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Bachelorarbeit, 2019
53 Seiten, Note: 1,5
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Vorgehensweise
2 Heutige Herausforderungen für europäische Berufsbildungssysteme
2.1 Akademisierung
2.2 Digitalisierung
2.3 Integration ausländischer Jugendlicher
3 Zur Geschichte der europäischen Berufsausbildung
3.1 Ursprünge der handwerklichen Berufsausbildung
3.2 Ursprünge der kaufmännischen Berufsausbildung
3.3 Entwicklung im 19. Jahrhundert
4 Typen nationaler Berufsbildungssysteme
4.1 Typologisierung drei unterschiedlicher Berufsbildungssysteme
4.2 Das Marktmodell
4.3 Das Schulmodell
4.4 Das duale System
5 Reaktionspotenziale verschiedener Berufsbildungssysteme auf die Herausforderungen der beruflichen Bildung
5.1 Zusammenfassung der Reaktionspotenziale der Berufsbildungssysteme
5.2 Potenziale im Hinblick auf die Akademisierung
5.3 Potenziale im Hinblick auf die Digitalisierung
5.4 Potenziale im Hinblick auf die Integration ausländischer Jugendlicher
5.5 Schlussfolgerungen
6 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildung 1: Reaktionsverhalten verschiedener Berufsbildungssysteme auf Herausforderungen beruflicher Bildung 25
Die Geschichte der Berufsbildung lässt sich in Europa bis ins Mittelalter verfolgen (vgl. Reuter-Kumpmann & Wollschläger 2004, S. 7). Dabei glich sich in nahezu allen europäischen Ländern die Berufsausbildung, für dessen Regulierung insbesondere die seit dem zwölften Jahrhundert bestehenden Zünfte zuständig waren (vgl. Greinert 2005, S. 9 ff.; Reuter-Kumpmann & Wollschläger 2004, S. 7). Diese bestanden aus Vereinigungen, in denen sich Angehörige eines bestimmten Gewerbes oder eines Handwerks zusammenschlossen, um die Berufsausübung sowie die Berufsausbildung ihres jeweiligen Fachgebiets zu organisieren und durchzuführen (vgl. Reuter-Kumpmann & Wollschläger 2004, S. 7). Berufliche Ausbildung erfolgte dabei nach einem milieugebundenen Imitatio-Prinzip der Arbeit des Meisters, in dessen Haushalt die Lehrlinge während der Ausbildung lebten (vgl. Stratmann 1993, S. 237). Die Einflussnahme des Zunftwesens vollzog sich nicht nur über einzelne Jahre oder Jahrzehnte, sondern bestimmte über viele Jahrhunderte die Struktur beruflicher Bildung in Europa (vgl. Reuter-Kumpmann & Wollschläger 2004, S. 7). Diese Entwicklungen zeigten sich entsprechend auch in der Geschichte der kaufmännischen Berufsausbildung, welche ebenfalls über einen langen Zeitraum einheitlich organisiert war (vgl. Pätzold, Reinisch & Wahle 2015, S. 19). Im Zuge der einsetzenden Industrialisierung im 18. Jahrhundert kam es in Europa zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen (vgl. Deißinger & Frommberger 2010, S. 343 ff.). Da sich infolge dessen die traditionellen Formen der Berufsausbildung als nicht mehr zeitgemäß herausstellten, ist es europaweit zu Reformierungsprozessen in der beruflichen Bildung gekommen (vgl. Henning 1996, S. 4 ff.; König 1997, S. 179 ff.). Diesbezüglich lassen sich jedoch länderspezifische Unterschiede in der Reaktion auf die Veränderungsprozesse feststellen, sodass sich im Zuge dessen eine heterogene Landkarte nationaler Berufsbildungssysteme entwickelte (vgl. Greinert 1999, S. 25).
