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Bachelorarbeit, 2018
46 Seiten, Note: 1,5
1. Einleitung
2. Theorie
3. Indische Kleidungsparadigmen
4. Spannungsfelder
4.1 Stadt und Land
4.2 Klasse
4.3 Gender
4.3.a Frau als Bewahrerin der Nation
4.3.b Frau als zu beschützender Körper
4.3.c Freiheit
5. Konkrete Aushandlung im Alltag
5.1 Leggings
5.2 Sexy Sāṛī
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
In einem Interview spricht Shilpa Phadke mit der Mutter eines Teenies, deren Körper schon weibliche Formen erkennen lässt. Da sie es „liebt mit ihrem Körper anzugeben“ (Phadke 2013: 96), aber die Eltern das Bedürfnis haben, sie zu „beschützen vor einer Welt, die vornehmlich auf den Körper und das Erscheinungsbild blickt“ (ebd.), haben sie die Methode eingeführt offen über die Ängste zu sprechen und miteinander darüber zu diskutieren. Sie erklärt ihrer Tochter also, dass bestimmte Kleidung zu bestimmten Anlässen angemessen ist und zu anderen nicht.
„So the mini-skirts and spaghetti straps are okay for a party, but not for a walk with the dog.“ (ebd.: 97)
Die Mutter versucht ihre Tochter dafür zu sensibilisieren, dass Anlass und Umfeld einer Situation über die Angemessenheit von Kleidung entscheiden. Im Rahmen einer Party sei es eher die Norm freizügige Kleidung anzuziehen, hier wird das Publikum abschätzbar sein und in etwa der sozialen Schicht der Familie entsprechen, in welcher das Zeigen von Haut nichts Außergewöhnliches ist. Auf der Straße allerdings, wo für viele Inder*innen Sāṛī und Salvār Kamīz tragen, würde ein Minirock andere Signale senden.
Auf welche Weise bestimmen Anlass und Umfeld die Angemessenheit von Kleidung? Wer oder was definiert die Bedeutung von Kleidung? Wie kommen unterschiedliche Bedeutungen für ein bestimmtes Kleidungsstück zu Stande? Welche Auswirkungen haben die unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen auf die Bewertung der Person, die sie trägt?
Ich werde mich in dieser Arbeit auf die Kleidung von indischen Frauen konzentrieren. Hierbei wird es vor allem um die Kleidung von Frauen der Mittelklasse gehen, die in den Metropolen Indiens1 leben. Bei den Personen, der von mir verwendeten Feldstudien, handelt es sich um Frauen, die alle ein gewisses Maß an Schulbildung und meist (wenn alt genug) auch einen Beruf ausüben. Altersmäßig kann man die Gruppe als erwachsen oder geschlechtsreif kategorisieren, das heißt, sie befinden sich zwischen der Phase der Pubertät und der Menopause. Religiöse beschränke ich mich auf Frauen, die (mehr oder weniger) durch den Hinduismus geprägt sind. Außerdem muss erwähnt sein, dass es sich bei all diesen Studien um relativ privilegierte und intelligible Persönlichkeiten handelt. Auf die besonderen Gegebenheiten marginalisierter Menschen2 werde ich durch die Vorgaben des Umfangs nicht eingehen können. Weiterhin ist mir bewusst, dass Menschen, die nicht den gesellschaftlichen Schönheitsidealen entsprechen – zum Beispiel weil sie übergewichtig oder zu dunkelhäutig sind – anderen Bewertungsmaßstäben in Bezug auf ihre Kleidung ausgesetzt sind, die im Rahmen dieser Arbeit auch nicht untersucht werden können. Da in öffentlichen Debatten in Indien aktuell vorranging über die Stellung der Frau im Allgemeinen verhandelt wird, fokussiere ich mich, dem folgend, in dieser Arbeit auch zunächst auf die relativ normativen Frauen Indiens.
