Bedeutung von Stigmatisierung für die Identität genauer zu beleuchten. Dabei wird nicht nur auf den soziologischen Identitätsbegriff von Goffman, sondern auch auf den psychologischen Identitätsbegriff, dessen Entwicklung an Krappmann, Thimm und Frey nachempfunden wird, eingegangen.
Stigmatisierung geschieht durch und in formellen Institutionen (Kap. 5). Dies kann an der Institution Schule verdeutlicht werden, indem zum einen auf die Problematik der Zuweisung zu verschiedenen Schultypen, zum anderen auch auf schulinterne Stigmatisierungsprozesse eingegangen wird. Da Schule als Sozialisationsinstanz gesellschaftsspezifische Werte und Normen und damit auch Vorurteile (als Basis für Stigmatisierung) vermittelt und so einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nimmt, wird die Schule als Lebens- und Lernraum näher betrachtet. Hier lernen Kinder und Jugendliche u.a. den Umgang mit dem Rollenhaushalt und können ihn in der Interaktion mit Gleichaltrigen experimentierend erweitern (Kap. 4.2). Der Rollenhaushalt wird durch Stigmatisierung gefährdet. Wird ein Schüler durch andere stigmatisiert, so ist er prädestiniert dafür, auch viktimisiert[1] zu werden. In diesem Zusammenhang wird kurz auf das Zusammenspiel von Gruppengefühl und Außenseiter- bzw. Opferrolle eingegangen (Kap. 5.2.3).
Nachdem an ausgewählten Beispielen Stigmatisierungsprozesse in der Schule behandelt wurden (Kap. 5), beschäftigt sich der folgende Teil mit der Fragestellung, inwieweit es zu einer Stigmatisierung chronisch erkrankter Kinder in der Schule kommt. Dies ist insofern von Relevanz, als dass die Zahl der chronisch kranken Kinder in den Schulen steigt und diese je nach Erkrankungsschwere und -ausprägung mehr oder weniger durch physische, psychische oder funktionelle „Andersartigkeit“ auffallen. Ziel der Arbeit ist es, herauszufinden, inwieweit es zu einer Diskriminierung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher im Allgemeinen und insbesondere in den Schulen kommt. Nach einer einleitenden Definition chronischer Erkrankungen und einer Darstellung der Problematik des doch unklaren Begriffs „chronische Krankheiten“ (Kap. 6), wird zunächst die Überlegung angestellt, welche Auswirkungen chronische Erkrankungen auf die Lebensgestaltung von Kindern und Jugendlichen haben können. Nicht zu vernachlässigen ist hier die Bedeutung von chronischer Erkrankung für die Entwicklungsaufgaben, die sich u.a. bei nicht-zeitgemäßer Bewältigung auch auf die Peer Beziehungen, die eine zunehmend wichtige Rolle im Leben des Jugendlichen spielen, auswirken und einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Rollenfindung und Identitätsentwicklung haben (Kap. 7). In Kapitel 8 wird untersucht, inwieweit chronisch kranke Kinder Stigmatisierung erleben oder ihr ausgesetzt sind und auf welche Faktoren dies zurückzuführen sein könnte. Hier wird als bedeutendes Problem die Selbststigmatisierung angesprochen, die zum Teil auch als Resultat vorangegangener Stigmatisierungsprozesse gesehen werden kann sowie als Ergebnis der Internalisierung gesellschaftsspezifischer Werte und Normen im Sozialisationsprozess (Kap. 8). Darauf folgt eine Eingrenzung des Themas auf die Stigmatisierung von Krankheiten allgemein und im Schulalltag (Kap. 9).
Um die Akzeptanz der betroffenen Schüler in ihrem schulischen Umfeld zu erfahren wurde eine Umfrage bei Lehrern durchgeführt (Lehrerfragebogen im Anhang). Von 210 ausgeteilten Fragebogenkomplexen konnten 78 in die Auswertung eingehen. Die Auswertung findet sich in Kapitel 11. Abschließend wird auf Möglichkeiten der Entstigmatisierung bzw. des Abbaus von Vorurteilen in und durch Schule eingegangen (Kap. 12).