In diesem Zusammenhang ergaben sich in Europa drei unterschiedliche Strömungen in der Entwicklung der noch heute bestehenden Berufsbildungssysteme (vgl. Reuter-Kumpmann & Wollschläger 2004, S. 9). So entstand in einigen Ländern Europas im Übergang zur Moderne das funktionsorientierte Marktmodell, das sich an einer unmittelbaren funktionalen Verwertbarkeit der Ausbildung orientiert (vgl. Clement 1996, S. 617 ff.; Greinert 2005, S. 12 ff.). Andere Länder reagierten auf den Reformationsbedarf beruflicher Bildung mit einem wissenschaftsorientierten Schulmodell, in dem der allgemeine Bildungserwerb der Lernenden im Fokus steht. Außerdem etablierte sich das als Mischform dieser beiden Typen geltende duale System, welches aufgrund des traditionellen, handwerklichen Hintergrunds, den Schwerpunkt auf die Sicherstellung von Beruflichkeit der Auszubildenden legt (vgl. Clement 1996, S. 617 ff.; Greinert 2005, S. 14 f.). Während das englische Berufsbildungssystem nach den Merkmalen des Marktmodells organisiert ist und in Frankreich ein Schulmodell angewendet wird, ist hierzulande die Berufsausbildung nach dem dualen System organisiert (vgl. Greinert 2005, S. 12 ff.). In der Berufsbildungsforschung werden diese Typologisierungen zur Reduzierung der Heterogenität von unterschiedlichen Organisationsformen beruflicher Bildung herangezogen, um einen Vergleich der Berufsbildungssysteme zu ermöglichen (vgl. Negrini 2016, S. 12). Da die historischen Ursprünge der unterschiedlichen Berufsbildungssysteme in den drei genannten Ländern liegen und diese dort noch heute Anwendung finden, wird sich im Folgenden auf diese Staaten fokussiert.
Nach den Merkmalsindikatoren der Learning Cultures lassen sich die Systeme nach den Aspekten der Wertschätzung beruflicher Bildung gegenüber tertiärer Bildung, der Transparenz und Informiertheit über berufliche Bildungs- und Ausbildungswege, der Finanzierung, dem relativen Gewicht und Funktion der Lehre sowie der Art der Qualitätssicherung betrieblicher Ausbildung unterscheiden (vgl. Harris & Deißinger 2003, pp. 25). Allen gemeinsam ist das Ziel der Erwerb konkreter beruflicher Qualifikationen von Auszubildenden, wodurch Eintritte in den Arbeitsmarkt erleichtert werden (vgl. Guggemos, Thielen & Speich 2015, S. 1). Sie ermöglichen Jugendlichen einerseits wirtschaftliche und soziale Teilhabe, während sie andererseits Unternehmen bei der Deckung ihres Fachkräftebedarfs unterstützen.
Gegenwärtig sind die Berufsbildungssysteme Europas bei der Verfolgung ihrer Ziele mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert, welche sich insbesondere in der zunehmenden Akademisierung, der Digitalisierung und der Integration ausländischer Jugendlicher in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt äußern (vgl. z. B. Dräger 2013, S. 45; Scheiermann & Walter 2016, S. 1 ff.; Severing & Teichler 2013, S. 7).
Der tertiäre Bildungssektor gewinnt im Vergleich zur beruflichen Bildung zunehmend an Bedeutung (vgl. Severing & Teichler 2013, S. 7). So steigt die Zahl der Menschen mit tertiärem Bildungsabschluss im europäischen Raum seit Jahren kontinuierlich an (vgl. Floren 2017, S. 1). Einerseits bedeutet die zunehmende Akademisierung in vielen Fällen persönliche Vorteile wie beispielsweise der Verdienst eines höheren Einkommens (vgl. Nida-Rümelin 2014, 29 ff.). Auf der anderen Seite führt eine steigende Zahl an Studienanfänger/-innen zu einem Rückgang beruflicher Ausbildungsverhältnisse, was im Umkehrschluss zu einem Mangel an qualifizierten Fachkräften beiträgt (vgl. Helmrich & Winnige 2016, S. 60; Kersten 2016, S. 95). Hierzulande ist gegenwärtig bereits ein Mangel an Fachkräften in etlichen Berufen zu verzeichnen, besonders in den Bereichen des Handwerks und dem Pflegewesen (vgl. Graßl & Klein 2014, S. 156; Naegele 2016, S. 209). Dabei arbeiten insbesondere im europäischen Ausland viele Akademiker/-innen in Berufen, in denen ein Studium gar nicht nötig wäre oder bleiben sogar trotz ihres Abschlusses und des Fachkräftemangels arbeitslos (vgl. IDAF 2014, o. S.).
