Bachelorarbeit, 2017
59 Seiten
1. Einleitung
2. Die qualitative Inhaltsanalyse als Methode in den Sozialwissenschaften
2.1. Das Ablaufmodell der qualitativen Inhaltsanalyse
2.1.1. Die Strukturierung mit deduktiver Kategorienbildung
2.1.2. Die Gütekriterien der Inhaltsanalyse
3. Die Framing-Theorie von Robert Entman
4. Großbritannien und die Europäische Union – Der Weg zum Brexit-Referendum
4.1. Die Gründungsphase der Europäischen Union und der Beitritt Großbritanniens
4.2. Die Mitgliedschaft Großbritanniens von 1975 bis zum Brexit-Referendum
4.3. Die Einstellung Schottlands zur Europäischen Union
5 . Das Referendum 2016
5.1. Die wichtigsten Personen im Wahlkampf
5.2. Die Argumente der Leave-Kampagnen
5.3. Die Argumente der Remain-Kampagnen
6. Die Analyse der Berichterstattung der Daily Mail und der Scottish Daily Mail über das Brexit- Referendum vom 20.06.2016 bis zum 23.06.2016
6.1. Die Operationalisierung der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring
6.1.1. Die Bestimmung der Materialmenge
6.1.2. Die Strukturierung des Materials mit Hilfe Entmans Framing-Theorie
6.1.3. Die Erfüllung der Gütekriterien... 20
6.2. Die Berichterstattung der Daily Mail
6.3. Die Berichterstattung der Scottish Daily Mail 29
6.4. Der Vergleich der Daily Mail und der Scottish Daily Mail
7. Fazit
In immer mehr Mitgliedsländern wird der Europäischen Union (EU) eine zunehmend skep- tische Haltung entgegengebracht. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellte das Votum der britischen Bevölkerung für den Austritt aus dem Staatenbund dar. In den Zeitungen des Landes war das Referendum das beherrschende Thema. Es kristallisierten sich innerhalb der Medienlandschaft Befürworter und Gegner des Brexits heraus.
Die Daily Mail dominiert im Vereinigten Königreich den Middle-Market der Zeitungsbran- che.1 Sie hat in ihrer Berichterstattung rund um das Referendum eine eindeutig EU-kriti- sche Position vertreten. Neben der überregionalen Ausgabe veröffentlicht die Daily Mail in einzelnen Landesteilen Zeitungen, unter anderem auch im europafreundlicheren Schott- land.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob sich die Berichterstattung der Daily Mail und der Scottish Daily Mail über das Brexit-Referendum im Zeitraum vom 20.06.2016 bis zum 23.06.2016 voneinander unterscheiden. Aufgrund des Zusammenhangs zwischen den beiden Editionen liegt die Vermutung nahe, dass sich keine großen Unterschiede erge- ben. In den nachfolgenden Kapiteln soll mit Hilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse eine Ant- wort auf die gestellte Frage gefunden werden. Dazu werden das methodische Vorgehen und die theoretische Grundlage beschrieben. Die daran anschließenden Kapitel, geben ei- nen Einblick in die empirischen Rahmendbedingungen des Referendums. Auf Grundlage dieser Punkte findet im sechsten Kapitel die Beschreibung der praktischen Umsetzung der Inhaltsanalyse statt. Ferner werden die Ergebnisse der Analyse der Zeitungen vorgestellt. Abschließend erfolgt eine Gegenüberstellung.
Die Arbeit stützt sich im Schwerpunkt auf drei Quellen. Philipp Mayrings Buch „Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Technicken“ dient als Ausgangspunkt für den methodi- schen Aufbau. Das theoretische Fundament bildet der Aufsatz „Framing: Toward Clarifica- tion of a Fractured Paradigm“ von Robert Entman. Die empirischen Daten stammen über- wiegend von Niedermeier und Ridder. Die Informationen aus ihrem Buch „Das Brexit-Refe- rendum – Hintergründe, Streitthemen, Perspektiven“ wurden durch weitere Literatur er- gänzt.
