Examensarbeit, 2019
53 Seiten
Didaktik für das Fach Deutsch - Pädagogik, Sprachwissenschaft
Einleitung
Sachanalyse
Definition Wortschatz
Aufbau des Wortschatzes
Wortschatzentwicklung & -erwerb
Bedeutung des Wortschatzes
Hindernisse für die Wortschatzarbeit
Unterrichtsvoraussetzungen
Didaktische Analyse
Verankerung im Lehrplan
Wortschatzdidaktischer Dreischritt
Ziele der Wortschatzarbeit
Unterrichtseinheit: Wortschatzarbeit - Synonyme
Tabellarischer Verlauf der Unterrichtsstunden
Erste Unterrichtsstunde
Zweite Unterrichtsstunde
Dritte Unterrichtsstunde
Vierte Unterrichtsstunde
Fünfte Unterrichtsstunde
Fazit
Literatur- und Quellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Anhang
„Der persönliche Wortschatz ist von zentraler Bedeutung für die Sprachbeherrschung eines Menschen und für die von ihr abhängige kognitive wie kommunikative Kompetenz. Die Förderung des Wortschatzerwerbs ist deshalb eine zentrale Aufgabe des Sprachunterrichts in den Schulen.“ 1
Winfried Ulrich
„Deutsche Sprache, schwere Sprache“. Diesen Satz hört man immer wieder. Dies mag zum einen daran liegen, dass die deutsche Grammatik nicht gerade unkompliziert ist, zum anderen aber auch auf jeden Fall daran, dass ein großer Wortschatz benötigt wird. Auch Muttersprachler2 haben häufig Probleme damit, da die bewusste Erweiterung des Wortschatzes in deutschen Schulen vernachlässigt wird. Belege für solche Wortschatzlücken gibt es dafür häufig, etwa durch die DESI-Studie.3 Im Vergleich zum Erlernen einer Fremdsprache, bei welcher von Beginn an strukturiert Vokabeln gelernt werden, erfolgt das Erlernen der Muttersprache viel weniger systematisch. Dies basiert oftmals eher auf Zufällen und der alltäglichen Interaktion mit verschiedenen Personen und geschieht somit beiläufig4, dennoch wird ein gewisser Wortschatz für jede Altersstufe bzw. Klassenstufe als selbstverständlich betrachtet. Der Wortschatz einer Person hat aber eine viel grundlegendere Bedeutung, als sich lediglich gut und korrekt im Deutschen ausdrücken zu können. Es geht hierbei auch um die sinnvolle Verknüpfung verschiedener Inhalte durch das Verständnis für Wörter und somit die Fähigkeit an Unterhaltungen teilzunehmen, eine Meinung ausdrücken und erklären zu können, Texte lesend zu verstehen oder auch selbst Texte verfassen zu können. In anderen Worten: Die Wortschatzkompetenz spielt eine wichtige Rolle, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Dies offenbart, dass die Wortschatzarbeit, also die bewusste Weiterentwicklung des Wortschatzes, vor allem in der Schulzeit, eine essenzielle Rolle spielt und enorme Auswirkungen für das weitere Leben einer Person hat. Lehrkräfte in der Schule sind hierbei natürlich unmittelbar verantwortlich für die Bildung dieser Kompetenzen. Dabei geht es in erster Linie darum, Verfahren zu vermitteln, durch welche Schüler die Möglichkeit erhalten, ihren Wortschatz effektiv weiterzuentwickeln.5 Das Erlernen bzw. Entdecken einzelner Wörter oder Wortfamilien geschieht meist rezeptiv, das heißt, sie werden wahrgenommen. Dies geschieht etwa beim Lesen von Texten oder durch Unterhaltungen mit anderen Personen, welche zuvor unbekannte Wörter verwenden. Durch die produktive Nutzung von Wörtern, also die eigene Anwendung in Sprache und Schrift, verfestigen sich diese im eigenen Sprachgebrauch und somit im eigenen Wortschatz.6
Betrachtet man das Thema „Wortschatz“ nun aus didaktischer Sicht, stellt sich die Frage, wie die Förderung der Wortschatzkompetenz von Schülern im heutigen Schulunterricht integriert ist und wie diese Kompetenz vermittelt werden kann. Die vorliegende Zulassungsarbeit befasst sich im Rahmen der Deutschdidaktik mit der Bedeutung der schulischen Wortschatzarbeit. Der Aufbau orientiert sich hierbei am typischen Leitfaden einer didaktischen Arbeit. In der Sachanalyse werden der Aufbau und die Entwicklung des Wortschatzes bzw. der Wortschatzkompetenz, sowie dessen Bedeutung vorgestellt. Dazu zählt auch die Betrachtung der Hindernisse für die Wortschatzarbeit. Unter den Unterrichtsvoraussetzungen wird eine fiktive Klasse beschrieben und in der didaktischen Analyse folgt die Auseinandersetzung damit, wie (diesen) Schülern die Wortschatzkompetenz vermittelt werden könnte. Anschließend folgt eine ausführliche Darlegung von fünf aufeinander aufbauenden Unterrichtsstunden, welche als eine Unterrichtseinheit für das Fach Deutsch zum Thema Wortschatzarbeit in der Sekundarstufe I verwendet werden könnte. Der Fokus der Lerneinheiten liegt hierbei insbesondere auf dem Verstehen und Erlernen von Synonymen durch unterschiedliche Unterrichtsmethoden. Schlussendlich werden die wichtigsten Inhalte und Erkenntnisse der Arbeit kurz reflektiert und zusammengefasst.
