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Bachelorarbeit, 2018
82 Seiten, Note: 2,0
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Fundierung
2.1. Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge
2.1.1. Begriffserklärung UMF
2.1.2. Fluchtphasen nach John Berry
2.1.3. Gesetzliche Grundlagen für UMF
2.2. Stationäre Kinder- und Jugendhilfe
2.2.1. Begriffserklärung
2.2.2. Gründe für eine stationäre Unterbringung von UMF
2.3. Traumatisierung und Flucht
2.3.1. Begriffserklärung Traumatisierung
2.3.2. Sequentielle Traumatisierung nach Keilson
2.3.3. Folgen einer Traumatisierung durch Flucht
2.4. Traumapädagogische Aspekte in der Arbeit mit UMF
2.4.1. Entstehung der Traumapädagogik
2.4.2. Grundhaltung
2.4.3. Handlungsansätze
2.4.3.1. Der sichere Ort
2.4.3.2. Bindungsaufbau
2.4.3.3. Selbstbemächtigung
3. Methodischer Teil
3.1. Auswahl und Begründung der Methode
3.2. Ergebnisse der Konzeptanalyse
3.3. Ergebnisse des Interviews
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dass Menschen auf der Flucht sind ist zwar kein neues Phänomen, aber nie waren es so viele wie heute. Die UNO-Flüchtlingshilfe veröffentlichte auf ihrer Homepage Zahlen, welche von 68,5 Millionen Menschen Ende des Jahres 2017 sprechen. Knapp 52% von ihnen sind unter 18 Jahre alt.1
Berichten zufolge waren rund 54.000 UMF zu Beginn 2018 in der Zuständigkeit der Jugendhilfe in Deutschland. Eine beachtliche Zahl von Kindern und Jugendlichen, die wegen unterschiedlichster Gründe ihre Heimat und ihre Familie verlassen oder verloren haben.2
Dass diese Kinder, auf ihren Wegen zu uns, Erfahrungen gemacht haben, die wir unseren ärgsten Feinden nicht wünschen, ist schon lange kein Geheimnis mehr und auch der Grund dafür, dass der Begriff „Trauma“ nicht selten mit dem der „Flucht“ in Verbindung gebracht wird.
Genaue Zahlen, wie viele Flüchtlinge, die zu uns kommen nun wirklich traumatisiert sind, gibt es nicht, aber die Fachdisziplinen vermuten hier eine große Zahl.
Ein Trauma selbst und seine Auswirkungen haben zwangsläufig, insbesondere bei einer Nichtbehandlung, Folgen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Immer mehr hat sich in den vergangenen Jahren die Traumapädagogik im stationären Bereich der Jugendhilfe angesiedelt und einen wachsenden Stellwert eingenommen. In der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen erweist sie sich zunehmend als förderlich und unterstützend und ist nicht mehr wegzudenken.
Diese Bachelorarbeit soll sich daher der Thematik widmen, inwiefern die Traumapädagogik im stationären Bereich der Jugendhilfe mit UMF greift und handelt. Hierzu wird im ersten Teil der Thesis eine theoretische Grundlage geschaffen, die einen Überblick über die wichtigsten Inhalte von UMF, Flucht, Traumatisierung, stationärer Jugendhilfe und Traumapädagogik, schafft.
Im Anschluss daran sollen drei Konzepte von Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe aus dem Umfeld, auf die zuvor herausgearbeiteten, traumapädagogischen Aspekte, untersucht werden.
Ziel dieser Thesis wird es sein, nicht nur die Bereiche Traumapädagogik, Jugendhilfe und Flucht zu verdeutlichen und in Bezug zueinander zu stellen, sondern auch mit einer stichprobenartigen Untersuchung zu analysieren, inwiefern Einrichtungen der Jugendhilfe sich in ihren Konzepten, dieser Thematik widmen.
Im Rahmen dieser Bachelorthesis soll ein Überblick über die Thematik Traumapädagogik und UMF im stationären Bereich der Jugendhilfe geschaffen werden. Der Theorieteil gliedert sich daher in die vier Teile „UMF“, „stationäre Kinder- und Jugendhilfe“, „Traumatisierung und Flucht“ und „traumapädagogische Aspekte in der Arbeit mit UMF“.
Der Begriff „Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling (UMF)“ hat sich in den letzten Jahren als selbstverständlich eingebürgert. Wer aber letztendlich wirklich unter diese Bezeichnung fällt, wie es zu einem solchen Status kommt und welche Rechte in Deutschland damit einhergehen, soll in diesem Kapitel thematisiert werden.
„Drittstaatsangehörige oder Staatenlose unter 18 Jahren, die ohne Begleitung eines gesetzlich oder nach den Gepflogenheiten für sie verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen, solange sie sich nicht tatsächlich in die Obhut einer solchen Person genommen werden; hierzu gehören auch Minderjährige, die ohne Begleitung zurückgelassen werden, nachdem sie in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist sind “ (Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM))
Insbesondere in der Jugendhilfe hat sich der Begriff „Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling“ eingebürgert. Doch auch im Alltag, wird niemand mehr verständnislos gucken, wenn man diese Begrifflichkeit benutzt. Für die professionelle Arbeit ist es aber von Bedeutung, ein genaueres Verständnis zu besitzen. Wie schon in der o.g. offiziellen Begriffsbestimmung erkennbar, setzt sich dieser Begriff aus drei zentralen Charakteristika zusammen:
1. „unbegleitet“
Als unbegleitet gelten demnach, alle Kinder und Jugendlichen die ohne Eltern oder andere Bezugspersonen, nach Deutschland gekommen sind oder diese in Deutschland verloren haben. Unbegleitet zu sein hat also diverse Gründe. Neben der alleinigen Reise, weil beispielsweise das Geld der Familie nicht für alle Familienmitglieder gereicht hat und man sein Kind in Sicherheit bringen wollte, können Kinder und Eltern auf der Reise durch nicht planbare Umstände, wie den Tod, getrennt werden.