Das Ziel einer Inhaltsanalyse in der Sozialwissenschaft ist es, aus einer Kommunikation stammendes Material zu analysieren. Dieses Vorgehen beschränkt sich nicht auf die inhalt- liche Ebene, sondern berücksichtigt auch die Rahmenbedingungen in denen der Inhalt zu Tage tritt. Bilder, Musik und Ähnliches können Gegenstand der Analyse sein. Unabhängig von der Art liegt der Gegenstand immer in protokollierter Form vor und wird systematisch bearbeitet. Es gibt ein klar strukturiertes Verfahren, nach dem die Analyse erfolgt. Dies ist Voraussetzung um den sozialwissenschaftlichen Methodenstandards zu genügen. Ebenso wichtig ist die theoretische Basis, auf deren Grundlage das Material interpretiert wird, und dass die einzelnen Analyseschritte von theoretischen Überlegungen geleitet werden.2
Die Inhaltsanalyse wird nach qualitativen und quantitativen Ansätzen unterschieden. Es gilt jedoch zu beachten, dass in der Praxis immer häufiger sogenannte Mixed-Methods-Ansätze verwendet werden, die die beiden Vorgehensweisen vermengen. Bei quantitativem Vorge- hen sind metrische Begriffe und mathematische Operationen Grundlage für die Erhebung und Auswertung des Materials. Beispielsweise kann ein Text dahingehend analysiert wer- den, wie häufig einzelne Wörter verwendet werden. In Abgrenzung dazu werden alle nicht metrisch-basierten Vorgehensweisen als qualitativ bezeichnet. Eine qualitative Analyse hat Nominalskalenniveau. Das bedeutet, es kann lediglich eine Aussage über Gleichheit, bezie- hungsweise Ungleichheit einer Ausprägung gemacht werden.3 Die qualitative Forschung richtet den Blick auf das Individuelle einer Kommunikation und versucht es zu verstehen. Hier deutet sich bereits die Orientierung an Einzelfallstudien an. Forscher berufen sich da- bei auf die Vielfältigkeit und Komplexität der menschlichen Wirklichkeit, deren Aspekte nicht zerstückelt und isoliert betrachtet werden können.4 In der vorliegenden Arbeit wurde dieses Vorgehen als Methode gewählt.
Die Analyse kann in Interpretationsschritte zerlegt werden. In der Praxis muss das Ablauf- modell an das zu analysierende Material angepasst werden, dennoch lässt sich ein unge- fähres Modell zu Orientierungszwecken aufstellen.5
Zu Beginn einer qualitativen Inhaltsanalyse wird das Ausgangsmaterial bestimmt. In diesem Schritt muss der Forscher entscheiden, welche Texte untersucht werden. Eine Veränderung dieser Materialmenge während der Analyse sollte nur in begründeten Fällen erfolgen. Für die Analyse sind auch die Entstehungsbedingungen des Materials von Bedeutung. Der For- scher muss sich damit auseinandersetzen, wer an der Entstehung des Materials beteiligt war, welcher emotionaler, kognitiver und Handlungshintergrund des Verfassers vorliegt, wer die Zielgruppe ist, in welcher konkreten Situation das Material entstanden ist und wel- che soziokulturellen Hintergründe darauf Einfluss genommen haben. Der dritte Teil der Materialbestimmung ist die Beschreibung der formalen Charakteristika des Materials. In der Regel liegt der Inhaltsanalyse ein geschriebener Text zu Grunde. Dieser muss nicht zwangsläufig vom Autor selbst verfasst sein. Es kann sich um eine Transkription handeln und durch zusätzliche Informationen ergänzt werden.6
Wie in allen Formen des wissenschaftlichen Arbeitens liegt auch der Inhaltsanalyse eine gezielte Fragestellung zu Grunde. Zunächst legt man die Richtung der Analyse fest. Hier ergeben sich verschiedene Möglichkeiten: Man kann den im Text beschriebenen Gegen- stand betrachten, etwas über den Textverfasser herausfinden oder die Wirkung des Textes bei der Zielgruppe analysieren. Weiter ist sicherzustellen, dass die Fragestellung theore- tisch an die bisherige Forschung über den jeweiligen Gegenstand angebunden ist. Meist muss auch eine Differenzierung in Unterfragestellungen durchgeführt werden. Es ist fest- zuhalten, dass die Fragestellung der Analyse im Vorfeld formuliert werden muss.7
Wurde das Material und die jeweilige Fragestellung bestimmt, folgt die Wahl der dazu pas- senden Analysetechnik. Es werden drei Grundformen unterschieden. Mit einer Zusammen- fassung kann das Material reduziert werden, so dass am Ende nur die wesentlichen Infor- mationen erhalten bleiben. Bei einer Explikation dagegen, wird das Material durch zusätz- liche Informationen ergänzt. Dadurch soll das Verständnis des ursprünglichen Textes er- weitert werden. Die dritte Möglichkeit ist die Analyse durch eine Strukturierung des Mate- rials. Es werden im Vorfeld Ordnungskriterien festgelegt, anhand derer das Material sor- tiert und interpretiert wird. Die drei Analysetechniken können auch kombiniert werden.