Begründet ist die steigende Zahl der Studierenden u. a. durch dynamische, sich stets in Wandlung befindliche Arbeitsmärkte als stärkster systematischer Treiber der Akademisierung (vgl. Dräger 2013, S. 44 f.). Nie zuvor haben sich Fachkenntnisse so schnell stets überholt wie in der heutigen Zeit (vgl. Kopmann 2018, S. 313 ff.). Wesentliche Faktoren für diese Schnelllebigkeit von Tätigkeiten sind insbesondere die Digitalisierung von Information und Kommunikation sowie die Vernetzung von Maschinen, Gegenständen und technischen Prozessen in der Arbeitswelt (vgl. Kimpeler & Dönitz 2016, S. 7). So steigen die Anforderungen nach neuen, sich kontinuierlich ändernden Fähigkeiten, sodass Lernen lernen immer wichtiger als Wissen wissen wird (vgl. Dräger 2013, S. 45; Kopmann 2018, S. 313 ff.). Daraus resultierend werden auch die bisherigen didaktischen Konzeptionen in der beruflichen Bildung vor neue Herausforderungen gestellt (vgl. BMBF 2016, S. 1).
In den letzten 50 Jahren ist der Anteil der in Europa lebenden Migrant/-innen deutlich angestiegen (vgl. Castles & Miller 2014, pp. 102; United Nations 2017, pp. 1). Hinsichtlich der Zugänge zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt stellen sich jedoch die Chancen ausländischer Jugendlicher im Vergleich zu nicht-ausländischen jungen Menschen als weitaus schlechter dar (vgl. BMBF 2018, S. 56). Dies betrifft insbesondere ausländische Jugendliche aus Asylherkunftsländern. Die Benachteiligung äußert sich beispielsweise aufgrund der generell niedrigen schulischen Qualifikationen ausländischer Jugendlicher oder der mangelnden Anerkennung bisher erworbener Qualifikationen (vgl. Deutscher Bundestag 2016, S. 19; Herwig 2017, S. 10; Imdorf 2011, S. 48). Als Folge ergibt sich daraus, dass betroffenen Migrant/-innen eine gesellschaftliche Integration erschwert wird. Auch wird die Problematik des Fachkräftemangels dadurch nicht entschärft (vgl. Schmidt 2011, S. 143). Die Integration ausländischer Jugendlicher in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt stellt folglich eine weitere relevante Herausforderung für die europäischen Berufsbildungssysteme dar.
Es stellt sich die Frage, wie die unterschiedlichen Berufsbildungssysteme Europas mit den beschriebenen Herausforderungen umgehen. Dabei gilt es zu ergründen, welche Merkmale der Berufsbildungssysteme besonders geeignet bzw. ungeeignet erscheinen, um auf die Herausforderungen der Akademisierung, Digitalisierung und der Integration ausländischer Jugendlicher zu reagieren. Da sich die Organisationsformen beruflicher Bildung in Europa von Land zu Land differenziert darstellen, ist davon von auszugehen, dass diese Systeme unterschiedlich auf die gegenwärtigen Herausforderungen reagieren. Aus den vorangegangen Überlegungen leitet sich folgende Fragestellung ab: Welche Reaktionspotenziale ergeben sich für die Berufsbildungssysteme Deutschlands, Frankreichs und Englands im Hinblick auf die europäischen Herausforderungen der beruflichen Bildung? Zur Beantwortung dieser Fragestellung sind sowohl die Herausforderungen für europäische Berufsbildungssysteme als auch die tatsächlichen Merkmale der bestehenden Organisationsformen beruflicher Bildung in Europa herauszuarbeiten und auf ihre Vereinbarkeit zu überprüfen. Aus den daraus folgenden Ergebnissen lässt sich ableiten, welcher Typ der Berufsbildungssysteme das höchstmögliche Reaktionspotenzial vorzuweisen hat und somit die besten Möglichkeiten zur Bewältigung der Herausforderungen der beruflichen Bildung besitzt.
Da diese Ausarbeitung das Reaktionspotenzial europäischer Berufsbildungssysteme auf die gegenwärtigen Herausforderungen der beruflichen Bildung fokussiert, erfolgt im zweiten Kapitel anfangs eine Auseinandersetzung mit den Merkmalen der Akademisierung, Digitalisierung und Integration ausländischer Jugendlicher in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt (vgl. Kapitel 2). Zweifellos existieren dabei noch weitere Herausforderungen für europäische Berufsbildungssysteme, wobei aufgrund der hohen Aktualität die Untersuchung der beschriebenen Herausforderungen fokussiert wird. Nach einer Merkmalsbeschreibung erfolgt diesbezüglich eine Erläuterung der zugrundeliegenden Ursachen für das Entstehen der jeweiligen Herausforderung. Im Anschluss dessen lassen sich daraus unterschiedliche Folgen aus den Herausforderungen skizzieren und ableiten. Neben einer kurzen Beschreibung der allgemeinen Folgen werden dabei explizit die Auswirkungen der jeweiligen Herausforderung für den Sektor der beruflichen Bildung beschrieben.
