Bachelorarbeit, 2019
38 Seiten, Note: 13.0
1. Einleitung
2. Der unzuverlässige Erzähler
2. 1. Entstehung und Probleme
2. 2. Festlegung der Kriterien des unzuverlässigen Erzählens
3. Der autodiegetische Erzähler in „Der Bajazzo“
3.1. Die epische Situation und Erzählform
3. 2. Untersuchung mimetischerUnzuverlässigkeit
3.2. 1. Maxime der Quantität
3.2.2. Maxime der Qualität
3.2.3. Maxime der Relation
3.2.4. Maxime der Modalität
3.3. Untersuchung axiologischerUnzuverlässigkeit
3. 4. Zusammenfassende Erkenntnis zurUnzuverlässigkeit
4. Der heterodiegetische Erzähler in „Der kleine Herr Friedemann“
4. 1. Die epische Situation und Erzählform
4. 2. Untersuchung mimetischer Unzuverlässigkeit
4.2. 1. Maxime der Quantität
4. 2. 2. Maxime der Qualität
4.2.3. Maxime der Relation
4. 2. 4. Maxime der Modalität
4. 3. Untersuchung axiologischerUnzuverlässigkeit
4. 4. Zusammenfassende Erkenntnis zurUnzuverlässigkeit
5. Gegenüberstellung beider Erzählungen
6. Kritische Betrachtungen der Analysekriterien nach Tom Kindt
Literaturverzeichnis
„As consumers offiction, we have become skilled at recognizing unreliable narratives; as theoreticians, we are less able to say what constitutes unreliability and haw it is detected.“1
Seit einigen Jahren erfreut sich das Konzept des unzuverlässigen Erzählers in den philologischen Disziplinen großer Beliebtheit und findet in der Erzählforschung sowie in literaturhistorischen Untersuchungen zusehends Bedeutung und Würdigung.2 Die Betrachtung einer Erzählinstanz hinsichtlich ihrer Kooperativität, ihrer Kohärenz der Vermittlungsinstanz gegenüber werksintemen Wertvermittlungen und dem Wahrheitsgehalt der Aussagen die fiktive Welt betreffend, sind für das literarische Forschungsgebiet der Narratologie von großer Relevanz. Die Präsentation von erzählten Inhalten durch eine unzuverlässige Erzählinstanz ist ein Phänomen, welches sich in diversen Werken wiederfinden lässt.
Für eine Untersuchung dieses Phänomens wurden für die folgende Arbeit zwei der frühen Erzählungen Thomas Manns gewählt, welche sich hinsichtlich der Beschaffenheit ihrer Vermittlungsinstanzen unterscheiden, jedoch inhaltliche Parallelen aufweisen und sich somit für einen Vergleich hinsichtlich ihrer Narrationsverfahren besonders eignen. So lässt sich eine Betrachtung des autodiegetischen Erzählers anhand der Erzählung „Der Bajazzo“ durchführen, welcher aufgrund seiner rückblickend, wertenden Vermittlung des erzählten Stoffes einige Auffälligkeiten hinsichtlich seines Erzählverhaltens aufweist. Gegenübergestellt wird diesem „Der kleine Herr Friedemann“, welcher mit einem heterodiegetischen Erzähler häufige Perspektivwechsel mit Fokalisierung auf den Protagonisten durchführt und daher ebenfalls Auffälligkeiten in der Präsentation des Erzählten besitzt.
Zunächst soll im ersten Kapitel die Bedeutung und Entstehung des Konzeptes des unzuverlässigen Erzählers ausgehend von Wayne Clayson Booths vielbeachteten Werk „The Rhetoric of Fiction“3 betrachtet werden. Weiterhin sollen in diesem Abschnitt einige der Probleme des Konzeptes genannt und erläutert werden. In diesem Bezug sind der Mangel an „[...] theoretischer Präzision, methodischer Operationali- sierbarkeit und typologischer Differenzierung [,..]“4 zu nennen, welche eine Untersuchung des unzuverlässigen Erzählens in Hinsicht auf formal und thematisch unterschiedliche Texte unpräzise machen, da die Terminologie sowie Analysekriterien nach Booth nicht genug ausdifferenziert sind. Die angestrebte Gegenüberstellung beider Früherzählungen alleinig mit dem von Booth geprägten Begriff ist daher nicht ausreichend und muss konkretisiert werden. Aus diesem Grund widmet sich das daran angegliederte Kapitel der Festlegung der in dieser Arbeit verwendeten Analysekriterien. Hierfür bietet die Ausarbeitung und Unterteilung des Konzeptes von Tom Kindt die Basis der Untersuchung. Die von ihm festgelegte Aufspaltung des Begriffs in mimetische und axiologische Zuverlässigkeit soll die Betrachtung der frühen Erzählungen Thomas Manns ausreichend in Hinsicht der Zuverlässigkeit der Erzählinstanz präzisieren und einen erleichterten Vergleich beider Texte im Nachgang ermöglichen.