Hat sich der Forscher für eine der Techniken entschieden, muss das individuelle Ablaufmo- dell für die jeweilige Inhaltsanalyse aufgestellt und die Kategorien bzw. das Kategoriensys- tem definiert werden.8 Um die Präzision der Inhaltsanalyse zu erhöhen, werden Analy- seeinheiten festgelegt. Die kleinste Einheit ist die Kodiereinheit. Sie legt fest, was der mini- male Textteil ist, der unter eine Kategorie fallen darf. Als Pendant dazu gibt es die Kontext- einheit, die den maximalen Inhalt festlegt. Welche Textteile jeweils nacheinander ausge- wertet werden, bestimmt die Auswertungseinheit.9
Sind diese Arbeitsschritte vollständig durchlaufen, kann mit der eigentlichen Analyse des Textes begonnen werden. Während der praktischen Anwendung muss das Modell und die Kategorien nochmals einer Prüfung unterzogen werden. Sollten sich Unstimmigkeiten er- geben, müssen Anpassungen vorgenommen und das Material erneut bearbeitet werden. Die Ergebnisse werden anschließend mit Bezug zur Fragestellung interpretiert und hinsicht- lich der inhaltsanalytischen Gütekriterien geprüft, welche in einem nachfolgenden Kapitel näher erläutert sind.10
Die Qualität des Kategoriensystems ist für das Ergebnis der Inhaltsanalyse von entschei- dender Bedeutung. Mittels eines Kategoriensystems kann aus einem Text eine spezifische Struktur herausgefiltert werden. Dazu findet eine Definition von Strukturierungsdimensio- nen statt. Hier muss der Bezug zur Fragestellung beachtet werden. Darüber hinaus muss eine theoretische Begründung erfolgen. Das Material wird dem sich daraus ergebenden Kategoriensystem zugeordnet. Für die Zuteilung des Materials hat sich ein dreigliedriger Aufbau bewährt. Im ersten Teil muss exakt definiert werden, welche Textbestandteile der jeweiligen Kategorie zugeordnet werden können. Für jede Kategorie wird zur Verdeutli- chung eine Textstelle als Ankerbeispiel ausgewählt. Ergeben sich Abgrenzungsprobleme zwischen den Kategorien, werden Kodierregeln formuliert, durch die eine eindeutige Zu- ordnung möglich wird. Wurde dieser Prozess durchlaufen, erfolgt eine erste Erprobung am Material. Die einzelnen Fundstellen werden zugeordnet und je nach Strukturierungsziel aus dem Text herausgefiltert. Häufig zeigt sich hier die Notwendigkeit der Überarbeitung des Schemas. Fand die Nachjustierung der Kategorien statt, kann mit der Hauptanalyse des Textes begonnen werden. In Abhängigkeit vom Ziel muss eine Form der Strukturierung ge- wählt werden.11 Besonders geeignet für die Bewertung von politischen Trends in Zeitungen ist die skalierende Strukturierung. Innerhalb der Kategorien werden Einschätzungsdimen- sionen, oder im Nachfolgendem auch Unterkategorien genannt, in mindestens ordinalska- lierter Form bestimmt. Alle Fundstellen können dadurch innerhalb der jeweiligen Kategorie nochmals gemäß der Intensität eingestuft und hinsichtlich von Häufigkeiten, Kontingenzen und Konfigurationen eingeschätzt werden.12
Die Bedeutung eines hohen qualitativen Standards der Inhaltsanalyse wurde bereits er- wähnt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Überprüfung. Jede Analyse muss, um wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden, die Gütekriterien erfüllen.