Als Recherchegrundlage der Arbeit dienen zahlreiche Werke zu den Themen Wortschatzkompetenz, Wortschatzarbeit, Sprachentwicklung und Unterrichtsgestaltung. Einige davon sind Fachbücher deutscher Literatur- und Germanistikprofessoren, wobei besonders das Werk „Wörter, Wörter, Wörter“ von Winfried Ulrich (2013a) heraussticht, aus welchem unter anderem auch das Anfangszitat stammt und auf welches im Laufe der Arbeit immer wieder Bezug genommen wird.
Beim Versuch den Begriff Wortschatz zu definieren, muss deutlich unter dem aktiven und dem passiven Wortschatz unterschieden werden. Der passive Wortschatz umfasst dabei Wörter, die beim Lesen oder Hören aufgenommen werden und deren Bedeutung gleich verstanden wird. Der aktive Wortschatz wiederrum, umfasst alle Wörter, die eine Person tatsächlich selbst verwendet. Dabei sind natürlich alle Wörter des aktiven Wortschatzes auch im passiven Wortschatz enthalten. Bezogen auf die Schule bzw. Schüler gibt es darüber hinaus noch den Begriff des Grundwortschatzes. Dieser umfasst alle Wörter, meist Alltagswörter, welche Schüler in der Schulzeit samt korrekter Rechtschreibung erlernen, etwa 1500 Wörter während der Grundschulzeit.7
Etwas allgemeiner gefasst, ist der Wortschatz also die Gesamtheit aller Wörter, die eine Person kennt.8
Der bereits erwähnte Winfried Ulrich bezeichnet den Wortschatz als das innere, mentale Lexikon eines Menschen. Dieses Lexikon im Langzeitgedächtnis umfasst dabei zahlreiche Lexeme, also die einzelnen Einheiten eines Lexikons, die die begriffliche Bedeutung eines Wortes tragen. Diese Lexeme enthalten dabei unterschiedliche Informationen. Dazu zählen semantische Informationen, also die Bedeutung des Wortes, phonologische Informationen, der Klang des Wortes, aber auch syntaktische Informationen, ergo wie das Wort verknüpft werden kann, sowie morphologische Informationen, welche eine Auskunft über Flexion bzw. einzelne Elemente des Wortes geben.9
Wie bildet sich nun aber dieses mentale Lexikon? Begriffe werden im Gehirn nicht alphabetisch geordnet, wie dies etwa in einem herkömmlichen Wörterbuch der Fall ist.
Dennoch gibt es eine gut strukturierte Ordnung, welche die unterschiedlichsten Beziehungen zwischen den Wörtern reflektiert.10 Diese mehrdimensionalen Verbindungen werden als Wortnetze bezeichnet und in die folgenden, verschiedenen Kategorien eingeordnet:
- Sachfelder: Hierunter fallen Wörter, die eine sachfeldartige Vernetzung untereinander aufweisen. Zum Beispiel: Fußball, Spieler, Stadion, Rasen, Fans. In diesen Sachfeldern kann auch eine räumliche oder zeitliche Unterkategorisierung stattfinden. Bei solchen Vernetzungen werden zum einen das Sprach- und zum anderen das Weltwissen miteinander verbunden.