2. „minderjährig“
Jeder der unter 18 Jahre alt ist, gilt in Deutschland als minderjährig und fällt somit in den Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfe.
3. „Flüchtling“
In Bezug auf UMF muss der Begriff „Flüchtling“ differenziert zur offiziellen Bezeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention betrachtet werden. Der Begriff macht in diesem Zusammenhang keine Aussage über den Aufenthaltsstatus der Kinder und Jugendlichen, sondern beschreibt eine Lebenslage, in der dieser sich befindet. 3
Für die Arbeit mit UMF ist es von hoher Relevanz, dass sich Fachkräfte die Bedeutung und Ausprägung einer Fluchtgeschichte vor Augen führen. Auch wenn man die Hintergründe einer Flucht nicht verallgemeinern kann, lassen sich Charakteristika erkennen. Der kanadische Psychologe John Berry, hat 1991 ein Modell mit fünf charakteristischen Phasen, die ein Flüchtling durchläuft, entwickelt. Ein Großteil dieser lässt sich auch auf UMF anwenden.
1. Die Phase vor dem Aufbruch (pre-depature phase)
In ihren Herkunftsländern sind die Kinder und Jugendlichen meist über einen längeren Zeitraum traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt. Hierzu gehören die unterschiedlichsten Erfahrungen wie Kriege, politische Verfolgung ihrer Familie und Gewalt und Missbrauch am eigenen Körper. Viele von ihnen müssen mit ansehen, wie ihnen nahestehende Menschen ermordet werden und man ihre Existenzgrundlagen zerstört. Wie lange und extrem ein Kind oder Jugendlicher dieser Erfahrung ausgesetzt ist, spielt in seine Zukunft mit ein.
2. Die Flucht (flight phase)
In den meisten Fällen bedeutet die Flucht eine Fortsetzung dieser Erfahrungen, denn die Reise ins Unbekannte ist genauso gefährlich wie der Verbleib im eigenen Land. Die Kinder sind oft getrennt von ihren Familien, erleben „Ausbeutung, physische und sexuelle Angriffe, Verbrechen, Verletzung oder Tod“. (Hargasser (2015) S. 21)
3. Die erste Asylphase (first asylum phase)
Kommen Flüchtlinge in ihrem Aufnahmeland an, so landen sie zu allererst in einem „Flüchtlingslager“. Dass der Aufbau eines normalen Lebens hier noch nicht der Fall ist, haben wir 2016 und in der darauffolgenden Zeit, nach der Flüchtlingswelle über Europa, sehen können. Auch hier sind die Kinder und Jugendlichen oft Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt und leben mit einer unsicheren Zukunftsperspektive.
4. Die Phase der Antragsstellung (claimant phase)
Die Asylphase dauert in vielen Ländern sehr lange. Für Flüchtlinge bedeutet das ebenfalls wieder viel Stress. Neben der Unsicherheit über den Entscheid des Antrages, kommen Isolation und Armut als schwerwiegende Aspekte hinzu.
5. Die Niederlassungsphase (settlement phase)
Wenn über den Antrag entschieden wurde und sich ein Flüchtling niederlassen kann, bedeutet das für ihn immer noch nicht die vollkommene Sicherheit. Auf ihn kommen neue Herausforderungen zu, wie die Suche nach Job, Wohnung, Rassismus, Diskriminierung und kulturelle Konflikte.
6. Die Adaptionsphase (adaption phase)
Diese Phase der „Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts“ (Hargasser (2015), S.21), der Anpassung, wird nur von wenigen erreicht. Viele geraten auf dem Weg dorthin in Gefangenschaft oder werden abgelehnt. 4
Für Sozialarbeiter ist es unabdingbar, dass sie ein gewisses Grundlagenwissen über die Rechte und Pflichten ihrer Klienten haben. Auch in der Arbeit mit UMF sollten einem Sozialarbeiter daher die grundlegenden Regelungen bekannt sein. Zusammenfassend ein kurzer Überblick über die für die Arbeit mit UMF wichtigen gesetzlichen Regelungen.
Die allseits bekannte „Genfer Flüchtlingskonvention“, wird im Bereich der UMF durch die „UN-Kinderrechtkonvention“ (KRK) von 1989 und das „Haager Kinderschutzübereinkommen“ (KSÜ) von 1996, ergänzt. Deutschland hatte das KSÜ 1990 zwar ebenfalls unterzeichnet, aber bis 2010 für ausländische Kinder und Jugendliche nicht angewendet. 2010 löste das KSÜ das Minderjährigenschutzgesetz ab, womit das Kindeswohl ins Zentrum gestellt wurde.
Neben diesen internationalen gesetzlichen Grundlagen arbeiten wir in Deutschland auf der Basis des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG).