Aus textökonomischen Gründen wird in dieser Arbeit fast ausschließlich die maskuline Form benutzt. An dieser Stelle soll auch darauf hingewiesen werden, dass in den direkten Zitaten die Rechtschreibung der jeweiligen Autoren beibehalten wurde ohne diese, nach neuer Rechtschreibung als fehlerhaft zu betitelnden Ausführungen, noch einmal extra zu kennzeichnen. Benutze ich in dieser Arbeit die Begriffe „normal“ oder „Normalität“, so bezeichnen diese ein den Normen unserer Gesellschaft entsprechendes Erscheinungsbild oder Verhalten oder den Zustand von Abwesenheit von Krankheit oder Stigmatisierung.
Unter Stigma versteht man ein Zeichen oder Merkmal, durch das sich eine Person oder eine Gruppe von den übrigen Mitgliedern einer Gesellschaft unterscheidet. Der Begriff kommt aus dem Griechischen (Stich) und bezeichnete bei Griechen und Römern ein Brandmal, das Sklaven und Verbrechern gewöhnlich auf die Stirn gebrannt wurde.
Im deutschen Sprachraum wird auch der anschauliche Begriff Kainszeichen oder Kainsmal als Synonym für Stigma gebraucht. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs hebt Groß durch Bezugnahme auf die Geschichte von Kain und Abel hervor. Zum einen kennzeichnet ein Stigma eine Person und bewirkt oft eine Ausgrenzung und soziale Isolation, zum anderen kann es auch zu einem besonderen Schutz führen. In der Geschichte von Kain und Abel wird Kain wegen des Brudermordes von Gott als Ausgestoßener gekennzeichnet. Durch dieses Zeichen genießt er jedoch gleichzeitig den besonderen Schutz Gottes, da er ihn damit nicht nur als Ausgestoßenen, sondern auch als unantastbar kennzeichnet (Groß 2000, S. 5). Ein Stigma kann also diskreditierende Wirkung haben (in der biblischen Geschichte wird Kain zum Verbannten) und gleichzeitig zu einem besonderen Schutz oder Beachtung führen.
Goffman (1998, S. 12f), der sich maßgeblich mit Stigmata befasst hat, unterscheidet drei Arten von Stigmata:
- Abscheulichkeiten des Körpers
(physische Deformation wie z.B. Behinderungen oder Missbildungen),
- individuelle Charakterfehler
(geistige Verwirrung, unerwünschtes Verhalten wie Unehrenhaftigkeit z.B. bei Sucht, Gefängnisaufenthalt, Diebstahl) und
- phylogenetische Stigmata
(Gruppenzugehörigkeit, Rasse, Nation, Religion).
Auch wenn die ersten beiden Kategorien aufgrund der Formulierung den Anschein einer Stigmatisierung erwecken, so ist dies von Goffman jedoch nicht beabsichtigt. Er spricht nicht von tatsächlichen „Abscheulichkeiten des Körpers“ oder „individuellen Charakterfehlern“, vielmehr bringt er zum Ausdruck, dass Personen nach diesen Kategorien beurteilt werden können (Klingmüller zit. n. Schmid-Ott 1999, S. 160).
Des Weiteren unterteilt er in sichtbare und unsichtbare Stigmata. Personen mit sichtbaren Stigmata bezeichnet er als Diskreditierte. Ihr Merkmal wertet diese Menschen in der Wahrnehmung Anderer ab. Personen mit sichtbaren Stigmata nehmen an, dass ihr Stigma bekannt und offenbar ist. Ein sichtbares Stigma ist etwas Abwertendes, Negatives und Zeichnendes, das diskreditierend wirkt. Es drängt sich der Aufmerksamkeit auf und kann dazu führen, dass andere sich abwenden, da der Träger eines Stigmas in unerwünschter Weise anders ist, als es antizipiert wurde (Goffman 1998, S. 12f). Eine Begegnung mit dem Träger eines Stigmas löst daher Unbehagen und Beklemmungen bei den Normalen aus. Sowie der Defekt erkennbar ist, stellt er eine Gefahr für das zerbrechliche, irritierbare normale Ich des Gesunden dar (Vorwort von Moser in Goffman 1998, S. 13).
