Bachelorarbeit, 2018
121 Seiten, Note: 1,0
Didaktik für das Fach Deutsch - Pädagogik, Sprachwissenschaft
I. Einleitung
II. Theoretischer Rahmen
1. Theoretische Grundlagen zur Schriftsprache
1.1 Graphematik - Wie funktioniert unsere Schrift?
1.1.1 Phonographisches Prinzip
1.1.2 Silbisches Prinzip
1.1.3 Morphematisches Prinzip
1.1.4 Grammatisches Prinzip
1.2 Orthographie - Wie funktioniert unsere Rechtschreibung?
2. Schriftspracherwerb
2.1 Phonologische Bewusstheit als Vorläuferfertigkeit
2.2 Das Stufenmodell nach Valtin (1997)
3. Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb
3.1 Merkmale und Ursachen
3.1.1 Komplexe Beziehung zwischen Phonologie und Graphematik
3.1.2 Orthographischen Prinzipien
3.1.3 Wahrnehmungsschwierigkeiten
3.1.4 Didaktische Zugangswege
3.2 LRS vs. Legasthenie
4. Diagnostik
5. Schulische Fördermaßnahmen
5.1 Mögliche Übungen im Unterricht
5.2 Die silbenanalytische Methode nach Röber (2006)
III. Empirischer Teil
1. Die Oldenburger Fehleranalyse als Methode
2. Begründung der Verfahrensauswahl
3. Stichprobe und Forschungsdesign
4. Versuchsmaterial
5. Ablauf
6. Ergebnisse
6.1 Auswertung der OLFA auf Klassenebene
6.2 Auswertung der OLFA auf individueller Ebene
7. Diskussion
IV. Schluss
V. Literaturverzeichnis
VI. Abbildungsverzeichnis
VI. Anhang
1. Texte aller SuS
3. Fehleranalysen aller SuS
Anmerkung der Redaktion: Anhang 2 wurden aus urheberrechtlichen Gründen entfernt.
Gelingender Schriftspracherwerb ist Voraussetzung für das Lernen in allen Bereichen und für die Teilhabe an der Gesellschaft. Insofern kommt seiner sorgfältigen Vorbereitung eine besonders hohe Bedeutung zu (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur 2005: 17).
Aufgrund dieses hohen Stellenwertes zählt das Schreibenlernen zu den zentralen Lernschwerpunkten in der Grundschule. Jedoch stellt der Schriftspracherwerb die Kinder vor eine große Herausforderung. Die Ergebnisse der IQB1 -Studie 2016 unterstreichen dies. Auf Länderebene wurde die Orthographiekompetenz von SuS der vierten Klassenstufe ermittelt. Lediglich 54 % erreichten den Regelstandard und 22 % verfehlten sogar die Mindestanforderungen (vgl. Stanat et al. 2017: 389). Vergleicht man die Ergebnisse mit der Vorgängerstudie aus dem Jahr 2011 lässt sich sogar ein deutlicher Abwärtstrend erkennen (vgl. ebd.: 394). Diese Tatsache erfordert, aufgrund der zentralen Rolle bei der Schaffung eines an dem Ideal der Bildungsgerechtigkeit orientierten Schulsystems, eine genauere Betrachtung der Thematik. Diese Bachelorarbeit setzt sich deshalb mit den Fragen auseinander, welche Bereiche die SuS vor besondere Schwierigkeiten stellen, wie sich die orthographische Kompetenz diagnostizieren lässt und darüber hinaus, welche Maßnahmen anschließend ergriffen werden müssen bzw. können.
Zunächst sollen theoretische Grundkenntnisse vermittelt werden, da die Einsicht über die Funktionsweise der deutschen Schriftsprache unabdingbar für einen gelungenen Unterricht — im Hinblick auf Diagnose und Förderung von Schwierigkeiten — ist (vgl. Siekmann 2013: 6). Kapitel II widmet sich daher zuerst der näheren Betrachtung der Disziplinen der Graphematik und Orthographie als Funktionsweise und Normierung der Schrift. Anschließend soll im Hinblick auf den Prozess des Schriftspracherwerbs, die Rolle der Phonologischen Bewusstheit sowohl als Vorläuferfähigkeit als auch als Begleitprozess herausgestellt werden. Daran anknüpfend folgt die Skizzierung des Entwicklungsmodells der Schriftsprache nach Valtin (1997) in überarbeiteter Form von Valtin / Sasse (2018). Ferner sollen die Schwierigkeiten und deren Ursachen ausgearbeitet werden. Hierzu werden sowohl konkrete Problemfelder der Schriftsprache als auch Störungen als Ausgangslage des Kindes und didaktisch bedingte Schwierigkeiten dargelegt. Die Auswirkungen letzterer sind vor allem mit der jüngsten Veröffentlichung der Bonner Studie (2018) gegenwärtig ein medial vielbeachtetes und diskutiertes Thema. Anschließend wird auf die besondere Form von Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb eingegangen — der LRS. „Kinder haben ein Recht auf Lehrkräfte, die ihre […] Schreibfähigkeit erfassen und beurteilen können“ (DGLS 2000). Aufgrund dessen sollen nach diesen Beschreibungen die Diagnose und Förderung genauer betrachtet werden. Interessant ist hierbei, welche Instrumente dazu genutzt werden können Rechtschreibkompetenzen und -insuffizienzen zu diagnostizieren, um anschließend adäquate Förderungen abzuleiten. Der empirische Teil dient der konkreten Auseinandersetzung mit orthographischer Kompetenz anhand einer zweiten Klasse. Es folgt eine Untersuchung, einer Diagnose von Rechtschreibkompetenz im Sinne eines Lernstandsberichtes einer ganzen Klasse, aber auch auf individueller Ebene als mögliche Vorbereitung von Fördermaßnahmen. Die Ergebnisse der Untersuchung werden zunächst auf Klassenebene, danach auf individueller Ebene dargestellt und anschließend diskutiert.
Im abschließenden Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst, das Diagnoseinstrument kurz reflektiert und weiterführende Fragen als Ausblick generiert.
„Schrift ist ein Symbolsystem, mit dem man im Prinzip alles, was man denkt, aufschreiben kann“ (Schründer-Lenzen 2013: 15). Dabei lässt sich das Schriftsystem in drei Grundtypen klassifizieren: der logographische, der syllabische und der alphabetische Schrifttyp (vgl. Dürscheid 2016: 65). Alphabetschriften kennzeichnen sich durch die maßgebliche Bezugsgröße des Phonems (vgl. ebd.: 70). Hierzu zählt das Deutsche, auch wenn keine echte eins-zu-eins-Zuordnung zwischen Buchstaben und Lauten vorliegt, da es dennoch auf einem phonologischen System basiert, sich nämlich die entsprechenden Schriftzeichen auf Aspekte der Lautung beziehen. Deshalb kommt in der Wissenschaft hierbei der Begriff der „lautorientierten“ Alphabetschrift zum Tragen (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 16).
Im Folgenden Kapitel wird untersucht, wie unsere Schrift überhaupt funktioniert und wie wir darüberhinaus zu einer regelhaft genormten Rechtschreibung gelangen.
Die Forschung gebraucht den Begriff der Graphematik bzw. Graphik in zweierlei Hinsicht. Einerseits wird darunter das Schriftsystem einer Sprache verstanden, andererseits findet er in der wissenschaftlichen Analyse von Schriftsystemen Verwendung (vgl. Berg / Evertz 2018: 188). Im Lexikon der Sprachwissenschaft definiert Bußmann den Begriff der Graphematik wie folgt:
Graphemik [Auch: Graphematik] [ist die] Wissenschaft von den distinktiven Einheiten des Schriftsystems […]. Bei Alphabetschriften basiert G. auf Grund der Korrelationen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache weitgehend auf den Analysemethoden der Phonologie (Bußmann 2008: 246).