Das daran anschließende Kapitel befasst sich mit der Geschichte der europäischen Berufsausbildung (vgl. Kapitel 3). Um die Entwicklung zur gegenwärtigen Situation mit verschiedenen, nationalen Berufsbildungssystemen darzulegen, werden zu dieser Hinführung die historischen Ursprünge der beruflichen Bildung beschrieben. Da neben dem handwerklich geprägten Zunftwesen auch kaufmännische Berufe europaweit einheitlich organisiert waren, werden die Grundzüge beider historischen Ausbildungsmodelle erläutert.
Auf Basis dieser Ausführungen werden im vierten Kapitel die heute vorzufindenden Organisationsformen beruflicher Bildung detailliert beschrieben (vgl. Kapitel 4). Dazu lassen sich drei unterschiedliche Typologisierungen von Berufsbildungssystemen konzipieren. Aufgrund der Verwendung verschiedenster Kriterien in der Forschung, gestalten sich die Typologisierungen als uneinheitlich, weshalb die diesbezüglichen bekanntesten Ansätze verschiedener Autor/-innen berücksichtigt werden. Ein besonderer Fokus wird in diesem Kapitel auf die Differenzierungskriterien der Learning Cultures gelegt, da die Reaktionspotenziale nationaler Berufsbildungssysteme insbesondere auf Grundlage dieser Merkmale untersucht werden.
Auf Basis der Erläuterungen der vorangegangenen Ausführungen werden im fünften Kapitel die Reaktionen des deutschen, französischen und englischen Berufsbildungssystems im Hinblick auf die Herausforderungen der beruflichen Bildung analysiert und ausgewertet. Die detaillierten Ergebnisse werden im Anschluss daran zusammengefasst und bewertet, um darauf aufbauend zu schlussfolgern, welches der untersuchten Berufsbildungssysteme das bestmögliche Reaktionspotenzial in Bezug auf die Herausforderungen der beruflichen Bildung aufweist.
Diese Ausarbeitung endet mit einem Fazit, indem die relevantesten Erkenntnisse der einzelnen Kapitel zusammengefasst und kritisch reflektiert werden. Neben der Aufführung möglicher Kritikpunkte in Bezug auf die Qualität der Ergebnisse, lassen sich zudem Rückschlüsse ziehen und ein möglicher Forschungsbedarf für die Zukunft ableiten.
Vorbemerkung
Die unterschiedlichen Berufsbildungssysteme Europas stehen gegenwärtig vor gewaltigen Herausforderungen (vgl. z. B. BMBF 2016, S. 1; Scheiermann & Walter 2016, S. 1 ff.; Severing & Teichler 2013, S. 7). In diesem Zusammenhang existieren je nach Berufsbildungssystem unterschiedliche Herausforderungen.
So hat beispielsweise Frankreich, wie häufig in den südlicheren Staaten Europas zu beobachten, eine vergleichsweise hohe Jugendarbeitslosigkeit vorzuweisen (vgl. Diermann 2011, S. 111). Zwar ist die Jugendarbeitslosenquote in den letzten Jahren leicht rückläufig, im Vergleich zu der Zeit vor der internationalen Finanzkrise 2008 jedoch wesentlich höher (vgl. WKO 2018, o. S.).
Hierzulande ist die Problematik einer hohen Jugendarbeitslosigkeit mit einer weitaus niedrigeren Arbeitslosenquote nicht gegeben (vgl. Diermann 2011, S. 111). Jedoch ist in Deutschland sowohl die Zahl der Auszubildenden, als auch die der ausbildenden Betriebe im Vergleich zur Jahrtausendwende so weit gesunken, dass als Resultat dessen das Ausbildungsangebot die Ausbildungsnachfrage seit einigen Jahren bereits übersteigt (vgl. Statista 2019, o. S.). Folglich kommt es hierdurch aktuell bzw. künftig zu einer Herausforderung in der Versorgung von Ausbildungsplätzen.