In Abgrenzung zu den sichtbaren unterscheidet Goffman unsichtbare Stigmata. Personen mit unsichtbaren Stigmata sind der Überzeugung, dass ihr Stigma noch nicht bekannt oder wahrnehmbar ist. Um weiterhin als normal zu gelten, müssen sie verleugnen, täuschen und schauspielern, damit ihr Stigma nicht erkannt wird. Aufgrund ihres geheimen Stigmas sind sie diskreditierbar und leben in ständiger Angst vor Entdeckung und Isolierung (Goffman 1998, S. 12f). Bei unsichtbaren Stigmata können Verdachtsmomente wie der Kontakte zu psychiatrischen Kliniken, der Aufenthalt an bestimmten Plätzen oder z.B. ein bestimmtes Auftreten Stigmatisierungsprozesse auslösen (Feest 1971 zit. n. Hohmeier 1975, S. 7).
Mit Stigma bezeichnet man eine Eigenschaft einer Person, „die zutiefst diskreditierend ist“ (Goffman 1998, S.11). Goffman legt dar, dass es sich bei Stigma um einen relationalen Begriff handelt. Eine bestimmte Eigenschaft an sich ist noch kein Stigma. Sie ist zunächst neutral, d.h. weder kreditierend noch diskreditierend (Goffman 1998, S.11). Letzteren Status erhält sie erst durch eine negative Wertung. Ob ein Merkmal negativ bewertet und damit zum Stigma wird, ist abhängig von dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Die Majorität einer Gesellschaft legt fest, welche Eigenschaften bzw. Merkmale als normal angesehen und welche als abweichend gewertet werden. Eine bestimmte Eigenschaft wird zu dieser gesellschaftlich definierten Normalität in Relation gesetzt und durch diese als normal anerkannt oder als abweichend charakterisiert und zu einem Stigma degradiert (Hohmeier 1975, S. 7f). Erst wenn ein Merkmal in Bezug auf eine soziale Gemeinschaft betrachtet wird, erhält es eine negative oder positive Wertung. Stigmatisierung kann sich also prinzipiell auf jedes durch die Wahrnehmung betroffene Merkmal beziehen, sie ist jedoch abhängig von den Werten und Normen der jeweiligen Gesellschaft. Es geht also nicht um das Merkmal an sich, sondern um die „negative Definition des Merkmals bzw. dessen Zuschreibung“ (Hohmeier 1975, S.7).
Man kann ein Stigma auch als eine bestimmte Art sozialen Vorurteils bezeichnen, durch das Personen negative Eigenschaften zugeschrieben werden (Hohmeier 1975, S. 7f). Ein Vorurteil unterscheidet sich von einer Einstellung insofern, als die Einstellung zunächst ein neutraler Begriff ist, der zum einen eine Vorstellung über etwas (kognitive Komponente), eine positive oder negative Bewertung (affektive Komponente) und eine bestimmte Verhaltensweise (aktionale Komponente) beinhaltet (Hensle et al. 1982, S. 197). Eine Einstellung kann also negativ oder positiv ausgerichtet sein, ein Vorurteil hingegen liegt immer dann vor, „wenn das Urteil ungünstiger ist als die Realität“ (von Bracken 1976, S.37), d.h. es beruht nicht auf Tatsachen, sondern auf Vermutungen, die auf einer negativeren Einschätzung basieren als es der Realität entspricht. Ein Stigma liegt dann vor, wenn andere oder eine Person selbst (Selbststigmatisierung) ein Merkmal bzw. eine Eigenschaft negativer einschätzen, als es bzw. sie wirklich ist. Allgemein sollte man unterscheiden zwischen Vorurteil und Tatsachen. Wird ein geistig Behinderter als minderbegabt bezeichnet, so handelt es sich dabei zwar nicht um ein Vorurteil (von Bracken 1976, S. 37ff), jedoch im Kontext unserer Gesellschaft um ein Stigma, das zu weiteren Eigenschaftszuschreibungen wie z.B. Gewalttätigkeit führen kann, die wiederum Ausdruck des Stigmas und eine bestimmte Art sozialen Vorurteils sind.