Hiernach sind Jugendämter nach §42 SGB VIII zur Inobhutnahme (ION) von UMF verpflichtet, da es sich bei einer unbegleiteten Einreise um Kindeswohlgefährdung (KWG) handelt. Anlässlich der steigenden Zahl von UMF wurde das KJHG 2015 um das Gesetz zur „Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ (§42a SGB VIII) erweitert.5
Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein großer Bestandteil der Sozialarbeit und -pädagogik. Was genau unter die stationären Hilfen fällt, soll in diesem Kapitel erläutert werden. Ebenfalls, warum UMF in stationären Einrichtungen untergebracht werden und was die Gründe der Unterbringung von denen der „heimischen Kinder“, unterscheidet.
In der Kinder- und Jugendhilfe unterscheiden wir die teilstationäre (famlilienergänzende) und stationäre (familienersetzende) Hilfe zur Erziehung (HzE). Unter das Angebot der stationären HzE fallen beispielsweise Wohngruppen oder Pflegefamilien. Diese Arbeit bezieht sich auf das Angebot von Wohngruppen und Heimeinrichtungen.
Kinder und Jugendliche gelangen in den meisten Fällen auf Grund von einer vorübergehenden oder anhaltenden Überforderung der Eltern, mit der Erziehung ihrer Kinder, in stationäre Einrichtungen.
Wohngruppen legen viel Wert darauf, sich an den Strukturen einer Familie zu orientieren. Jedes Kind bekommt einen festen Bezugsbetreuer, hat ein eigenes Zimmer, aber auch Aufgaben und Pflichten, wie es in einem normalen familiären Haushalt der Fall wäre. Für Wochenenden oder Ferien werden beispielsweise auch gemeinsame Aktivitäten und Urlaube geplant.
Wohngruppen legen in den meisten Fällen sehr viel Wert darauf, eng mit den Eltern der Kinder, dem Jugendamt und anderen Fachdiensten zusammenzuarbeiten.
Ziel einer stationären Unterbringung ist letztlich, die Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen, die Beziehungen zu und in der Familie zu optimieren und gegebenenfalls Traumatisierungen zu therapieren.
Eine Rückführung in die Familie ist immer das erste Ziel. Sollte dies aus den verschiedensten Gründen nicht möglich sein, bleiben die Kinder und Jugendlichen vorerst in den stationären Einrichtungen, bis sie alt genug sind um ambulant betreut zu werden.
In Wohngruppen arbeitet meist ein Team aus Erziehern, Sozialpädagogen und Sozialarbeitern und ggf. je nach Schwerpunkt der Einrichtung, auch therapeutische Fachkräfte. Oft wird das Fachpersonal durch FSJler, BFDler und Ehrenamtliche unterstützt.6
Prinzipiell lassen ich die Gründe, warum Kinder oder Jugendliche aus ihren Familien genommen werden in drei Kategorien aufteilen:
1. Individuelle Problemlagen
2. Familiäre Problemlagen
3. Unzureichende Versorgung/ Betreuung/ Förderung des jungen Menschen
Das Spektrum, der in diese Kategorien einzuordnenden Gründe, ist weit gefächert und reicht von fehlenden Erziehungskompetenzen der Eltern bis zu der allseits bekannten KWG.
In den meisten Fällen einer stationären Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, wird die dritte Kategorie, also eine unzureichende Betreuung/ Versorgung/ Förderung der Kinder durch die Sorgeberechtigten, genannt. 7
Anders ist dies bei UMF. Diese kommen nicht auf Grund fehlender Erziehungskompetenzen ihrer Eltern in stationäre Einrichtungen, sondern weil in Deutschland gesetzliche Grundlagen für UMF (siehe Kapitel 1.3.) gelten. Diese besagen, dass es sich bei einer unbegleiteten Einreise oder Aufenthalt um eine KWG handelt, welche eine ION mit sich zieht. Die darauffolgende Unterbringung in Wohngruppen wird nach dem Reifestand der Betroffen organisiert. So kann ein UMF in eine Wohngruppe mit 24h-Betreuung und therapeutischem Angebot kommen, ein anderer aber in eine Verselbstständigungsgruppe. Ziel ist es letztlich, die jungen Menschen pädagogisch zu betreuen und sie in ihrer Entwicklung zu selbstständigen Menschen zu unterstützen.8
Es lässt sich also erkennen, dass zwar die Ziele der Jugendhilfe bei UMF sich gleichen, jedoch die Gründe nicht. UMF haben insbesondere mit individuellen, meist traumatischen Erfahrungen ihrer Flucht zu kämpfen und sollen in den stationären Einrichtungen Halt finden um sich in ihrer Umgebung einfinden zu können. Die meisten stationär untergebrachten UMF wären im Normalfall, wären sie in ihrer Heimat geblieben, oder von Beginn an in Sicherheit aufgewachsen, kein Fall für die Jugendhilfe.
Insbesondere deswegen wird und sollte es kritisch gesehen werden, UMF in „normalen“ Regelwohngruppen mit „Nicht-Flüchtlingen“ bzw. „Nicht-Traumatisierten“ unterzubringen.
Der Begriff „Trauma“ ist allseits bekannt und hat sich auch in alltäglichen Redewendungen eingeschlichen. Es gibt viele Ansätze Traumatisierungen zu erklären. In diesem Kapitel sollen kurz einige Aspekte zur Erklärung zusammengefasst werden und den Zusammenhang von Trauma und Flucht erläutern.
Der Begriff „Trauma“ hat seinen Ursprung im Altgriechischen und bedeutet „Wunde“ oder auch „Verletzung“. In der Medizin bezieht sich diese Verletzung auf den Körper, in der Psychologie hingegen auf die menschliche Psyche.