Im Gegensatz zu diesem Auszug möglicher Problematiken wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels nicht weiter auf die individuell unterschiedlichen Herausforderungen eingegangen. Da einzelne Herausforderungen nur in einem Staat bzw. in wenigen Staaten auftreten, ist eine Analyse von Reaktionspotenzialen bei allen Formen von Berufsbildungssystemen folglich nicht möglich. Auch lassen sich einzelne Lösungsansätze nur schwer auf die Allgemeinheit übertragen. Somit liegt der nachfolgende Schwerpunkt auf der Beschreibung kollektiv betreffender Herausforderungen der beruflichen Bildung. Dabei werden im Folgenden zunächst die Grundzüge der Akademisierung beschrieben.
Seit Jahrzehnten ist in ökonomisch fortgeschrittenen Ländern mit marktwirtschaftlicher Prägung ein deutlicher Anstieg der Studienanfänger/-innen, Studierenden und Absolvent/-innenquote in den entsprechenden Altersjahrgängen zu beobachten (vgl. Severing & Teichler 2013, S. 7). Nach Kaiser (1977, S. 270) wird bei diesem Trend der „Erhöhung des Anteils der Erwerbstätigen mit Hochschulabschluss an allen Erwerbstätigen“ von einer Akademisierung der Gesellschaft gesprochen.
In diesem Kontext sind die Ursachen für die sich immer weiter ausdehnende Akademisierung in europäischen Gesellschaften vielfältig (vgl. z. B. BIBB 2002, S. 1; Dollase 2013, S. 26). Einen wesentlichen Faktor stellt der sich vollzogene grundlegende Strukturwandel von Industrie- zu Dienstleistungs- bzw. Wissenschaftsgesellschaften dar (vgl. BIBB 2002, S. 1). Gegenwärtige europäische Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht länger allein „von dem verfügbaren Arbeits- und Kapitalvolumen, sondern von der Organisation sozialer Beziehungen und von der Fähigkeit zur systematischen Erzeugung, zur flexiblen Rekombination und produktiven Nutzung von Wissen abhängt“ (Heidenreich 1998, S. 322). Da Wissens- und Dienstleistungsgesellschaften folglich höhere, sich stets wandelnde Qualifikationsansprüche vorzuweisen haben, entwickelte sich somit in den vergangenen Jahrzehnten ein gesellschaftlicher Bedarf nach akademisch qualifizierten Berufsprofilen (vgl. BIBB 2002, S. 1; Dräger 2013, S. 44 f.).
Diesbezüglich knüpfen sowohl politische als auch mediale Einflüsse an (vgl. Dollase 2013, S. 26; Teichler 2013, S. 32). Da lange Zeit vermutet wurde, dass eine hohe Studierendenquote mit einem Wirtschaftswachstum einhergeht, erfolgte eine jahrzehntelange politisch geforderte Hochschulexpansion (vgl. Teichler 2013, S. 32). Auch heutzutage gibt es tendenziell keine Ablehnung der sich immer weiter ausdehnenden Hochschulexpansion, da weiterhin oftmals propagiert wird, dass wirtschaftlicher Erfolg eine steigende akademische Bildung voraussetzt (vgl. IDAF 2014, o. S.; Teichler 2013, S. 39). Weiterhin sind mediale Einflüsse für den steigenden Zustrom zum tertiären Bildungsweg verantwortlich, in dem unter anderem berichtet wird, dass sich das Studium weitaus mehr lohnt als eine Berufsausbildung (vgl. Dollase 2013, S. 26). Derartige politische und mediale Einflüsse haben zur Folge, dass der persönliche Wunsch eine akademische Laufbahn einzuschlagen bei vielen jungen Menschen weitaus ausgeprägter ist, als sich für den Weg der Ausbildung zu entscheiden (vgl. Dollase 2013, S. 26).
Folgen der Akademisierung
Zwar führt die zunehmende Akademisierung aus persönlicher Perspektive häufig zu Vorteilen, wie beispielsweise der Verdienst eines höheren Einkommens, sofern nach Absolvierung eines Studiums der Ausübung einer akademischen Tätigkeit nachgegangen wird (vgl. Nida-Rümelin 2014, 29 ff.). In gesellschaftlichem Bezug sowie im Hinblick auf die berufliche Bildung ergeben sich jedoch durch die voranschreitende Akademisierung eine Vielzahl an Problematiken (vgl. z. B. Cedefop 2016, S. 1 ff.; IDAF 2014, o. S.; Wölter et al. 2015, S. 16 f.).