Neef (2005: 8) schließt sich dieser Annahme an und erklärt die Graphematik als Teilbereich des Schriftsystems, welcher sich mit den Relationen von Schreibungen und lautlichen Repräsentationen auseinandersetzt. Die Graphematik befasst sich also mit der Frage, „wie die phonologische Repräsentation aus einer graphema- tischen Repräsentation rekodiert werden kann“ (Neef 2005: 207). Abweichend davon plädiert Eisenberg für einen weiter gefassten Graphematikbegriff (vgl. Dürscheid 2016: 128), der sich analog zur Phonologie herleitet (vgl. Eisenberg 1989: 59). Er begründet diese Auffassung damit, dass es dann „eine segmentale Graphematik analog zur segmentalen Phonologie, eine mit der Silbe befaßte Graphematik analog zur Silbenphonologie und eine lexikalische (Morphograhemik) analog zur lexikalischen Phonologie [gäbe]“ (Eisenberg 1989: 59) und die Graphematik auch in die Syntax hineinreiche. In Anlehnung an Eisenberg lehnt Dürscheid (2016: 127) Neefs Ansatz, die Graphematik als Pendant zur segmentalen Phonologie zu betrachten, ab und fasst den Gegenstand der Graphematik weiter. Dabei betrachtet sie die Graphematik als eine Disziplin der Linguistk, welche sich nicht nur auf die segmentalen, sondern auch auf die suprasegmentalen Einheiten des Schriftsystems bezieht (vgl. Dürscheid 2016: 128) . Nach Dürscheid werden also auch die Beziehung von schriftlichen Formen zu weiteren Gebieten des Sprachsytems wie Morphologie und Syntax in den Gegenstandsbereich der Graphematik integriert (vgl. Neef 2005: 8). Die Graphematik untersucht, welche Schreibungen für eine bestimmte Lautung denkbar sind, wobei die Möglichkeiten an Lösungen sowohl ein einziges Element als auch eine größere Menge von Schreibungen umfassen können (vgl. Neef 2005: 11f.). In der folgenden Auflistung werden die graphematischen Prinzipien, in Anlehnung an Eisenbergs (2013: 285ff.) Ansatz, die Graphematik auf die segmentalen und suprasegmentalen Einheiten des Schriftsystems zu beziehen, skizziert.
Das phonographische Prinzip basiert auf den Regeln der Phonem-Graphem- Korrespondenz – ein Phonem wird dabei durch ein Graphem repräsentiert (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 27). Das Phonem wird als kleinstes bedeutungsunter- scheidendes Segment innerhalb der Lautsprache definiert (vgl. ebd.: 16). Über Minimalpaarbildungen lassen sich die kleinsten Lauteinheiten ermitteln (vgl. Eisenberg 2013: 289). Minimalpaare sind Wortpaare wie (Matte) und (Watte) oder (Piste) und (Kiste), die jeweils eine unterschiedliche Bedeutung tragen, sich aber nur durch ein Phonem – hier / m / und / w /, sowie / p / und / k / – voneinander unterscheiden (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 16). Daraus ergibt sich für das Deutsche ein Phoneminventar von zwanzig Konsonantphonemen und sechzehn Vokalphonemen. Dabei lassen sich die Vokalphoneme in acht gespannte und sieben ungespannte betonbare, sowie ein unbetonbares – das Schwa – unterscheiden (vgl. Eisenberg 2013: 289).
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Abb. 1: Phoneminventar des Deutschen (Eisenberg / Fuhrhop 2007: 20)
Analog zur Phonemdefinition wird das Graphem als kleinste distinktive Einheit des Schriftsystems beschrieben (vgl. Dürscheid 2016: 130). Zur Ermittlung des Grapheminventars wird dasselbe Verfahren wie zur Feststellung des Phonem- inventars angesetzt (vgl. Eisenberg 2013: 289). Es wird also untersucht, ob durch das Ersetzen von Buchstaben Minimalpaare entstehen (vgl. Dürscheid 2016: 135). Dabei werden nur solche Grapheme in das Grapheminventar aufgenommen, welche sich durch regelhafte Korrespondenzen mit dem deutschen Phoneminventar kennzeichnen (vgl. Dahmen / Weth 2018: 134). Grapheme können in Form von Buchstaben oder auch Buchstabengruppen auftreten, um mit einem Phonem zu korrespondieren (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 20). Das Phonem / ʃ / wird zum Beispiel durch drei Buchstaben, nämlich <sch>, realisiert (vgl. Dürscheid 2016: 132). Um parallel zum Phoneminventar auch ein Grapheminventar für das Deutsche zu bestimmen reicht es demnach nicht aus die Buchstaben des lateinischen Alphabets aufzulisten. Lediglich die distinktiven Buchstaben gehören in das Grapheminventar (vgl. Dürscheid 2016: 134).
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Abb. 2: Grapheminventar des Deutschen (Eisenberg 2013: 290)
Über die Zusammensetzung des Grapheminventars gibt es kontroverse Auffassungen. Nicht eindeutig und strittig ist z. B. auch die Frage, ob das < ie > ein Teil des Grapheminventars darstellen sollte, da es die regelkonforme Verschriftung des gespannten / i: / abbildet (vgl. Dahmen / Weth 2018: 135).
Aufgrund derselben Art zur Ermittlung eines Phonem- bzw. Grapheminventars sieht Eisenberg (2013: 290) die Sinnhaftigkeit gegeben, die regelmäßigen Korrespon- denzen zwischen Graphemen und Phonemen zu ermitteln. Eine Phonem- Graphem- Korrespondenz wird als eine kontextunabhängige bzw. eindeutige Ersetzungsregel betrachtet, bei der eine Phonemfolge mit einer Graphemfolge korrespondiert. Die folgende Auflistung zeigt einige Beispiele solcher eindeutigen Phonem-Graphem- Korrespondenzen aus dem Inventar nach Eisenberg (2013: 291f.).
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Abb. 3: Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln (selbst erstellt, nach Eisenberg 2013)
Es zeigt sich, dass es ein Vokalgraphem meist durch ein langes (gespanntes) und ein kurzes (ungespanntes) Phonem realisiert werden kann (vgl. < o > in (Ton) und (Frost)). Das Graphem < e > bezieht sich darüber hinaus auch noch auf den Schwa- Laut (vgl. Dahmen / Weth 2018: 139).
Auch wenn über die bereits beschriebene Zusammensetzung des Grapheminventars in Einzelfällen Uneinigkeit herrscht wird deutlich, dass den ca. 40 Phonemen des Deutschen weniger als 40 Grapheme gegenüberstehen (vgl. Dürscheid 2016: 135). Dies zeigt auf, dass im Deutschen nicht immer eine Eins-zu- Eins-Zuordnung von Phonemen und Graphemen vorliegt (vgl. Günther 2007: 47). Dennoch ist durch das phonologische Prinzip ein Fundament für die Schreibung von Wörtern gegeben (vgl. Jeuk / Schäfer 2017: 47).
In vielen Fällen gelangt man allein über die Graphem-Phonem-Korrespondenzen zu orthographisch korrekten Schreibungen, wie z.B. bei [ kalt ] und < kalt > (vgl. Dahmen / Weth 2018: 137). Würde man jedoch nur auf Grundlage des phonologischen Prinzips schreiben, müsste man z.B. (Fahrrad) als < farat > schreiben (vgl. Jeuk / Schäfer 2017: 47). In der Regel hängt die korrekte Schreibung aber noch von weiteren Faktoren ab, welche sich durch die suprasegmentalen Ebenen – nämlich über die Graphem-Phonem-Ebene hinausgehende – begründen lassen (vgl. Dürscheid 2016: 136).
Das silbische Prinzip wird in vielen Ansätzen als Teil des phonologischen Prinzips verstanden (vgl. Jeuk / Schäfer 2017: 29). Dürscheid (2016: 136) weist diesbezüglich darauf hin, dass der Ansatz eines eigenständigen silbischen Prinzips disputabel ist. Gegen einen solchen Ansatz stellt sich z.B. Nerius (2007: 129) und argumentiert, dass es sich bei Silben ausschließlich um phonische Konstrukte handle, welche in der Schreibung nicht sichtbar werden. Eisenbergs Ansatz folgend werden Aspekte herausgestellt, die für ein eigenständiges Prinzip sprechen und auf-zeigen, dass die Konstruktion der Schreibsilbe eigenen Regularitäten unterliegt (vgl. Dürscheid 2016: 137). Dies ist z.B. bei komplexen Silbenanfangsrändern bezüglich der Schreibung von / ʃ / der Fall. Folgt man den Regeln der Phonem-Graphem-Kor-respondenz müsste man eigentlich < schtreng > statt < streng > und < schpröde > statt < spröde > schreiben (vgl. Eisenberg 2013: 298). Um jedoch graphematische Überlängen wie < schtr > oder < schpr > zu vermeiden und das Lesen zu erleichtern – also silbenstrukturelle Informationen erkennbar zu machen – wird das Phonem / ʃ / vor < t > und < p > durch das Graphem < s > abgebildet (vgl. Eisenberg 2013: 298). Ein weiterer Aspekt, der die silbische Überformung der Phonem-Graphem- Korrespondenzen durch das silbische Prinzip aufzeigt, ist die Schreibung des explizit stummen silbeninitialen < h > in Wörtern wie (drohen) oder (Mühe). Eisenberg (2013: 301) plädiert für den Begriff des silbeninitialen < h >, da das < h > bei der orthographischen Silbentrennung den Anfangsbuchstaben der zweiten Silbe bildet. Auch in diesem Fall soll die Leserfreundlichkeit gewahrt werden, indem das < h > die Silbengrenze markiert (vgl. ebd.: 301f.). Darüber hinaus wird eine Kummulation bestimmter Vokalgrapheme, überwiegend von < e > und < i > verhindert; < ziehen > und < wehen > statt < zi ee n > und < w ee n > (vgl. ebd.).