- Ablaufschemata: Darunter werden Wörter verstanden, die in bestimmten Handlungsabläufen immer wieder in einer bestimmten Reihenfolge auftreten. Ein typischer Ablauf beim Kochen wäre etwa: schneiden, würzen, anbraten, anrichten, servieren, verzehren. Diese schemaorientierte Wortvernetzung kann neben solchen Handlungsabläufen auch Wahrnehmungen, Erfahrungen oder etwa Personenkonstellationen enthalten. Ablaufschemata werden darüber hinaus häufig beim Erlernen von Fremdsprachen genutzt, weil diese Art der Vernetzung oftmals offensichtlich und somit sehr einprägsam ist.
- Kollokationsfelder: Hierzu zählen Wörter, die eine semantisch-syntaktische Beziehung zueinander aufweisen und somit häufig gemeinsam verwendet werden. Diese Verbindungen bestehen etwa aus Verb und Substantiv (z.B.: ein Buch lesen, einen Aufsatz schreiben) oder Adjektiv und Substantiv (z.B.: ein schöner Tag, ein angenehmer Aufenthalt), Wortbildungen (z.B.: Teppichboden, Bücherregal) oder auch Redensarten (z.B.: den Faden verlieren, durch die Blume sagen). Kollokationsverbindungen werden vor allem beim eigenen Sprechen und Schreiben angewendet. Zu den Kollokationsfeldern gehören zudem auch syntagmatische und paradigmatische Strukturen, welche im Verlauf der Arbeit noch detaillierter betrachtet werden.
- Wortfelder: Dabei handelt es sich um Wörter, welche nach verschiedenen Bedeutungsmerkmalen miteinander verbunden sind. Hierbei wird unterschieden zwischen Synonymen (z.B.: Auto - PKW), Antonymen (z.B.: laut - leise) und Hyponymen (z.B.: Fahrzeug: Auto, Bus, LKW). Das Verstehen und Verbinden von Wortfeldnetzen ist vergleichsweise komplex und erfolgt üblicherweise erst im Schulalter.
- Bewertungsnetze: Dies sind konnotative Verbindungen, also eine wertende Verknüpfung von Wörtern einer sehr ähnlichen Bedeutung, beispielsweise Familie - Sippe.
- Assoziationsnetze: Hierzu werden Wörter gezählt, die vor allem durch eigene Erfahrungen oder Wahrnehmungen miteinander verbunden sind. Zum Beispiel: Urlaub – Strand, Meer, Sonne.
Betrachtet man diese verschiedenen Wortnetze, wird schnell deutlich, dass jedes Wort zeitgleich Teil verschiedener Netze sein kann. Mit jedem Wort, das eine Person dazulernt, wächst somit zum einen natürlich der Wortschatz, zum anderen vermehren sich aber auch die unterschiedlichen Vernetzungen untereinander. Je mehr Wörter einem bekannt sind, desto leichter ist es, neue Wörter zum Wortschatz hinzuzufügen. Das Erlernen von isolierten, einzelnen Wörtern, die sich nicht in die beschriebenen Wortnetze einordnen lassen, ist sehr schwierig. Diese Wörter verbleiben oft im passiven Wortschatz und werden nicht aktiv angewendet. Gerade diese aktive Rolle ist aber sehr wichtig, um den kreativen Konstruktionsprozess der Wortnetze voranzutreiben.11
Wie bereits bei den Kollokationsfeldern erwähnt, wird hier zwischen syntagmatischen und paradigmatischen Strukturen unterschieden. Vereinfacht beschrieben, handelt es sich bei den syntagmatischen Verbindungen, um Wörter, die häufig miteinander verwendet werden. Paradigmatische Strukturen liegen vor, wenn sich Wörter gegenseitig ausschließen. 12 Das folgende Schaubild verdeutlicht dieses Prinzip:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Bedeutungsbeziehungen13
Die Entwicklung des Wortschatzes eines Menschen ist also ein komplexes, aber ebenso geniales Konzept. Die menschliche Sprachfähigkeit zählt zweifelsohne zu den wichtigsten Eigenschaften, die Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden. Was bedeutet der Wortschatz mit all seinen Vertiefungen und Vernetzungen aber nun in Zahlen? Wie viele Wörter umfasst der Wortschatz einer durchschnittlichen Person?