Das deutsche Klassifikationssystemen für psychische Störungen ICD-10 beschreibt eine Traumatisierung als
„Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“. (WHO)
Der Schwerpunkt dieser Erklärung, liegt aber klar bei dem Ereignis selbst, nicht aber bei den Folgen. Hier setzt dann das amerikanische Klassifikationssystem DSM-IV ein und beschreibt das Trauma „als potenzielle oder reale Todesbedrohung, ernsthafte Verletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder bei anderen, auf die mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken reagiert wird“ Ein Trauma setzt sich aus objektiven und subjektiven Faktoren der Wahrnehmung, Bewertung und Handlung zusammen. Die betroffene Person erlebt eine Diskrepanz zwischen der Situation selbst und seinen eigenen Bewältigungsfaktoren, was zu Angst und Hilflosigkeit führt und so das Selbstbild des Betroffenen angreift.
Ein traumatisches Ereignis zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch auch nach dem Erleben dieser Situation, nicht mehr in der Lage ist mit Hilfe von Anpassungs- und Bewältigungsstrategien zu agieren. Die betroffene Person sieht sich in einer absolut ausweglosen Situation und zwingt den Körper so, Notfallprogramme zum Überleben zu aktivieren, welche als Folge, langfristige Störungen der neuronalen Hirnstruktur bedeuten.9
Ein Trauma wird also in den meisten Fällen auf eine einzelne Situation, ein Ereignis, reduziert. Beim genaueren Hinschauen zeigt sich jedoch, dass UMF nicht von einer einzelnen Traumaerfahrung, wie beispielsweise sexuellen Missbrauch, betroffen sind, sondern in den meisten Fällen gleich mehrere dieser belastenden Ereignisse über einen längeren Zeitraum erlebt haben.
Ein Traumverständnis, welches sich „in Zusammenhang mit Flucht, Zwangsmigration und unbegleiteten Minderjährigen als zentral“ (Hargasser (2015) S. 27) herausgestellt hat, wurde von Hans Keilson entwickelt und von David Becker und Barbara Weyermann weiterentwickelt und wird als die sequenzielle Traumatisierung bezeichnet.
Keilson stellte, auf Grundlage seiner Studie mit jüdischen Kriegswaisen aus dem zweiten Weltkrieg, ein Modell vor, welches den Fokus von Traumatisierungen, weg von hoch komplexen medizinischen Erklärungen, hin zu einem Traumaverständnis, welches die sozialen, politischen und zeitlichen Aspekte eines Traumatisierungsprozesses in den Mittelpunkt rückte. Er erweiterte den Blick von einem „einzelnen Traumatisierungsereignis und dessen Verarbeitung durch die Einzelperson hin zu einer Abfolge von Ereignissen und deren Zusammenwirken im jeweiligen Kontext“ (Hargasser (2015) S. 28). Somit entstanden für ihn drei Sequenzen:
1. Die Anfangsphase der Verfolgung
2. Die direkte Verfolgung
3. Die Rückkehr
Becker und Weyermann erweiterten dieses Modell, indem sie „den Übergang von akuter Verfolgung und der Zeit danach nochmals in unterschiedliche Sequenzen“ (Hargasser (2015) S. 32) unterteilten, da sie die Auffassung vertreten, dass „die Grenzen der Verfolgung nicht immer so eindeutig sind“. (Hargasser (2015) S. 32)
Somit entstand ein Modell mit folgenden sechs Sequenzen (Hargasser (2015) S. 32):
1. Vor Beginn des traumatischen Prozesses
2. Beginn der Verfolgung
3. Akute Verfolgung - Direkter Terror
4. Akute Verfolgung – Chronifizierung
5. Zeit des Übergangs
6. Nach der Verfolgung
Diese Phasen sind letztendlich nur eine Orientierung, und müssen individuell auf den jeweiligen Menschen angepasst werden.
Becker und Weymann haben es sich in diesem Rahmen aber auch nicht nehmen lassen, ihr Modell speziell auf den Aspekt der Flucht zu beziehen. Flucht als sequentielle Traumatisierung lässt sich nach Becker und Weymann wie folgt verstehen:
1. Vom Beginn der Verfolgung bis zur Flucht
Die unfreiwillige Flucht bedeutet meist ein Zusammenspiel von Verzweiflung und Akzeptanz der Situation und dem Wunsch, sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen.
2. Auf der Flucht
In dieser Phase erleben die meisten Flüchtlingen unterschiedlich viele Traumatisierungen. Eine Flucht dauert oft lange und bringt existenzbedrohende Erfahrungen mit sich. UMF haben hier nicht selten ihr Familie auf unterschiedlichste Wege verloren. Neben der Verzweiflung über die Tatsache, dass man alles verloren hat und das eigene Leben bedroht ist, dürfen die Flüchtlinge nicht das Ziel der Sicherheit aus den Augen verlieren.
3. Übergang 1 – Die Ankunft am Ankunftsort
Der Ankunftsort entspricht oft nicht den erwarteten Dingen, der erwarteten Sicherheit. Auch hier haben die Flüchtlinge mit Existenzbedrohungen zu tun. Gleichzeitig nehmen sie erstmals wirklich bewusst ihre psychischen Folgen war und müssen sich aber gleichzeitig mit Problemen, wie der Wohnsituation, der Rechtslage und dem kulturellen Unterschied beschäftigen.