Vor allem die brutale Vergewaltigung von Jyoti Singh Pandey im Dezember 2012 brachte die Frage der Stellung der Frau in der indischen Öffentlichkeit auf. Mit Aussagen von verschiedensten Politikern entstand ein Paradigma des patriarchalen Protektionismus, nach welchem die Frage der Schuld von (sexueller) Gewalt an Frauen unter anderem durch die Kleidung die das Opfer trägt bedingt ist. In den Narrativen des Protektionismus, z.B. öffentlich Vertreten von Manohar Lal Khattar (Ministerpräsident von Haryana)3, wird eine bestimmte Art der Bekleidung als Provokation für sexuelle Übergriffe gewertet. Gegner*innen sind bemüht diese paradigmatische Perspektive vieler Männer aufzuweichen. Sie nutzen vor allem die sozialen Medien, um für mehr Recht für Frauen zu plädieren: Aranya Johars Gedicht „A Brown Girls Guide to Gender“4 ging um die ganze Welt. Hashtags wie #OurClothesOurChoice, die zeigen, dass Leggings keine „vulgäre“ Kleidung sind, so wie es das tamilische Magazin „Kumudam“ behauptete 5 oder #iNeverAskedForIt, die zeigen, dass man in jeder Kleidung Opfer sexueller Gewalt werden kann, oder #AintNoCinderalla, nach welchem Frauen posten, dass sie auch noch nach Mitternacht unterwegs sind. Solche viralen Kampagnen bringen eine öffentliche Sichtbarkeit dafür, welche Art von Freiheit sich heute im globalisierten Indien viele Frauen wünschen. Sie machen sich damit stark gegen die Narrative des Protektionismus und das in den Medien betriebene victim blaming. Im Verlauf dieser Arbeit wird erkennbar werden, dass Kleidung eine wichtige Rolle im Emanzipationskampf indischer Frauen spielt.
Auf Kleidung bezogene Forschung für den indischen Kontext existiert mit diversen Tendenzen. Als theoretische Grundlage dienen meist die Arbeiten die sich mit materieller Kultur befassen. Hier ist vor allem Arjun Appadurais Monografie „The social life of things“ wegweisend für neuere Erkenntnisse. Er betrachtete die globale Zirkulation von Gegenständen und legt seinen Fokus auf die Umwertung die dieser durch die lokale Aneignung erfährt. Eines der grundlegendsten empirisch-ethnografischen Werke stammt von Tarlo (1996). „Clothes matters“ beschreibt erstmals die Wichtigkeit von Kleidung als gelebte Marker der Identifikation. Vorher seien Kleider immer nur als tote Stoffe im Kontext des Museums präsentiert worden. Bahl (2005) fasst die Geschichte der in Indien getragenen Kleidung prägnant zusammen und zeigt damit, dass als „traditionell“ geltende Kleidung durch den stetigen historischen Wandel immer wieder neu definiert wurde. Auch Banerjee und Miller (2003) konzentrieren sich auf die Lebendigkeit, die durch das Tragen von Saris entsteht. Den aktuellen ethnografischen Studien in diesem Bereich ist gemeinsam, dass sie die Narrativen der Akteure zur Legitimationsbasis ihrer Forschungen machen. Besonders zu erwähnen ist auch Radhakrishnans Studie mit Frauen aus der IT-Branche, das die aktuellen Tendenzen global agierender Inderinnen erfasst und zeigt wie diese zwischen ihrer indischen und transnationaler Identität verhandeln und ihre Kleidung dementsprechend wählen (2011). Da Kleidungsnormen von einer extremen Dynamik geprägt sind und im ständigen Wandel begriffen werden muss, werde ich mich in dieser Arbeit Studien rekurrieren die möglichst aktuell sind:
Wilton (2012) analysiert die Auswirkungen des nationalen Diskurses auf die Entscheidung einen Sari zu tragen oder nicht. Sie sieht Kleidung als moralischen Regulationsmechanismus (vgl. ebd.: 194). Gilbertson (2014) befasst sich mit der Mittelklasse Hyderabads und beschreibt deren soziale Herausforderung die „Balance“ zwischen globalen Konsummöglichkeiten und etablierten Normvorstellungen zu finden. Hier wird Kleidung im Kontext von zwei verschiedenen sozialen Feldern analysiert. Kuldova (2012) hingegen zeigt wie Kleidung die von außen und innen wahrgenommene Identität einer Person beeinflusst. Bestimmte Kleidung zu tragen, hier verstanden als Maske, hat einen imaginativen Wert, der das Verhalten und den Status einer Person verändern kann.