Bedeutend ist hierbei, wie beschrieben, die Unterscheidung zwischen passivem bzw. rezeptivem und aktiven bzw. produktiven Wortschatz. Der rezeptive Wortschatz ist hierbei deutlich größer als der produktive. Schätzungen zufolge besitzen Kinder im Einschulungsalter von 6 Jahren bereits einen rezeptiven Wortschatz von etwa 14.000 Wörtern. Der produktive Wortschatz umfasst zu diesem Zeitpunkt immerhin 5.000 bis 6.000 Wörter.14 Nach Eve V. Clark kommen in der Schulzeit pro Jahr mindestens 3.000 verstandene Wörter neu hinzu.15 Vor allem in der Schulzeit wächst der Wortschatz damit rasant. Erklären lässt sich dies dadurch, dass Kinder in dieser Zeit eben die Schriftsprache verinnerlichen und somit im Allgemeinen ein großes Interesse an neuen Wörtern haben. In der Schule wird erstmalig, wenn nicht bereits in Kindergarten oder Vorschule geschehen, Wortschatzarbeit betrieben, die über das Lernen einzelner Vokabeln hinausgeht. Hinzu kommen tagtäglich natürlich die Vielzahl an neuen Eindrücken, etwa im Unterricht oder durch die Interaktion und Kommunikation mit anderen Kindern. Das Potenzial der Wortschatzentwicklung ist in dieser Zeit enorm hoch und muss gerade deshalb in der Schule durch Wortschatzarbeit gefördert werden. Immer wieder gibt es Fälle, in denen Kindern isoliert aufwachsen und somit keine sprachlichen Anreize erfahren. Weder durch Wortschatzarbeit noch durch die beiläufige Wahrnehmung von Sprache. Diesen Kindern im fortgeschrittenen Alter Sprachkompetenzen zu vermitteln, bleibt auch trotz intensiver Arbeit meist erfolglos. Nach der Pubertät können zwar einzelne Wörter erlernt werden, aber das Verständnis für Grammatik und Syntax bleibt aus. Bekannt ist dies als Kaspar-Hauser-Syndrom.16
In den ersten Lebensjahren, vor der Schulzeit, entwickelt sich der Wortschatz noch langsam. Dies beginnt mit Lallen oder dem Nachahmen einzelner Silben, die Babys häufig von Bezugspersonen hören. Die meisten Kinder verwenden ihre ersten eigenen aktiven Worte nach etwa einem Jahr. Das Verständnis für Wörter beginnt sehr wohl früher, was sich anhand von Reaktionen auf einzelne Begriffe nachweisen lässt. Nach zwei Jahren sind es etwa 50 eigene gesprochene Wörter. Diese magische Grenze bedeutet den Start für einen regelrechten Sprint in der Wortschatzentwicklung, da sich in diesem Alter die kognitiven Fähigkeiten entfalten. In der Folge beginnt etwa im Alter von drei Jahren ein erstes Verständnis für Syntax und Grammatik. Bereits mit vier können die ersten vollständigen und fehlerfreien Sätze gebildet werden, was auch längere Unterhaltungen möglich macht.17 Abhängig ist die Entwicklung im frühen Kindesalter insbesondere durch den Einfluss der Eltern und anderer Bezugspersonen. Wer viel spricht oder hört, setzt sich automatisch mit neuen Wörtern auseinander. Aus diesem Grund ist die Interaktion mit kleinen Kindern ungemein wichtig für den Aufbau des Wortschatzes und eines Sprachverständnisses. Zu jener Zeit funktioniert der Spracherwerb noch ungesteuert. Dies bedeutet, dass Kinder unbewusst neue Wörter erlernen, etwa beim Spielen auf dem Spielplatz, beim Sport oder anderen Freizeitaktivitäten. Besonders schnell gelingt die Einprägung von Wörtern ins Sprachgedächtnis, wenn diese mit emotionalen Erlebnissen verknüpft werden können. Es entwickelt sich hierbei auch idiomatisches Wissen, das bedeutet ein Verständnis dafür, welche Wörter zusammen verwendet werden und welche eher nicht zusammengehören.18
Die beschriebene Entwicklung setzt sich auch zu großen Teilen noch im Erwachsenenalter fort. Eine Person, die sich für das Lesen und das Verfassen von Texten begeistert, erweitert den Wortschatz dabei natürlich in einem ganz anderen Umfang als eine Person, die sich selten mit neuen Wörtern beschäftigt. Naxhi Selimi findet dazu eine sehr zutreffende Formulierung: „ Der Wortschatzerwerb ist hinsichtlich seines Umfangs und Tempos individuell geprägt und wird von Faktoren wie Alter, persönlichem Interesse, Motivation, familiären oder sozialem Umfeld beeinflusst. “19