Stigma ist ein doppeldeutiger Begriff, d.h. es kann zur Ausgrenzung führen und dennoch einen besonderen Schutz des Stigmatisierten bedeuten. Ein Stigma kann sichtbar oder unsichtbar sein und ist ein körperliches, charakterliches oder phylogenetisches Merkmal, das durch die Gesellschaft negativ definiert wird und diskreditierend wirkt. Dies geschieht nach den jeweiligen gesellschaftlichen Werten und Normen und durch die Instanzen sozialer Kontrolle (formelle und informelle), die ein Merkmal nicht nur negativ definieren, sondern diese Definition auch durch Sanktionen aufrecht erhalten. Man kann es auch als ein soziales Vorurteil bezeichnen. Man kann unterscheiden zwischen Selbststigmatisierung und Stigmatisierung durch andere. Im weiteren Verlauf der Ausarbeitung wird Stigma als ein diskreditierendes körperliches oder charakterliches Merkmal behandelt, das durch die negative Zuschreibung durch die Gesellschaft erst entsteht.[2]
Stigmatisierung ist ein negatives verbales oder nonverbales Verhalten, das jemandem aufgrund eines Merkmals entgegenbebracht wird und basiert auf einem gesellschaftlichen Definitionsprozess (Hohmeier 1975, S. 7f). Die Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft legt fest, welche Merkmale normal sind und welche als abweichend gelten (Gerke 1975, S. 61f). Die jeweiligen Normen einer Gesellschaft, die zur Beurteilung ihrer Mitglieder herangezogen werden, differieren in den verschiedenen Gesellschaften und sind abhängig vom jeweiligen Zeitalter. Stigmata sind also in historischer und interkultureller Hinsicht außerordentlich variabel, je nach Gesellschaft und Zeitalter werden andere Merkmale als solche definiert (Hohmeier 1975, S. 8).
Die Aufrechterhaltung dieser Normen geschieht nicht nur durch formelle Kontrollinstanzen wie Polizei, Schule, Gefängnis, psychiatrische Klinken, auch informelle Instanzen wie Eltern, Nachbarn oder Gleichaltrige definieren und bestrafen unerwünschtes Verhalten oder Merkmale (Abele/Nowack 1975, S.149). Institutionen wie psychiatrische Klinken oder Obdachlosenheime definieren, für welche Menschen sie geschaffen sind und legen damit bestimmte Eigenschaften ihrer Kundschaft bzw. deren „soziale Identität“ fest, die als eine Krankhafte bzw. Beschädigte dargestellt wird (Hohmeier 1975, S. 16-20). Durch die Pathologisierung wird die durch Institutionen definierte Devianz weniger als selbstverschuldet angesehen und dem betroffenen Individuum die Verantwortung für diese teilweise oder gänzlich abgesprochen. Informelle Instanzen hingegen wie Nachbarn, Eltern, Lehrer etc. sehen die Schuld meist beim Individuum selbst (Peters 1973 zit. n. Hohmeier 1975, S. 18f).