Nach der Erläuterung der verwendeten Untersuchungsschwerpunkte steht zunächst „Der Bajazzo“ im Zentrum einer Betrachtung hinsichtlich mimetischen Zuverlässigkeit. Dabei sollen die Aussagen der Erzählinstanz betreffend ihrer Quantität, Qualität, Relation und Modalität Aufschluss über die Wohlgeformtheit der Angaben durch den Erzähler geben und somit deren Zuverlässigkeit in mimetischer Hinsicht prüfen.5 Eine axiologische Untersuchung mit Augenmerk auf Verstöße der Erzählinstanz gegenüber festgelegter Normen und Werte der fiktiven Welt des Werkes schließt sich an dieses Kapitel an.
Um einen direkten Vergleich zu ermöglichen, finden die auf den „Bajazzo“ angelegten Kriterien Anwendung auf den „kleinen Herr Friedemann“. Daraufhin erfolgt die Gegenüberstellung beider Erzählungen auf mimetischer sowie axiologischer Ebene. Die aus dem Vergleich der Erzählinstanzen gewonnen Erkenntnisse sowie Auffälligkeiten der Untersuchung beider Früherzählungen Thomas Manns, sollen daraufhin im letzten Kapitel zusammengefasst und die Ausführungen dieser Arbeit abschließen.
„For a lack ofbetter terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he does not.“6
Die literaturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten zur Analyse narrativer Texte waren vor allem in Hinsicht auf die Beschreibung von Erzählinstanzen nicht genügend ausgeprägt und mussten nach Booth erweitert werden. So reicht es nicht aus, nur die Stellung der Vermittlungsinstanz zur erzählten Welt zu untersuchen, sondern ebenfalls deren Position gegenüber der vermittelten Werte im Werk. Dass die oben genannte vage Definition nach Booth in ihrer Operationalisierbarkeit großteilig eingeschränkt ist, wird bei der Vielzahl an vorhandenen Präzisierungs- oder Rekonzeptua- lisierungsvorschlägen in den Geisteswissenschaften offenkundig.
„There can be little doubt about the importance of the problem of reliability in narrative and in literature as a whole. [...] And the problem is (predictably) as complex and (unfortunately) as illdefined as it is important.“7
Die sinnvolle und konkrete Verwendung der Begrifflichkeit steht in den Diskussionen vielmehr im Mittelpunkt, als die Frage nach deren Notwendigkeit.8 Der Mangel an theoretischer Präzisierung des unzuverlässigen Erzählens wird vor allem durch Ansgar Nünnings kritische Betrachtung des Konzeptes dargelegt. Dieser verweist vor allem auf die große Diskrepanz zwischen der Komplexität des Phänomens und des theoretischen sowie terminologischen Standes der Forschung. Der Mangel an zufriedenstellenden Definitionen, Analysekategorien, Variationen der Erscheinung des unzuverlässigen Erzählers und der benötigten Voraussetzungen sind an dieser Stelle des Diskurses beispielhaft zu nennen, bieten jedoch nur einen Teilausblick auf die umfassende Problematik zum Begriff in der Narratologie.9
Abgesehen von den vorangegangenen Problemen wird die Verwendung des „implied authors“ als einziger Maßstab zur Messung der Zuverlässigkeit eines Erzählers in vielen Lösungsvorschlägen der Problematiken des Konzeptes aufgeführt. Das ebenfalls terminologisch unklare Konzept verweist auf eine Kommunikation zwischen dem implizierten Leser und dem „implied author“ ohne Einfluss der vermittelnden Erzählinstanz.10 Eine somit verborgene Botschaft durch den „implied author“ soll den unzuverlässigen Erzähler für die implizierten Leser entlarven und als Kriterium zur Untersuchung des unzuverlässigen Erzählers dienen. Dass dieser Ansatz zur Klärung der Konzeptprobleme des unzuverlässigen Erzählers nicht beitragen kann, wird an der fehlenden Antwort zum genauen Kommunikationsakt zwischen implizierten Leser und Autor offenbar, mit dem die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz sabotiert werden soll.11