Umso schwieriger gestalten sich Schätzungen über den Wortschatz von Erwachsenen. Hier wird von etwa 6.000 bis 15.000 gesprochenen Wörtern und 50.000 bis gar 250.000 verstandenen Wörtern ausgegangen. Vorhandene Lexeme in der deutschen Standardsprache gibt es zwischen 300.000 und 500.000, unter Berücksichtigung von Fachsprachen sind es sogar bis zu zehn Millionen.20 Sicherlich kann die Frage, wann sich die Sprachfähigkeit einer Person als gut einschätzen lässt, eher nur subjektiv beantwortet werden. Der Zusammenhang zwischen dem Umfang eines Wortschatzes einer Person, seiner Sprachfähigkeit und seiner Intelligenz liegt dabei allerdings nahe. Wenn jemand über die Zeit hinweg immer mehr unbekannte Wörter hinzulernt, diese in den aktiven Wortschatz überführt und somit den eigenen Sprachgebrauch immer weiter ausdifferenziert, wird nicht nur der Wortschatz immer vernetzter und vertiefter, sondern auch der eigene Horizont stets erweitert und so eine Verständigung in vielfältigsten Themengebieten möglich. Hierbei wird von enzyklopädischem Wissen gesprochen.21
„ Wenn wir als Laien unser Interesse auf unsere Sprache richten, so beschäftigen wir uns eher mit Wörtern als mit syntaktischen Strukturen. […] Man kann davon ausgehen, dass es, unabhängig von jedweder sprachtheoretischen Beschäftigung mit den Wörtern und dem Wortschatz, ein natürliches Interesse eines jeden Menschen an seinen Wörtern gibt und dass ein jeder gegenüber den Wörtern und Wendungen, die er selbst gebraucht oder die ihm begegnen, fasziniert und distanziert ist. “22
Der Weiterentwicklung des Wortschatzes sind so vor allem durch die eigenen Interessen eines Menschen Grenzen gesetzt. So wird beispielsweise eine Person ohne Begeisterung an der Medizin, keine medizinischen Fachbegriffe erlernen. Deshalb ist eben auch die Verbindung von Weltwissen bzw. Welterfahrung mit dem Sprachwissen wichtig für einen vielfältigen Sprachgebrauch. Da die Interessen und Erfahrungen eines Menschen in gewisser Weise (etwa zeitlich oder monetär) beschränkt sind, verändert sich die Entwicklung des Wortschatzes dabei im Laufe der Zeit von einer Erweiterung der Wortnetze hin zur Vertiefung dieser.23
Festzuhalten bleibt nach Winfried Ulrich dabei aber vor allem eines: „ Der Wortschatzerwerb ist ein komplizierter lebenslanger Lernprozess “24
Neben dem Wortschatz als großes Ganzes, spielen einzelne Wörter eine große Rolle in nahezu jeder Hinsicht. Wörter sind allgegenwärtig. Wörter stehen dabei etwa auch immer wieder in der öffentlichen Diskussion und sind somit von gesellschaftlichem Interesse. Sei es nun die Auswahl zum „Wort des Jahres“25 oder auch „Jugendwort des Jahres“26 oder der so häufig thematisierte, mögliche Sprachverfall27 in der deutschen Sprache. Wörter sind dabei oftmals emotional aufgeladen und die Verwendung der richtigen, ist manchmal nicht so einfach. So gibt es eben auch viele Sprachratgeber, Wörterbücher oder Sach- und Fachwörterbücher, die dabei unterstützen sollen.
Gerade die erwähnte Diskussion zum Sprachverfall ist hierbei aber sehr stark abhängig von der eigenen Perspektive. Jüngere Generationen verwenden andere Wörter, ja möglicherweise gar eine ganz andere Sprache als ältere Generationen, bestehend aus Anglizismen, Abkürzungen oder vulgären Ausdrücken. Die Behauptung die deutsche Sprache unterliege einem Sprachverfall, ist aus der Sicht der älteren somit sehr wohl nachvollziehbar. Die Angst vor einem Sprachverfall stammt dabei vor allem aus der für Menschen natürlichen Furcht vor Veränderungen. Fakt ist aber, dass die Zahl der neu hinzugefügten Wörter, der Anzahl der gestrichenen, antiquierten Wörter überwiegt. Neue Wörter entstehen dabei insbesondere durch Übernahme aus fremden Sprachen oder der Weiterentwicklung vorhandener Wörter bzw. ihrer Bedeutung.28 Statt von einem Sprachverfall zu sprechen, könnte somit eher der Begriff des Sprachwandels verwendet werden, um der stetigen Weiterentwicklung der Sprache positiv Rechnung zu tragen.