So ist gegenwärtig in einigen Regionen oder Berufsgruppen europäischer Gesellschaften ein Fachkräftemangel zu verzeichnen (vgl. Cedefop 2016, S. 1 ff.). Dabei wird von einem Fachkräftemangel dann gesprochen, wenn die Nachfrage nach Fachkräften über einen längeren Zeitraum nicht mehr ausreichend gedeckt wird (vgl. BPB 2014, o. S.). Beispielsweise hierzulande sind dabei insbesondere die Berufe des Pflegewesens sowie des Handwerks von einem Mangel an Fachkräften betroffen (vgl. Graßl & Klein 2014, S. 156; Naegele 2016, S. 209). Wenn sich immer mehr Jugendliche für ein Studium statt einer Ausbildung entscheiden, hat dies einen Rückgang der abgeschlossenen beruflichen Ausbildungsverhältnisse zur Folge (vgl. Helmrich & Winnige 2016, S. 60; Kersten 2016, S. 95). Problematisch ist dieser Umstand deshalb, da eine sinkende Zahl an Auszubildenden mittelfristig zu einem Rückgang qualifizierter Fachkräfte und somit zu einem Fachkräftemangel in bestimmten Sektoren beiträgt (vgl. Helmrich & Winnige 2016, S. 60).
Gleichzeitig kommt es immer wieder zu Passungsproblemen von Akademiker/-innen am Arbeitsmarkt, da sich die im Studium erworbenen Qualifikationen und die jeweiligen beruflichen Anforderungen häufig nicht decken (IDAF 2014, o. S.). Als Folge dessen ist insbesondere im Ausland zu beobachten, dass viele Akademiker/-innen trotz des Abschlusses arbeitslos bleiben oder in Berufen tätig sind, in denen eine zuvor durchlaufene akademische Laufbahn nicht nötig gewesen wäre. Weiterhin führt dieser Effekt zur Verdrängung von Arbeitsplätzen, die vormals von Absolvent/-innen einer Berufsausbildung besetzt wurden, was folglich zu einer sinkenden Attraktivität einer Berufsausbildung führt (vgl. Wölter et al. 2015, S. 16 f.).
Fehlt es auf der einen Seite gerade in Berufszweigen, die über die Absolvierung einer Ausbildung an Fachkräften dazugewinnen, an qualifiziertem Personal, finden andererseits viele Akademiker/-innen nach Absolvierung ihres Studiums keinen oder einen nur wenig adäquaten Job (vgl. Helmrich & Winnige 2016, S. 60; IDAF 2014, o. S.). Im Zuge der sich fortsetzenden Hochschulexpansion läuft die berufliche Bildung somit Gefahr im Vergleich zur akademischen Bildung marginalisiert zu werden (vgl. Männle 2016, S. 3; Severing & Teichler 2013, S. 7).
Im nächsten Teilabschnitt wird die Herausforderung der Digitalisierung hinsichtlich ihrer Charakteristika und Ursachen beschrieben. Dies beinhaltet auch die Folgen, welche sich daraus für Berufsbildungssysteme ergeben.
Seit Anfang der 1990er Jahre erfolgt weltweit eine Zunahme der digitalen Vernetzung, was zu gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen geführt hat (vgl. BMWI 2019, o. S.). Die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens sowie die Ausführung arbeitstechnischer Prozesse sind heutzutage entscheidend durch den technischen Fortschritt geprägt. Derartige Veränderungen, die durch die Einführung digitaler Technologien bzw. der darauf aufbauenden Anwendungssysteme hervorgerufen wurden, werden durch den Begriff der Digitalisierung beschrieben (vgl. Bengler & Schmauder 2016, S. 75). Digitale Medien und Werkzeuge treten zunehmend an Stelle analoger Verfahren, welche diese nicht nur ablösen, sondern weiterhin sowohl neuartige Perspektiven als auch Herausforderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen mit sich bringen (vgl. KMK 2016, S. 3). Wurde im Hinblick auf die Veränderungen in Produktions- und Arbeitsprozessen im 19. Jahrhundert von einer industriellen Revolution gesprochen, lassen sich die gegenwärtigen Veränderungen als digitale Revolution bezeichnen.