Auch die Verdopplung von Vokalgraphemen – bei Wörtern wie (See), (Haar) und (Boot) – verdeutlicht die Annahme eines autonomen silbischen Prinzips (vgl. Dürscheid 2016: 137). Der Schreibsilbe soll hierdurch eine stärkere optische Gewichtung zuteil werden und die visuelle Silbenlänge kompensieren (vgl. Dürscheid 2016: 138). Diese Regelung wird jedoch nicht konsequent angewandt und lässt einige Ausnahmen zu (vgl. Eisenberg 2013: 305). Auf eine nähere Beschreibung dieser Annahmen wird an dieser Stelle verzichtet und stattdessen auf Dürscheid (2013: 138) zur weiterführenden Lektüre verwiesen.
Abschließend wird mit der Schärfungsschreibung ein weiterer silbenbasierter Ansatz vorgestellt. Darunter versteht man die Verdopplung von Konsonantgraphemen wie in < Halle > oder < Schatten > (vgl. Eisenberg 2013: 299). Folgende Regel liegt der Schärfungsschreibung zugrunde:
Ein Doppelkonsonantgraphem erscheint immer dann, wenn im phonologischen Wort ein ambisilbischer Konsonant (Silbengelenk) auftritt. Verdoppelt wird das Graphem, das dem ambisilbischen Konsonanten phonographisch entspricht (Eisenberg 2013: 299).
Als Silbengelenk wird also ein Konsonant beschrieben, der sowohl zur vorausgehenden, als auch zur nachfolgenden Silbe gehört und somit ambisyllbisch agiert (vgl. Dürscheid 2016: 140). Eine Zuweisung zur zweiten Silbe ergibt sich durch die phonologische Bedingung, dass ein Konsonant, der zwischen zwei Silbenkernen liegt, der zweiten Silbe zugeteilt ist. Betonte Silben mit ungespanntem Vokal dürfen nicht offen sein, sondern müssen auf mindestens einen Konsonanten enden. Wegen dieser allgemeinen Beschränkung gehört der Konsonant ebenfalls zur ersten Silbe. Aufgrund dieser Zugehörigkeit zu zwei Silben wird auch das Konsonantengraphem verdoppelt. Die Regularität der Schärfungsschreibung gilt jedoch nicht für Mehrgraphen wie z.B. < sch >; [ taʃə ] wird als < Tasche > und nicht < Ta schsch e > geschrieben. Ebenfalls von der Regel ausgenommen sind Fälle bei denen einem Gelenk eine Abfolge von Graphemen entspricht, wie z.B. bei / ɳ / in (Wange) (vgl. Eisenberg 2013: 300). In diesen Fällen wird das Silbengelenk durch zwei verschiedene Konsonantenbuchstaben abgebildet (vgl. Dürscheid 2016: 141).
1.1.3 Morphematisches Prinzip
Grundlage des morphematischen Prinzips sind silbisch überformte Schreibungen von Graphem-Phonem-Korrespondenzen (vgl. Eisenberg 2013: 309). Bei diesem Prinzip soll die Morphemgestalt trotz phonologischer Abweichungen aufrecht bzw. weitgehend konstant gehalten werden, um Morpheme beim Lesen schneller erkennen zu können (vgl. Nerius 2007: 148). Dadurch grenzt sich die Schriftebene klar vom Gesprochenen ab (vgl. Eisenberg 2013: 310). Wenn man von Morphemkonstanz spricht werden die Explizitformen, welche prinzipiell phonologisch geschrieben werden, konstant gehalten. Die Schreibung des Kernwortschatzes basiert auf zwei Varianten von Explizitformen; der prosodisch determinierten und der morphologisch determinierten (vgl. ebd.).
Bei morphologisch determinierten Explizitformen handelt es sich um lautliche Unterschiede zwischen Stammformen, mit morphologischer Relevanz. Von beson- derer morphologischer Bedeutung sind dabei Vokalwechel (vgl. ebd.: 314). Ein solcher Fall liegt bei Wortpaaren wie (kalt) und (Kälte) oder (Haus) und (Häuser) vor (vgl. ebd.). Hierbei handelt es sich um Umlautungen, die den Zweck haben die Verwandtschaft der Formen durch Ähnlichkeit auf der Schriftebene hervorzuheben (vgl. ebd.: 314f.). Dagegen schaffen prosodisch determinierte Explizitformen die Grundlage für eine konstante Schreibung von Stammformen, deren Abweichung bei der Artikulation rein phonologischen Ursprungs ist (vgl. ebd.: 314). Der prominenteste Fall ist die Nichtberücksichtigung der Auslautverhärtung. Die stimmlose Artikulation des Auslautes (Auslautverhärtung) wird in der Schreibung also nicht beachtet. Aus phonographischer Sicht müsste die Form [ kɪnt ] eigentlich als < Kin t > geschrieben werden (vgl. ebd.: 311). Stattdessen bezieht sich die schriftliche Umsetzung des Stammes auf die zweisilbige Struktur, welche durch Bildung des Genitivs (des Kindes), der Pluralform (Räder) und der Infinitivform (sagen) hervorgerufen werden kann (vgl. Dürscheid 2016: 143; Jeuk / Schäfer 2017: 34). Ein weiterer Fall zeigt sich auch darin, dass die Konsonantenverdopplung auch in solchen Wortformen beibehalten wird, in denen der Konsonant nicht als Silbengelenk fungiert. Trotz fehlender phonologischer Notwendigkeit wird in diesen Fällen die Schärfungs- schreibung aufrechterhalten und auf morphologisch verwandte Formen zurückgegriffen, in denen der verdoppelte Konsonant die Rolle des Silbengelenks einnimmt wie z.B. bei (Schall) wegen < schallen > (vgl. Dürscheid 2016: 142). Eisenberg (2013: 311) betrachtet die Beibehaltung der Konsonantenverdopplung als Kennzeichen morphologischer Transparenz. Auch bei der Begegnung von gleichen Konsonanten an der Morphemgrenze gibt es, wie z.B. bei (Lauffeuer), keine phonologische Erfordernis den Konsonanten < f > doppelt zu schreiben. Gemäß der neuen deutschen Rechtschreibung sind sogar Konsonantendrillinge wie in (Schifffahrt) möglich (vgl Dürscheid 2016: 142).
Aufgrund des morphematischen Prinzips kommt es also zu Überlagerungen der lautorientierten Schreibung (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 29). Das morphologische Prinzip greift jedoch nur dann, wenn sich die Überlagerungen im Spektrum der zulässigen Graphem-Phonem-Korrespondenzen bewegen. Ein unzulässiger Fall wäre demnach die Schreibung < a > für einen Laut / i / (vgl. Dürscheid 2016: 145).
Das grammatische Prinzip ist verantwortlich für Regularitäten, die einen Bezug zu grammatischen Zusammenhängen aufweisen. Dazu gehört die Groß- und Kleinschreibung, die Getrennt- und Zusammenschreibung, sowie die Interpunktion (vgl. Jeuk / Schäfer 2017: 29). Da der empirische Teil dieses Prinzip ausklammert, wird in dieser Arbeit nicht näher darauf eingegangen.
Die Orthographie beschäftigt sich mit der Frage welche Schreibung für ein bestimmtes Wort — mit einer bestimmten Lautung — als korrekt zu gelten hat. Die Normierung der Schriftsprache — also die Rechtschreibung — ist Gegenstand der Orthographie (vgl. Dürscheid 2016: 128; Nübling et al. 2013: 208). Anknüpfend an die einleitende Graphematikdiskussion besteht bezüglich der Gegenüberstellung von Graphematik und Orthographie zwischen Dürscheid (2016) und Neef (2005) Konsens (vgl. Dürscheid 2016: 129). Während die Graphematik ein Angebot von theoretisch möglichen Schreibungen für Lautungen, die als Wort agieren, bereithält, selektiert die Orthographie diese Möglichkeiten auf normativer Ebene (vgl. Neef 2005: 11f.).