Zurück von der Bedeutung einzelner Wörter zum gesamten Wortschatz. Torsten Steinhoff bezeichnet den „Wortschatz als Schaltstelle des (sprachlichen) Wissens“29. Bezogen auf das Schulfach Deutsch ist der Wortschatz also sozusagen, die Basis für die Vermittlung sprachlicher Kompetenzen im Deutschunterricht: Lesen, Schreiben, Sprechen und Zuhören. Die folgende Abbildung veranschaulicht dies:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: „Der Wortschatz als Schaltstelle des schulischen Spracherwerbs“30
Bei der ersten der vier aufgezeigten Kompetenzen „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ geht es vor allem um die bewusste Handhabung der Sprache. Ihre Bedeutung soll reflektiert werden. Dies geschieht insbesondere im Grammatikunterricht. Schüler der Sekundarstufe I sollten in diesem Rahmen einen vielseitigen grammatikalischen Wortschatz erlangen. Hierzu zählt zum Beispiel die Differenzierung von Tempus oder Modus. Kinder diesen Alters bilden einen Wortschatz, der es ihnen ermöglicht, zeitliche Abfolgen zu erläutern oder Aussagen einer Person in einen Gesamtzusammenhang zu bringen.31
Der Kompetenzbereich „Sprechen und Zuhören“ umfasst die Entwicklung eines Verständnisses für mündliche Sprachhandlungen. Für kleinere Schulkinder bedeutet dies zunächst, anderen Personen aufmerksam zuzuhören, diese Aussagen zu verstehen und einzuordnen und sich anschließend selbst situationsgerecht auszudrücken. Dies ist besonders wichtig beim eigenen Erzählen oder bei einer Argumentation. Für ältere Kinder, ab der Sekundarstufe I, ist es in diesem Bereich wichtig, zu verstehen, wie sie sich in unterschiedlichen Sprechsituation ausdrücken können. So ist die Art der Verständigung in einem Bewerbungsgespräch eine ganz andere als etwa beim Einkauf in einem Supermarkt. Hierzu zählen aber auch verschiedene Ausdrucksweisen, so unterscheidet sich eine Entschuldigung natürlich deutlich von einer Beschwerde.32 Ulf Abraham übt in der schulischen Vermittlung dieser Kompetenzen deutliche Kritik, so vermittle der heutige Deutschunterricht nicht ausreichend Sprechfähigkeiten, die für die Praxis brauchbar und notwendig wären.33 Die Wortschatzarbeit könnte hierbei eine wichtige Rolle spielen, um die erforderlichen Kompetenzen aufzubauen. Um sich mündlich adäquat ausdrücken zu können, benötigt eine Person neben einem Verständnis für sprachliche Handlungsstrukturen eben auch den erforderlichen Wortschatz. Steinhoff nutzt hier das Beispiel der Gesprächseröffnung und -beendigung. Diese verlaufen bei Unterhaltungen immer wieder unterschiedlich ab. Trotz verschiedener Sprechsituationen oder beliebiger Kreativität des Sprechers, bleiben die verwendeten Wörter aber dennoch ähnlich und folgen einem vorgegebenen Muster Ein weiteres wichtiges Beispiel zu dieser Kompetenz sind Präsentationen, etwa vor den Mitschülern in der Klasse. Je ausdifferenzierter das Sprachrepertoire einer Person bei solchen Situationen ist, desto besser kann auf die Hörer eingegangen werden und somit die gesamte Präsentation ansprechender und interessanter gestaltet werden.34
Im dritten Kompetenzbereich „Schreiben“ lernen Schüler, wie sie eigenständig Texte zielgerichtet und abwechslungsreich, in angemessener Form und inhaltlich sinnvoll verfassen. Hierfür sind Rechtschreibfähigkeiten notwendig, besonders das Vermitteln dieser gehört zu den höchsten Prioritäten im Deutschunterricht. Für das Verfassen von Texten ist ein umfassender Wortschatz unabdingbar, um jene zum einen formal korrekt, aber zum anderen vor allem facettenreich und somit interessant und gut lesbar zu formulieren. Eine besondere Schwierigkeit bei der Textproduktion ist neben der korrekten Rechtschreibung auch der Einsatz richtiger Stilmittel, sowie der zur jeweiligen Textart passenden richtigen Struktur. So ist eine Erzählung ganz anders aufgebaut als etwa eine Interpretation.35