Folgen der Digitalisierung
Allgemein betrachtet bringt die Digitalisierung wesentlich mehr Vorteile als Nachteile mit sich (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2014, S. 3). So werden z. B. neuartige Arbeitsplätze geschaffen oder gesamtwirtschaftlich die Produktivität erhöht (vgl. Heuermann, Engel & von Lucke 2018, S. 13 ff.). Und auch für die berufliche Bildung stellt die Digitalisierung im Gegensatz zur Akademisierung in einigen Aspekten eine Bereicherung dar (vgl. Baabe-Meijer, Kuhlmeier & Meyser 2017, S. 7). So ergeben sich bezogen auf das Lernen mit digitalen Medien neue Möglichkeiten, Lerninhalte darzustellen und interaktive Auseinandersetzungen zu fördern. Die Digitalisierung ermöglicht somit die Weiterentwicklung von bisherigen Lernformaten (vgl. Baabe-Meijer, Kuhlmeier & Meyser 2017, S. 7).
Bezogen auf die berufliche Ebene begünstigt die Digitalisierung den Umstand, dass Menschen, Maschinen, Logistik und Produkte heutzutage kommunizieren und direkt miteinander kooperieren (vgl. VBW 2018, S. 196 f.). Diese Verzahnung führte zu umfassenden Veränderungen in den Prozessen der Wertschöpfung, sodass diese Entwicklung als Industrie 4.0 bezeichnet wird. Da die Veränderungen arbeitstechnischer Prozesse im Zuge der Digitalisierung weiterhin stetig sind, hat dies zum Resultat, dass sich Ausbildung, Beruf und Arbeit branchenübergreifend in einem permanenten Wandel befinden (vgl. Esser 2018, S. 2). Immer neue Techniken ersetzen bisherige von Menschen durchgeführte Arbeitsprozesse und lassen gleichzeitig neue, komplexe Tätigkeiten entstehen (vgl. Kopmann 2018, S. 313 ff.; VBW 2018, S. 199). Beispielweise werden Fließbandtätigkeiten zunehmend von Maschinen ersetzt, während andererseits neue Jobs für Menschen hinzukommen, wie z. B. die Steuerung und Überwachung von Maschinensystemen (vgl. Kimpeler & Dönitz 2016, S. 7 f.; Kopmann 2018, S. 313 ff.).
Der Wandel bisheriger Tätigkeiten und die Einführung neuer Berufe führen zu dem Umstand, dass gegenwärtig immer wieder Anforderungen nach neuen, sich kontinuierlich ändernden Fähigkeiten hinzukommen (vgl. Kopmann 2018, S. 313 ff.). Lernen lernen wird immer wichtiger als Wissen wissen (vgl. Dräger 2013, S. 45). Als Folge dieser bestehenden kontinuierlichen Wandlungsprozesse werden die bisherigen didaktischen Konzepte in der beruflichen Bildung vor neue Herausforderungen gestellt, für die Rahmenbedingungen zu schaffen sind (vgl. BMBF 2016, S. 1).
Im nachfolgenden Teilabschnitt wird die Herausforderung der Integration ausländischer Jugendlicher bezüglich ihrer Charakteristika und Ursachen beschrieben und anschließend die sich daraus ergebenden Folgen abgeleitet.
Migrant/-innen sind in den letzten Jahrzehnten zu einem wesentlichen Bestandteil fast aller europäischen Gesellschaften geworden (vgl. Herwig 2017, S. 7). So hat sich die Zahl der in Europa lebenden internationalen Migrant/-innen im Vergleich zum Jahre 1960 bis heute verfünffacht (vgl. Castles & Miller 2014, pp. 102; United Nations 2017, pp. 1). Dies führte dazu, dass Zuwanderung gegenwärtig die bereits wichtigste Quelle des Bevölkerungswachstums in Europa darstellt (vgl. BPB 2015, o. S.). Problematisch ist jedoch, dass die Arbeitsmarkt- und Ausbildungschancen junger Migrant/-innen im Vergleich zu denen der heimischen Jugendlichen weitaus schlechter ausfallen (vgl. z. B. BMBF 2018, S. 56). Davon betroffen sind insbesondere ausländische Jugendliche aus Asylherkunftsländern, wie beispielsweise Syrien oder Afghanistan.