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Abb. 4: Graphematischer Lösungsraum für die Lautung [va:l] (vgl. Neef 2005: 12).
Die Abbildung 4 zeigt den graphematischen Lösungsraum für die Lautung [ va:l ]. Diese mindestens sechs Möglichkeiten ergeben sich aus der Umsetzung der Phoneme in Grapheme. Doch auch wenn alle diese Schreibungen theoretisch für das Meerestier möglich wären, legt die Orthographie als einzig korrekte Schreibweise < Wal > fest (vgl. Neef 2005: 12).
Neef (2005: 193) charakterisiert die Orthographie als ein System von Beschränkung- en, das die Anzahl der graphematisch zulässigen Schreibungen stark eingrenzt. Die Normen der Orthographie basieren auf Prinzipien, die nicht im Vorfeld verhandelt wurden, sondern nachträglich auf Grundlage eines vorhandenen orthographischen Systems erklärt wurden (vgl. Jeuk / Schäfer 2017: 28). Anhand dieser Prinzipien – die bereits in Kapitel 1.1 erläutert wurden – lassen sich die Regeln erschließen und systematisieren. Eisenberg betrachtet dabei die folgenden zentralen Prinzipien: phonographisches, silbisches, morphematisches und grammatisches Prinzip (vgl. ebd.: 28f.). Die Orthographie hat aber auch die Möglichkeit eine Wortschreibung für konventionell zulässig zu erklären, die nicht Teil des graphematischen Lösungsraums ist. Solche Schreibungen sind meist historisch zu begründen (vgl. Neef 2005: 189). Auch Eisenberg (2013: 288) hält fest, dass die orthographische Norm, lediglich in sehr begrenztem Ausmaß Abweichungen gegenüber dem rekonstruierbaren Schriftsystem aufweist. Riehme (1974) formulierte für solche Sonderfälle drei Prinzipien, die bei den zentralen Prinzipien nach Eisenberg ausgeklammert werden, da sie als Ausnahmeschreibungen betrachtet werden (vgl. Jeuk / Schäfer 2017: 29). Nachfolgend werden diese drei Sonderprinzipien beschrieben:
Semantisches Prinzip
Das semantische Prinzip wird bei homophonen Wörtern – also Wörter mit gleicher Lautung, aber unterschiedlicher Bedeutung – sichtbar wie z.B. (Lerche) und (Lärche). Die differenzierte Schreibweise unterscheidet den Vogel (Lerche) mir < e > von dem Baum (Lärche) mit < ä > (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 31).
Historisches Prinzip
Das historische Prinzip macht die Trägheit der Schriftsprache gegenüber der gesprochenen Sprache deutlich. Dadurch gibt es Schreibungen, die einer früheren Artikulation geschuldet sind, wie beispielsweise das < ie > in (lieb), welches früher betont artikuliert wurde (vgl. ebd.: 31). Das Wort (lieb) ist demnach ein bereits oben beschriebener Sonderfall, bei dem die Orthographie eine Wortschreibung für richtig erklärt, welche graphematisch nicht lizensiert ist (vgl. Neef 2005: 189).
Graphisch-formales Prinzip
Das graphisch-formale Prinzip wurde mit der Rechtschreibreform durch das morphematische Prinzip eingeschränkt. Während es vor der Reform wegen der Ver- dreifachung eines Buchstabens unzulässig war < Seeelefant > oder < Wettturnen > zu schreiben, sind diese Schreibungen mittlerweile möglich. Jedoch sei angemerkt, dass diese neue Regelung nicht konsequent umgesetzt wird – beispielsweise wird (Mittag) trotz der Morphemstämme {Mitte} und {Tag} weiterhin nur mit < tt > geschrieben (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 31f.). Diese Tatsache zeigt die Problematik auf, dass Prinzipien auch miteinander konkurrieren können (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 32).
Orthographie ist die Lehre, wie man richtig – im Sinne einer Norm – schreibt (vgl. Eisenberg 2013: 287). Das Interesse der Orthographie konzentriert sich explizit auf die äußere Gestalt des Wortes, also darauf , wie das Wort aussieht, und nicht auf die Prinzipien, nach denen sie zustande kommt. Im Gegensatz dazu interessiert sich die Graphematik, deren Gegenstand das Schriftsystem ist, für den tatsächlichen Schreibgebrauch und für die Regeln, aus denen eine Schreibung hervorgeht (vgl. ebd.: 287). Dabei kann es zu Spannungsverhältnissen zwischen Norm und dem Schreibusus bzw. dem Schreibbegehren der Leute kommen, wobei die Schreibab- weichungen von der Norm häufig graphematisch nachvollziehbar sind. Eine solche Abweichung von einer Vielzahl an Personen kann ein Indiz für eine notwendige Normänderung sein (vgl. ebd. 287). So stehen zum Beispiel im Bericht des Rates für die deutsche Rechtschreibung Fragen der Schreibgebrauchsbeobachtung im Fokus. Dort heißt es der Sprachgebrauch „ist Ausdruck einer konsolidierten Gesamt- situation, aus der heraus die oft kleinteilige [...] und doch für die Weiterentwicklung des amtlichen Regelwerks unerlässliche Arbeit einer Anpassung an den beobachteten Gebrauch geleistet werden kann“ (Rat für die deutsche Rechtschreibung 2016: 3). Auf Grundlage des Schreibusus - also dem zu erforschenden Gegenstand der Graphematik - können Regeln bei angemessenem Bedarf neu formuliert werden.
Eine der grundlegendsten Aufgaben, welche Schulanfänger zu bewältigen haben, stellt das Schreibenlernen dar. Neben der Schrift als neues Kommunikationsmedium erwerben Kinder auch entscheidende Grundlagen der Kultur und der schulischen Bildung (vgl. Jeuk / Schäfer 2017: 8). Dieses Kapitel beschäftigt sich dabei mit der Phonologischen Bewusstheit2 und ihrer Bedeutung als Vorläuferfertigkeit für den Schriftspracherwerb. Anschließend wird das Stufenmodell nach Valtin (1997), überarbeitet von Valtin und Sasse (2018), vorgestellt, um zu zeigen welche Stufen die Lernenden beim Schriftspracherwerb bewältigen.
Bereits vor dem Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit nutzen Kinder implizit die gesprochene Sprache. So bilden sie aus einzelnen Wörtern Satzkonstrukte, ohne Kenntnisse über das abstrakte Konzept eines Wortes oder Satzes zu haben. Die Kompetenzen der Kinder werden von ihnen demnach unbewusst genutzt (vgl. Marx 2007: 44). Zunächst steht nur der Inhalt sprachlicher Äußerungen im Mittelpunkt des Interesses, nicht aber die formalen sprachlichen Strukturen. Die Wahrnehmung lautlicher Sprachstrukturen nimmt erst mit dem Einsetzen des Schriftspracherwerbs zu, d.h. sie werden erst dann für die Kinder wichtig, wenn geschriebene in gesprochene Sprache transferiert werden soll und umgekehrt (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2005: 1). Das Lösen von der Bedeutungsseite und die Zuwendung hin zur formalen Sprachebene gilt als fundamentale Voraussetzung für schriftsprachliche Handlungen (vgl. Martschinke / Kirschhock / Frank 2010: 8). Die Aufmerksamkeit auf die formalen Aspekte umfasst das Analysieren, das Manipulieren sowie das Synthetisieren von Einheiten der Lautsprache. Die Kompetenz, sich diesen „formalen Eigenschaften der gesprochenen Sprache“ (Wildemann 2015: 91) hinzuwenden, wird als Phonologische Bewusstheit definiert.
Die Entwicklung der Phonologischen Bewusstheit wurde in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Hierbei sind drei unterschiedliche Auffassungen entstanden (vgl. Hartmann 2002: 60). Die Ausgangspunkte der Kognitionshypothese, der (Sprach-)entwicklungshypothese und der Kulturhypothese erheben dabei jeweils den Anspruch, die bedeutendste Entwicklungsvoraussetzung zu sein (vgl. ebd.: 60).