Nach Krippendorff werden acht zu erfüllende Konzepte unterschieden. Die Semantische Gültigkeit verlangt die korrekte Rekonstruktion der Bedeutung des Materials und hängt von der angemessenen Definition der Kategorien ab. Ebenso erhebt die Wissenschaft den An- spruch, dass eine andere Methode zu einem identischen Ergebnis für dieselbe Stichprobe gelangen muss. Dieses Kriterium wird als Stichprobengültigkeit bezeichnet. Die Korrelative Gültigkeit verlangt, dass ähnliche Fragestellungen keine widersprüchlichen Ergebnisse auf- weisen. Weiter ist die Vorhersagegültigkeit zu beachten. Diese ist als Gütekriterium nur anwendbar, wenn sich Prognosen aus dem Material ableiten lassen. Die Konstruktvalidität als fünftes Kriterium, wird anhand von ähnlichen Konstrukten oder Situationen, den Erfah- rungen mit dem Kontext des vorliegenden Materials, etablierten Theorien und Modellen oder repräsentativen Interpretationen und Experten überprüft. Daran schließt sich die Sta- bilität, welche sich durch eine wiederholte Anwendung des Analyseinstrumentes auf das Material kontrollieren lässt. Das siebte Gütekriterium ist die Reproduzierbarkeit. Sie meint den Grad, in dem die Analyse unter anderen Umständen, bei anderen Analytikern zu iden- tischen Ergebnissen führt.13 In der Praxis wird die Analyse nur von einem Analytiker durch- geführt. Ein Nachweis der Reproduzierbarkeit ist dann nicht möglich. In der Folge kann auch die Exaktheit (accuracy) nicht nachgewiesen werden. Den sie setzt Stabilität und Reprodu- zierbarkeit voraus, und meint den Grad, zudem die Analyse einem bestimmten funktionel- len Standard entspricht.
Das Kategoriensystem basiert auf Entmans Framing-Theorie. Entman sieht in seinem An- satz eine Methode, um die Einflussmöglichkeiten eines Textes aufzuzeigen. Als Frame defi- niert der Autor, wenn einige Aspekte einer wahrgenommenen Realität in einem Text her- ausselektiert und verstärkt hervorgehoben werden, um so eine bestimmte Problemstel- lung, eine kausale Interpretation, moralische Auswertung und/oder eine Handlungsemp- fehlung zu unterstützen.14 Die Verstärkung meint in diesem Zusammenhang, dass ein Teil der Information auffallender, bedeutender oder einprägsamer dargestellt wird.15
In dieser Definition sind bereits die vier Kategorien ersichtlich, an denen ein Frame festge- macht werden kann. Bei einer Problemdefinition (define Problems) zeigt der Text Sachver- halte auf und welche Kosten bzw. welchen Nutzen dieser mit sich bringen kann. Hier findet eine Beeinflussung durch den kulturellen Kontext statt. Das heißt, die Norm- und Wertvor- stellungen der jeweiligen Gesellschaft wirken sich auf die Problemdefinition aus. Als zweite Kategorie sind Ursachenzuschreibungen (diagnoses causes) zu nennen. Diese liegen vor, wenn der Text Akteure oder Zusammenhänge identifiziert, die für einen Sachverhalt ver- antwortlich sind. Über die Problemdefinition und kausale Interpretation hinaus, kann sich ein Frame auch durch eine moralische Bewertung (make moral judgments) äußern. Ein wei- teres Indiz für einen geframten Text kann eine Handlungsempfehlung (suggest remedies) sein. Darunter fallen auch die Bewertung von Handlungen und das Vorhersagen von wahr- scheinlichen Effekten.16 Nicht nur das Vorhandensein einer dieser Kategorien kann einen Frame zum Ausdruck bringen, sondern in manchen Fällen auch ihr Unterlassen.
Lässt sich in einem Text ein Frame identifizieren, ist das noch keine Garantie für dessen Wirksamkeit. Beeinflussungen sind das Produkt der Interaktion zwischen dem Empfänger und dem jeweiligen Text. Besonders wirksam ist der Frame, wenn er mit dem belief system, sprich mit dem Werteverständnis und den Überzeugungen der Person übereinstimmt. Die- ser Effekt tritt auch in umgekehrter Richtung auf. Wiederspricht ein Frame dem belief sys- tem des Lesers, kann dieser Frame unter Umständen keine Wirkung entfalten.17