Durch diese Lektüre beeinflusst und gemäß der Forschungstendenzen materieller Kultur, fasse ich Kleidungsstücke als Objekte auf. Als Objekte, die benutzt werden und denen durch das Tragen in gewisser Weise Handlungsmacht gegeben wird: Kleidung wird durch die Betrachtung ihrer Rolle in der aktiv gelebten Welt lebendig, da so die Komplexität und Vielfalt ihrer Verwendungsweisen und Bedeutungen offenbart wird. Kleidung ist nicht nur einfach ein Stück Stoff, durch welches der Mensch sein Grundbedürfnis nach körperlichem Schutz und Wärme befriedigen kann. Durch die kulturelle Adaption unterschiedlicher Formen und Arten von Kleidungstücken, variierender Tragweisen und vielfältiger Kleidungsstile kann Kleidung als „bedeutungsgeladen“ (Hahn 2005: 135) verstanden werden. Kleidung ist durch ihr Eingebettet sein in einen kulturellen Kontext mit Bedeutung behaftet. Die Gesellschaft, in der sie getragen wird, evoziert durch die Art und Weise des Tragens bestimmter Kleidung eine bestimmte Konnotation. Diese ist der Kleidung jedoch nicht inhärent, sondern wurde historisch und gesellschaftlich, in einem Aushandlungsprozess dem Stoff zugeschrieben. Die Aussagekraft der Kleidung darf dabei jedoch nicht als eine stabile Konstante betrachtet werden. Aushandlungsprozesse passieren stetig und erzeugen eine sich dynamisch wandelnde Bandbreite unterschiedlicher Attribuierungen, Bedeutungsgeflechte und Imaginationen. Außerdem, und darauf werde ich mich in dieser Arbeit fokussieren, können unterschiedlichste Bedeutungen für dasselbe Kleidungsstück nebeneinander koexistieren. Abgesehen von der historisch-zeitlichen Komponente variierender Bedeutungszuschreibungen, ist die Aussagekraft des Bekleidungsobjekts von einem weiteren Faktor beeinflusst:
Der Kontext, in den Kleidung eingebettet wird, entscheidet maßgeblich über die evozierten Bewertungsmuster selbiger. Wie sie (die Kleidung) kontextuell klassifiziert wird kann individuell unterschiedlich ausfallen und hängt von den persönlichen habituellen Wahrnehmungsschemata der/des Betrachtenden ab. Im Verhandlungsraum können sich die, von den Verhandlungspartnern, aufgerufenen Kontexte so stark unterscheiden, dass dessen Diskrepanz zu Konflikten führen kann.
In dieser Arbeit werde ich die theoretische Konzeption Bourdieus auf selbst gewählte Beispiele aus Interviews zweier Feldforscherinnen anwenden, um daran die eben aufgestellte These zu illustrieren. Im ersten Abschnitt werde ich zunächst Bourdieus Theorie zum Feld und Habitus erläutern. Die allgemeine Klärung der Begriffe, sehe ich als Basis dieser Arbeit. Nur durch ein tiefes Verständnis der aus der Terminologie hervorgehenden relationalen Perspektive wird es möglich sein, diese auf den von mir zu analysierenden Bereich von Kleidung anzuwenden. Ich werde im Verlauf dieser Arbeit immer wieder auf die in diesem Abschnitt geklärten Begriffe eingehen, um sie nach und nach anhand von empirischen Gegebenheiten zu veranschaulichen. Im Anschluss an den Theorie-Abschnitt werde ich die gesamtgesellschaftlich übliche Kleidung, die an den Körpern indischer Frauen in Indien vorherrschend zu beobachten ist, beschreiben. Daraus hervor geht die grundsätzliche Unterscheidung in indische und westliche Kleidung, auf welche in jeglichen wissenschaftlichen Arbeiten zu dieser Problemstellung rekurriert wird. Der zweite Abschnitt dient somit dazu einen Überblick über die dominanten Kleidungsnormen in Indien zu vermitteln. Die Klassifizierung in indische und westliche Kleidung ergibt eine vereinfachte, dem menschlichen Wahrnehmungssystem angepasste Darstellung. Anhand dieser normativen Gegenüberstellung werden meines Erachtens die Pole des indischen Diskurses besser verständlich. Nach diesen zwei deskriptiven Abschnitten werde ich im dritten und vierten Abschnitt dieser Arbeit beweisen, wie Komplex die Deutung weiblicher Kleidung im indischen Kontext tatsächlich verstanden werden muss. Dazu stelle