Das Wissen über wünschenswerte Eigenschaften und solche die in einer Gesellschaft nicht erwünscht sind, wird im Sozialisationsprozess durch formelle und informelle Sozialisationsinstanzen vermittelt (Lamnek 1996, S. 127ff, 232). Dabei lernen bereits die Heranwachsenden, die Mitglieder einer Gesellschaft in Kategorien einzuordnen. Je nach Zugehörigkeit zu einer Kategorie werden den jeweiligen Personen bestimmte Eigenschaften nachgesagt (Goffman 1998, S. 9f; Gerke 1975, S. 58). Oberflächliche Merkmale, wie z.B. Kleidung, Aufenthaltsort oder auch Alter dienen dabei einer ersten Einordnung der Person und beeinflussen die Interaktion mit dieser. Der erste Eindruck ist prägend, das jeweilige Gegenüber wird einem bestimmten Typ Mensch zugeordnet. Gerke bezeichnet diesen Prozess als Typisierung, wodurch die Kommunikation an sich und die Erwartungen an das Gegenüber beeinflusst werden. Oft beruhen Typisierungen nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern werden vielfach durch Handlungssituationen von Eltern, Lehrern oder Freunden vermittelt (Gerke 1975, S. 58ff). Mit zunehmendem Alter wird das Repertoire an Typisierungsmustern größer, die einerseits die Ersteinschätzung einer Situation erleichtern und somit spontane zwischenmenschliche Handlungsfähigkeit ermöglichen, aber gleichzeitig als soziale Vorurteile bezeichnet werden können, nach denen Menschen in bestimmte Muster gezwungen werden.
Um Stigmatisierungsprozesse zu erklären, bietet sich Goffmans Auslegung von Stigmatisierungsprozessen an, die den Gesetzmäßigkeiten der Attributionstheorie folgt (Groß 2000, S.18). In Abgrenzung zu dieser ist es sinnvoll auch auf einige Aspekte des Labeling Approach einzugehen.
Die Attributionstheorie kann den kognitiven Theorien zugeordnet werden, da sie das Verhalten der Menschen in Situationen als Produkt von Kognitionen sieht. Groß führt aus, dass Kognitionen wie Denken, Sprache und Problemlöseverhalten den Menschen befähigen, seine Innen- und Außenwelt zu strukturieren. Der Mensch nimmt Situationen subjektiv wahr, definiert sie und richtet an seiner Einschätzung der Situation sein Verhalten aus. Diese Deutungsprozesse von Situationen, die das Verhalten des Menschen beeinflussen, sind Teil der Attributionstheorie. Die Zuschreibung von Attributen (Eigenschaften) ist ein fester Bestandteil des täglichen Lebens. Attribute dienen der Vereinfachung der Wahrnehmung und ermöglichen eine Vorhersage über Verhaltensweisen anderer Personen. Wie diese Hypothesen und Urteile über die Umwelt und andere Menschen entstehen bzw. wie es zur Zuschreibung internaler Attribute wie Eigenschaften, Motiven oder Wertehaltungen kommt, wird durch Goffman, dessen Stigmatisierungsansatz auf dem symbolischen Interaktionismus[3] basiert, erklärt (Groß 2000, S. 18ff).
Goffman stellt den Interaktionsprozess folgendermaßen dar: Treten zwei sich fremde Menschen miteinander in Interaktion, so machen sie sich in den ersten Sekunden bereits ein Bild bzw. formen die „virtuale soziale Identität“ ihres Interaktionspartners (Goffman 1998, S. 10). Die virtuale soziale Identität bzw. das Bild entsteht durch die Wahrnehmung weniger, herausstechender, oberflächlicher Merkmale, die es ermöglichen, das Gegenüber, ohne es näher zu kennen, einem bestimmten Typ Mensch zuzuordnen (Typifikation). Auf Basis der Typifikation[4] schreibt man diesem bestimmte Attribute zu und nimmt damit auch eine entsprechende Erwartungshaltung in der Kommunikation ein (Goffman 1998, S. 10f). Diese Attribute sind mit positiven oder negativen Wertungen verbunden und führen im Falle einer negativen Wertung zu einer Zuordnung zu nicht akzeptablen Gruppen bzw. zu einer Etikettierung der Person, z.B. als Behindertem, Geizhals, Kriminellem oder Perversem. Mit einer solchen Etikettierung wird eine soziale Distanz zu dem anderen aufgebaut (Groß 2000, S.19f).