Gerade mit Blick auf das belief system zeigt sich die Bedeutung der Rahmenbedingung, in denen ein Text präsentiert wird. Um die Daily Mail und die Scottish Daily Mail interpretie- ren zu können, müssen die empirischen Umstände bekannt sein, welche in diesem Kapitel erläutert werden.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges ergab sich für das britische Empire die Notwendigkeit sich neu auszurichten. Die kolonialen Ansprüche konnten nicht mehr durchgesetzt werden und der Premier Winston Churchill erkannte vor vielen Anderen die Bedrohung durch den Kalten Krieg zwischen Ost und West.18 Mit seiner Züricher Rede im Jahre 1949 trug Churchill wesentlich zu der europäischen Idee bei. Großbritannien sollte darin, nach seinem Ver- ständnis, die Rolle eines engen Wegbegleiters, jedoch nicht die eines Mitgliedes einneh- men.19 Dieses Selbstverständnis konnte das Land nie vollständig ablegen.20 Initiativen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit der westeuropäischen Länder wurden von Großbritan- nien sehr kritisch betrachtet. An der Konferenz in Messina im Juni 1955, die als erster wich- tiger Schritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gesehen wird, nahm ledilich ein Beobachter teil. Entgegen der Erwartungen des Inselstaates erwies sich die Kooperation der EWG für die Mitglieder als äußerst lukrativ, und Großbritannien büßte nicht nur den wirtschaftlichen Vorsprung ein, sondern fiel zunehmend hinter den anderen Ländern West- europas zurück.21
1961 stellte der damalige Premier Macmillan den formellen Beitrittsantrag zur EWG. Aller- dings herrschte innerhalb der Parteien und der Gesellschaft keine Einigkeit über die Rich- tigkeit dieses Schrittes. Den Briten war ausschließlich an den wirtschaftlichen Aspekten ge- legen. Aussöhnung und Gemeinschaft waren nicht von größerem Interesse. In den Jahren 1963 und 1967 legte der französische Präsident General Charles de Gaulle ein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens ein. Er begründete sein Handeln mit der feindseligen Haltung bezüglich der europäischen Integration und einem mangelndem Interesse an einem ge- meinsamen Markt seitens der Briten. Innerhalb einiger Teile der Labour Party löste dies Skepsis und Ablehnung gegenüber der EWG aus. Die Gefahr einer Aufspaltung der Partei erschwerte die Beitrittsverhandlungen zusätzlich. Nach dem Rücktritt de Gaulles im April 1969 und der Wahl des einstigen Verhandlungsführers der Beitrittsgespräche Edward He- ath zum britischen Premier im Juni 1970, schienen die Weichen richtig gestellt zu sein.
Im Jahre 1973 trat Großbritannien zusammen mit Irland und Dänemark der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Schnell wurde klar, dass sich das neue Mitglied selbst in einer anderen Rolle sah als die übrigen Mitglieder. Selbstbewusst rechnete das Land damit, die Bedingungen des Beitritts bestimmen zu können. Großbritannien war überrascht von der Erwartungshaltung, die ihm entgegengebracht wurde, die Regeln der EWG zu ratifizieren. Das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und Großbritannien wurde dadurch geprägt und war von Beginn an distanziert.
Ein Jahr nach dem Beitritt veranlasste Heath Neuwahlen, die wider Erwarten eine Minder- heitsregierung der Labour Party mit Harold Wilson als Premier nach sich zogen. Im Wahl- kampf versprach Wilson die Neuverhandlung der Verträge. Ohne eine klare Linie zu verfol- gen, führte der neue Premier die Gespräche vorwiegend um den Schein nach außen zu wahren. Die europäischen Partner reagierten auf dieses Vorgehen mit Unverständnis. In Deutschland und Frankreich stellte man die Ernsthaftigkeit der britischen Regierung in Be- zug auf die europäische Gemeinschaft in Frage. Die Neuverhandlungen hatten inhaltlich nur geringe Auswirkungen, doch sie beeinträchtigten das Verhältnis der einzelnen Mitglie- der auf der einen und Großbritannien auf der anderen Seite nachhaltig.22
1975 holte sich der Premier in einem Referendum über die Mitgliedschaft in der Organisa- tion die Zustimmung der Bevölkerung ein. Anders als 2016 positionierten sich die britischen Medien europafreundlich. Die wichtigsten Themen waren die Stellung des Landes in der Welt, die Bedrohung durch den Osten und des Kommunismus sowie die nationale Krisen- stimmung. Neben den Medien profitierte das Pro-EWG-Lager auch von einer enormen fi- nanziellen Überlegenheit. Mit 67,23%, bei einer Wahlbeteiligung von 64,62%, stimmten die Briten am 05. Juni 1975 für den Verbleib in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. In allen vier Landesteilen überwogen die Europabefürworter.23