Hartmann (2002: 69) nimmt an, dass die Entwicklung der Phonologischen Bewusstheit nicht konkret einer dieser Hypothesen zuzuordnen, sondern vielmehr als komplexes Bedingungsgefüge der beschriebenen Hypothesen anzusehen ist. Beispielsweise weisen Forster / Martschinke (2005: 9) der Phonologischen Bewusstheit und dem Schriftspracherwerb sich gegenseitig beeinflussende Wechselbeziehungen zu. Für sie ist Phonologische Bewusstheit „sowohl Voraussetzung, als auch wichtiger Begleitprozess für den Schriftsprach- erwerb“ (ebd.). Die kontroversen Auffassungen, die Phonologische Bewusstheit als Vorläuferfertigkeit oder als Konsequenz des Schriftspracherwerbs anzusehen, werden in das Konzept der Differenzierung von Phonologischer Bewusstheit in einen weiteren und einen engeren Begriff — nach Skowronek / Marx (1989) — mit einbezogen (vgl. Martschinke / Kirschhock / Frank 2010: 10; Wildemann 2015: 91). Die Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne umfasst das Gerüst des Sprechstromes, welches sich oberflächlich an den Eigenschaften konkreter Lautbildung orientiert (vgl. Forster / Martschinke 2005: 8). Bereits vor Schulbeginn verfügen Kinder über eine Sensibilität für Prosodie und Rhythmus der Sprache, sowie über eine Wahrnehmung größerer sprachlicher Einheiten. Dazu gehört das intuitive Identifizieren von Silben innerhalb eines Wortes sowie die Wahrnehmung und Bildung von Reimen (vgl. Wildemann 2015: 91). In der Regel beherrschen bereits Vorschulkinder diese Teilfertigkeiten (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2005: 1).
Die Phonologische Bewusstheit im engeren Sinne setzt sich mit dem bewussten Gebrauch der Phoneme auseinander. Voraussetzung hierfür sind zunehmende Kenntnisse über die Schrift und ihre Struktur (vgl. Wildemann 2015: 92). Durch den Zugewinn an schriftsprachlichen Erfahrungen schreiten auch die Leistungen der Phonologischen Bewusstheit im engeren Sinne voran. Dabei handelt es sich um den Umgang mit den elementaren Einheiten der Lautsprache, den Phonemen. Darüber hinaus geht es um die lautliche Abfolge innerhalb eines Wortes (vgl. Pfost 2017: 201f.). Für den Erwerb dieser Kompetenzen wirken Einsichten in die Phonem- Graphem-Zuordnung unterstützend (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2005: 2). Daraus ergibt sich ein Einfluss des Schriftspracherwerbs auf die Phonologische Bewusstheit, ohne dass diese ihre Relevanz für den weiteren Prozess gänzlich aufgibt (vgl. Marx 2007: 47).
Marx (2007: 46) schreibt der Phonologischen Bewusstheit, aufgrund der gut belegten Prognosekraft für die Entwicklung des Lesens und Schreibens eine besondere Bedeutung im Hinblick auf Diagnostik und Förderung zu. Durch die Feststellung der Phonologischen Bewusstheit vor Schulbeginn lassen sich bereits Hinweise gewinnen, ob ein Kind Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb haben wird. Corvacho del Toro (2013: 32) bezieht sich auf Belege, die bestätigen, dass unzureichende Fähigkeiten zur Lautanalyse schriftsprachliche Schwierigkeiten verursachen. Schründer-Lenzen (2013: 88) stuft solche Kinder mit einer schwach ausgebildeten phonologischen Bewusstheit als „Risikokinder“ des Schriftsprach- erwerbs ein. Dagegen erlernen Kinder mit einer stark ausgebildeten Phonologischen Bewusstheit die Schriftsprache nahezu problemlos (vgl. ebd.: 88). Für Wildemann (2015: 92f., zit. nach Valtin 2012) nimmt die Phonologische Bewusstheit zwar insbesondere im Hinblick auf die Startphase des Schriftspracherwerbs – der alphabetischen Phase – eine wichtige Rolle ein. Da der Schriftspracherwerb jedoch kein eindimensionaler Ablauf ist, kann sie nicht die alleinige Bedingung für dessen erfolgreiche Bewältigung darstellen. Schründer-Lenzen (2013: 83) erklärt, dass ein erfolgreicher Erwerb der Schriftsprache von einer Vielzahl von Bedingungen abhängig ist. Dazu gehören auch Lernvoraussetzungen, die über die individuelle Ebene hinausgehen wie die Situation in der Familie, die peer-group, der Unterricht und die Art der gegebenen Lernangebote usw. All diese Umstände bedingen sich wechselseitig und haben Auswirkungen auf den Prozess des Schriftspracherwerbs. Auf diese näher einzugehen, würde jedoch den Umfang der vorliegenden Arbeit überschreiten.
Lerngegenstände evozieren Fragen bezüglich der Form des jeweiligen Erwerbs. So drängt sich auch bei der Schriftsprache die Frage auf, inwiefern der Erwerb bei allen Kindern gleichermaßen verläuft oder inwieweit dieser individuell erfolgt.
Neuere Erkenntnisse gehen von einer Vergleichbarkeit der Entwicklungsphasen im Schriftspracherwerb aus, welche sich jedoch in der Dauer, den Ausprägungen und den Schwierigkeiten unterschiedlich gestalten können (vgl. Jeuk / Schäfer 2017: 74). Ausgehend vom Diskurs um Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten sind mehrere Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs entstanden.
Als eine der ersten hat Frith (1985) ein Schriftspracherwerbsmodell vorgeschlagen, welches im deutschen Sprachgebiet als grundlegendes Modell angesehen wird und auch von anderen Autoren, wie Günther (1986), Thomé (2000) und Valtin (1997) aufgegriffen und modifiziert wurde (vgl. Günther 2007: 23). Das Basismodell von Frith setzt sich aus einer logographischen, alphabetischen und orthographischen Stufe zusammen und bildet den Rahmen für weitere Entwicklungen (vgl. Schründer- Lenzen 2009: 30). Da sich die meisten Stufenmodelle in Anlehnung an Frith ähneln, wird im folgenden lediglich das Stufenmodell nach Valtin (1997) ausführlicher beschrieben.
Mit dem Stufenmodell von Valtin (1997), überarbeitet von Valtin und Sasse (2018), werden die verschiedenen Aneignungsphasen des Schriftspracherwerbs aufgezeigt (vgl. Valtin / Sasse 2018: 12). Das Entwicklungsmodell stellt, in Bezug auf die annehmbare sprachliche Entwicklung bei Erstklässlern im allgemeinen, einen Orientierungsrahmen für Lehrkräfte dar (vgl. Spitta 1993: 68f.). Den Lehrkräften dient dieser als Beobachtungshilfe für die frühzeitige Problemerkennung und Planung von Fördermaßnahmen (vgl. Valtin / Sasse 2018: 12). Valtin (1997) erweiterte das Drei- Stufenmodell von Frith (1985) insbesondere um die vorschulische Stufe (siehe Stufe 1 Abb.). Diese Stufe stellt für Valtin (1997) die entscheidende Voraussetzung für den Erwerb der Schriftsprache dar (vgl. Wiescholek 2017: 16). Durch diese ersten vorschulischen Berührungen mit der Schriftsprache erlangen die Kinder wichtige Vorläuferfähigkeiten für das spätere Lesen und Schreiben (vgl. ebd.: 17). Die Phasen zwei bis fünf sind jeweils an das Modell von Frith angelehnt (vgl. Jeuk / Schäfer 2017: 80). Dabei zeigt sich die logographemische Stufe annäherungsweise in den Phasen zwei und drei, die alphabetische Stufe entspricht der vierten Phase und die fünfte Phase nach Valtin entspricht ungefähr der orthographischen Stufe. Das sechsstufige Entwicklungsmodell des Lesen- und Schreibenlernens nach Valtin schließt mit der Ergänzung um die Phase der Automatisierung von Teilprozessen ab (vgl. ebd.: 80f.).