ich im dritten Abschnitt m.E. primär wichtige Spannungsfelder der indischen Gesellschaft in Bezug auf die Bewertung von weiblicher Kleidung dar. Es werden Pole des öffentlichen Diskurses herausgearbeitet, die die Kontextualisierung von Kleidung bestimmen. Die hier aufgeführten Spannungsfelder wurden ausgewählt, da die daraus hervorgehenden Einflüsse meines Erachtens wesentlich für die Herausbildung der individuellen Dispositionen bezüglich der Kleidungswahl einer Person sind. Die dargestellten Positionen sind es, die den Aushandlungsprozess in den im letzten Abschnitt angeführten Feldern bewirken. Sie sind die Pole einer Skala, welche den individuellen Habitus prägen. So wie der Habitus einer Person auf dieser Skala einzuordnen ist, so wird sie bestimmte Kleidung wahrnehmen und in einen Kontext einordnen. Im letzten Abschnitt zeige ich schlussendlich, wie zwei Frauen mit ihrer Kleidung die normativen Erwartungen ihres Umfeldes übertreten. Die dargestellten Fallbeispiele unterscheiden sich wesentlich in ihren finalen Ergebnissen und zeigen somit zwei mögliche Resultate von Aushandlungsprozessen innerhalb eines Feldes. Im ersten Beispiel bewirkt das Tragen von Leggings bei einer feierlichen Schulveranstaltung erhebliche Kritik. Es wird deutlich, dass das Kleidungsstück von den Akteuren im Feld als dem Anlass nicht angemessen bewertet wird. Durch die Bewertung werden die feldinternen Normen bezüglich der öffentlichen Feier für die Kritiker*innen wahrnehmbar, was die Grundlage der Verhandlung schafft. Dadurch, dass die Konformität des Feldes gestört wird, entsteht der Aushandlungsprozess der die Normgrenzen neu zu bestimmen vermag. Im zweiten Beispiel hingegen führt die Provokation des Normverständnisses innerhalb des Feldes nicht zu einer Neuverhandlung der Grenzen. Die Differenz der Standpunkte innerhalb der ehelichen Beziehung kann nicht durch einen Kompromiss gelöst werden, da der Ehemann auf eine orthodoxe Position beharrt. Er zeigt keinerlei Verhandlungsbereitschaft gegenüber seiner Ehefrau, sondern sieht seine Kontextualisierung der Situation, die die Reibung ausgelöst hat, als einzig wahre und richtige an. Hier wird also kein Aushandlungsprozess in Gang gesetzt, sondern die existierenden Werte und Normen verfestigen sich.
Kleidung ist mit Bedeutung aufgeladen, welche je nach aufgerufenem Kontext variieren kann. In diesem Abschnitt werde ich die Grundlage zur Entwicklung dieser These anhand von Pierre Bourdieus Theorie schaffen. Ich werde seine Konzepte zu Habitus, Klasse und Feld erläutern, um sie anschließend als theoretische Basis meiner Argumentation im Verlauf dieser Arbeit anzuwenden. Durch diese Vorgehensweise entwickele ich eine Perspektive, die die Akteure, ihr Verhalten und ihre Wahrnehmung ins Zentrum rückt. Bourdieus relationaler Ansatz ermöglicht eine multidimensionale Darstellung der Dynamik, aufgrund dessen bestimmte Kleidung in einem Feld verortet wird. Das erlaubt es die Bedeutung, die bestimmter Kleidung zugeschrieben wird nicht als konstant erfassen zu müssen, sondern verschiedene Aspekte einzubeziehen, die den individuell evozierten Kontext bestimmen. Bourdieus konstruktivistisch-strukturalistischen Konzeptionen hilft, eine oft als selbstverständliche Alltagspraxis angesehene Handlung des Anziehens, Tragens, Wahrnehmens und Bewertens von Kleidung, als einen hochgradig individuellen und gleichzeitig soziokulturell determinierten Akt der Reproduktion habitueller Schemata zu erkennen. Es wird deutlich werden, dass die Bedeutung, die auf ein Kleidungsstück projiziert wird, vom individuellen Habitus der entsprechenden Person evoziert wird. Obwohl ihre habituellen Wahrnehmungsmuster von Klasse und Feld erzeugt werden, lässt sich an den empirischen Beispielen, die ich in dieser Arbeit anbringen werde, zeigen, dass gleichzeitig eben jene Schemata der Anschauung und Klassifizierung innerhalb eines Feldes unterschiedlich sein können.