4. Chronifizierung der Vorläufigkeit
Diese Phase lässt sich zweiteilen, wobei nicht jeder beide Parts durchläuft. Einmal kann ein Flüchtling sich an die Lage anpassen und somit seine Identität wahren und so nicht den Bezug zur Heimat verlieren, oder aber er akzeptiert die Situation und rechnet nicht mit einer Rückkehr in die Heimat. Durch die zweite Option erleichtert sich die Integration.
Es muss hier aber auch gesagt werden, dass die Marginalisierung und Traumatisierung von Flüchtlingen oft durch die Aufnahmestaaten und ihre schwierigen Asylbedingugen selbst verschuldet ist.
5. Übergang 2 – Die Rückkehr
Bei einer erzwungenen Rückreise handelt es sich meist um eine Re- bzw.- Neutraumatiserung. Aber auch wenn diese freiwillig ist, bedeutet die Rückkehr aufgrund von einem langen Aufenthalt im Fluchtland nicht selten Krisen.
6. Nach der Verfolgung
„Aus Flüchtlingen werden MigrantInnen“. Diese Aussage trifft es abschließend ziemlich genau, denn selbst wenn Flüchtlinge sich, wie in den meisten Fällen, in ihr Aufnahmeland integrieren, werden sie sich über Generationen hinweg immer wieder mit der Thematik des Migrationshintergrundes beschäftigen. Ihre Flucht wird sie für immer begleiten.
Folgen einer Traumatisierung werden im Fachjargon als die sogenannten Traumafolgestörungen zusammengefasst. Typische Symptome, die insbesondere im ICD-10 und DSM-V beschrieben werden, sind beispielsweise Kontrollverlust, Schlafstörungen, Konzentrationsmangel, Suizidgedanken, Aggressivität, u.ä. 10
Diese Traumafolgestörungen lassen sich letztendlich in drei große Störungsfelder zusammenfassen. Neben der allseits bekannten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), zählen dazu auch die akute und komplexe posttraumatische Belastungsstörung und die Entwicklungstraumastörung.
Das bekannteste und auch grundlegendste Störungsbild, die PTBS, unterscheidet drei Hauptsymptomgruppen, die jeweils unterschiedliche Symptome aufweisen:
1. Intrusion
„Intrusionen sind ungewollt wiederkehrende und belastende Erinnerungen“ (Dittmar (2013), S. 43) die durch sogenannte Trigger, also Schlüsselreize mit denen das Traumaereignis verbunden wird, ausgelöst werden. Je nach Stärke der auftretenden Intrusion, kann der Betroffene den Bezug zur Gegenwart komplett verlieren. Intrusionen können nach einigen Sekunden vorbei sein, oder aber auch mehrere Tage andauern. Der Betroffene erinnert sich hierbei nicht nur an das Ereignis, sondern durchlebt die Situation erneut mit allen Sinneswahrnehmungen.
2. Vermeidung
Um einer Intrusion durch Schlüsselreize aus dem Weg zu gehen, versuchen Betroffene oft Orte, Menschen, etc., die sie an das Trauma erinnern könnten, zu meiden. Leider wird insbesondere durch diesen Versuch, nicht an das Trauma zu denken, Erinnerung hervorgerufen. Diese Vermeidungsstrategien führen nicht selten dazu, dass sich ein Betroffener sozial isoliert. Ebenfalls in diese Kategorie gehört das Numbing, das emotionale Betäubtsein, worunter sich alle Symptome zusammenfassen lassen, welche zeigen, dass ein Betroffener nicht in der Lage ist, positive Gefühle zu zeigen oder anzunehmen.
3. Hyperarousal
Eine traumatische Erfahrung lässt die Erregungsschwelle des Betroffenen, als eine Art Überlebenshilfe, sinken, was prinzipiell nichts Schlimmes in Bezug auf Gefahrensituationen ist. Jedoch sind Betroffene auch nicht mehr in der Lage eine reale Bedrohung von Sicherheit zu unterscheiden und interpretieren so, vollkommen normale Reize als Gefahren. Oft wirkt sich dies auch auf das Schlafverhalten des Menschen aus.
Bei der komplexen PTBS haben wir neben den drei o.g. Hauptkategorien Intrusion, Vermeidung und Hyperarousal noch zusätzliche Symptome, wie Persönlichkeits- und Somatisierungsstörungen vorliegen. Das Ausmaß ist hier noch komplexer.
Die Entwicklungstraumastörung wird als eine Weiterentwicklung der komplexen PTBS angesehen, wo biologische und entwicklungspsychologische Ansätze verbunden werden.
Die akute Belastungsstörung gehört auch zum Spektrum der PTBS, unterscheidet sich aber insbesondere durch die Faktoren Zeit und Ereignis. Sie muss nicht durch ein traumatisches Ereignis ausgelöst werden, eine schwierige Lebenssituation reicht schon völlig aus. Wir sprechen von einer akuten Belastungsstörung, wenn nach mindestens zwei Tagen, aber maximal vier Wochen Symptome einer Belastungsstörung auftreten. Auch wird für diese Form gefordert, dass „die Person während oder nach dem extrem belastenden Ereignis mindestens drei dissoziative Symptome zeigt.“ (Dittmar (2013), S. 47). Eine akute Belastungsstörung bedeutet aber nicht, dass sich beim Betroffenen auch Langzeitfolgen entwickeln.11
Welche Folgen eine Traumatisierung mit sich bringt, hängt letztlich, insbesondere bei Kindern, von drei Faktoren ab.