Nach Albert (2010: 28) geht das Stufenmodell von Valtin davon aus, dass die Kinder primär zwei Einsichten erwerben müssen. Zum einen das Wortkonzept, also die Einsicht, dass sich ein Satz aus Wörtern zusammensetzt, welche durch die Leerschritte sichtbar sind. In Abgrenzung zu anderen Stufenmodellen wie z.B Dehn, Spitta und Scherer-Neumann beschränkt sich Valtin demzufolge nicht nur auf einzelne Wörter, sondern bezieht auch die Schreibungen von ganzen Sätzen in ihr Konzept ein (vgl. Valtin 1997: 78). Des Weiteren benötigen die Lernenden ein Phonembewusstsein bzw. die Fähigkeit zur Lautanalyse, das heißt die Einsicht, dass Wörter in Lautsegmente zerlegbar sind (vgl. Albert 2010: 28). Im folgenden werden die drei Strategien mit den jeweiligen Stufen des Entwicklungsmodells von Valtin anhand der nachfolgenden Abbildung naher erlautert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5: Das Stufenmodell des Schriftspracherwerbs (Valtin I Sasse 2018: 14)
Valtin zieht den Begriff „ figurative Strategie“ dem Terminus „ logographische Strategie“ vor, da „figurative Strategien" bereits von Vorschulkindern angewendet werden. Dies zeigt sich vor allem auf der ersten Stufe, durch die Nachahmung äußerlich sichtbarer Verhaltensweisen von gelernten Lesern und Schreibern (vgl. Valtin / Sasse 2018: 13). Kinder erzeugen mithilfe von Schreibgeräten Kritzelbilder und verstehen das Schreiben als Malen. Zudem verhalten sie sich als ob sie lesen würden, indem sie ein Buch halten und dabei vor sich hin sprechen (vgl. Valtin 1997: 81). Die zweite Stufe zeichnet sich durch ein Erfassen einzelner Buchstaben mittels figurativer Merkmale aus. Kinder sind demnach in der Lage ihnen bekannte Logos und einzelne Buchstaben in Wörtern zu erkennen. Des Weiteren malen die Kinder willkürliche Buchstabenreihen oder den eigenen Namen. Da die Kinder hier noch keine Wörter segmentieren, tragen die Lücken zwischen den Buchstaben keine Bedeutung. Die Verschriftlichungen auf dieser Stufe sind ohne einen Bezug zur Lautung der Wörter (vgl. Valtin 1997: 79). Die fehlende Kenntnis über die Beziehung von geschriebener und lautlicher Sprache ist charakteristisch für die figurative Strategie (vgl. Valtin / Sasse 2018: 13). Diese fehlende Einsicht in die Zusammenhänge von Buchstaben und Lauten wird mit der Verwendung der phonetischen Strategie überwunden.
Der Übergang von der figurativen zur phonetischen Strategie geht mit einer bewussten Lenkung der Aufmerksamkeit auf die formalen Eigenschaften der gesprochenen Sprache einher. Dadurch soll den Kindern der Begriff Wort auf formaler Ebene bewusst gemacht werden und im folgenden ein Verständnis der Funktion der Buchstaben vermittelt werden. Durch die analytisch-synthetische Methode wird dieses Verständnis über die alphabetische Struktur der Schrift unterstützt. Die Fähigkeit Laute analysieren und synthetisieren zu können, ist der zentrale Ausgangspunkt für das Verständnis des alphabetischen Prinzips unserer Schrift (vgl. ebd.: 13, 15). Auf der dritten Stufe bahnt sich das Verständnis für die Laut-Buchstaben-Beziehung an. Im Hinblick auf die Schreibentwicklung sind erste Verschriftlichungen von Lauten durch Buchstaben festzustellen. Besonders auffällig sind hierbei sogenannte Skelettschreibungen – z.B. < KTS > für < Katze > (vgl. ebd.: 13f.). Dabei werden lediglich die wesentlichsten Laute auf der Schriftebene umgesetzt. Auf Satzebene werden meist alle Wörter notiert, oft jedoch ohne Lücken zwischen den Wörtern wie z.B. < EHS PETRA > statt < Ich heiße Petra > (vgl. Valtin 1997: 80f.). Beim Lesen werden die Wörter häufig in Abhängigkeit des Anfangsbuchstaben erraten (vgl. Valtin / Sasse 2018: 14).
Durch die vierte Stufe wird die phonetische Strategie gefestigt, sodass die Kinder die Wörter nun buchstabenweise erlesen und phonetisch verschriften. Auf dieser Stufe werden alle wahrnehmbaren Laute nach der Handlungsweise Schreibe wie du sprichst vollständig graphisch umgesetzt, z.B. < KATA > für < Kater >. Hierbei richten sich die Kinder überwiegend nach ihrer jeweiligen Umgangssprache. Auch auf diesem Niveau hat sich das Prinzip der Wortlücken noch nicht vollständig durchgesetzt (vgl. Valtin 1997: 81). Valtin (2010: 6) verweist bei der phonetischen Strategie auf das Konzept der phonologischen Bewusstheit, da, wie zuvor beschrieben, das alphabetische System ein formales Sprachverständnis voraussetzt. Vor allem die Fähigkeit der Lautanalyse und -synthese ist für die vierte Stufe des Entwicklungsmodells von großer Bedeutung.
Die orthographische Strategie, beginnend mit der fünften Stufe, ist geprägt durch die steigenden Kompetenzen von sprachstrukturellen Komponenten (vgl. Valtin / Sasse 2018: 13). Mit dem Übergang von der vierten zur fünften Stufe sollen sich die Kinder von dem Prinzip Ich schreibe wie ich spreche lösen und an die Erwachsenen- schreibung herangeführt werden (vgl. ebd.: 15). Beim Lesen erfassen die Kinder auf der fünften Stufe nun Silben oder Morpheme als größere Einheiten. Charakteristisch für die Schreibentwicklung auf dieser Stufe ist der Gebrauch orthographischer Schemata wie z.B. der Suffixe < -er > und < -en > (vgl. ebd.: 14). Dadurch wird aus der phonetischen Schreibung < lesn > anhand orthographischer Regeln < lesen > (vgl. Valtin 1997: 81). Gelegentlich unterlaufen den Kindern auf dieser Stufe aber auch Fehler aufgrund von Übergeneralisierungen wodurch Kinder die korrekte Schreibung < Opa > zu < Oper > umformen (vgl. ebd.).
Für den Übergang zur sechsten Stufe soll der Grundwortschatz auf orthographischer Ebene gesichert werden. Auf dieser abschließenden Aneignungsstufe findet eine Automatisierung von Teilprozessen statt. Wörter werden nun automatisch erkannt und die orthographischen Kenntnisse entfalten sich zu einer entwickelnden Rechtschreibfähigkeit (vgl. Valtin / Sasse 2018: 14f.; Valtin 1997: 81).
Das Stufenmodell ermöglicht es den Lehrkräften, durch Fehler bei selbstverfassten Schülertexten, die jeweilige individuelle Entwicklungsstufe der Kinder festzustellen und geeignete Förderungen für das Erreichen der nächsten Stufe auszuwählen. Diese sollen in Kapitel 5 noch näher betrachtet werden. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Lernstoff und Entwicklungsstand ist für eine erfolgreiche Entwicklung unabdingbar (vgl. Valtin / Sasse 2018: 13ff.).
Wiescholek (2017: 17) schreibt den Stufenmodellen zwar eine geeignete Orien- tierungsfunktion für den Schriftspracherwerb zu, verweist aber dennoch auf kritische Positionen. Demnach erweckt die Gestalt eines stufenförmigen Schriftspracher- werbsmodells den Eindruck, dass die Stufen aufeinander aufbauen und die Aneignung einer Strategie erst dann in Gang gesetzt werden kann, wenn die vorherige vollkommen abgeschlossen ist (vgl. ebd.). Dahingehend moniert auch Kirchhock (2004: 44), dass die von Valtin (2000) vorgelegten Empfehlungen zur Passung der Unterrichtsangebote (an die dominierende Strategie) implizit den Eindruck vermitteln könnten, dass die Lernenden tatsächlich nur eine Strategie anwenden würden, welche klar abzugrenzenden Stufen zuzuordnen wären. Gegen einen strikt linearen Ablauf spricht nach Schründer-Lenzen (2013: 75) auch, dass geläufige Wörter schon früh orthographisch korrekt geschrieben werden können, während für unbekannte Wörter zunächst noch die alphabetische Strategie angewendet wird. Valtin / Sasse (2018: 13) erklären in Bezug auf ihr Stufenmodell, dass sich Lernende die Schriftsprache weder auf einen Schlag noch gleichmäßig aneignen. Vielmehr werden durch das Schreiben und Lesen signifikante Stufen offenbart, die jeweils durch eine dominante Strategie markiert sind. Jeuk / Schäfer (2017: 81) verweisen ebenfalls darauf, das Modell nicht strikt als Stufenleiter zu verstehen. Einige Kinder durchlaufen gegebenenfalls einzelne Stufen nur kurz oder überspringen diese sogar, andere wiederum verweilen über einen längeren Zeitraum oder komplett auf einer Stufe (vgl. ebd.). Durch das Raster des Entwicklungsmodells kann eine solche dynamische Entwicklung der Kinder nachvollzogen werden (vgl. Kichhock 2004: 44).