Die territoriale Ausweitung der Europäischen Gemeinschaft (EG), zog einen Vertiefungs- prozess der europäischen Integration nach sich und EG sollte nach und nach zur Europäi- schen Union (EU) ausgebaut werden. Polity-Ebenen wie Sozial-, Umwelt-, Energie- und Re- gionalpolitik wurden von der nationalen auf die gemeinschaftliche Ebene verlagert.24 Auch britische Institutionen wurden auf die Gemeinschaft eingestellt. Vor diesem Hintergrund konnte vor allen anderen Schottland eine zunehmend selbstständige Rolle besetzen, da sich dieser Prozess auf die lokale Ebene und die Regionen stark auswirkte.25
Als 1979 Margret Thatcher das Amt als britische Premierministerin antrat, setzte sie zu- nächst EG-unterstützende Akzente. Sie stimmte der Einheitlichen Europäischen Akte, einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Einführung von Direktwahlen des Eu- ropäischen Parlaments zu. Dennoch verkomplizierte der zu entrichtende Mitgliedsbeitrag das Verhältnis zwischen der EG und Großbritannien. Der damit verbundene finanzielle Auf- wand des Landes überstieg die Summe der Fördermittel, die wieder ins Land zurückflossen. Thatchers Europapolitik richtete sich aufgrund dieses Umstands Mitte der 80 Jahre nach dem Leitspruch „I want my money back“. Das wirtschaftlich schwache Land handelte für sich eine spezielle Regelung der Beitragszahlungen aus. Zwei Drittel der Differenz zwischen dem Mitgliedsbeitrag und den erhaltenen Fördermitteln werden dem Land erlassen. Zu dieser Zeit war die Sonderbehandlung aus solidarischen Gesichtspunkten zu rechtfertigen, allerdings blieb sie auch nach dem Erstarken Großbritanniens bestehen. Im Jahr 2012 belief sich der sogenannte Briten-Rabatt auf 3,6 Mrd. Euro. Der britische Premier Cameron drohte mit einem Austritt, sollte diese Form der Beitragsbemessung eingestellt werden und der Rabatt steigerte sich in Folge nochmals um 200 Mio. Euro.26
Von 1997 bis 2010 stellte die Labour-Party den Premier. Die Regierung schien sich für die Idee der gemeinsamen Währung zu erwärmen und schloss eine Mitgliedschaft Großbritan- niens im Euroraum nicht mehr vollständig aus. Als Cameron das Amt des Premierministers antrat, kehrte sich dieser Trend wieder um. Innerhalb der Eurozone bewirkte die gemein- same Währung eine Verengung der Kooperation. Dies zeigte sich beispielsweise an der Ko- ordinierung der Finanzpolitik während der Finanzkrise. In London war man bemüht, mög- lichst viel Einfluss auf die Eurozone zu erlangen, ohne aber selbst beizutreten.27
Die Meinung des schottischen Landesteiles zur Europäischen Union ist im Vergleich zur englischen Bevölkerung um ein Vielfaches positiver. Schottland hatte sich besonders auf die Staatengemeinschaft eingestellt und konnte so in vielerlei Hinsicht eine gestärkte, ei- genständige Rolle im Vereinigten Königreich einnehmen.28 Es regiert die europafreundliche Scottish National Party (SNP), welche bei den schottischen Parlamentswahlen 2011 sogar die absolute Mehrheit erreichte.29
Im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 lässt sich die posi- tive Einstellung zu der Staatengemeinschaft ebenfalls feststellen. Die Unsicherheit, ob Schottland in der Europäischen Union bleiben bzw. wieder eintreten könnte, hatte großen Einfluss auf das Referendum.30 In einem von der Regierung veröffentlichten Werk wurde eine mögliche Verfahrensstrategie zur Unabhängigkeit vorgestellt. Die Mitgliedschaft in der EU war ein thematischer Schwerpunkt darin.31
Die EU zeigte sich erleichtert, als sich der Landesteil gegen die Abspaltung entschied, da die Schotten so am Brexit-Referendum teilnahmen und das Remain-Lager stärkten.32 Das Er- gebnis der Abstimmung bestätigte diesen Eindruck. Schottland stimmte mit 62%, für den Verbleib in der EU. Von den 119 Wahlbezirken, die Remain gewählt haben, lagen 32 in Schottland, was allen schottischen Wahlbezirken entspricht. Allerdings blieb die Wahlbe- teiligung geringer als erwartet. Nur 67,2% der Wahlberechtigten gingen an die Urnen. Der von der EU erhoffte Effekt, der Großbritannien in der Gemeinschaft halten sollte, blieb aus.33
In der Debatte über den Ausstieg aus der Europäischen Union kristallisierten sich auf bei- den Seiten Schlüsselfiguren heraus. Im weiteren Verlauf werden diese Personen vorgestellt und die Argumente der beiden Seiten herausgearbeitet.