Wahrnehmung, Denken und Handeln einer Person wird, Bourdieu zufolge, maßgeblich durch ihren Habitus; ihre klassenspezifisch erworbenen, zur Natur gewordenen Dispositionen bestimmt. Als wissenschaftliches Konzept umfasst es jegliche kollektive, seit der Kindheit erworbenen Einstellungen, Wertvorstellungen, Denkmuster, Verhaltensweisen usw., welche sich unbewusst, aber trotzdem genau, an das jeweilige soziale Umfeld angepasst haben. Als opus operatum ist der individuelle Habitus geprägt von der sozialen Geschichte und Herkunft der entsprechenden Person, er ist einverleibte, strukturierte Struktur; „Leib gewordene Gesellschaft“ (Lorenz und Lépine 2014: 32). Gleichzeitig dient er als modus operandi, als generatives Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxis (Fröhlich und Rehbein 2014: 112). Da die entstandenen Dispositionen sich nicht nur auf konkrete Lernsituationen beziehen, sondern diesen einverleibten, strukturierten Strukturen folgen, wirkt der Habitus in einer Vielzahl von Handlungs-, Bewertungs- und Wahrnehmungssituationen und ermöglicht so ein spontanes und schematisch-normatives Verhalten. Er leistet somit die Umsetzung objektiver gesellschaftlicher Verhältnisse in subjektive, individuelle und klassenbestimmte Praxis (vgl. Fröhlich und Rehbein 2014: 113). Der Habitus wird zur „Natur gewordenen Gesichte“ (Bourdieu 2015: 171) und macht dabei das gesamte Auftreten einer Person aus - ihren Lebensstil, ihre Sprache, ihre Kleidung, ihren Geschmack (vgl. Schwingel 2011: 59ff). Durch den, vom kulturellen Umfeld geformten Habitus wird auch bestimmt, welche Kleidungsstücke eine Person schön findet und welche nicht; was sie für angemessen erachtet; in welcher Form, was und wie häufig sie neue Kleidung kauft. Gleichzeitig werden andere Menschen, zum Beispiel anhand ihres Aussehens oder ihrer Verhaltens- und Redeweise, intuitiv bewertet und klassifiziert. Bourdieu misst diesen subjektiven Strukturen einen hohen Wert bei. Auf der Grundlage ihres Lebensstils klassifiziert sich die Person und positioniert des Selbst subjektiv in Relation zu anderen. Die Auswirkungen davon, dass sich Akteure selbst klassifizieren und auf dieser Grundlage gemeinsam handeln, nennt er „mobilisierte Klasse“ (vgl. Bourdieu 2018: 175).
„Diese Zusammenschlüsse [der mobilisierten Klasse] beruhen zwar auf Ähnlichkeiten in den Existenzbedingungen [im Feld] und den Habitus, entsprechen aber nicht unbedingt den realen oder theoretisch konstruierten Trennlinien in der Gesellschaft“ (Fröhlich und Rehbein 2014: 142). Obwohl Bourdieu der Klasse eine zentrale Rolle in seinen Forschungen zuschreibt, meint er:
„Es existieren keine sozialen Klassen […]. Was existiert, ist ein sozialer Raum, ein Raum von Unterschieden, in denen die Klassen gewissermaßen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene, sondern als herzustellende.“ (Bourdieu 2012: 26).
Er bezieht sich damit auf seine relationale Perspektive, nach der eine Klasse nur dadurch besteht, „dass sie sich gegen eine andere abgrenzt oder gegen sie abgegrenzt wird“ (Fröhlich und Rehbein 2014: 142). Die auf analytischer Ebene erkannten Unterschiede der einzelnen Klasse, sind für Wissenschaftler ein wichtiges und erkenntnisbringendes Distinktionsinstrument, erzeugen jedoch einen statischen Eindruck einer handfesten, gesellschaftlichen Größe. Bourdieu kann durch die Betrachtung der subjektiven Strukturen jedoch zeigen, dass vor allem die subtil wirkenden „Formen der Verkennung und Strategien der Herablassung“ (Fröhlich und Rehbein 2014: 144) im Distinktionskampf der Klassen zur Reproduktion objektiver Machtstrukturen beitragen. Dies passiert, da auf der individuellen Ebene der Habitus durch „symbolische Kämpfe“, eben jene „Klassenrelation“ (ebd.: 143) hervorbringt. Da der Habitus klassenspezifisch geprägt ist, findet dieser Kampf in der gleichen Weise mehr oder minder bei allen, dieser Klasse angehörigen Akteuren statt und es kommt zu einer Dynamik, die Bourdieu „klassifizierende Klasse“ nennt: eine „Gruppe, die ähnliche Kriterien der Klassifikation verwendet“ (ebd.: 144). So wird Klasse zu dem eben erwähnten, dynamischen „sozialen Raum“, der durch fortwährende Aushandlungsprozesse konstituiert wird, mit der Funktion gesellschaftliche Unterschiede klassifizieren zu können und dem Potenzial Menschen, durch bestimmte objektiv feststellbare und subjektiv empfundene Merkmale zu, den Merkmalen entsprechenden, sozialen Gruppen zuzuordnen. Zu einem bestimmten Moment der Betrachtung lässt sich also anhand von visuell wahrnehmbaren, empirischen Daten eine soziale Gruppe konstruieren. Alle Menschen, die eine spezifische Kleidung auf die entsprechende Weise tragen, werden dementsprechend dieser Gruppe zugeordnet, wodurch wiederum der individuelle Habitus und entsprechendes Handeln dieser klassifizierten Menschen geformt und strukturiert wird. Hier zeigt sich wieder die Doppelfunktion des Habitus aus opus operatum und modus operandi. Weil man sich auf eine bestimmte Weise anzieht wird man der entsprechenden Gruppe zugeordnet und die Umgangsformen, Verhaltens- und Denkweisen etc. dieser Gruppe beeinflussen den Habitus, im Umkehrschluss wird eine bestimmte Kleidung gewählt oder nicht gewählt, weil der Habitus die Normen dieser Gruppe adaptiert hat.