1. Alter und Entwicklungsstand
2. Ausmaß der Traumatisierung
3. Soziales Umfeld
Je nachdem, wie welcher Faktor ausgeprägt ist, werden sich die Traumafolgen stärker oder schwächer ausprägen12
Die Tatsache, dass inzwischen „mindestens 75% der fremduntergebrachten Kinder und Jugendlichen traumatische Erfahrungen haben und 60% die ICD-10-Kriterien von mindestens einer psychischen Störung erfüllen“ (Baierl (2014), S. 25) sollte uns zeigen, dass Jugendhilfeeinrichtungen eine entsprechende Diagnostik als unumgehbare Voraussetzung bieten müssen. Ebenfalls werden Auffälligkeiten wie ADHS oft nicht als Folge eines Traumas angesehen, was für die Entwicklung weitere schwerwiegende Folgen haben kann. 13
Man sollte hier auch noch anmerken, dass eine Flucht nicht immer gleich ein Trauma bedeutet. Es ist sicherlich richtig, dass aufgrund der Erfahrungen viele UMF traumatisiert sind. Jedoch bildet sich hier nicht selten bei vielen UMF eine unglaubliche Resilienz und ein starker Lebenswille aus. UMF sind nicht zwangsläufig alle Fälle für psychiatrische Einrichtungen. Es sind eher junge Menschen, die früh lernen mussten zu kämpfen und sehr belastenden Situationen ausgesetzt waren, deren Erlebnisse sie ihr Leben lang begleiten werden. Aus der sich oft widerspiegelnden Resilienz lassen sich viele Ressourcen fördern, die den jungen Menschen einen Neustart ermöglichen.
Bei der Traumapädagogik handelt es sich noch um ein recht junges Feld unserer Disziplin. Entstanden ist sie aus der Psychotraumatologie, als gegen Ende der 80er Jahre durch die „Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen“ (Weiß (2016), S. 21) die Frage nach dem Umgang mit traumatisierten Kindern, Pädagogen im stationären Bereich beschäftigte. Gegen Mitte der 90er Jahre wurde dieses Interesse auch auf andere traumatische Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen ausgeweitet, mit dem Ziel eine pädagogische Begleitung zu schaffen.
Die Traumapädagogik ist eine „dynamische Fachrichtung“ und „nicht denkbar ohne die Kenntnisse der Psychotraumatologie […] Sozialen Arbeit, Bindungstheorien, Resilienzforschung, Gesundheitslehre und therapeutischen Wissenschaft.“ (Weiß (2016), S. 22). Sie ist also keine komplett neu erfundene Fachrichtung, sondern bedient sich der Erkenntnisse, die sich in der Vergangenheit in anderen Bereichen der Pädagogik, Psychologie und Medizin als bewährt bewiesen haben.14
Eine „wesentliche Basis der Traumapädagogik“ ist die Grundhaltung, welche in Organisationen die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten, durchgängig zu erkennen sein sollten. Sie ist vom Fachverband für Traumapädagogik wie folgt festgelegt worden15:
- „Die Annahme des guten Grundes – „Alles was ein Mensch zeigt, macht Sinn in seiner Geschichte!“
Oft sind die Reaktionen auf traumatische Erfahrungen nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für alle Menschen in seinem Umfeld sehr belastend. In Einrichtungen der stationären Kinder und Jugendhilfe ist es daher wichtig, die Wertschätzung nicht zu verlieren und sowohl sich selbst, dem Betroffenen, sowie auch Kollegen und anderen Bewohnern der Einrichtung immer wieder zu verdeutlichen, dass diese Reaktion, das Verhalten, einen „guten Grund“ hat. Besonders in der Arbeit mit UMF sollte hierauf viel Wert gelegt werden, denn neben dem Verhalten aufgrund traumatischer Erlebnisse, kommen auch die kulturellen Differenzen hinzu.
- Wertschätzung – „Es ist gut so, wie du bist!“
Da traumatisierte Kinder und Jugendliche ihren Selbstwert in Frage stellen und immer wieder „Gefühle, Gedanken und Beziehungsinhalte der traumatisierenden Situation“ auf ihre aktuelle Situation beziehen, benötigen sie einen Rahmen, der es ihnen ermöglicht, sich sicher zu fühlen und den Fokus auf ihre Stärken legt.
UMF werden auf ihrer Reise immer wieder erlebt haben, nichts wert zu sein. Einem Kind was über einen längeren Zeitraum immer wieder, indirekt oder direkt, erklärt wird, dass es nicht erwünscht o.ä. ist, wird dies irgendwann glauben. Die Aufgabe von Fachpersonal sollte es also unter jeglicher Anstrengung sein, den Kindern ihren Selbstwert wieder zu geben.
- Partizipation – „Ich traue dir was zu und überfordere dich nicht!“
Traumatisierte Kinder und Jugendliche haben eine Form von „Kontrollverlust“ erlebt. Insbesondere deshalb ist es von absoluter Notwendigkeit, diesen Kindern einen strukturierten Rahmen zu bieten, den sie selber mitbestimmen können. Hierzu sollten sie auf den drei Ebenen
-Erleben von Autonomie – Ich kann etwas entscheiden
- Erleben von Kompetenz – Ich kann etwas bewirken
- Erleben von Zugehörigkeit – Ich gehöre dazu und werde wertgeschätzt
Teilhabe erleben.