Der vierte Kompetenzbereich „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“ befasst sich mit der Entwicklung der Lesefähigkeiten. Die Lesekompetenz gilt dabei zweifelsohne als die wichtigste, wenn es um die eigenständige Erweiterung des Wortschatzes geht. Bereits zum Beginn der Sekundarstufe I wird Schülern vermittelt, wie sie Texte reflektieren und somit Informationen verwerten können. Die Verbindung zwischen Lesekompetenz und Wortschatzerwerb wird dabei meist unidirektional wahrgenommen. Das bedeutet, wer viele Texte liest, erlernt dabei automatisch auch neue Wörter. Dies ist auch durchaus der Fall, allerdings werden Texte auch anders wahrgenommen und verarbeitet, wenn Wörter vorher bereits bekannt sind. Die Bedeutung der Texte kann leichter eingeprägt werden und ein umfassender Wortschatz führt somit zu einem besseren Leseverständnis. Um dies zu verdeutlichen, ist das Beispiel von wissenschaftlichen Fachtexten sehr gut geeignet. Durch die Verwendung von vielen Fachwörtern in dieser Art von Texten, ist ein problemloses Verständnis meist nicht beim ersten Lesen möglich, was die Lesegeschwindigkeit reduziert. Wörter müssen nachgeschlagen und deren Bedeutung recherchiert werden, da sie auch nicht aus dem Kontext zu erschließen sind.36
Das vorgestellte Kompetenzstrukturmodell nach Steinhoff37 verdeutlicht noch einmal umfassend, welch große Bedeutung der Wortschatz für eine Person hat. Die Wortschatzkompetenz wirkt sich dabei direkt auf alle Aspekte des Deutschunterrichts aus. Ohne eine vollumfängliche Wortschatzarbeit in der Schule werden die Schüler im Laufe ihres Lebens Schwierigkeiten haben, sich adäquat in Wort und Schrift auszudrücken oder Texte mit einem höheren Anforderungsniveau zu verstehen.
Winfried Ulrich kritisiert, dass die Wortschatzarbeit im muttersprachlichen Deutschunterricht bereits seit mehreren Jahren vernachlässigt wird. Natürlich bildet sich der Wortschatz in gewisser Weise automatisch weiter, allerdings basierend auf Zufällen und deshalb sehr unsystematisch. Studien im englischsprachigen Raum ergaben dabei gar, dass das zufällige Entdecken neuer Wörter beim Lesen von Texten und der dazugehörigen Erschließung ihrer Bedeutung aus dem Kontext heraus, als die wichtigste Quelle für die Wortschatzerweiterung gilt. Als Hindernis für die Wortschatzarbeit ist hierbei die Herangehensweise von Lehrkräften zu nennen und dass sich diese nicht ausreichend vorbereitet fühlen. Es gibt eben auch zahlreiche Gründe dafür, dass Deutschlehrer der aktiven Wortschatzarbeit in ihrem Unterricht wenig Beachtung schenken. Der Umfang der verschiedenen deutschen Lexeme sei viel zu groß und überhaupt dauere die effektive Wortschatzarbeit viel zu lange. Die beiläufige Rezeption neuer Wörter durch Lesen und Hören seien ausreichend.38 Das dies nicht der Fall ist, wird im späteren Abschnitt der didaktischen Analyse sehr deutlich.
Vor dem Hintergrund einer großen und immer weiterwachsenden Multikulturalität in Deutschland, ist auch die Betrachtung der Unterschiede in der Wortschatzkompetenz von Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern interessant. Hat also ein Migrationshintergrund der Schüler eine direkte Auswirkung auf diese Kompetenz? Die bereits zu Beginn erwähnte DESI-Studie untersuchte dabei, ob solch soziokulturelle Unterschiede in der Wortschatzkompetenz ersichtlich sind. Die Nichtmuttersprachler sind dabei noch einmal unterteilt zwischen mehrsprachig und nicht Deutsch. Also Jugendlichen, die in der Familie neben Deutsch eine weitere Sprache sprechen und die, die zu Hause gar kein Deutsch sprechen. Erwartungsgemäß zeigen die Ergebnisse dabei, dass die Muttersprachler über alle Bildungsniveaus hinweg jeweils den besten Deutschwortschatz besitzen.39 Als Hindernis in der Wortschatzarbeit kann hierdurch also die Chancengleichheit gesehen werden. Es ist nicht möglich, alle Schüler auf ein gleichwertiges Kompetenzniveau zu bringen.