Zur Entfernung vom Konzept des „implied author“ listet Nünning mehrere textuelle Anzeichen auf, welche eine Infragestellung der Glaubwürdigkeit des Erzählers bei den Rezipienten auslösen sollen. Die Verknüpfung der textlichen Signale mit kulturellen Einflüssen, kontextuellen Bezügen sowie den Vorkenntnissen der Rezipienten sorgen für individuelle Diskrepanzen zwischen Rezipient und Erzähler. Die Verarbeitung dieser Diskrepanzen in einem Naturalisierungsprozess zeigen demnach die Unzuverlässigkeit des Erzählers auf und bringen dessen Schilderungen in Einklang mit dem Verständnis der Rezipienten.12 Zwar löst Nünning mit seinem Ansatz die Fixierung auf den „implied author“ und bewegt sich mehr in die Richtung textueller Anzeichen für unzuverlässiges Erzählen, jedoch bleibt die Frage nach der Subjektivität dieses Phänomens ungeklärt, da seine Neukonzeptualisierung stark von der individuellen Wahrnehmung der Rezipienten sowie von den historisch-kulturellen Umständen abhängt. „Trotz aller Textsignale, die Nünning auflistet, bleibt in Nünnings Modell im Gegensatz zu Booth der unzuverlässige Erzähler eine Fiktion des Lesers, die historisch und individuell verankert ist.“13
Eine weitere These zur Problematik der Unzuverlässigkeit vertritt Dorrit Cohn, welche die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen unreliability und discordance in den Diskussionsraum stellt. Hierbei soll der unreliable narrator mangelhafte oder falsche Informationen besitzen, welche ihm seine Zuverlässigkeit absprechen, während dem discordant narrator eine Verwirrung oder fehlende Objektivität zu Grunde liegt.14 Die These, dass der Leser Naturalisierungsstrategien verwendet, um Diskrepanzen zwischen dem Rezipienten und der Erzählinstanz auszuräumen, ist mit der Nünnings kongruent. Das Konzept Cohns unterscheidet sich jedoch darin, dass die Begrifflichkeit der discordance ebenfalls Vermittlungsinstanzen auktorialer Texte berücksichtigt und somit nicht nur auf Texte mit einer homodiegetischen sondern auch mit einer heterodiegetischen Erzählinstanz anwendbar ist.15 Zu diesem Zweck ist eine stärkere Hervorhebung der Fiktivität der heterodiegetischen Erzählinstanz in auktorialen Texten notwendig, um mögliche diskordante Aussagen der Vermittlungsinstanz zu entlarven. Dass diese Herangehensweise zur Feststellung einer möglichen fehlenden Objektivität des Erzählers ihre Schwachstellen birgt, wird bei der Betrachtung der unterscheidenden Indikatoren zur Einstufung in unreliability und discordance offenkundig. Eine Voreingenommenheit der Erzählinstanz für eine Zuordnung zur discordance oder eine Falschaussage des Erzählers für eine Zuordnung zur unreliability sind in den meisten Fällen aufgrund ihrer Subjektivität nicht unterscheidbar, wodurch eine Einstufung bei einem Ich-Erzähler nicht stattfinden kann oder wie Nünnings Neukonzeptualisierungsvorschlag von der Rezipientenwahmehmung abhängt. Die Begrifflichkeit der discordance ist somit nur auf heterodiegetische Romane fixiert und anwendbar, da ein auktorialer Erzähler in seiner faktuellen Korrektheit unangetastet bleibt.16 Zwar erweiterte Cohns mit dem Begriff der Diskordanz das Konzept des unzuverlässigen Erzählens auf heterodiegetische Texte, ignoriert jedoch ,,[...] Fehldarstellungen der fiktionalen Welt [...] für Ich-Erzählungen“.17 Da allerdings dieser Ansatz für eine Untersuchung aller fiktionaler Textarten hinsichtlich der Zuverlässigkeit ihrer Erzählinstanzen nur begrenzt anwendbar ist, ist eine Ausweitung der Begrifflichkeit zur Verbesserung der Operationalisierbarkeit weiterhin nötig. Diese Ausweitung wurde in den Ausarbeitungen des Konzeptes von Tom Kindt vorgenommen und soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit dargelegt werden.