Ein wesentliches Hindernis für die Integration in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt stellt dabei die Benachteiligung ausländischer Jugendlicher dar (vgl. Deutscher Bundestag 2016, S. 19). Dabei sind die generell niedrigen Qualifikationen ausländischer Jugendlicher als primäre Ursache anzuführen (vgl. Imdorf 2011, S. 48). So verlassen beispielsweise in Deutschland ausländische Jugendliche im Vergleich zu deutschen Jugendlichen mehr als doppelt so häufig die Schule ohne Abschluss und verfügen weitaus öfters über einen Hauptschulabschluss, was die Ausbildungsplatzsuche demzufolge erschwert. Doch auch mit ähnlichem Kompetenzniveau zeigt sich die soziale Ungleichheit, da Migrant/-innen in weitaus geringerem Umfang von ihren Bildungsqualifikationen profitieren als Einheimische (vgl. Herwig 2017, S. 10). Weiterhin tragen Vorurteile nicht unwesentlich zu der Benachteiligung ausländischer Jugendlicher in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt bei (vgl. SVR 2014, S. 31 f.). So greifen Personalentscheider/-innen häufig unbewusst auf Vorurteile zurück, was sich mit der kulturellen Distanz z. B. in Form unterschiedlicher Traditionen äußert (vgl. Herwig 2017, S. 10; SVR 2014, S. 31 f.). Dies zeigt sich bereits im oftmals fremden äußeren Erscheinungsbild ausländischer Bewerber/-innen, sodass Personalentscheider/-innen oftmals zu der Entscheidung kommen die Bewerber/-innen abzulehnen (vgl. Herwig 2017, S. 10).
Verstärkt wird diese Problematik zusätzlich durch den Umstand, dass Europa seit dem Jahr 2015 die massivste Migrationswelle seit Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt (vgl. Europäische Kommission 2016, o. S.). Bereits mehrere Millionen Menschen flüchteten innerhalb weniger Jahre aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa (vgl. SVR 2017, S. 1 ff.). Sie migrierten unter anderem aufgrund von Kriegen und Terror, der Auswirkungen der Globalisierung sowie infolge politischer Krisen und Umbrüche (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung 2017, S. 2). Diese stets ansteigende Gruppe ausländischer Jugendlicher wird ebenfalls bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen stark benachteiligt (vgl. Weiss 2009, S. 68).
Folgen der fehlenden Integration ausländischer Jugendlicher
Bei Verhinderung des Ausübens eines Berufs zeigen sich persönliche Folgen für ausländische Jugendliche dahingehend, dass Betroffene selbst einer geringeren gesellschaftliche Teilhabe ausgesetzt sind, da der Erwerb sozialer Beziehungen, das Erlernen von Sprachkenntnissen, die Erlangung eines bestimmten Sozialprestiges sowie Kenntnisse über die Aufnahmegesellschaft behindert werden (vgl. Gerhartz-Reiter 2016, S. 142; Herwig 2017, S. 9). Zudem wird die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts untersagt (vgl. Herwig 2017, S. 9).
Während ein Großteil ausländischer Jugendlicher erfolglos das Ausüben einer beruflichen Tätigkeit anstrebt, wird gleichzeitig in einigen Branchen händeringend nach Fachkräften gesucht (vgl. Abschnitt 2.1). Da die Integration ausländischer Jugendlicher derartige Problematiken eindämmt, entschärft eine misslungene Integration folglich den Fachkräftemangel nicht. Auch stellt sich die Integration ausländischer Jugendlicher im Hinblick auf die demografischen Entwicklungen in Europa als notwendig heraus (vgl. Schmidt 2011, S. 143). So zeigt sich, dass die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte in vielen Ländern Europas abnehmen und somit der Fachkräftemangel zunehmen wird.
Wie dargestellt ist die Integration ausländischer Jugendlicher in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt primär von persönlicher sowie gesellschaftlicher Relevanz. Doch auch die berufliche Bildung ist von der stets ansteigenden Zahl von Migrant/-innen betroffen (vgl. Scheiermann & Walter 2016, S. 1 ff.). So zeigt sich die berufsbildende Relevanz insbesondere durch den Aspekt, dass ein großer Anteil der Ausländer/-innen im allgemein- oder berufsschulpflichtigen Alter zwischen 18-25 Jahre alt ist. Folglich ergibt sich, dass insbesondere die berufliche Bildung durch fördernde Maßnahmen zur Integration ausländischer Jugendlicher beitragen kann.
Um die Entstehung und Entwicklung der verschiedensten Formen von Berufsbildungssystemen nachzuvollziehen, wird im nachfolgenden Kapitel die Geschichte der europäischen Berufsausbildung vorgestellt. Dabei wird der Fokus sowohl auf die Ursprünge der handwerklichen als auch der kaufmännischen Berufsausbildung gelegt.
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