Jede Person entwickelt also innerhalb ihres sozialen Umfeldes ein gewisses Gespür für Normativität. Nicht nur sind ihre eigenen evaluativen, kognitiven und motorischen Schemata an ihre soziale Umgebung angepasst, auch entwickelt sie einen „sozialen Sinn“ (Le sens pratique) für die Strukturverhältnisse innerhalb ihres Milieus. Bourdieu nutzt hier den Terminus „Feld“ als Bezeichnung für den Raum, der die äußeren Bedingungen umreißt und den Habitus mitprägt (Fröhlich und Rehbein 2014: 100f).
„Da der Habitus das inkorporierte Soziale ist, ist er auch in dem Feld >zu Hause<, in dem er sich bewegt und das er unmittelbar als sinn- und interessenhaltig wahrnimmt.“ (Bourdieu 2013: 161f)
Durch das Feld wird soziale Wirklichkeit als ein relationaler (Aus-)Handlungsraum charakterisiert. Felder, als wissenschaftliche Konstrukte im bourdieu‘schen Sinne, sind historisch gewachsene und relativ unabhängige Räume mit jeweils eigenen Sinnkonstrukten, Moralvorstellungen und Regeln (vgl. Lorenz und Lépine 2014: 32). Sie sind die „Ding gewordene Gesellschaft“ (ebd.) und außerordentlich dynamisch. Sie bestehen nicht aus sich heraus, sondern auf Grund von fortwährenden und mannigfaltigen „Formen des Kampfes, der Konkurrenz, des Austauschs, des Sprechens und Handelns“ (Fuchs-Heinritz und König 2011: 141). Bourdieu geht davon aus, dass jedes Feld ein „Bereich sozialer Kämpfe“ (Fröhlich und Rehbein 2014: 100) ist. Ausgehend von einem Feld als Kräftefeld, wird die Ungleichheit zum „treibenden Faktor für soziale Wirklichkeit“ (Lorenz und Lépine 2014: 34).
„Analytisch gesprochen wäre ein Feld [demnach] als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren“. (Bourdieu 2013: 127)
Die Verteilung der verschiedenen Formen von Kapital und damit der Macht, entscheidet über die soziale Position der Agierenden im Feld. Die Akteure sind, entsprechend ihres Kapitals, in unterschiedlicher Weise befähigt, auf das Feld Einfluss zu nehmen und ihre Interessen geltend zu machen (vgl. Fröhlich und Rehbein 2014: 101). Diese Unterscheidung findet statt, weil die habituellen Strukturen der Wahrnehmung nach hierarchischen Klassifikationsprinzipien funktionieren (vgl. ebd.). Sie geschieht innerhalb eines Feldes, aber auch zwischen den Akteuren unterschiedlicher Felder.
Weiterhin ist zu beachten, dass jedes Feld durch seine jeweilige, autonome Struktur mit eigenen, spezifischen Regeln ausgestattet ist. Der Machtkampf funktioniert nur, weil alle beteiligten Akteure die Strukturen des Feldes anerkennen. Bourdieu nennt diesen Effekt Illusio, die „grundsätzliche Überzeugung an der Selbstverständlichkeit der Existenz eines Feldes“ (Lorenz und Lépine 2014: 39), welcher in den Subjekten des Feldes den Glauben an ein bestimmtes Wertesystem (Doxa) erzeugt. Da die „einverleibten Strukturen des Habitus“ mit „den objektiven Strukturen des Feldes“, in dem gehandelt wird, konvergieren und somit die „reale wie gedachte Welt“ begründen, wird diese „als selbstverständlich und fraglos hingenommen“ (Bourdieu 2018: 734f).