Vor dem Hintergrund der vorangegangenen kritischen Betrachtungen der verschiedenen Forschungsansätze zum Thema des unzuverlässigen Erzählens, gilt es nun Kriterien für die Betrachtung der beiden gewählten Erzählungen Thomas Manns festzulegen. Hierbei soll sich auf die Konzeptuierung Tom Kindts zum unzuverlässigen Erzähler bezogen werden, welcher zunächst eine Unterteilung der Begrifflichkeit zugunsten einer präziseren Verwendung durchgeführt hat.
„Eine Präzisierung des Begriffs, die zugleich den Intuitionen seiner Verwendung Rechnung trägt, lässt sich im vorliegenden Fall nur durch die terminologische Unterscheidung, gesonderte Explikation und getrennte Operationalisierung zweier Formen »erzählerischer (Un-)Zuverlässigkeit« erreichen. [...] Terminologisch wird fortan zwischen axiologisch (un-)zuverlässigen Erzählern und mimetisch (un-)zuverlässigen Erzählern unterschieden.“18
Kindt bemängelt, dass die gewonnen Indikatoren zur Bestimmung erzählerischer Unzuverlässigkeit ,,[...] weniger der Ideologie von Erzählern als vielmehr der Adäquatheit ihres Erzählens gilt.“19 Durch seine vorgenommene Aufspaltung in axiologische- und mimetische Unzuverlässigkeit ist eine gesonderte Betrachtung der Zuverlässigkeitsaspekte der Erzählinstanz präzisiert möglich. Somit wurde eine Terminologie geschaffen, in welcher der Erzähler zwar zuverlässig über die Geschichte eines Werkes berichten kann, jedoch in seiner eigenen Darstellung und Beschaffenheit von diesem abweicht, genauso wie er homogene Eigenschaften zum Werk verkörpern, jedoch in seinen Schilderungen Unstimmigkeiten auftreten können. Der Ausdruck der mimetischen Zuverlässigkeit untersucht dabei die Darstellung der erzählten Sachverhalte durch die Vermittlungsinstanzen, während die Begrifflichkeit der axiologischen Zuverlässigkeit vielmehr die Repräsentation des Erzählers und seine vertretenden Werte im Abgleich mit den vermittelten Normen des Werkes in Augenschein nimmt.20
Vor diesem Hintergrund stellt Kindt eine Reihe von Wohlgeformtheitsmaximen auf, welche in der folgenden Analyse der beiden Früherzählungen Thomas Manns Verwendung finden sollen. Diese ermöglichen eine individuelle Anwendung und Untersuchung der gewählten Erzählformen in mimetischer Hinsicht nach einer Bestimmung der vorhandenen erzählerischen Bedingungen, ihrer Ausrichtungen sowie des Erzählstandes. Die Maximen sollen über die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz beider Erzählungen Aufschluss geben und zunächst die erzählerischen Aussagen in quantitativer Hinsicht untersuchen. Dazu ist es vonnöten, das Erzählte mit der vorher bestimmten Erzählsituation abzugleichen und eventuell auftretende Zensuren sowie Repetitionen aufzuzeigen. Qualitativ gilt es zudem aufkommende Widersprüche oder Unstimmigkeiten in der Erzählung aufzudecken und den Erzähler in relativer Hinsicht bei dem Versuch der Vermeidung bestimmter Themenbereiche des Erzählten zu überführen. Ein weiteres mimetisches Untersuchungskriterium ist die Maxime der Modalität, in welcher die Eindeutigkeit sowie Klarheit des Erzählten betrachtet werden soll.21
Weiterhin sollen zur Untersuchung der axiologischen Zuverlässigkeit vermittelte Werte der Werke herausgearbeitet und deren Repräsentanz durch die Erzählinstanzen untersucht werden. Die Festlegung zeitgenössischer sowie innertextlicher Wertvorstellungen soll der Betrachtung axiologischer Zuverlässigkeit zu Grunde gelegt werden und Aufschluss über die Repräsentanz der Erzählinstanz in den betrachteten frühen Erzählungen Thomas Manns geben.