In der Arbeit mit UMF stellt sich dies oft also schwierig heraus, da sie aus anderen Kulturkreisen kommen, die solche Werte eher weniger umsetzten. Trotzdem ist es wichtig, besonders für die Integration in die Aufnahmegesellschaft, den UMF hier einen Zugang zu vermitteln.
- Transparenz – „Jeder hat jederzeit ein Recht auf Freiheit“
Durch die negativen Erfahrungen mit Macht, ist es wichtig traumatisierten Kindern in den Einrichtungen einen sicheren Ort zu bieten, an dem ihnen Raum gegeben wird und sie lernen, dass Strukturen und Machtverhältnisse nicht zwingend negativ behaftet sind. Es ist wichtig, dass die Kinder Erklärungen für ihr Verhalten, welches sie oft selbst als negativ und belastend wahrnehmen, erhalten.
Nicht zu wissen was passiert, war der Alltag von UMF auf ihrer Flucht. Irgendwann tritt der Punkt der Resignation ein und man akzeptiert diese Tatsache. Umso wichtiger ist es, dass die UMF zurück zu dem Erleben von Transparenz geführt werden.
- Spaß und Freude – „Viel Freude trägt viel Belastung“
Durch die, von unterschiedlicher Dauer, belastenden Erfahrungen, sind die Gefühle der Kinder im Ungleichgewicht, wobei die negativen überwiegen. Es ist Aufgabe der Pädagogen, die Kinder, mithilfe von Spaß und Freude, wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Besonders UMF haben lange keine schönen Erfahrungen mehr gemacht. Nach Krieg in der Heimat folgte die von Angst und Gewalt geprägte Flucht und die ungewisse Zukunft in der neuen Heimat, die oft nicht so war, wie man sich das vorgestellt hatte. Das Ermöglichen von positiven Erfahrungen sollte daher eine wichtige Rolle spielen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Grundhaltung der Traumapädagogik besonders durch Wertschätzung geprägt ist. Es gilt zu verinnerlichen, dass die Verhaltensweisen der Kinder in den meisten Fällen nicht beabsichtigt sind, sondern durch ihre belastenden Erfahrungen der Vergangenheit entstehen. Nur wenn wir ihnen gegenüber verständnisvoll sind, können wir auch Fortschritte erzielen können. Es ist wichtig, Strukturen zu schaffen, in denen sich die UMF sicher fühlen und ihre Lebensfreude zurückgewinnen.
„Ohne eine äußere Sicherheit ist die Erlangung innerer Sicherheit nicht möglich“ (vgl. Kühn, M/ Bialek, J. (2017) S. 59).
In der Traumapädagogik wird zwischen dem „inneren“ und der „äußeren sicheren Ort“ unterschieden. Wie in dem o.g. Zitat erwähnt, können die Techniken zur „inneren Sicherheit“ letztlich nur wirklich wirksam genutzt werden, wenn sich die Person auch in ihrer Umgebung sicher fühlt. Aufgrund dieser Tatsache, dass die „äußere Sicherheit“ eine Voraussetzung für die „innere Sicherheit“ ist, wir im Rahmen dieser Arbeit nur der „äußere sichere Ort“ weiter erläutert. Das Ermöglichen einer „äußeren Sicherheit“ liegt zudem mehr im Zuständigkeitsbereich der Sozialarbeit und -pädagogik.
Die Traumapädagogik stützt sich auf der „pädagogischen Triade“, die aus den drei Komponenten Einrichtung, Klient und Pädagoge besteht. Diese bilden in ihrer Interaktion auch die Basis für die Traumapädagogik.
Bei dem Ansatz des „Sicheren Orts“ wird der Fokus auf Kind und Einrichtung gelegt.
Im Rahmen der äußeren Bedingungen sollen die banalen und für die meisten Menschen normalen Bedürfnisse, wie beispielsweise ausreichend Nahrung und ein sicherer Ort, gewährleistet werden. Dass dies insbesondere für UMF von hoher Bedeutung ist, lässt sich schnell vermuten. Vor und während ihrer Flucht haben sie nicht nur die Erfahrungen von ständiger Angst durch gefährliche Aufenthaltsorte, etc. erfahren, sondern auch gelernt, dass die ständige Verfügbarkeit von beispielsweise Lebensmitteln, nicht selbstverständlich ist.
Weiterhin beinhaltet der Ansatz des sicheren Orts die Gewaltfreiheit. Insbesondere UMF sind Zeugen oder Opfer, und vielleicht auch ungewollt Täter, von Gewalt geworden. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben einer Einrichtung, den UMF zu vermitteln, dass Gewalt nichts ist womit man leben muss. Für die meisten von ihnen ist Gewalt ein völlig selbstverständlicher Teil ihres Lebens geworden und prägt sie stark in ihrer Entwicklung und Lebensart.
Aufgrund dessen ist es auch wichtig, eine Einrichtung ansprechend zu gestalten. UMF sind in vielen Fällen aus Welten geflohen in denen Zerstörung und Gewalt und somit eher dunklere Farben ihre Leben oder ihre Reise zu uns geprägt haben. Einrichtungen sollten daher versuchen Räume hell oder farbenfroh zu gestalten. Auch ist wichtig das die Räume übersichtlich und geräumig sind. Für UMF ist es wichtig, dass sie wieder ein Gefühl von „Raum und Besitz“ bekommen. Türen sollten daher verschließbar und das Mobiliar individualisierbar, sowie Dienstpläne zugänglich sein.