Das Konzept des Feldes kann also als das Pendant zum Habitus-Begriff angesehen werden: Die Dispositionen der Individuen korrespondieren die im sozialen Feld wirkenden objektivierten dinglichen und strukturellen Bedingungen (vgl. Fuchs-Heinritz und König 2011: 139f).
„Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.“ (Bourdieu 2013: 161)
Die Abgestimmtheit von Habitus und Feld bestätigt die scheinbare „Natürlichkeit“ des Gegebenen (vgl. Lorenz und Lépine 2014: 28). Solange es zu keinen Brüchen oder Differenzierungen im „Lebensrhythmus“ innerhalb des Feldes kommt, bleibt die „ Doxa [Hervorhebung im Original] der Akteure relativ homogen“ (ebd.: 38). Ihr Habitus ist an die feldimmanenten sozialen Bedingungen angepasst und „verharrt so gut es geht in der Vertrautheit“ (ebd.: 29). Kommt es allerdings zu einem Wegfall dieser Vertrautheit, so wird die Doxa zur Heterodoxie: „Jetzt treten verschiedene Glaubensformen gegeneinander an, Meinungen bekämpfen sich und das Selbstverständliche sieht sich Legitimationszwängen ausgesetzt und muss diskursiv vermittelt werden. Die einfache Doxa wird bei Traditionalisten nun zur Orthodoxie [Hervorhebung im Original], zum einzig richtigen Glauben, der verteidigt werden muss, während auf der anderen Seite die Allodoxie [Hervorhebung im Original] sich neu behaupten muss und Traditionen kritisiert“ (vgl. Lorenz und Lépine 2014: 38).
Auf genau dieses Spannungsverhältnis werde ich in der folgenden Arbeit genauer eingehen. Wie sehen die Brüche und Differenzierungen innerhalb eines Feldes aus? Sind die Grenzen der Felder wirklich so klar abtrennbar, wie sie bei Bourdieu dargestellt werden?
Es wird sich zeigen, dass im selben Kontext mehrere Felder wirken können. Dies passiert dadurch, dass die Beteiligten des Kontextes sich im konkreten Moment unterschiedlich auf diesen beziehen und somit unterschiedliche Felder evozieren. Die Diskrepanz der Felder, sowie der vom jeweiligen Feld konstituierten Verhaltensnormen führt zur Abweichung der Bewertungsschemata und somit zu einem Spannungsverhältnis zwischen den beteiligten Akteuren.
In diesem Abschnitt werde ich zwei dominante Richtungen der erhältlichen Mode in Indien beschreiben. Die hier dargestellte deskriptive und normative Ausführung soll dazu dienen, einen ersten groben Überblick über die vorherrschenden Kleidungsstile auf dem indischen Subkontinent zu vermitteln. Meines Erachtens lassen sich, durch die in diesem Abschnitt vorgenommene Essentialisierung, die Pole des indischen Diskurses um Kleidung verstehen. Ich werde also zunächst über die indische Kleidung sprechen, um ausgehend davon selbige Kategorie wieder zu dekonstruieren und, soweit im Rahmen dieser Arbeit möglich, um dadurch die tatsächliche Komplexität der Anschauungen auf weibliche Kleidung zu verdeutlichen. Da die menschliche Wahrnehmung, geprägt vom Habitus, aber geneigt ist zu klassifizieren, werde ich nun also die Möglichkeiten weiblicher Bekleidung in Indien kategorisieren, um eben dieser Tendenz der Klassifizierung zu entsprechen und sie gleichzeitig als vereinfacht und der Realität nicht angemessen zu entlarven.