Die Untersuchung mimetischer Unzuverlässigkeit erfordert eine Festlegung der epischen Situation der Erzählinstanz, um Verstöße gegen die von Tom Kindt aufgestellten Wohlgeformtheitsmaxime festzustellen. In der 1897 publizierten Novelle „Der Bajazzo“ blickt der 30-jährige Ich-Erzähler auf sein vergangenes Leben zurück. Geschildert wird dieser Rückblick als eine vom Erzähler angefertigte und großteilig kommentierte biografische Niederschrift, in welcher das Leben der Erzählinstanz, des Bajazzos, von frühen Kindheitstagen bis in die gegenwärtige Erzählzeit nachempfunden wird. Der durch die Erzählfigur durchgeführte Akt des Schreibens ist hierbei gleichzusetzen mit dem Akt des Erzählens. Zur epischen Situation des Erzählers ist wenig bekannt. Angaben zum Ort und der Dauer der Niederschrift bezie- hungsweise Erzählung sind nicht vorhanden und aus dem Kontext heraus nicht ersichtlich. Als Zeitpunkt der erzählerischen Handlung ist das dreißigste Lebensjahr zu nennen, in welchem das Erzählende-Ich mit der episodischen Niederschrift seiner Lebensgeschichte beginnt. „Ich habe mir dies reinliche Heft bereitet, um meine 'Geschichte' darin zu erzählen: warum eigentlich? Vielleicht um überhaupt etwas zu thun zu haben?“22 Der Akt des Erzählens wird vom Erzähler hinterfragt und auf mehrere banale Motivationen reduziert. Eine Verschleierungstaktik des Autorprotagonisten, welcher bereits in den ersten Zeilen seiner Niederschrift versucht, die existenzielle Bedeutung seiner biografischen Reflexion vor dem Rezipienten zu verschleiern, nahezu die wahren Beweggründe des erzählerischen Aktes zensiert.23 Die geschilderten Erinnerungen werden hierbei retrospektiv erzählt, aber immer wieder durch wertende Kommentare oder deiktische Mittel des auktorialen Erzähler-Ichs ergänzt. Beispielhaft lässt sich hier der Gemütszustand des Erlebenden-Ichs nach Aufnahme seiner Ausbildung im großen Holzgeschäft des Herrn Schlievogt nennen, in welchem das Erzählende-Ich mit den Wahrnehmungen und Auffassungen zur Zeit der erzählten Erinnerung bricht.
„In meinem Zimmer, in dem ich ehemals mein Puppentheater aufgebaut hatte, saß ich nun mit einem Buch auf den Knieen und blickte zu den beiden Vorfah- renbildem empor, um den Tonfall der Sprache nachzugenießen, der ich mich hingegeben hatte, während ein unfruchtbares Chaos von halben Gedanken und Phantasiebildem mich erfüllte...“24
Die Schilderungen der Auseinandersetzung des jungen Bajazzos mit dem Tonfall einer Sprache sind von den Sinneseindrücken des Erlebenden-Ichs geprägt, während die Wortwahl „unfruchtbares Chaos“ eine negative Wertung durch das Erzählen- de-Ich vomimmt. Dass diese Wertung nicht der Wahrnehmung des jungen Bajazzos entstammt ist naheliegend, da zum Zeitpunkt des geschilderten Geschehens eine derartige Reflexion seines Geisteszustandes noch nicht stattgefunden hat. Die Einstellung des Erzählenden-Ichs zum Erzählten kann bereits anhand dieser Stelle als herablassend identifiziert werden und verdeutlicht eine fehlende Objektivität der Erzählinstanz. Diese Befangenheit des Erzählers erweckt Misstrauen an den vorhandenen Angaben dessen und soll im Anschluss anhand einer Auseinandersetzung mit Tom Kindts Wohlgeformtheitsmaximen untersucht werden.