Die Rahmenbedingungen einer Einrichtung sollten klar strukturiert sein, denn das Gefühl von Sicherheit kommt oft auch mit Struktur, die in der Vergangenheit verloren gegangen ist. Wichtig, auch für den Beziehungsaufbau (siehe 2.4.3.2.), sind geringe Fluktuation beim Personal und eine passende Gruppengröße. Rituale, Angebote, Regeln, all dies sollte übersichtlich und frei zugänglich sein, um so Sicherheit zu schaffen.16
Bindung ist zunächst erstmal ein Begriff, der aus der Psychologie kommt und die Beziehung oder auch die Qualität einer Beziehung zwischen mindestens zwei Menschen meint.
Im klassischen westlichen Verständnis von Bindung, gehen wir davon aus, dass sich jedes Kind bindet und sehen diese Bindung, als eine Basis, die zunächst nur auf die Eltern beschränkt ist, an. Neben der Feinfühligkeit des Erwachsenen, spielt auch das Temperament des Kindes eine große Rolle für die Entstehung der Bindungsqualität. Die Bindungsqualität kann sich durch unterschiedliche positive wie negative Erfahrungen verändern.
In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus anderen Kulturen ist es wichtig zu beachten, dass diese oft mit einem ganz anderen Bindungsverständnis als wir es in den westlichen Ländern gewohnt sind, aufgewachsen sind. Ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass es sich hierbei nicht um „Abweichungen von der Norm“ (vgl. Becke (2017) S. 80) oder kulturelle Grenzen handelt, sondern lediglich um andere Möglichkeiten der Ausgestaltung, für welche wir ein Verständnis entwickeln müssen, ist von absoluter Notwendigkeit. Wesentliche Aspekte, die in der Bindungsarbeit mit UMF beachtet werden sollten sind beispielsweise die Familiengröße in anderen Kulturen, den Stellenwert den ein Kind dort in der Familie einnimmt und die Erziehungsziele, die in dem jeweiligen Land Vorrang bekommen haben. Es lassen sich keine allgemeingültigen Schemata entwickeln, wie pädagogischen Fachkräften den perfekten Bindungsaufbau mit UMF erzielen, denn neben der Individualität des Einzelnen, kommen die unterschiedlichen Herkunftsländer der Kinder und Jugendlichen hinzu.
Zusätzlich kommt hier der Aspekt der oft vorhandenen Traumatisierung. Ein Trauma bedeutet oft den Verlust vom Gefühl der Sicherheit. Deswegen stellt das Erleben von sicheren Bindungen für die meisten UMF „einen präventiven Schutz dar“ (vgl. Becke (2017) S. 81), welcher beim Umgang mit den Erfahrungen hilft. Sie nehmen ebenfalls den Platz einer sehr wichtigen Bewältigungsstrategie ein. Eine sichere Bindungserfahrung ist für traumatisierte UMF von absoluter Notwendigkeit, um den Kindern eine Hilfe für eine gesunde Entwicklung zu stellen und ihre Selbstwirksamkeit zu fördern.
Becke hat einen Entwurf zur bindungsorientierten Arbeit mit UMF veröffentlich, der fünf Voraussetzungen darlegt, welche im pädagogischen Alltag den Aufbau einer Bindung fördern:
1. Individualität im Handeln
Anlehnend an die bereits o.g. Aspekte der kulturellen Unterschiede und der Tatsache, dass wir unserem Handeln keine allgemeingültige Strategie zugrunde legen können, da jedes Kind seine eigene Geschichte mit sich trägt.
2. Zeit und Konstanz des Handelns
Der Aufbau einer guten Bindung wird nicht von heute auf morgen gelingen und setzt eine Langlebigkeit voraus, die sich auch in der Einrichtung wiederfinden muss.
3. Interaktives Handeln
Pädagogen befinden sich mit dem Kind in einer ständigen Interaktion und die Gefahr, die professionelle Distanz zu verlieren, liegt sehr nahe. Besonders deswegen ist es wichtig, dass sich Pädagogen professionell begleiten und reflektieren lassen. Unser Bindungsverhalten ist sehr stark von Erfahrungen abhängig und muss deswegen stets im Blick behalten werden.
4. Professionelles Handeln
Wie bereits oben erwähnt, setzt die Bindungsarbeit eine hohe Professionalität voraus. Insbesondere bei Schicksalen wie traumatisierten UMF fällt dies manchmal schwer, was eine professionelle Betreuung und kollegiale Unterstützung zur absoluten Notwendigkeit macht.
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1 Vgl. Uno Flüchtlingshilfe, online
2 Vgl. Mediendienst Integration, online
3 Weeber, V./ Gögercin, S. (2014) S. 27-28
4 Hargasser, B. (2015), S. 20-21
5 Vgl. Menesch, C./Keller, M. (2016), S. 212
6 Vgl. Bayrisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, online
7 Vgl. Forschungsverbund DJI/TU Dortmund (2016), online
8 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, online
9 Vgl. Scherwath, C./ Friedrich, S. (2012), S. 17-19
10 Vgl. Bailerl, M. (2014), S. 25
11 Vgl. Dittmar, V. (2013), S. 43-50
12 Vgl. Streeck-Fischer, A. (2014), S. 3
13 Vgl. Baierl, M. (2014), S. 24-25
14 Vgl. Weiß, W. (2016), S. 20-22
15 Vgl. Positionspapier der BAG Traumapädagogik
16 Keller, B./ Rettenbach, R. (2017) S. 127-137