Vier Personen spielten in der Berichterstattung über das Referendum eine zentrale Rolle. David Cameron war seit 2005 Vorsitzender der Konservativen Partei und seit 2010 Premi- erminister. Er galt als Modernisierer der Partei, jedoch nicht als Pro-Europäer. Im Jahr 2013 setzte er das Referendum über den Verbleib des Landes in der EU an. Dennoch war Came- ron Unterstützer der Remain-Kampagne. Seine Position wurde als unglaubwürdig empfun- den, da er sich in der Vergangenheit sehr negativ über die EU geäußert hatte.34
Ihm gegenüber stand Boris Johnson. Von 2008-2016 hatte das Torrie-Mitglied das Amt des Bürgermeisters der Stadt London inne. Obwohl er aus demselben politischen Lager wie Cameron kommt, positionierte er sich in gegnerischer Position. Als der Premier im Februar 2016 nach dem Brüssler Reformgipfel für den Verbleib des Landes in der Europäischen Union warb, veröffentlichte Johnson eine Ausgabe seiner Kolumne im Daily Telegraph, in der er eine Pro-Brexit-Haltung vertrat. Vor dem Erscheinen verfasste er ebenfalls eine Ver- sion, in der er Camerons Position unterstützte. Die Zugeständnisse der Gemeinschaft an Großbritannien auf dem Reformgipfel empfand er jedoch als unzureichend und entschied, dem Premier die Unterstützung zu entziehen. Dieser Entscheidung wird ein großer Einfluss auf den späteren Ausgang des Referendums zugeschrieben, da Johnson die populärste Fi- gur der Kampagnen war.35
Obwohl das Verlassen der EU das beherrschende Thema in Nigel Farages Leben ist, konnte er keine vergleichbare Wirkung wie Johnson entfalten. Farage ist Gründungsmitglied der seit 1993 bestehenden „United Kingdom Independence Party“ (UKIP) und war während des Wahlkampes ihr Vorsitzender. Er legte den Fokus auf das Thema der Migrationspolitik.36
Überraschend war auch die unauffällige Rolle des Vorsitzenden der Labour-Partei, Jeremy Corbyn. Er steht seit dem 12. September 2015 der Partei vor und sprach sich wie Cameron für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union aus. Corbyn konnte die Glaubwürdigkeit seiner Position nur schwer bis gar nicht vermitteln. Dies war seinem leidenschaftslosen Handeln und kritischen Äußerungen über die EU geschuldet. Er selbst ordnete seine Be- geisterung für die Remain-Kampagne auf einer Skala von eins bis zehn als sieben ein. Eben- falls trug seine Aussage, 1975 für den Ausstieg votiert zu haben, stark dazu bei.37
An Leidenschaft für die Sache mangelte es Nicola Sturegon nicht. Die erste Ministerin Schottlands war Mitglied der SNP. Sie warf der Remain-Kampagne gravierende Mängel vor. Der konservativen Partei sagte sie nach, den Ausstieg aus der Union anzustreben und dar- über hinaus die Tories durch den rechten und strak „thatcheristischen“ Flügel übernehmen zu wollen und den daraus resultierenden Abbau von Arbeitnehmerrechten zu forcieren.38
In der Darstellung der Akteure wird die Polarisierung durch das Thema deutlich. Das Niveau der inner- und zwischenparteilichen Kommunikation nahm im Laufe des Wahlkampfes im- mer mehr ab, 39 und die gesellschaftliche Debatte verschärfte sich. Der Höhepunkt der Spannungen war erreicht, als am 16. Juni die europafreundliche Parlamentsabgeordnete Jo Cox erschossen wurde, worauf der Wahlkampf für drei Tage unterbrochen wurde.40