Zur Untersuchung über der quantitativen Adäquatheit der Aussagen des 30-jährigen autodiegetischen Erzählers müssen zunächst konkrete Kriterien aufgestellt werden, nach denen diese betrachtet werden sollen. Am prägnantesten sind hierbei Aussagen außerhalb des Wahrnehmungs- und Wissensstandes des Narrators, welche dessen Glaubwürdigkeit diskreditieren oder eine bemerkbare Unterschlagung von Informationen für die Rezipienten.25 Schilderungen außerhalb des Erzählerwissens sindjedoch als solches innerhalb des Bajazzos nicht auffindbar. Vielmehr hingegen tritt eine fehlende Informativität der erzählerischen Aussagen auf, welche sich vor allem zu Beginn der Erzählung, hinsichtlich der Erzählmotivation des 30-jährigen Bajazzos, bemerkbar macht. Wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben, verschleiert die Rückführung der Erzählmotivation auf banale Gründe den eigentlichen intendierten reflektierenden Zweck des Erzählens für den Narrator, wodurch er seiner informativen Pflicht nicht nachkommt. „Denn Gleichgültigkeit, ich weiß, das wäre eine Art von Glück [...]“26 heißt es beispielsweise bereits im Vorwort des Erzählers, wobei eine Aufklärung der Umstände, welche zu dieser Erkenntnis führen, für den Leser zunächst verborgen bleiben. Die Erzählfigur lässt an dieser Stelle bewusst die Hintergründe seines geistigen Verfalls ungenannt, wodurch beim Leser aufgrund der fehlenden Informationsdichte Spannung und offene Fragen erzeugt werden. Das Verständnis des Narrators hinsichtlich seiner Glücksauffassung in Form von Gleichgültigkeit, ist für den Leser an dieser Stelle der Erzählung nicht nachvollziehbar und wurde durch Auslassung von Informationen im Äußerungskontext des Vorwortes erzwungen.27
[...]
1 Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998. S. 3.
2 Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane vonEmst Weiß. Tübingen: Niemeyer 2008. S. 35.
3 Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. 2. Auflage. Chicago: University of Chicago Press 1983.
4 Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. S. 6-7.
5 Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 67.
6 Booth, Wayne C.: The Rhetoric ofFiction. S. 158.
7 Yacobi, Tamar: Fictional Reliability as a Communicative Problem. In: Poetics Today 1981. Ausgabe 2. Nr. 2. S. 113.
8 Vgl. Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 35- 36.
9 Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. S. 6-7.
10 Vgl. Chatman, Seymour: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca: ComellUniversity Press 1990. S. 233.
11 Vgl. Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. S. 18.
12 Vgl.Ebd.S.31-32.
13 Fludemik, Monika: Unreliability vs. Discordance. In: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Hrsg. v. Fabienne Liptay. München: Ed. Text + Kritik 2005. S. 41.
14 Vgl. Cohn, Domt: Discordant Narration. In: Style 34 (2000). Heft 2. S. 307.
15 Vgl. Fludemik, Monika: Unreliability vs. Discordance. S. 45.
16 Vgl.Ebd.S.47-51.
17 Ebd.S.47.
18 Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 47-48.
19 Ebd.S.47.
20 Vgl.Ebd.S.47-48.
21 Vgl. Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 66-67.
22 Mann, Thomas: Der Bajazzo. In: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Werke - Briefe - Tagebücher. Hrsg. Heinrich Detering u. a.. Bd. 2.1.: Thomas Mann. Frühe Erzählungen. 18931912. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2008. S. 120.
23 Larsson, Kristian: Masken des Erzählens. Studien zur Theorie narrativer Unzuverlässigkeit und ihrer Praxis im Frühwerk Thomas Manns. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. S. 99.
24 Mann, Thomas: Der Bajazzo. S. 129-130. [Hervorhebung durch Tobias Martin],
25 Vgl. Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 67.
26 Mann, Thomas: Der Bajazzo. S. 121.
27 Vgl. Neymeyr, Barbara: “Genialier Dilettantismus” und “philosophische Vereinsamung”. In: Man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit. Hrsg. v. Braun, Michael. Frankfurt am Main: Lang 2003. S. 141.
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