Hat das Gegenüber nun z.B. ein sichtbares Stigma, d.h. ein Merkmal, das negativ besetzt ist, so nimmt die vermeintlich normale Person den Stigmatisierten bzw. Diskreditierten hauptsächlich von diesem Merkmal aus wahr und ordnet ihm ein Etikett, z.B. Behinderter und damit gleichzeitig auch bestimmte Attribute zu. Nach Goffman ist für den Prozess der Stigmatisierung bezeichnend, dass nicht nur ein Merkmal erkannt und negativ definiert wird (z.B., dass jemand blind ist), sondern darüber hinaus dem Merkmalsträger weitere meist negative Merkmale zugeschrieben werden, die objektiv nichts mehr mit dem ursprünglichen Merkmal zu tun haben (z.B. „ein Blinder ist hilflos und unbeholfen“). Ausgehend von diesem einen Merkmal werden die negativen Zuschreibungen auf die ganze Person übertragen und nicht nur auf diejenigen sozialen Rollen, die mit dem Merkmal im direkten Zusammenhang stehen (ein Blinder darf z.B. kein Fahrzeug führen). Diesen Prozess kann man auch als Generalisierung oder Hof-Effekt bezeichnen (Goffman 1998, S. 14, 66; Hohmeier 1975, S. 13). Das Stigma wird zum „master status“ (Hensle et al. 1994, S. 212). Die Person wird auf ein von der Norm abweichendes Merkmal reduziert und alle anderen Merkmale und Eigenschaften werden diesem untergeordnet oder als peripher angesehen. Das Stigma und dessen Bewertung durch andere bestimmt die Stellung der Person in der Gesellschaft, sowie den Umgang der anderen Menschen mit ihr (Hohmeier 1975, S. 7ff, 13).
Hat die Person ein unsichtbares Stigma bzw. ist sie diskreditierbar, so wird ein fremder Interaktionspartner ihr zunächst eine positivere virtuale soziale Identität zusprechen. Im Verlauf der Interaktion kann es jedoch passieren, dass eine unerwünschte Eigenschaft und damit die Diskrepanz zwischen der virtualen und der aktualen Identität entdeckt wird (Goffman 1998, S. 10f).
„Während der Fremde vor uns anwesend ist, kann es evident werden, daß er eine Eigenschaft besitzt, die ihn von anderen in der Personenkategorie, die für ihn zur Verfügung steht, unterscheidet; und diese Eigenschaft kann von weniger wünschenswerter Art sein ... . In unseren Vorstellungen wird sie [die Person] so von einer ... gewöhnlichen Person zu einer befleckten, beeinträchtigten herabgemindert. Ein solches Attribut ist ein Stigma“ (Goffman 1998, S. 10f).
Trifft eine normale Person mit einer Stigmatisierten zusammen, hat sie also bereits eine Vorstellung von den Eigenschaften der anderen Person entwickelt, wo deren Schwächen liegen bzw. was diese leisten und welche Dinge sie nicht tun kann. Die auf Basis der Typifikation entstanden Vorurteile, die u.a. der Vereinfachung der Wahrnehmung von Situationen dienen, führen zu einem verzerrten Fremdbild. Das Stigma bewirkt, dass die Mitmenschen den Stigmatisierten primär von dessen Stigma aus wahrnehmen. Ein vorhandenes oder lediglich zugeschriebenes Merkmal wird zu einem zentralen Bezugspunkt für andere. Es kommt zu einer Verzerrung in der Wahrnehmung des Stigmatisierenden, so dass jene Merkmale verstärkt wahrgenommen werden, die zu dem Stigma passen, wohingegen Neutrale oder nicht Passende entweder uminterpretiert oder nicht berücksichtigt werden (Groß 2000, S. 20).
Das von Typisierungen geprägte, verzerrte Fremdbild, wird dem Stigmatisierten über verbale und nonverbale Kommunikation vermittelt. Trifft der Stigmatisierte immer wieder auf diese meist sehr ähnlichen Erwartungshaltungen durch andere in Bezug auf seine Person, so kann dies zur Folge haben, dass er sie in sein Selbstkonzept übernimmt (self-fulfilling-prophecy) und diese Eigenschaften dann tatsächlich zeigt, auch wenn sie ihm eigentlich nicht zu eigen waren (Hensle et al. 1982, S. 211; Gerke 1975, S. 65).