Die Leave-Kampagnen setzten sich ausschließlich aus der UKIP-Bewegung und Teilen der konservativen Partei zusammen. Während des Wahlkampfes besetzten sie drei Themen- stränge. Laut „Vote-Leave“ und „Leave.EU“ flossen wöchentlich Gelder in Höhe von 350 Mio. Pfund von Großbritannien nach Brüssel. Dieser Vorwurf wurde immer in Zusammen- hang mit möglichen Verwendungen im Land, wie zum Beispiel der finanziellen Ausstattung des National Health Services (NHS), aufgebracht. Der Slogan „We send the EU £ 50 Mio. a day – Let´s fund our NHS instead” zog sich durch die gesamte Leave-Kampagne. Boris John- son reiste in einem Bus mit selbiger Aufschrift durch das Land. Die genannten Zahlen wur- den während des Wahlkampfes von verschiedenen Stellen, darunter die Statistikbehörde des Vereinigten Königreiches, als falsch angeprangert, da gemäß deren Aussage, der soge- nannte Briten-Rabatt die Summe bedeutend nach unten veränderte. Auch unter den Be- fürwortern des Brexit gab es Stimmen, die den Slogan als fehlerhaft bezeichneten und die offizielle „Vote Leave“-Kampagne versuchte ihn schweigend in Vergessenheit geraten zu lassen.41
Der zweite Themenkomplex blieb ebenfalls nicht unumstritten. Zusammengefasst unter dem Slogan „Let´s take back control“ sollte die uneingeschränkte Zuwanderung aus den EU-Mitgliedsländern kritisiert werden, sowie allgemein der nationale Souveränitätsverlust. Dem stand die Vermutung gegenüber, dass ein Austritt aus der Europäischen Union wohl kein Ende der Freizügigkeit mit sich bringen würde, da Großbritannien dennoch Zugeständ- nisse abverlangt werden würden. Unter diesem Gesichtspunkt wurde diese Aussage von einigen Kampagnen-Anhängern relativiert. Der UKIP-Vorsitzende Farage weitete die The- matik auf Migranten und Flüchtlinge aus Drittstaaten aus.42
Mögliche wirtschaftliche Auswirkungen für Großbritannien waren ein weiterer Bestandteil der Leave-Kampagnen. Durch die Mitgliedschaft, so die Brexit-Anhänger, kann das Land nicht selbstständig Absatzmärkte erschließen und das Wachstum Großbritanniens wird durch die EU gedrosselt. Der Euro und die Eurozone wurden als Bedrohung kommuniziert. Durch den Austritt könnte der Abstand, für den Fall des Zusammenbruchs der Währung, weiter ausgebaut werden. Der Brexit würde die Gefahr beenden, dass es durch die Vertie- fung der Integration zu einer Ausweitung der Eurozone kommt und Großbritannien sozu- sagen hineingezwungen wird.43 Demzufolge setzten sich die Argumente aus monetären Ge- sichtspunkten, der Migrationsproblematik und wirtschaftlichen Aspekten zusammen.
[...]
1 Vgl. Kuhn, Raymond (2007): Politics and the Media in Britain. 1. Auflage. Houndmills: Palgrave Macmillan, S. 3
2 Vgl. Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 12. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, S. 11–13
3 Vgl. Ebd., S. 17–18
4 Vgl. Ebd., S. 19–20
5 Vgl. Mayring 2010, S. 62
6 Vgl. Ebd., S. 54–55
7 Vgl. Ebd., S. 58–60
8 Vgl. Mayring 2010, S. 67
9 Vgl. Ebd., S. 61
10 Vgl. Ebd., S. 62
11 Vgl. Mayring 2010, S. 99
12 Vgl. Ebd., S. 106
13 Vgl. Mayring 2010, S. 126–128
14 Vgl. Entman 1993, S. 51–52
15 Vgl. Ebd., S. 52
16 Vgl. Entman 1993, S. 52
17 Vgl. Ebd., S. 52–54
18 Vgl. Rath 2016, S. 23
19 Vgl. Niedermeier und Ridder 2017, S. 4–5
20 Vgl. Ebd., S. 15
21 Vgl. Rath 2016, S. 23–25
22 Vgl. Rath 2016, S. 23–32
23 Vgl. Ebd., S. 33–35
24 Vgl. Niedermeier und Ridder 2017, S. 7
25 Vgl. Ebd., S. 3
26 Vgl. Niedermeier und Ridder 2017, S. 7–9
27 Vgl. Ebd., S. 9–11
28 Vgl. Niedermeier und Ridder 2017, S. 3
29 Vgl. Sturm 2015, S. 18
30 Vgl. Ebd., S. 24
31 Vgl. Ebd., S. 21–22
32 Vgl. Ebd., S. 37
33 Vgl. Rath 2016, S. 91–93
34 Vgl. Niedermeier und Ridder 2017, S. 23–24
35 Vgl. Ebd., S. 24–25
36 Vgl. Niedermeier und Ridder 2017, S. 25
37 Vgl. Niedermeier und Ridder 2017, S. 25
38 Vgl. Ebd., S. 26
39 Vgl. Ebd., S. 26
40 Vgl. Ebd., S. 32
41 Vgl. Niedermeier und Ridder 2017, S. 27–28
42 Vgl. Ebd., S. 28–29
43 Vgl. Ebd., S. 28–29
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