In diesem Kapitel werden die Schwierigkeiten des Schriftspracherwerbs näher untersucht. Dabei wird auf die komplexe Beziehung zwischen Phonologie und Graphematik eingegangen. Des Weiteren werden Regelfehler, die aus den orthographischen Prinzipien resultieren, und Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung näher betrachtet. Ergänzend soll geklärt werden, welche Effekte die verschiedenen didaktischen Zugangswege auf die orthographische Kompetenz und Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb haben. Im zweiten Teil des Kapitels werden die Unterschiede zwischen LRS und Legasthenie und die verschiedenen Perspektiven darauf erörtert.
Durch die komplexe Beziehung zwischen Phonologie und Graphematik müssen sich die Lernenden zu Beginn des Schriftspracherwerbs mit einigen Hürden auseinander- setzen. Aufgrund prosodischer Strukturen können häufig graphematische Strukturen nicht durch die Phonem-Graphem-Korrespondenz abgebildet werden (vgl. Bredel / Fuhrhop / Noack 2017: 102). So wird die lautliche Umsetzung von Graphemen durch die Position der Silbe bedingt. Dies wird anhand des Graphems < e > deutlich. Nur in Vollsilben entspricht dieses einem Vollvokal / e / oder / ɛ /, wie in (Besen) oder (besten), in Reduktionssilben hingegen wird das Graphem als Schwa / ə / artikuliert (Gabe) (vgl. ebd.). Im Hinblick auf das Schwa merken Thomé / Thomé (2017: 11) kritisch an, dass es sich zwar um den meist artikulierten Vokal im Deutschen handelt, dieser aber keine Behandlung als eigenständiger Laut im Unterricht erfährt. SuS, die eine unzureichend ausgeprägte Phonologische Bewusstheit haben, fällt es schwer, die Phonem-Graphem-Korrespondenzen des Graphems < e > im Gedächtnis zu verankern (vgl. Brehm 2017: 18).
Marx (2007: 18f.) sieht in der Koartikulation der Laute eine weitere Herausforderung für den Schriftspracherwerb. Besonders relevant ist dies für die alphabetische Strategie, bei der die Lernenden überwiegend versuchen den Lauten die jeweiligen Buchstaben zuzuordnen. In der gesprochenen Sprache werden die Laute nicht einzeln, sondern in Kombination mit weiteren Lauten artikuliert. In der Realisierung passen sich die Phoneme dabei ihrer lautlichen Umgebung an (vgl. Dürscheid 2016: 253). Diese Koartikulation erschwert die Segmentierung eines Wortes in Einzellaute. Besonders herausfordernd ist dabei, dass aufgrund der nicht vorhandenen Eins-zu- Eins-Zuordnung von Sprachlauten und Schriftzeichen den Kindern bei einer Vielzahl an Lauten nur eine eingeschränkte Möglichkeit ihrer schriftlichen Realisierung zur Verfügung steht (vgl. Wildemann 2015: 93; Valtin 2010: 5). Bei dem Graphem < o > in (Oma) und dem Graphem < o > in (toll) handelt es sich beispielsweise um unterschiedliche Laute, die aber durch dasselbe Graphem umgesetzt werden (vgl. Wildemann 2015: 93.). Noch deutlicher wird diese Diskrepanz, wenn man das Graphem < ch > in den Wörtern (Dach) und (ich) betrachtet, welche gänzlich unterschiedlich artikuliert werden (vgl. Dürscheid 2016: 253). Vor diesem Hintergrund und der bereits in Kapitel 2.1 thematisierten vorschulischen Sensibilität für die Prosodie der Sprache, verweisen sowohl Bredel / Fuhrhop / Noack (2017: 103) als auch Wildemann (2015: 93) auf den silbenanalytischen Ansatz von Röber (2009), welcher in Kapitel 5 näher beschrieben wird.
Für Valtin (2010: 5) stellt unter anderem der Erwerb der orthographischen Prinzipien eine der größten Herausforderungen beim Erwerb der Schriftsprache dar. Thomé / Thomé (2017: 9) subsumieren alle Grapheme, die in Zusammenhang mit solchen höheren orthographischen Prinzipien stehen, unter den Terminus Orthographeme. Diese Orthographeme machen 10 % aller Schreibungen aus. Dem gegenüber stehen mit 90 % die sogenannten Basisgrapheme, welche aus systematischer Sicht die meisten und einfachsten Phonem-Graphem-Korrespondenzen darstellen.
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Abb. 6: Vokale und ihre entsprechenden Basis- und Orthographeme (vgl. Thomé / Thomé 2017: 11).
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Abb. 7: Konsonanten und die ihnen entsprechenden Basis- und Orthographeme (vgl. Thomé / Thomé 2017: 12)
Für Bredel / Fuhrhop / Noack (2017: 105) stellt die knappe Thematisierung von nicht hörbaren Schreibungen ein grundlegendes Problem im Schreibunterricht dar (vgl. ebd.). Die Schärfungsschreibung in einsilbigen Formen (fällt) markiert kein dupli- ziertes Phonem sondern einen Silbenschnitt (vgl. ebd.: 102). Auch stimmhafte Plosiv- und Reibelaute wie / b /, / d /, / g /, / v /, / z / am Wortende (Hund) sind aufgrund der Auslautverhärtung nicht hörbar, werden aber wegen der Morphem-Konstanz dennoch mit den entsprechenden Schriftzeichen geschrieben. Genau so wenig korrespondiert das Dehnungs-h mit dem Phonem / h / (vgl. ebd.). In der Wiener Längsschnittstudie (Klicpera / Gasteiger-Klicpera 1993) wurde festgestellt, dass in der Mitte der zweiten Klasse 40 % der Dehnungs- und Schärfungsmarkierungen fehlerhaft realisiert wurden (vgl. Marx 2007: 98). Löffler / Meyer-Schepers (2006: 205) haben bezüglich dieser Problematik die Unterscheidung der Fehlerbilder bei starken und schwachen Rechtschreibern der vierten Klassenstufe untersucht. Dabei haben sie festgestellt, dass beide Gruppen Probleme mit dem Dehnungs-h und der Schärfungsschreibung haben. Das Auslassen des Dehnungs-h markiert bei beiden Gruppen die gängigste Schreibabweichung des Wortes (verkühlt). Bei 8 % des oberen Viertels und 33 % insgesamt ist dieser Fehler aufgetreten. Das Wort (aufgepasst) – mit der Hürde der Schärfungsschreibung – wurde zwar von 92 % des oberen aber lediglich von 14 % des unteren Viertels korrekt geschrieben. 3,9 % des oberen und 47 % des unteren Viertels zeigten die fehlende Konsonantenverdopplung als häufigstes Fehlerbild. Löffler / Meyer-Schepers (2006: 206) ordnen diese Fehlschreibungen dem Bereich der grammatischen Kompetenz zu und erklären, dass dieses Fehlerbild über 90 % der Schreibvarianten des oberen Viertels und ungefähr 50 % des unteren Viertels umfasst. Aus diesem Grund charakterisieren sie diese Fehlschreibungen beider Gruppen als lernstandstypisch.
Ohne eine klare Vermittlung dieser grammatischen Schreibungen müssen sich die Lernenden die Regeln selbst erschließen (Bredel / Fuhrhop / Noack 2017: 105). Dies gelingt nicht allen gleichermaßen und vor allem bei den lernschwachen Kindern sind Probleme zu befürchten. Für rechtschreibschwache SuS ist eine starke Orientierung am Lautlichen typisch; es wird also größtenteils nur das lautlich wahrgenommene geschrieben (vgl. ebd.).
Innerhalb der gesamten Primarstufe trägt die Groß- und Kleinschreibung mit ca. 25 % der Fehlschreibungen den größten Anteil der Fehlerarten bei (vgl. Marx 2007: 98). Günther (2007: 49) macht die Anwendungsproblematik dieses Rechtschreib- prinzips einerseits an den nicht vorhandenen hörbaren Hinweisen und andererseits an dem komplexen Regelwerk innerhalb der Syntax fest.