Tatsächlich lässt sich erkennen, dass viele Inder*innen die Bekleidung der Menschen in ihrem Umfeld unter die Kategorien indische und westliche Kleidung subsumieren, was sogar Forscher*innen in diesem Bereich übernehmen (vgl. z.B. Banerjee und Miller 2003; Tarlo 1996). Unter indischer Kleidung für Frauen kann man sich vor allem zwei Bekleidungsarten vorstellen: (1) Den Sāṛī, eine etwa fünf Meter lange Stoffbahn aus variierenden Materialien, die in unterschiedlichen Weisen um den unteren Körper gewickelt wird. Das letzte Stück (Pallu) liegt über der Schulter, verdeckt den oberen Körper, kann zum Verhüllen von Kopf und Gesicht genutzt werden oder auch andere nützliche Funktionen erfüllen, wie zum Beispiel zum Anheben eines heißen Topfes, als Filter vor Smog oder zur Schlüsselbefestigung (vgl. Banerjee und Miller 2003: 38f). Der Sāṛī wird nicht vernäht. Allein durch seine Bindung hält er am Körper seine Form. Es gibt unzählige unterschiedliche Bindungen, die je nach Region, Alter, Kaste und Geschmack der Trägerin etwas unterschiedlich aussehen (vgl. Banerjee und Miller 2003: 2f). Trotzdem sind sie so einheitlich, dass der Sāṛī immer als Sāṛī zu erkennen ist. Heutzutage wird er meistens in Kombination mit einem Unterrock und einer Bluse getragen (vgl. Tarlo 1996: 28). (2) Bei der zweiten sehr verbreiteten, indischen Bekleidungsart handelt es sich um die Kombination Salvār Kamīz, oder auch Suit genannt. Das dreiteilige Ensemble besteht aus einer ungefähr bis zum Knie reichenden Tunika (Kamiz oder Kurta), welche über einer Hose mit ballonartigen, sehr weiten Beinen (Salvār) getragen wird, sowie dem Dupatti, einem langen, breiten Schal der über den Schultern, der Brust und z.T. auch auf dem Kopf getragen wird.
Während der Sāṛī als „Quintessenz indischer, weiblicher Bekleidung“ (Lynton 1995: 7) gilt und seine Existenz schon seit 600 v.u.Z. zu verzeichnen ist (Bahl 2005: 93), verbreitet sich das aus dem Punjab stammende Outfit Salvār Kamīz erst seit den 1980er Jahren. Beides sind Kleidungsstücke die erst für herangewachsene Frauen in Frage kommen, wobei der Sāṛī tendenziell häufiger von verheirateten Frauen und Salvār Kamīz eher von unverheirateten Frauen getragen wird (Banerjee und Miller 2003: 95ff). Banerjee und Miller konnten ein numerisches Verhältnis für die Metropolen Indiens feststellen, nach welchem der Sāṛī weiteraus mehr getragen wird: „5:1 […] in Chennai, 4:1 in Kolkata, 3:1 in Mumbai, […] 2:1 in Bangalore“, lediglich in Delhi war ein 50:50 Verhältnis zu verzeichnen (ebd.: 241). An dieser Stelle muss noch erwähnt werden, dass einer dieser normativen Unterschiede auf regionaler Ebene zwischen der in Nord- und Südindien prävalent getragenen, weiblichen Kleidung besteht. Während im Norden Salvār Kamīz als Bekleidung von den meisten Frauen gewählt wird und so die Norm bildet, wird der Suit in Südindien nur vereinzelt von junge Frauen getragen. Im Süden Indiens ist die vorherrschende Wahl weiblicher Bekleidung der Sāṛī (vgl. Lynton 1995). Da in dieser Arbeit aber die regionalen Unterschiede für die Analyse der Forschungsfrage kaum von Relevanz sind, sei diese Verschiedenheit im dominanten Kleidungsstil indischer Frauen unkommentiert dahingestellt. Es erschien mir dennoch wichtig, erwähnt zu haben, dass die in Indien (als geografisches Territorium) getragene Kleidung auch anhand des eben genannten Faktors klassifizierbar ist.
[...]
1 Zu nennen sind hier v.a. Delhi, Hyderabad und Mumbai.
2 Gemeint sind zum Beispiel Menschen die Bi-, Homo- oder Transsexuell sind, genauso wie Hijras. Auch auf besonders arme Menschen, Kastenlose und Menschen der Scheduled Tribes oder OBC kann ich nicht eingehen, genauso wenig wie auf Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung.
3 Vgl. z.B. https://www.youthkiawaaz.com/2014/10/haryana-chief-minister-manohar-lal-khattar/ oder https://www.thecitizen.in/index.php/en/NewsDetail/index/7/1027/And-Now-Haryanas-New-CM-Khattar- Wants-Girls-to-Dress-Decently, letzter Zugriff: 26.09.2018.
4 Vgl.: https://www.youtube.com/watch?v=75Eh5OnNeoY, letzter Zugriff: 23.09.2018.
5 Vgl.: https://www.youthkiawaaz.com/2015/09/facebook-users-troll-journalists/ und http://www.india.com/buzz/tamil-magazine-kumudams-cover-story-terms-leggings-obscene-sparks-outrage- on-social-media-572681/, letzter Zugriff: 23.09.2018.
Soziologie - Arbeit, Beruf, Ausbildung, Organisation
Bachelorarbeit, 63 Seiten
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