Ein darüber hinaus interessantes Resultat der Studie ist der Vergleich der Schulformen untereinander. Die mehrsprachigen Jugendlichen, die das Gymnasium besuchen, können hier eine deutlich höhere Wortschatzkompetenz nachweisen, als sie Muttersprachler der Hauptschule, der Realschule oder der integrierten Gesamtschule besitzen. Ein wenig überraschend ist darüber hinaus, dass auch die nicht deutschsprechenden Gymnasiasten, Schüler der Hauptschule und der integrierten Gesamtschule deutlich übertreffen und etwa die Wortschatzkompetenz eines muttersprachlichen Realschülers nachweisen können. Dies ist durchaus als Erfolg für die Wortschatzarbeit in Gymnasien zu werten.40 Andererseits sind diese Resultate katastrophal für die Sekundarstufe I. Es wird deutlich, dass eine gezielte Wortschatzarbeit in der Schule, von der in Gymnasien ausgegangen werden kann, große Auswirkungen auf die Wortschatzkompetenz hat. Um die Ergebnisse noch einmal deutlich und prägnant zusammenzufassen: Nichtmuttersprachler können durch explizite Wortschatzarbeit ein höheres Sprachniveau erreichen als Muttersprachler.
[...]
1 Ulrich, 2013a, S. 33
2 Aus Gründen der Lesefreundlichkeit wird in dieser Zulassungsarbeit ausschließlich die maskuline Form verwendet.
3 Vgl. Willenberg, 2008, S. 76
4 Vgl. Selimi, 2016, S. 27
5 Vgl. Ulrich, 2016, S. 39
6 Vgl. Selimi, 2016, S. 26
7 Vgl. Maiworm & Menzel, 1994, S.7
8 Vgl. Hermann, Leisering, & Hellerer, 1985, S. 1085
9 Vgl. Ulrich, 2013a, S.22
10 Vgl. Ulrich, 2013a, S.22
11 Vgl. Oomen-Welke & Kühn, 2011, S. 146-148
12 Vgl. Ulrich, 2013b, S. 19f.
13 Ulrich, 2013b, S. 20.
14 Vgl. Ulrich, 2013a, S.29 und Selimi, 2016, S.26
15 Vgl. Clark, 1995, S. 393
16 Vgl. Staas, 2007. URL:http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/wolfskinder-der-kaspar-hauser- komplex-a-521812.html (Stand: 20.02.2019)
17 Vgl. Cierpka, 2014, S. 30
18 Vgl. Steinhoff, 2009, S. 23
19 Selimi, 2016, S. 46f.
20 Vgl. Ulrich, 2013a, S.29 und Selimi, 2016, S.26
21 Vgl. Steinhoff, 2009, S. 23
22 Seidel, 1990, S. 18
23 Vgl. Ulrich, 2013a, S.30
24 Ulrich, 2013a, S.29
25 Vgl. Spiegel Online, 2018. URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/heisszeit-ist-das-wort-des- jahres-2018-a-1243688.html (Stand: 17.02.2019)
26 Vgl. Langenscheidt Online, 2018. URL: https://www.langenscheidt.com/presse/das-jugendwort-2018- steht-fest-ehrenmannehrenfrau-ist-der-gewinner (Stand: 17.02.2019)
27 Vgl. etwa Hinrichs, Zeit Online, 2016. URL: https://www.zeit.de/2016/16/linguistik-deutsch-grammatik- sprache-satzbau (Stand: 02.12.2018)
28 Vgl. Römer, 2015, S.5f.
29 Steinhoff, 2009, S. 17
30 Steinhoff, 2009, S. 24
31 Vgl. Steinhoff, 2009, S. 24-26
32 Vgl. Steinhoff, 2009, S. 27
33 Vgl. Abraham, 2008, S. 23
34 Vgl. Steinhoff, 2009, S. 27
35 Vgl. Steinhoff, 2009, S. 29-34
36 Vgl. Steinhoff, 2009, S. 35-37
37 Vgl. Steinhoff, 2009, S. 24-37
38 Vgl. Ulrich, 2013a, S. 33f.
39 Vgl. Willenberg, 2008, S. 77
40 Vgl. Willenberg, 2008, S. 78.
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