Die Ursachen von Stigmatisierung sind vielfältig. Sie können zum einen in den Funktionen liegen, die sie für das Individuum haben, so wie in denen für die Gesellschaft. Nach Hohmeiers Darstellung kann man folgende Funktionen für das Individuum unterscheiden:
(a) Orientierungs- und Entlastungsfunktion,
(b) Projektion verdrängter Triebansprüche und
(c) Stigmatisierung als Identitätsstrategie.
Stigmatisierung bietet für ein Individuum eine Orientierungsfunktion (a). Durch die Typifikation, Einordnung der jeweiligen Interaktionspartner in bestimmte Kategorien, ist eine Vorausstrukturierung sozialer Situationen möglich und verringert dadurch die Verhaltensunsicherheit in Interaktionen. Diese Entlastung (a) in Situationen beinhaltet jedoch zugleich, dass an einem bereits gefasstem Urteil (Vorurteil) festgehalten wird. Da die Wahrnehmung selektiv und verzerrt ist (vgl. 3.2), nimmt die urteilende Person nur das wahr, was in ihr bisheriges Bild passt und hält an einem Stereotyp fest, solange die Diskrepanz zwischen dem Stereotyp und neuen Erfahrungen nicht zu groß wird. Stigmatisierung ermöglicht außerdem, dass das Individuum verdrängte Triebansprüche auf den Stigmatisierten projizieren (b) und Aggressionen an diesem ausleben kann (Sündenbockfunktion). Des Weiteren kann man Stigmatisierungsprozesse auch als eine Art Identitätsstrategie (c) bezeichnen, die der Wiederherstellung des gefährdeten seelischen Gleichgewichts durch betonte Abgrenzung gegenüber der Andersartigkeit dient (Hohmeier 1975, S. 10ff; Cloerkes 2001, S. 138ff).
Auf der gesellschaftlichen Ebene bewirkt Stigmatisierung eine Systemstabilisierung durch Regelung des Umgangs zwischen gesellschaftlichen Gruppen, des Zugangs zu knappen Gütern wie z.B. Status und Berufschancen, eine Kanalisierung von Aggressionen auf schwache Sündenböcke und durch die Schaffung einer Kontrastgruppe, durch die das „Wir-Gefühl“ der Konformen verstärkt wird (Hohmeier 1975, S. 12). Es ist nur dann ein Vorteil konform bzw. normal zu sein, wenn es auch Stigmatisierte gibt (Bergler 1966, Shoman 1970 zit. n. Hohmeier 1975, S. 12).
Man kann die Stigmatisierung auch in Stufen darstellen. Die wesentlichen Punkte werden dabei aus einer Übersicht von Hensle et al. deutlich.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Schematische Darstellung des Stigmatisierungsprozesses (Hensle et al.1982, S. 214)
[...]
[1] Viktimisierung einer Person bedeutet, dass sie in eine Opferrolle gedrängt wird.
[2] Die phylogenetischen Stigmata werden im weiteren Verlauf der Arbeit weitestgehend vernachlässigt.
[3] Wichtigste Vertreter des symbolischen Interaktionismus sind George Herbert Mead und Erving Goffman (Lexikon der Psychologie 2001a, S. 284). Der Kommunikationsprozess zwischen Personen wird im Symbolischen Interaktionismus als ein gesellschaftlicher Prozess beschrieben, aus dem sich die Identität entwickelt (Mead 1968 zit. n. Tillmann 2000, S. 137).
[4] Entlehnung des Begriffs Typifikation aus dem Beitrag von Gerke (1975): Goffman selbst benutzt diesen Begriff nicht, aber er kann als Grundlage für die Bildung und Zuschreibung von Attributen betrachtet werden. Goffman spricht in diesem Zusammenhang von der Zuschreibung einer virtualen sozialen Identität, die eine Einordnung in Kategorien bedeutet. Diese bezeichnet Gerke mit „Typifikation“.
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