Für den Erwerb der Schriftsprache müssen die Lernenden in der Lage sein visuelle Reize aufzunehmen, zu differenzieren, einzuordnen und zu interpretieren. Der Bereich der visuellen Wahrnehmung umfasst die Teilaspekte Figur-Grund- unterscheidung, Formkonstanzbeachtung, visuell-motorische Koordination, Raum- Lage-Erkennen und das Visuelle Gedächtnis (vgl. Schründer-Lenzen 2009: 211). In den folgenden Ausführungen wird näher auf den Teilaspekt Raum-Lage-Erkennen eingegangen, welcher für das Erlernen der Schrift, aufgrund der Anforderung ähnliche Buchstaben zu unterscheiden, von großer Bedeutung ist. Das Raum-Lage- Erkennen bereitet in den ersten Klassenstufen allen Kindern Probleme, da sich Buchstaben, wie z.B. < d > und < b > oder < m > und < w > nur anhand ihrer Raumlage differenzieren lassen (vgl. Klicpera / Schabmann / Gasteiger-Klicpera: 2010: 184). Dieses Phänomen, welches auch als „Ranschburgsche Hemmung“ bezeichnet wird, birgt beim zeitgleichen oder zeitnahen Erlernen zwei ähnlicher Buchstaben das Risiko von mentalen Überlappungen. Um diese Problematik zu vermeiden sollten optisch ähnliche Buchstaben nicht unmittelbar aufeinanderfolgend erlernt werden (vgl. Schründer-Lenzen 2009: 217).
Für einige Kinder stellt die auditive Wahrnehmung ein weiteres Problemfeld dar. Ein funktionsfähiges Gehör sowie eine gelungene auditive Verarbeitung der akustischen Reize sind wesentliche Bedingungen für den Schriftspracherwerb (vgl. ebd.: 221). Die auditive Wahrnehmung bezeichnet sowohl die Aufnahme und Verarbeitung von Hörreizen als auch die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehörten. Das Tempo der Ordnungsschwellen – die Zeitspanne, welche zur Wahrnehmbarkeit zwischen zwei akustischen Reizen liegen muss – ist entwicklungsabhängig und für die Verarbeitungsgeschwindigkeit von Sprache bedeutsam. Den Kindern mit einer geringen auditiven Ordnungsschwelle bereiten hier vor allem die nur kurz hörbaren Explosivlaute wie / b /, / d /, / g /, / p /, / t /, / k / Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung dieser Laute. Diese Beeinträchtigung kann durch entsprechende Rechtschreibschwierigkeiten und Sprachauffälligkeiten in Erscheinung treten. Solche Kinder haben zwar ein funktionierendes Gehör, aber eine eingeschränkte auditive Verarbeitung (vgl. ebd.: 221f.). Dies zeigt sich z.B. auch in der Lautdiskriminations- fähigkeit. Wenn diese unpräzise ist können lautähnliche Unterschiede in Wörtern wie (Glas) und (Gras) oder (Nadel) und (Nagel) akustisch nicht erfasst werden. Daraus resultiert eine undeutliche Sprechweise der Kinder, wodurch eine Lautanalyse und Lautsynthese nicht gelingen kann. Auf die Schwierigkeiten bei der Lautunterschei- dung folgen Probleme des Wortverständnisses und der Sinnerfassung von Sätzen (vgl. ebd.: 222).
Marx (2007: 106) erklärt, dass der didaktische Zugangsweg das Gelingen des Schriftspracherwerbs und die Anzahl der Kinder mit Schwierigkeiten in diesem Bereich beeinflussen kann. Die Bonner-Studie (2018) hat genau diese Wirkung, anhand der Leitmedien Lesen-durch-Schreiben, Rechtschreibwerkstatt und Fibel- Konzepte untersucht und miteinander verglichen (vgl. Kuhl / Röhr-Sendlmeier 2018: o.S.).
Die Lesen-durch-Schreiben-Methode will den SuS in Form eines Werkstattunterrichts einen selbstgesteuerten Lernprozess ermöglichen (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 213). „Kinder lernen umso mehr, je weniger sie belehrt werden“ (Reichen 2001: 79). Reichen (2001) geht demnach davon aus, dass Instruktionen von außen sich negativ auf den Lernprozess der Kinder auswirken und die Kinder Raum brauchen, um den Lernprozess eigenständig zu steuern. Die Rolle der Lehrkraft soll sich nach Reichen (2001: 129) auf das Anbieten von Lerngelegenheiten beschränken. Die Anlauttabelle ist das wesentliche Arbeitsmaterial dieser Theorie, mit Hilfe derer die SuS alle Wörter schreiben können. Die Arbeit mit der Anlauttabelle setzt jedoch voraus, dass die SuS das phonematische Prinzip durchdrungen haben. Dabei wird die orthographische Korrektheit während der gesamten ersten Klassenstufe nicht berücksichtigt (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 214). Eine phonetisch mögliche aber orthographische falsche Schreibung wie < Karto fl > wird in diesem Konzept nicht als Problem angesehen. Primär geht es darum, die Lernenden in ihren Schreibversuchen zu stärken und nicht durch orthographische Korrekturen zu verunsichern (vgl. Dürscheid 2016: 257). Durch den gänzlichen Verzicht auf einen strukturierten Rechtschreib- unterricht birgt die Methode vor allem für die Risikokinder (vgl. Kapitel II.: 2.1) des Schriftspracherwerbs Gefahren, welche insbesondere Probleme in der Durch- gliederung von Wörtern haben. Dies gilt sowohl für den Lese-, als auch den Rechtschreibunterricht.
Auch beim Konzept der Rechtschreibwerkstatt geht es um den selbstständigen und individuellen Zugang. Den Lernenden wird kein klarer Ablauf der Lernschritte vorgegeben. Stattdessen werden den SuS Materialien bereitgestellt, welche sie ohne Zeitvorgabe bearbeiten sollen. Der Lernprozess wird dabei durch das Anlautlineal unterstützt. Die SuS sollen ihre Fehler eigenständig korrigieren – die Lehrkraft nimmt dabei eine Beraterfunktion ein (vgl. Kuhl / Röhr-Sendlmeier 2018: o.S.).
Im Gegensatz zu den anweisungsarmen Konzepten der Lesen-durch-Schreiben- und Rechtschreibwerkstatt-Methode basieren Fibelkonzepte auf dem Prinzip der sukzes- siven Instruktion neuer Buchstaben. Diese Vorgehensweise begünstigt ein hierarchisches Gerüst vom Einfachen hin zum Komplexen (vgl. Marx 2007: 108). Die Fehler der SuS werden von Beginn an durch die Lehrkraft verbessert und als Lerngelegenheiten betrachtet. Der Unterricht wird von der Lehrperson, in Anlehnung an ein Lehrbuch, aktiv als Lehrgang angelegt (vgl. Kuhl / Röhr-Sendlmeier 2018: 2). Für die Bonner-Studie wurden von 2013 bis 2017 anhand einer Längs- und einer Querschnittsstudie – mittels der Hamburger Schreibprobe – die Rechtschreibkompe- tenzen von über 3000 Grundschulkindern untersucht (vgl. ebd.). Die Gruppe der Lesen-durch-Schreiben-Kinder hatte bei der Studie gegenüber den beiden Gruppen Rechtschreibwerkstatt und Fibel-Lehrgänge signifikante Startvorteile bzgl. ihrer Buchstabenkenntnisse und Phonologischen Bewusstheit. Die beiden letztgenannten Gruppen unterschieden sich nicht substanziell voneinander (vgl. ebd.). Die Studienergebnisse konnten hinsichtlich der Rechtschreibleistung eine klare Dominanz des Zugangsweges durch die Fibel nachweisen – und das trotz der, im Vergleich zu den Lesen-durch-Schreiben-Gruppen, weniger gut ausgeprägten Vorkenntnisse zu Schulbeginn. In allen Klassenstufen wurden deutlich bessere Ergebnisse gegenüber den beiden anderen Didaktikgruppen erzielt. Im gruppeninternen Vergleich der Rechtschreibleistung war die Diskrepanz der Leistungsspanne bei Klassen, welche mit der Fibel arbeiten, deutlich geringer. Am Ende der Primarstufe produzierten die Kinder mit dem didaktischen Zugangsweg der Rechtschreibwerkstatt 105 % mehr Fehlschreibungen und die Lesen-durch- Schreiben-Kinder 55 % mehr Fehler im Gegensatz zu den Lernenden der Fibel- Gruppe (vgl. ebd.). Die folgende Abbildung veranschaulicht diese Befunde und gibt einen Überblick über die sieben Messzeitpunkte des Hamburger-Schreib-Probe jeweils zum Ende und in der Mitte der entsprechenden Klassenstufen (ausgenommen Mitte Klasse 1).
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1 Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
2 In der vorliegenden Arbeit wird Phonologische Bewusstheit als feststehender Ausdruck großgeschrieben.
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